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Verlorene Wahl

von

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Stille Nacht

Waldstück, nachts:
 

Die Sterne funkelten auf den Weg herab, den die Kutsche nahm, doch ihre Insassen bekamen davon wenig mit. Das Rumpeln der Räder und das Getrappel der Pferde waren die einzigen Geräusche, die durch die stille Nacht hallten. Die Passagiere wurden durcheinander geschüttelt, als sie über einen Stein fuhren. Einige Augenblicke später hielten sie an und die Tür wurde aufgeschlagen. Ein finster dreinblickender Herr in braunweiser Uniform mit grünem Cape stieg aus. Ihm folgte zögerlich ein altes Ehepaar, zuerst ein Mann, der dann seiner Gattin beim Ausstieg behilflich war. Die beiden waren lediglich mit Nachthemden und einfachen Schuhen bekleidet.

"Da rüber!", befahl ihnen der Mann in der Uniform.

Die Eheleute folgten einer anderen Uniformierten vom Pfad in den dunklen Wald hinein. Unterwegs tuschelten sie.

"Meine Liebe, Dank dir hatte ich ein ausgefülltes Leben...", sagte der Mann.

"Seien Sie still!", forderte ihre Begleiterin, "Da hin, vor die Bäume."

Als die Alte sich weigerte, ihrem Gatten von der Seite zu weichen, ging die Soldatin hin und zerrte sie von dem Mann weg.

"Stell dich da hin!"

Die Uniformierte ging einige Schritte zurück, drehte sich um, zog etwas aus einer Tasche an ihrem Gürtel und schoss der alten Frau dann ohne Vorwarnung in den Oberkörper. Der Schuss hatte nahebei in ihren Nestern sitzende Raben aufgescheucht, die jetzt zeternd über den Nachthimmel brausten. Der Alte rief verzweifelt den Namen seiner Frau und stürzte zu ihrem Leib, der von der Wucht der Kugel gegen den Baumstamm geprallt war und nun auf den Boden sank. Aus einem kleinen Loch rechts des Herzens sickerte rote Flüssigkeit, Blut, und durchtränkte das geblümte Nachthemd. Der alte Mann brach neben ihr auf dem Boden zusammen und fing an, unkontrolliert zu schluchzen. Diesen Moment nutzte die Soldatin zum Nachladen. Der Alte starb wenige Sekunden später neben seiner Frau.

Oma und Opa

Karanese, einen halben Tag zuvor:
 

"Opa! Du musst das schon richtig zusammenlegen!", schimpfte ein Mädchen mit rehbraunen Haaren.

"Stimmt das so nicht?"

Albert Ral nahm das braune Hemd, das er eben zusammengefaltet in einen Wäschekorb gelegt hatte, wieder in die Hand. Er betrachtete es verwundert.

"Du musst es kleiner zusammenlegen, sonst hat Oma hinterher doch wieder Dreck an der Wäsche, weil die überstehenden Teile auf den Boden hängen."

Petra war ein aufgewecktes Mädchen, das vor einigen Wochen seinen vierzehnten Geburtstag gefeiert hatte. Ihre lange Mähne war zu einem losen Zopf zusammengebunden, der ihr über ihre linke Schulter fiel. Petra nahm ihrem Großvater das Hemd aus der Hand und faltete zuerst die Ärmel nach innen, bevor sie das Kleidungsstück noch zweimal über Kreuz zusammenlegte. Danach wanderte das Hemd in den Wäschekorb. Albert seinerseits schien nach wie vor nicht überzeugt zu sein.

"Deine Großmutter hat sich nie darüber beschwert", meinte er.

Das Mädchen schaute ihn skeptisch an und pflückte noch zwei Hosen von der Wäscheleine auf ihrer Seite. Albert wandte sich den Socken zu. Die machten es ihm zum Glück einfacher, denn er wusste sehr genau, welche zwei ein Paar bildeten. Zu den Hosen, die Petra in den Wäschekorb gelegt hatte, gesellten sich noch zwei hellbraune und drei schwarze Paar Socken. Danach streckte sich der alte Mann und sah gen Himmel. Schwere Wolken schoben sich über Karanese.

"Meinst du, es regnet heute noch?", fragte Petra.

"Gut möglich."

Das Mädchen hatte den Wäschekorb hochgehoben.

"Das wird dem Aufklärungstrupp gar nicht gefallen, wenn es jetzt zu regnen anfängt...", sinnierte sie.

"Dem Aufklärungstrupp?", fragte Albert, "Ich wusste gar nicht, dass du dich für den interessierst..."

"Iwo. Aber man macht sich halt seine Gedanken."

Der Großvater warf seiner Enkelin einen abschätzigen Blick zu, nahm ihr dann den Korb aus der Hand und wandte sich zum Gehen.

"Die reiten doch erst in ein paar Tagen hinter die Mauer. Bis dahin hat sich das Wetter bestimmt wieder gebessert", meinte er.

Petra und ihr Opa verließen den Gemeinschaftsgarten und nahmen den Weg durch eine schmale und finstere Gasse. An ihrem Ende kamen sie bei einer belebten Einkaufsstraße raus, in der sich um diese Uhrzeit noch ungewöhnlich viele Leute aufhielten.

"Na, Bert? Heute wieder Hilfe gehabt?", rief ihnen jemand frech vom Eingang in einen Laden zu.

Petra drehte ihren Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam und sah dann eine Dame, die etwas jünger als ihre Großeltern zu sein schien. Ihre schwarzen Haare waren von grauen Strähnen durchzogen und sie trug ein einfaches Kleid in beige mit einer dunkelblauen, aber schon sehr ausgewaschenen Schürze.

"Ach, sei still, Roswitha!", schimpfte Albert und stapfte davon.

Die beiden gingen einige Häuser weiter.

"Opa, wer war die Frau?", fragte Petra.

Albert brummte etwas Unverständliches, ohne seiner Enkelin zu antworten. Die zuckte nur mit den Schultern und gemeinsam folgten sie der großen Straße noch einige Meter. Sie betraten einen größeren Platz, der üblicherweise als Markt für fahrende Händler fungierte, auf dem die meisten Stände aber inzwischen verbarrikadiert waren.

"Ob Oma noch alles bekommen hat?", dachte das Mädchen laut.

Der Großvater kicherte.

"Was ist so lustig?"

"Glaubst du, deine Großmutter vergisst, dass sie dir dein Lieblingsessen schon an deinem Geburtstag versprochen hatte?"

