Sanft legte sie die Hand auf das Fensterglas. Die Lichter der Stadt deuteten auf rege Betriebsamkeit.
Wie lange schon?
Sie presste die Hand fester auf die Scheibe.
Interessierten sich die Leute da draußen noch dafür, was hier drinnen geschah?
Ein bitterer Zug umspielte ihre Mundwinkel.
Was wussten die Menschen überhaupt? Sie ahnten nicht, wie es war in einer Welt zu leben, in der es keinen Luxus gab, in der man mit den Vorräten haushalten musste, wo man aufpassen musste, wann man wohin ging und mit wem. Wie sollten sie wissen, wie es sich anfühlte an einem Ort zu leben, wo das Chaos regierte?
Einst gehörte auch sie zu diesen Menschen, die mit Scheuklappen durch das Leben schritten.
Eine Hand legte sich von hinten auf ihre Schulter. Sie zuckte nicht zusammen, weil die die Spiegelung in der Glasscheibe sah.
»Amy!«, sagte eine tiefe Männerstimme »Du sollst nicht allein herumlaufen.«
Sie schloss die Augen »Wie lange noch?«, ihre Stimme zitterte.
»Nicht mehr lange. Den letzten Toten gab es vor vier Monaten.«
»Ich weiß...«
Gemeinsam blickten sie nach draußen, zu den blinkenden Lichtern der Stadt.
»Komm«, sagte er dann und führte sie fort.
»Alles in Ordnung?«, die Stimme drang nur lamgsam in ihren Verstand vor. Sie antwortete nicht.
Krampfhaft hielt sie ihre Schutern umklammert und wiegte sich vor und zurück.
»Amy!«, versuchte er es erneut und berührte sie sachte am Arm.
»Lass mich!«, schrie sie und hielt kurz im Wiegen inne, bevor sie umso heftiger vor und zurück schaukelte.
»Es wird nicht mehr lange dauern.«, murmelte er.
Nicht mehr lange dauern...
Was wenn der Alptraum tatsächlich eines Tages vorüber wäre? Könnte sie in ihr Leben der Unwissenheit zurückkehren? Zurück zu den geschäftigen Lichtern? In die Welt der farbigen Reklamen und der lachenden Gesichter?
Amy versuchte sich an das Lachen zu erinnern.
Sie konnte es nicht.
»Die Lichter sind aus.«, sagte sie unvermittelt.
»Hm?«, machte er. Er war damit beschäftigt sich eine Selbstgedrehte zu machen.
»Seit einer Woche sind die Lichter der Stadt aus.«
»Vielleicht eine Aktion der Ökos.«, sagte er nach einer langen Pause »Spart Energie! Macht die Lichter aus!«
»Alle Lichter sind aus. Die ganze Zeit.«
Er dachte erneut nach »Vielleicht ein Problem mit der Energieversorgung.«
»Wir haben Licht!«
Er zündete sich die Zigarette an. »Mach dir nicht zu viele Gedanken um die da draußen Mädchen.«
»Die letzte Essenslieferung ist zwei Wochen her.«, in ihrem Blick lag Vorwurf. Dazu sagte er nichts.
»Den letzten Toten gab es vor zehn Monaten. Die letzte Infektion vor neun und die Frau hat es überstanden. Wir haben es im Griff!«, schrie sie und sprang auf. »Sie wollen nicht, dass wir überleben! Sie haben gehofft, die Seuche rafft uns alle dahin. Jetzt, wo es vorbei ist, lassen sie uns verhungern. Warum öffnen sie nicht die Tore? Ich will nicht sterben!«
Er packte sie an den Schultern und versuchte ihren entrückten Blick einzufangen.
»Du warst im Foyer!«, stellte er fest »Du sollst nicht glauben, was diese Fanatiker von sich geben!«
»Die Lichter sind aus.«, sagte sie nur »Sie haben uns vergessen.«
Der Hunger bohrte sich in ihren Magen. Sie lag zusammengerollt in der Ecke.
»Sie hätten die Wachmänner nicht töten sollen.«, sagte er. Seine Hände zitterten. Kein Nikotin. »Ganz am Anfang«, fuhr er fort »Sie hätten die Männer nicht töten sollen.«
»Seit einem Monat keine Essenslieferung.«, murmelte sie.