"Nein... Aber vielleicht gab es keinen Blumenkohl mehr? Um die Jahreszeit gibt es nicht mehr viel frisches Gemüse."

"Du machst dir zu viele Gedanken über das Essen, Petra. Deine Großmutter kocht auch immer etwas ein, wenn sie die Möglichkeit dazu hat. Da ist bestimmt noch was da."

"Dein Wort in ihrem Ohr."

Das Mädchen lief voraus und Albert kam ihr seufzend hinterher. Petra bog um eine Hausecke. Jetzt war es nicht mehr weit zu dem Haus, in dem ihre Großeltern lebten und welches vom Fluss nicht weit entfernt war. Alberts Enkelin hatte die Eingangstür bereits erreicht, als er gerade einmal mit der Wäsche die Hausecke erreicht hatte, an der eine eingetopfte Smaragd-Thuja stand. Bereits von dort konnte er riechen, dass es heute Blumenkohlauflauf geben würde, Petras Lieblingsessen. Schnellen Schrittes folgte der alte Mann ihr, denn Petra hatte die Tür sperrangelweit offen stehen lassen. Als er eintrat, kam Petra ihm schon wieder entgegen, nahm ihm den Wäschekorb aus der Hand und brachte ihn in die Küche. Dort fing sie an, die Wäsche neu zusammenzulegen.

"Dieses Kind macht mich immer wieder sprachlos", meinte Albert und trat zu seiner Frau Heidi, die auf der Arbeitsfläche eine große Schüssel mit Putzwasser hatte und das Geschirr schrubbte.

Die Küche war, wie das Haus insgesamt, eher spartanisch eingerichtet. Es gab eine kurze Küchenzeile mit einem Holzofen, einen Tisch mit drei Stühlen und einem Schemel sowie ein kleines Fenster, das auf die Nordseite von Karanese hinausblickte. In der freien Ecke neben dem Ofen stand noch eine recht große Kiste, die vor allem in den kalten Monaten als Sitzgelegenheit genutzt wurde.

"Warum?", fragte sie rhetorisch und ließ sich von ihrem Gatten einen Kuss auf die Wange geben.

"Opa?"

Albert drehte sich um.

"Kannst du mir sagen, was dir gehört und was Oma gehört?"

Petra hatte alle Kleidungsstücke fein säuberlich zusammengelegt und auf dem kleinen Esstisch ausgebreitet.

"Du liebes bisschen..."

Seine Enkelin sah ihn fragend an.

"So ordentlich zusammengefaltet habe ich die Sachen noch nie gesehen", flüsterte er ihr mit einem Augenzwinkern zu.

"OPA!", rief Petra entrüstet.

Verschmitzt sah er zur Seite.

"Was redet ihr da?", fragte Heidi von ihrem improvisierten Spülbecken her.

Sie hatte angefangen, die gewaschenen Sachen zu trocknen.

"Nichts, meine Liebe", meinte Albert.

Danach sah er sich die Kleidungsstücke an.

"Also die zwei Röcke da gehören auf jeden Fall deiner Großmutter."

"Das weiß ich auch", konterte Petra nüchtern.

"Diese Hose ist von mir."

Albert räumte das entsprechende Stück auf seine Seite des Tisches.

"Hast du nur die eine?", fragte das Mädchen.

"Ich habe noch eine Hose für besondere Anlässe. Außerdem die, die ich gerade trage. Und die gewaschene", antwortete er.

Petra sagte nichts dazu. Ihr Großvater sammelte einige Sockenknäuel zusammen, von denen er an den gestopften Löchern erkannte, dass sie auch ihm gehörten. Socken konnte man schließlich nicht genug haben, da wurden sie noch so häufig ausgebessert und verstärkt.

"Die Bluse und dieses Oberteil sind bestimmt von Oma."

Alberts Enkelin räumte die beiden Stücke zu den Röcken.

"Warte mal. Ich glaub, das eine da ist ein Hemd von mir."

Petra reichte ihm das entsprechende Stoffknäuel und er nahm es auseinander, um es sich anzuschauen.

"OPA!", rief sie gespielt erbost.

"Was denn?", entgegnete er unschuldig.

Die beiden sortierten die restliche Wäsche. Danach räumte Petra sie wieder in den Wäschekorb und trug ihn in das Schlafzimmer ihrer Großeltern im ersten Stock.

"Sie wird erwachsen", meinte Heidi, als das Mädchen die Küche verlassen hatte.

"Ja... Stell dir vor, sie hat doch tatsächlich vom Aufklärungstrupp angefangen."

"Wirklich?"

Die Großmutter hielt in ihrem Tun inne, drehte sich zu ihrem Gatten um und sah ihn ernst an.

"Denkst du, dass ihr Interesse wirklich in diese Richtung geht?"

Albert überlegte. Ihn hatte Petras Aussage zuvor ebenfalls aus der Fassung gebracht, auch wenn er es sich vor seiner Enkelin nicht hat anmerken lassen. Zudem hatte sie bisher nicht noch einmal davon gesprochen, also hatte er das Thema ebenfalls nicht erneut aufgegriffen.

"Nein. Sie kommt jetzt in das Alter, in dem sie sich langsam über ihren späteren Lebensweg klar werden muss. Da fallen einem alle möglichen Sachen ein."

Heidi blieb skeptisch.

"Aber der Aufklärungstrupp? Es gibt doch zig andere Möglichkeiten. Zum Beispiel als Näherin."

Albert brummte.

"Petra ist ein intelligentes Kind. Sie wird wissen, was gut für sie ist und was nicht", äußerte er.

Seine Gattin wollte etwas erwidern, ließ es aber sein, als sie Petra auf der Treppe vernahm.

"Opa! Du hast ja noch nicht aufgedeckt!"

Albert grummelte erneut und holte dann einfaches Holzgeschirr aus einem der wenigen Schränke. Großmutter Heidi ihrerseits öffnete den Ofen und sah einmal prüfend hinein. Petra half ihrem Großvater, den Tisch zu decken und bereitete die Untersetzer für die Pfanne vor. Danach setzte sie sich.

"Nun... besser kann er nicht mehr werden", befand Heidi und holte den Blumenkohlauflauf aus dem Ofen hervor.

Die Vierzehnjährige steckte einmal die Nase in die Luft und riss dann die Augen auf.

"Sogar mit Käse!", schwärmte sie.

Auch Albert lief das Wasser im Munde zusammen, als seine Frau die Auflaufform auf den Tisch stellte und anfing, gleichgroße Stücke darin zu schneiden. Das mit besonders viel Käse gab sie Petra, was ihr einen gespielt pikierten Blick des alten Mannes einbrachte. Heidi hatte sich noch gar nicht richtig hingesetzt, da kam schon ein begeistertes "lecker" von ihrer linken Seite.

"Du hast dich mal wieder selbst übertroffen, meine Liebe", lobte Albert, nachdem er seinerseits die ersten paar Bissen des Auflaufes verputzt hatte.

"Ich fürchte, für morgen wird nicht mehr viel übrig bleiben."

Enkelin und Großeltern aßen schweigend weiter. Sie bekamen gar nicht mit, wie schwere Tropfen anfingen, gegen die Fensterscheiben zu prasseln, so vertieft waren sie in ihr Mahl. Als der Teller des Mädchens leer war, gab Heidi ihr noch einmal Nachschlag, der ebenso schnell in den Tiefen von Petras Magen verschwand, wie die Portion davor.

"Wo diese Jugend heutzutage immer das ganze Essen lässt", wunderte sich Albert, ohne dass er überhaupt von seinem Teller aufgesehen hatte.

Nach einer Weile sanken alle drei papp satt auf den Holzstühlen zurück.

"Das war wirklich lecker", befand Petra, "Wenn ich das Charly erzähle, wird er bestimmt neidisch."

"Du solltest deinen Bruder nicht immer ärgern", mahnte Heidi, "Er hat jetzt als Schreinergeselle genügend um die Ohren."

"Entschuldige."

Das Mädchen sah betreten zu Boden, während ihr Opa aufstand, sich streckte und ins Wohnzimmer hinüber ging.

"Komm, hilf mir lieber beim Abwasch."

Die beiden standen auf und räumten das Geschirr zur Spüle, dessen Wasser mittlerweile nur noch leicht warm war. Petra tauchte die Teller sofort unter und griff zum Lappen, während ihre Oma Alberts Teller und Besteck sowie die Auflaufform holte.

"Der Käse war wirklich lecker. ... Ich wünschte, den würde es häufiger geben."

Petra wandte den Blick nicht von ihrer Arbeit, aber Heidi wusste auch so, dass ihre Enkelin enttäuscht war. Vor einigen Wochen war von der Regierung eine neue Verordnung zur Regulierung der Ressourcen erlassen worden. Was zu Beginn so positiv geklungen hatte, stellte sich alsbald als eine Maßnahme zur Zuteilung der wenigen Nahrungsmittel heraus, über die die Menschheit verfügte. Wer wie viele der neu eingeführten Essensmarken bekam, hing nun letztendlich davon ab, wer wie viel Nutzen für die Gemeinschaft erbrachte. Was dazu führte, dass bereits aus dem Berufsleben ausgeschiedene Mitbürger nur noch das Nötigste bekamen. Wenigstens konnten die Leute noch selbst darüber entscheiden, wofür sie ihre Essensmarken hergaben. Nur deshalb hatte Heidi am Vormittag noch einen überreifen Blumenkohl auf dem Markt erbeuten können. Der wertvolle Käse seinerseits stammte noch aus der Zeit vor der Regulierung.

Die alte Frau antwortete Petra nicht. Es hatte eh keinen Sinn, da man die Situation derzeit nicht ändern konnte. Allerdings glaubte sie auch nicht, dass sich diese Regulierung allzu lange halten würde. Heidi griff zu einem trockenen Lappen und fing an, die von ihrer Enkelin geputzten Geschirr- und Besteckteile zu trocknen und aufzuräumen. Als die beiden fertig waren, nahm sie die Spülschüssel und trug sie zur Eingangstür, während Petra das Kerzenlicht löschte. Danach öffnete sie ihrer Oma die Haustür. Die Alte kippte das Spülwasser etwas weiter entfernt schnell in eine im Boden ausgespülte Rinne. Das Abwasser würde behäbig gen Fluss fließen. Doch der nach wie vor ohne Unterlass hernieder trommelnde Regen verwischte bereits jetzt alle Spuren.

"Und nun?", fragte das blonde Mädchen.

"Nun wecken wir Opa auf und stecken ihn ins Bett", erklärte ihre Großmutter, als sie wieder ins Haus trat und die Schüssel vor dem Eingang zur Küche abgestellt hatte.

"Meinst du, er ist eingeschlafen?"

"Das passiert ihm jeden Tag. Zum Glück wacht Albert meist genauso schnell auf, wie er zuvor eingeschlafen ist."

Tatsächlich wippte der Schaukelstuhl des alten Mannes gemächlich vor und zurück, Albert sanft im Schlaf wiegend mit einer veralteten Zeitung auf den Knien. Auf dem Tisch brannte ebenfalls eine Kerze. Petra blieb an der Tür zurück, während Heidi zu ihrem Gatten hinüber ging und den Schaukelstuhl vorsichtig anhielt. Nicht mal eine Minute später verschluckte sich ihr Gatte an seinem eigenen Atem und bekam einen Hustenanfall.

"Opa..."

Albert beruhigte sich wieder und sah seine Gattin missmutig an. Nichtsdestotrotz erhob er sich, faltete die Zeitung zusammen und ließ sie auf den Schaukelstuhl fallen. Danach griff er zu der Kerze. Petra schüttelte nur den Kopf vor Unglauben, drehte sich um und ging zu der steilen Treppe. Das Schlafzimmer sowie das kleine Gästezimmer lagen im spärlichen ersten Stock und das Mädchen fragte sich jedes Mal, wie lange ihre Großeltern den gefährlichen Aufstieg ins Obergeschoss noch würden meistern können. Für sie war es kein Problem, die schmalen und hohen Stufen zu erklimmen. Oben angekommen, wartete sie.

"Nach dir, meine Liebe", meinte Albert.

Heidi griff mit beiden Händen ans Geländer. Ihr Gatte hatte vor einigen Jahren auf der Wandseite ebenfalls eines angebracht, was sich mittlerweile als große Hilfe herausstellte. Wesentlich langsamer als Petra zuvor kamen die Großeltern im ersten Stock an.

"Vielleicht solltet ihr euer Schlafzimmer irgendwann einmal ins Wohnzimmer verlegen", kommentierte Petra.

"Ja, irgendwann vielleicht. Aber nicht heute", brummte Albert.

Die beiden umarmten Petra.