»Warum sollten sie sich auch um uns kümmern, wenn uns ihre Ordnung nicht interessiert?«, sinnierte er weiter »Wir haben Wasser, weil die Leitungen noch funktionieren und die Energie.«
»Kein Essen.«, flüsterte sie.
»Wir haben Glück.«, versuchte er sich selbst einzureden
»Ich gehe!«, sagte sie und rannte zur Tür.
»Wohin?«
»Weg! Ich muss hier raus!«
»Du kannst hier nicht raus! Wir sind eingeschlossen! Sie haben das Gebäude dicht gemacht!«, rief er und hielt sie fest.
»Ist mir egal! Ich muss hier raus! Ich kann nicht mehr!«
»Amy! Wir haben die Seuche nicht überlebt um erschossen zu werden!«, mahnte er.
»Ich habe die Seuche nicht überlebt um zu verhungern!«, kreischte sie.
»Sch! Nur noch ein paar Tage... nur noch ein paar Tage...«, beruhigte er sie.
»Die Stadt ist tot.«
Eine Menschenmenge versammelte sich im Foyer.
Sie drängte durch die Leiber nach vorn. Er war nicht da, konnte ihr nicht länger verbieten hierher zu kommen.
»...haben uns hier eingesperrt und lassen uns jetzt verrecken!«, schnappte sie einen Gesprächsfetzen auf. Es war ein Mädchen ihres Alters, welches das sagte.
Sie schob sich immer weiter vor, zum einstigen Empfangstresen. Dahinter stand eine Gruppe junger Menschen. Sie waren abgezehrt, wie alle Leute in diesem Raum, wie sie selbst.
Einer von ihnen nickte ihr zu, als er sie erkannte.
»Hast du es?«, fragte er.
Sie schob ein kleines Päckchen über den Tresen.
»Und der alte Mann?«
»Tot.«, murmelte sie.
»Tut mir leid.«, sagte er.
Sie zuckte mit den Schultern und sah zu Boden.
»Amy?«, fragte er. Sie schüttelte den Kopf.
»Bald sind wir so weit«, wechselte er das Thema »Es wird nicht mehr lange dauern. Wir sitzen schon viel zu lange hier fest.«
In diesem Augenblick gingen die Lichter aus und die Belüftung versagte. Es wurde still im Gebäude.
Ein Lichtblitz ließ sie ihre Augen zusammenkneifen. Tief in die Deckung gedrückt, hielt sie sich die Ohren zu. Der Knall kam kurz darauf, mit ihm die Druckwelle.
Danach blieb nur das Rauschen.
Lange Zeit geschah nichts.
Kalte, frische Luft zog herein. Jemand rüttelte an ihrer Schulter. Blinzelnd öffnete sie die Augen. Wind trieb Staub vor sich her. Sie drehte sich um.
Ein junger Mann zeigte auf ein Loch in der Wand.
»Es hat geklappt!«, sagte er und Fältchen zogen sich um seine Augen, als er lächelte.
Sie starrte mit geöffneten Mund nach draußen.
Nach so langer Zeit.
»Wir haben es geschafft!«, der junge Mann lachte und umarmte sie. Sie konnte den Blick nicht von dem Platz vor dem Gebäude abwenden.
»Es ist vorbei!«, flüsterte er und strich ihr über den Rücken. Zögernd erwiderte sie die Umarmung.
Da draußen war es dunkel. Keine Menschenseele zu sehen.
Es war vorbei.
Sie schloss die Augen.
»Da draußen ist niemand!«, rief eine Frau.
Sie löste sich aus der Umarmung und schritt zum Loch.
Keine Wachmänner feuerten auf sie.
Die Stadt war tot.
Sie trat über das Geröll hinweg, hinaus auf die freie Fläche. Seltsam keine Decke über sich zu haben.
»He! Amy! Warte!«
Sie ignorierte den Ruf und überquerte den Platz.
Niemand. Kein Wachmann. Kein Zivilist.
Sie bog in eine Gasse ein. Da lag jemand. Sie trat näher.
Ein Kind. Die Haut aufgedunsen und blau verfärbt.
Tot.
Sie hörte Schritte hinter sich.
Die anderen.
Der junge Mann schnappte überrascht nach Luft.
»Die Seuche!«, flüsterte eine Frau.
Sie sah sich suchend um.
Die Stadt war tot.
Sie brach in schallendes Gelächter aus.