"Schlaf gut, Kind."

"Ihr auch. Ich hoffe, ich kann bei dem Regen schlafen."

Der Opa blieb noch vor der Tür zum Gästezimmer stehen, um Petra halbwegs durch die Dunkelheit zu leuchten. Schnell war sie auf das Bett gesprungen.

"Danke Opa. Und sag Oma bitte auch noch mal Danke für den leckeren Auflauf", bat sie.

"Dass du mir nur nicht von dem träumst!", zwinkerte er, "Gute Nacht, Petra."

Albert schloss die Tür.
 

* * *
 

Karanese, gegen Mitternacht:
 

Es war mitten in der Nacht, als Petra von einem Geräusch aus dem Schlaf gerissen wurde. Sie horchte in die Stille hinein, doch nichts regte sich. Gerade, als sie es sich wieder unter der Decke bequem machen wollte, hörte sie es erneut, kurz danach ein Rascheln direkt vor ihrer Tür.

"Petra...", hauchte jemand dahinter klammheimlich.

War das ihr Opa?

Leise glitt das Mädchen aus dem Bett und schlich auf Zehenspitzen zur Tür hinüber. Der Neumond lag gerade einige Tage zurück, weshalb es stockdunkel war in dem Schlafzimmer. Erneut hörte sie das Geräusch, das sie geweckt hatte, dieses Mal ausdrücklicher und lauter als zuvor. Petra lief ein kalter Schauer über den Rücken.

"Petra, um Himmels Willen..."

"Ich bin schon wach, Oma", flüsterte sie zurück und öffnete leise die Tür, "Was ist los?"

"Petra, du musst mitkommen und dich verstecken...", wisperte Heidi aufgebracht.

Die Alte hatte nur ihr geblümtes Nachthemd an und hielt eine Kerze in der Hand.

"Schnell..."

Das Mädchen folgte ihr zögerlich hinaus. Erneut wummerte jemand an die Eingangstür.

"Was ist denn los?", wollte sie wissen, "Wo ist Opa?"

"Er ist unten. Schnell, du musst dich in der Küche verstecken..."

Die beiden kamen an der Treppe an. In der Finsternis waren ihre Stufen gar nicht richtig zu erkennen und mit klopfendem Herzen griff Petra nach dem Geländer. Vorsichtig tastete sie sich mit ihren Füßen den Weg nach unten. Heidi, die Kerze nach wie vor in der Hand haltend, brauchte eine halbe Ewigkeit, um im Erdgeschoss anzukommen. Aber das bekam ihre Enkelin gar nicht mehr richtig mit.

"Aufmachen!", rief jemand von draußen, "Militärpolizei!"

Petra stockte der Atem, als ihr Opa leise aus der Küche kam, sie wortlos am Oberarm packte und in den hinteren Bereich des Hauses zerrte.

"Wir kommen ja schon...", rief die Großmutter, ließ sich aber dennoch Zeit.

Albert schob seine Enkelin in die Küche, in der auf magische Weise ein kleiner Kellerraum erschienen war, direkt unter der Stelle, an der zuvor die Kiste gestanden hatte.

"Seit wann habt ihr...", fing Petra an.

"Leise", mahnte Albert, "Schnell, versteck dich da unten. ... Und sei still."

Petra tat, wie ihr geheißen und kletterte in das finstere Loch, in der ein großer Schinken vom Haken hing. Als sie den Kopf eingezogen hatte, schloss ihr Großvater die Falltür wieder und schob die schwere Kiste zurück auf ihren Platz.

Erneut klopfte die Militärpolizei an die Tür, dieses Mal vehement und ohne sich darum zu kümmern, ob sie irgendwelche Nachbarn aus den Betten scheuchten. Petra hörte alles nur noch gedämpft. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals und sie hielt sich den Mund zu, aus Angst, ihr Atem könne sie verraten. Sie hörte, wie ihr Opa Albert zur Eingangstür schlurfte und sie öffnete.

"Na endlich!", meinte eine kalte Frauenstimme.

'Was macht die Militärpolizei hier? ', dachte Petra.

"Ich muss doch sehr bitten!", echauffierte sich der Hausbesitzer.

"Warum dauert das so lange?", wollte eine tiefe Männerstimme wissen.

"Was wollen Sie?", konterte Heidi.

Es folgte eine kurze Stille. Petra war sich nicht ganz sicher, glaubte aber, das Rascheln von Papier zu hören.

"Albert und Adelheid Ral, richtig?"

"Hören Sie, wir sind anständige Bürger, die sich nie etwas zu Schulden kommen lassen haben. Dürften wir daher erfahren, was Sie um diese unheilige Zeit von uns wollen?", fragte nun Albert.

"Das sehe ich anders...", konnte Petra die fremde Frau hören.

Sie zitterte.

"Wo ist dieses Mädchen, das heute tagsüber bei Ihnen war?", fragte die Männerstimme.

"Petra?", antwortete Albert zögerlich, "Petra ist zu Hause bei ihren Eltern."

"Lügen Sie nicht!"

Das blonde Mädchen im Keller hörte einen dumpfen Schlag.

"Albert!", rief Heidi entsetzt.

Die Frau musste den Großvater geschlagen haben.

"Louise, bitte!", mahnte der Mann.

Die Gedanken in Petras Kopf rasten. Sind diese Militärpolizisten etwa wegen ihr gekommen? Aber wenn ja, warum? Sie und ihre Familie waren bisher nie mit der Obrigkeit in Konflikt geraten.

"Louise, du durchsuchst die oberen Räume. Flinn, du schaust dir das Erdgeschoss an."

"Ich muss doch sehr bitten!", schimpfte Albert.

"Geh'n Sie gefälligst zur Seite!"

Das war wieder diese Frau, Louise. Getrampel von schweren Fußschritten machte sich im Haus breit. Petra hielt den Atem an, denn eines der Beinpaare brachte seinen Besitzer definitiv in ihre Richtung. Doch Flinn schien sich zuerst im Wohnzimmer umzusehen. Das Mädchen hörte, wie er einige Schritte im Raum nebenan herum ging und sich dann der Küche zuwandte. Ob er Licht bei sich hatte oder nicht, wusste Petra nicht. Trotzdem hoffte sie inständig, die Sicht möge zu schlecht sein, um ihr Versteck preis zu geben. Flinn ging in die Mitte der Küche und schien sich umzusehen. Er verharrte länger als zuvor im Wohnzimmer und Petra war sich sicher, dass die große Kiste jeden Augenblick zur Seite geräumt und die Falltür geöffnet werden würde. Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen wurde einer der Stühle zur Seite geschleudert, so dass er eines seiner Beine einbüßte. Flinn ließ seinen Blick noch einmal durch den Raum schweifen und kehrte dann zu seinem Vorgesetzten zurück.

"Da hinten is' sie nich'", meinte er gelangweilt.

"Louise?", rief der Kommandant nach oben, "Du weißt, die sehen es nicht gerne, wenn die Einrichtung zerstört wird..."

"Die Einrichtung zerstört?", fragte Heidi leise.

"Was wollen Sie?"

Die Angehörigen der Militärpolizei schienen die beiden alten Leute für einen Augenblick vergessen zu haben. Der Kommandant warf ihnen nun einen merkwürdigen Blick zu.

"Sie müssen mit uns kommen."

Das schien Heidi und Albert noch mehr zu verwirren. Letzterer fragte:

"Wir? Warum? Wohin?"

"Das werden Sie sehen, wenn wir da sind."

Louise kam aus dem ersten Stock zurück.

"Oben ist das Balg nicht", meinte sie.

Petra nahm wahr, wie oben gerumpelt und geraschelt wurde, was ihre Großeltern dazu veranlasste, sich lautstark zu beschweren. Sie hörte nicht mehr, was gesagt wurde, denn die Militärpolizei schien Albert und Heidi auf die Straße hinaus bugsiert zu haben. Nur ein lautes "... dafür keine Zeit ... " konnte sie noch hören, ehe eine schwere Tür zugeschlagen wurde. Davon, wie ein Kutschengespann sich auf den Weg in eine ungewisse Zukunft machte, bekam sie nichts mehr mit.

Ratlosigkeit

Karanese, früher Morgen des nächsten Tages:
 

Petra hockte in einer Ecke, den Kopf zwischen die angezogenen Beine gesteckt. Wie lange war sie in diesem finsteren Loch. Waren es nur Stunden oder schon Tage? Das Mädchen war immer wieder eingenickt, hatte sich aber trotzdem nicht getraut, an der Falltür über ihr zu rütteln. Waren die Leute von der Militärpolizei noch da? Hatte man ihre Großeltern weggebracht? Oder würde ihr Opa jeden Moment die Kiste von der Falltür schieben, um sie herauszulassen. Petra war sich nicht ganz sicher, ob sie das alles nur geträumt hatte. Gleichwohl musste sie hier raus. Ihre Eltern würden sich bestimmt schon Sorgen machen.

Ihre Glieder schmerzten von der starren Haltung. Das blonde Mädchen zog scharf die Luft ein, als ihre rechte Schulter knackste und ein stechender Schmerz durch ihren Körper jagte. Sie streckte die Beine von sich und blieb einige Augenblicke so sitzen, reglos in die Stille hinein horchend und darauf hoffend, dass sie sich doch alles nur eingebildet hatte. Aber nichts regte sich und so beschloss Petra, sich so weit als möglich in der kleinen Kammer aufzurichten.

'Opa muss das gegraben haben... ', dachte sie.

Das Versteck war nicht allzu tief, denn als sich aufrichten wollte, stieß sie augenblicklich gegen die Falltür. Das Mädchen tastete sie ab, doch auf dieser Seite schien es keinen Mechanismus zum Öffnen der Tür zu geben. Sie nahm sich Zeit, das Hindernis noch einmal genauer zu überdenken. Über ihr befand sich eine Holzkiste. Opa Albert hatte in der Nacht keine Probleme damit gehabt, sie zur Seite zu schieben und die Falltür selbst hatte sich nach oben geöffnet. Außerdem konnte sie sich nicht daran erinnern, dass Opa die Tür mit einem Schlüssel abgesperrt hätte. Es musste also eine Möglichkeit geben, hier heraus zu kommen.

'Ich muss nur fest dagegen drücken... '

Petra zögerte nicht. Sie stemmte sich mit aller verbliebenen Kraft gegen die Tür, sackte aber gleich wieder zusammen. Ihre Schulter schmerzte nach wie vor. Das Mädchen setzte sich wieder auf den Boden und überlegte. An ihrer Lösung, wie sie hier heraus kam, erschien ihr nichts falsch. Vielleicht war sie doch einfach nur zu entkräftet?

'Aber nein, ich kann hier nicht bleiben! '

Sie drehte sich etwas in der Enge und drückte dann mit der anderen Schulter gegen das Hindernis. Petra wollte schon erneut aufgeben, als sich die Tür tatsächlich einige Zentimeter nach oben bewegte.

'Jetzt nur nicht nachlassen... '

Sie stemmte sich noch mehr dagegen, was dazu führte, dass die Kiste über ihr zu Wackeln anfing. Langsam streckte sie ihre Beine aus, kam dann aber an einem Punkt an, an dem sie wieder zurück sank. War die Kiste doch zu schwer?

'Ich schaffe das!'

Petra schob sich Zentimeter für Zentimeter in die Höhe. Ihre Anstrengung war von Erfolg gekrönt, denn als sie das rechte Bein komplett durchstreckte, fiel die Kiste halb von der Tür auf die Seite. Die Falltür klappte scheppernd nach hinten und Petra steckte den Kopf aus dem Loch in die Küche. Sie hatte Angst, sogar große Angst. War die Militärpolizei noch hier? Würde die Frau mit der kalten Stimme jeden Moment in die Küche kommen und sie aus ihrem Versteck zerren? Petra wollte es nicht darauf ankommen lassen und stemmte sich in die Höhe.

Nach kurzem Zappeln streckte sie ein Bein aus dem Loch und schob sich auf den einfachen Holzboden hinauf. Außer Atem blieb sie liegen. Nichts regte sich in dem Haus. Wenn sich jemand in dem Gebäude aufhielt, wäre er durch den Lärm längst angelockt worden. Doch alles blieb still. Die Vierzehnjährige richtete sich auf und machte einige Dehnübungen. Erneut knackste es in ihrem Körper, aber dafür hatte sie keine Zeit. Petra musste hier weg.

'Ich muss zu meinen Eltern! Für Oma und Opa! '
 

* * *
 

Mitras, vormittags:
 

Kenny saß in einem Hinterzimmer einer für die Hauptstadt Mitras ziemlich heruntergekommenen Kaschemme, die Beine auf den Tisch gelegt. Er polierte seine Pistole mit einem öligen Lappen. Die Luft roch nach abgestandenem Alkohol, doch das störte ihn nicht. Seit etwa einer halben Stunde befand sich der Kommandant des Unterdrückungstrupps nun hier. Der Wirt, der nur einen Blick auf seine Uniform der Militärpolizei geworfen hatte und dann zusammengezuckt war, hatte ihn zuvor mit vielen freundlich-nervösen Sätzen in das Zimmer komplimentiert. Kurz darauf hatte er ihm eine Flasche Whiskey und ein Glas gebracht und gemeint, es ginge aufs Haus. Was Kenny stattdessen irritierte, war die Tatsache, dass seine Leute sich zu verspäten schienen. Es war das erste Mal in seiner Karriere beim Unterdrückungstrupp, dass jemand zu spät war, Bericht zu erstatten. Was ihn auch ziemlich verwunderte, da es sich bei den Mitgliedern dieser geheimen Organisation um handverlesene Spezialisten handelte.

Kenny legte seine Waffe auf den Tisch, um sich danach die Magazine vorzuknöpfen. Aus dem Gastraum drang geschäftiger Lärm zu ihm und ein wohlriechender Duft machte sich langsam breit. Der Koch schien trotz des schlechten Eindrucks, den die äußere Erscheinung des Etablissements hinterließ, etwas von seinem Handwerk zu verstehen. Was dazu führte, dass im vorderen Bereich des Gebäudes der Lärmpegel dezent stieg. Der Mann, der in der Vergangenheit als Kenny the Ripper bekannt wurde und kurz vor seinem 60. Geburtstag stand, fischte die einzelnen Patronen vom Tisch und befüllte das Magazin mit ihnen. Er schob gerade die letzte Kugel in das Magazin, als jemand hinter ihm an das verschlossene Fenster klopfte.

"Ihr seid verdammt spät...", murmelte er, ohne aufzusehen.

Der Kommandant rührte sich nicht vom Fleck und fuhr fort, seine Waffe zusammenzusetzen. Kratzende Geräusche in seinem Nacken verrieten ihm, dass sie das Fenster aufhebelten. Kenny steckte den geölten Lappen, der auf seinem Oberschenkel gelegen hatte, zur Seite und wog seine Pistole in der Hand. Sie fühlte sich nur dann gut an, wenn sie blitzte und blinkte. Das Fenster öffnete sich. Mucksmäuschenstill hangelten Armand und Louise sich in das Hinterzimmer, letztere schloss das Fenster wieder und gesellte sich dann zu ihrem Kollegen, der vor dem Tisch Aufstellung genommen hatte.

"Ihr seid spät dran", bemerkte Kenny nach fünf Minuten gespannten Schweigens.

Er legte die Pistole auf den Tisch, verschränkte die Hände auf dem Bauch und musterte die beiden mit einem stechenden Blick seiner grauen Augen.

"Auftrag erfolgreich ausgeführt, Sir", berichtete Armand.

Armand war nach Kenny das dienstälteste Mitglied des Unterdrückungstrupps, hatte rotbraunes, nackenlanges Haar und eine staatliche Figur, die jeden einfachen Bürger zurückweichen ließ. Selbst dann, wenn er zivil unterwegs war. Der Kommandant hatte ihn persönlich ausgesucht, war doch sein Talent bei der einfachen Militärpolizei komplett verschwendet. Auch die schwarzhaarige Louise konnte für sich das Recht beanspruchen, handverlesen zu sein. Ihr zierlicher Körperbau täuschte über ihre Brutalität hinweg und ihre Skrupellosigkeit stand der des Kommandanten in nichts nach.

"Was hat euch aufgehalten?", fragte Kenny sachlich.

"Wir hatten nach der Ausführung des Auftrages etwas in Karanese nachzuprüfen, Sir. Flinn geht der Sache gerade nach."

Der Kommandant sah sie zweifelnd an.

"Die gesuchten Personen wurden entsprechend der Befehle aus der Stadt hinausgebracht und beseitigt. Jedoch..."

Kenny zog die Augenbrauen nach oben. Louise ließ die Bombe platzen.

"Wir sind momentan auf der Suche nach einer möglichen Zeugin."

Armand warf seiner Kollegin einen mörderischen Blick zu, enthielt sich aber eines Kommentars. Statt auf den Leiter der Mission einzugehen, taxierte Kenny nun die Schwarzhaarige mit Blicken. Trotz ihrer Kaltblütigkeit konnte Louise seinem Blick nicht lange standhalten.

"Am Vortag war ein Kind bei den Alten. Wir haben das Haus durchsucht, konnten aber keine dritte Person ausfindig machen...", erzählte sie.

"Hat sie das Haus verlassen?", fragte Kenny.

Seine beiden Untergebenen warfen sich einen Blick zu.

"Ich glaub's nich!", schrie ihr Kommandant und sprang unerwartet flink von seinem Platz auf.

Er setzte über den Tisch hinweg, warf im Satz die Flasche Whiskey herunter und versetzte Armand einen Faustschlag, was diesen zurücktaumeln ließ. Louise verzog keine Miene. Trotzdem erntete sie einen Hieb, der sie zu Boden schickte. Der Alkohol floss ihrer blutenden Nase entgegen. Louise unterdrückte einen Fluch und sprang auf, bereit, sich im Notfall gegen weitere Schläge zu wehren. Doch Kenny hatte schon wieder von ihnen abgelassen. Er hatte ihnen den Rücken zugedreht, beide Arme auf dem Tisch abgestützt und starrte aus dem dreckigen Fenster.

"Ihr findet dieses Balg! Egal, wie!", zischte er.
 

* * *
 

Karanese, zur selben Zeit:
 

Die Vierzehnjährige schlenderte über den Markt in der Überzeugung, dass eine größere Ansammlung von Menschen ihr Schutz bieten würde. Zu beiden Seiten wurde gehandelt und gefeilscht, viele Marktschreier boten frisches Gemüse, Töpferwaren oder andere Produkte an, aber Petra war ganz blind für ihre Umgebung. Stattdessen warf sie immer wieder Blicke über ihre Schulter, um sicherzugehen, dass ihr nicht jemand in einem grünen Cape folgte. Hin und wieder entdeckte sie natürlich die entsprechenden Uniformen, aber sie atmete jedes Mal erleichtert auf, wenn der Träger sich als ein Mitglied der Mauergarnison entpuppte.

Petra passierte die einzelnen Buden und näherte sich dem Ende des Marktes. Sie würde noch drei Straßen kreuzen müssen, bevor sie an ihrem Elternhaus ankommen würde. Deshalb beschleunigte das Mädchen seine Schritte, wurde dann aber aufgehalten. Ein bärtiger Verkäufer mit deutlichem Bauch schob sich ihr in den Weg.

"Mädchen, wie wäre es mit einer Schleife für die Haare?", fragte er.

Sie duckte sich unter seinem Arm hindurch und murmelte:

"Tut mir leid, muss weiter..."

"Hey!"

Sie hüpfte einige Meter und beschloss dann, den restlichen Weg zu ihrem Elternhaus laufend zurückzulegen. Auf den umliegenden Straßen war bei weitem weniger los als auf dem Markt und so schaffte es Petra innerhalb kürzester Zeit, sich ihrem Haus zu nähern. Doch als sie beim Nachbarhaus ankam, das vor ihrem lag, blieb sie stehen, denn Frau Josefa, ihre knorrige alte Nachbarin, sah sie neugierig an.

"Hallo Petra! ... Habt ihr Ärger?", fragte sie interessiert.

Das rotblonde Mädchen antwortete nicht, sondern konterte den Blick der Frau nur ausdruckslos. Was meinte sie mit Ärger? Petra ging an ihr vorbei und wollte sich dem Haus ihrer Eltern nähern, stockte dann aber und huschte schnell einige Meter zurück. Sie hatte ihren Vater am Eingang stehend gesehen, im Gespräch mit einem Fremden. Auf dem Rücken des fremden hatte der Kopf eines Einhorns geprangt! Wie hatte die Militärpolizei so schnell herausgefunden, wo ihre Eltern lebten? Petra taumelte zurück, vorbei an der immer noch neugierig blickenden Nachbarin hin auf die offene Straße. Ihr Zuhause war scheinbar kein richtiges Zuhause mehr.

"Wo willst du denn hin?", fragte Josefa.

Petra hörte ihr nicht zu, sondern machte kehrt. Sie lief blindlings weiter, völlig verunsichert, wohin sie sich nun wenden sollte. Wieder zum Markt zurück? Das erschien ihr vorerst als die beste Lösung. Wie es genau weitergehen sollte, konnte sie sich immer noch überlegen, wenn sie etwas Abstand zwischen sich und die Militärpolizei gebracht hatte. Sie stolperte weiter und rannte in jemanden hinein. Verwirrt murmelte sie eine Entschuldigung und ging dann weiter. Die Vierzehnjährige bekam gar nicht richtig mit, dass derjenige, den sie gerade angerempelt hatte, ihr ihren Namen hinterher rief, sondern setzte ihren Weg fort.

"Na, hast es dir anders überlegt, Kleine?", begrüßte sie der bärtige Verkäufer.

Petra ging wortlos weiter, doch nach einigen Metern wurde sie grob am Arm gepackt. Sie erschrak und wollte sich losreißen, aber die Hand wollte sie nicht loslassen.

"Petra, ich bin's!", rief jemand, "Was ist denn in dich gefahren?"

Die Stimme kannte sie. Petra schüttelte den Kopf, um wieder klar denken. Stand da tatsächlich ihr großer Bruder Charly vor ihr?

"Mensch, was ist denn los? Hast du irgendetwas ausgefressen?", fragte er gespielt.

Erst beim zweiten Hinschauen bemerkte er, dass ihr nicht wohl zu sein schien. Ihr Zopf sah ziemlich zerzaust aus und auch die Kleidung hatte einiges abbekommen. Ganz zu schweigen von dem leeren Blick.

"Petra, du bist ja ganz blass!"

Er nahm sie erneut beim Arm und führte sie etwas von dem Trubel auf dem Markt weg.

"Was ist denn los?", fragte er besorgt.

Die Vierzehnjährige konnte nicht mehr und brach schluchzend zusammen. Dicke Tränen quollen ihr aus den Augen und Charly schaffte es nicht, sie zu beruhigen.

"Um Himmels Willen!"

Er hob Petra kurzer Hand hoch und trug sie weg, um sie vor den Blicken der neugierigen Leute zu schützen. Als er in einer vergleichsweise finsteren Gasse ankam, setzte er sie auf einem Holzfass ab. Das Gesicht von Charly' Schwester war mittlerweile komplett verweint. Aus einer seiner Hosentaschen zog er ein kleines Tuch und versuchte, das Häufchen Elend vor sich so gut es ging zu trocknen.

"Sie haben Oma und Opa...", murmelte Petra.

"Wie?"

Charly beugte sich näher zu ihr und lenkte seine rechte Hand auf ihre Schulter.

"Sie haben sie entführt..."

"Wer hat wen entführt? Petra, ich verstehe kein Wort..."

"Die Militärpolizei...", schluchzte sie, "Die haben Oma und Opa entführt!"

Ihr Bruder starrte sie wortlos an.

"Aber Petra, was redest du denn da?"

"Sie sind in der Nacht gekommen..."

Petra schniefte geräuschvoll und ließ den Kopf hängen.

"Zu dritt... Sie haben Oma und Opa... Und jetzt sind sie hinter mir her..."

Charly schwieg. Er wusste nicht recht, ob er seiner Schwester Glauben schenken solle oder nicht. Was sollte die Militärpolizei schon von ihren Großeltern wollen? Andererseits, Petra war niemand, der ihren Eltern durch Lügen Kummer bereitet hätte. Sie war immer von Grund auf ehrlich gewesen, auch wenn das bedeutete, selbst einmal zurückstecken zu müssen. Zudem war es auffällig, dass ausgerechnet ein Militärpolizist heute zu ihnen gekommen war. Charly hatte gerade das Haus verlassen wollen, als ein junger Mann mit schulterlangen blonden Locken an die Haustür hatte klopfen wollen. Er hatte sich als Nick vorgestellt und gefragt, ob er den Hausherren sprechen könne. Daraufhin hat Charly die Achseln gezuckt, nach seinem Vater gerufen und war dann in die Stadt gegangen. Zugern hätte er gewusst, was Nick zu sagen gehabt hätte. Aber er konnte unmöglich zu spät bei seinem Ausbilder erscheinen. Und jetzt Petras Geschichte. Das erschien für ihn mehr als nur merkwürdig. Charly dachte nach. Dann erinnerte er sich.

"Ich glaube dir, Petra", meinte er.

Seine Schwester schluchzte vernehmlich.

"Ich kenne da jemanden, der dir vielleicht helfen kann", fuhr Charly fort.

Das Mädchen hob langsam den Kopf.

"Wen?", fragte sie.

"Jemanden vom Aufklärungstrupp. ... Erinnerst du dich noch an Mira, die früher mit ihrer Familie neben uns wohnte? Mit ihr hast du immer Verstecken gespielt."

"Mira ist beim Aufklärungstrupp?"

Petra war skeptisch. Inzwischen hatte sie sich wieder etwas beruhigt und sich mit dem Taschentuch ihres Bruders die Tränen getrocknet. Es hatte schließlich keinen Zweck, den Kopf hängen zu lassen und nichts zu tun. Wenn sie sich an ihre damalige Freundin erinnerte, fiel ihr sofort ein, dass Mira sich immer vor allem möglichen erschreckt hatte. So jemand würde doch nicht mal die Grundausbildung schaffen. Oder etwa doch?

"Sie nicht, aber ihr Bruder Erd."

"Der mit dem Leberfleck auf dem Bauch?"

"Nein, das war Lind. Ich meine den mittleren von den dreien."

"Der, der immer mit Stefan zusammen Unsinn gemacht hat?"

"Genau der! Der kann bestimmt helfen."

"Ich weiß nicht", meinte Petra, "Wieso soll sich der Aufklärungstrupp mit mir befassen? Die haben doch bei weitem wichtigere Aufgaben. ... Überhaupt, reiten die nicht bald eh hinter die Mauer?"

"Woher weißt du das denn?", fragte Charly schockiert.

Petra rutschte vom Fass und sah verlegen zur Seite.

"Man hört die Leute auf der Straße halt so dies und das sagen...", entgegnete sie.

Charly schüttelte ungläubig den Kopf.

"Jedenfalls sind grad einige von ihnen hier in der Stadt", erklärte Petras Bruder, "Wir sollten uns aber sputen, bereits heute Abend wollen sie nach Shiganshina weiterreiten. ... Vielleicht können sie dich mitnehmen."

Petra sah Charly neugierig an.

"Woher weißt du eigentlich so genau Bescheid?", fragte sie.

"Ich? Ich habe Erd gestern getroffen. ... Also komm. Zufälligerweise weiß ich, wo sie übernachten. ... Und die Kommandantin von Erds Einheit ist auch sehr nett, wenn auch etwas seltsam."

Petra ließ sich von ihrem Bruder mitnehmen. Was hatte sie schließlich zu verlieren? Zurück zu ihren Eltern konnte sie vorerst nicht. Und eine Alternative wollte ihr auf die Schnelle auch nicht einfallen. Also war es wohl erst einmal das Beste, die Leute von der Aufklärungslegion um Rat zu fragen. Ob die ihr helfen konnten, wusste die Vierzehnjährige nicht. Zugegeben, Militärpolizei und Aufklärungstrupp schienen sich nie besonders sympathisch gewesen zu sein. Aber ob diese Neigung soweit ging, dass der Aufklärungstrupp einer Wildfremden zur Flucht verhelfen würde? Petra zweifelte stark daran, schwieg aber.
 

* * *
 

Karanese, zur selben Zeit:
 

Flinn sprang von einem Hausdach zum anderen. Er hatte einige Augenblicke unsichtbar für alle Bürger über der Stadt verbracht, sich dann aber in Bewegung gesetzt, als es die neue Zielperson ebenfalls getan hatte. Derzeit war dieses Mädchen mit einem jungen Mann unterwegs, den er zuvor getroffen hatte und dem er sich als "Nick" vorgestellt hatte. Dieses Pseudonym hatte er sich an seinem ersten Tag beim Unterdrückungstrupp zulegen müssen und es seitdem immer benutzt, wenn er mit einfachen Bürgern zu tun hatte. Petra, so hieß sie, war nicht bei ihren Eltern zu Hause. Die ganze Nacht hatte er ihr Elternhaus beschattet, ohne dass sich das blonde Mädchen gezeigt hatte. Daher hatte er vor einer halben Stunde beschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen und hatte den Hausherrn verlangt. Doch auch dieser hatte seine Tochter an diesem Tag noch nicht gesehen.

"'Wie auch, sie ist ja bei ihren Großeltern'!", ätzte Flinn.

Er hatte sich höflich für die Auskunft bedankt und war auf die Fragen des Mannes, warum die Militärpolizei ausgerechnet seine Petra suche, nicht weiter eingegangen. Etwas ratlos hatte er in einer Seitenstraße eine Hauswand erklimmt und hatte beschlossen, dem jungen Mann zu folgen, bei dem es sich ja möglicherweise um den Bruder handeln könnte. Mit seiner Vermutung war Flinn gar nicht so falsch gelegen.

"Wo die wohl hinwollen?", fragte er sich.

Flinn konnte ihnen gemächlich folgen, ohne dass sie auf ihn aufmerksam wurden. Aber wieso schlugen sie nicht den Weg zu ihrem Elternhaus ein? Das Mädchen war die ganze Nacht über schließlich nicht zu Hause gewesen. Und im Haus ihrer Eltern hatten sie sie schließlich auch nicht gefunden.

"Das ist alles Louises Schuld...", grummelte er.

Hätte sie ihn nicht Tags zuvor abgelenkt, wüssten sie, wo Petra hingegangen ist, nachdem sie das Haus ihrer Großeltern verlassen hatte. Der Militärpolizist setzte weiter über die Dächer hinweg, sein 3D-Manöver-Apparat trug ihn lautlos durch die Luft. Zwischendurch hielt Flinn inne, die beiden jungen Leute waren zu Fuß fast zu langsam. Als sie um das Eck eines Gasthauses bogen und es dann betraten, schnappte er überrascht nach Luft.

"Was wollen die da?"

Flinn war schon halb von seinem Dach herunter gesprungen, da setzte er überhastet wieder hinauf.

"Der...!", raunte er abfällig, "Mit dir habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen..."

Flucht

Karanese, am Nachmittag:
 

"Will sie denn nichts antworten?", flüsterte Petra eingeschüchtert.

Seit etwa einer halben Stunde befand sie sich nun mit ihrem Bruder Charly in einem Lagerhaus der Mauergarnison. Ihr gegenüber saß eine offensichtlich hochrangige Angehörige der Aufklärungslegion und starrte sie durch ihre Brille hindurch an. Ihre braunen Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden und ihre zu Beginn ziemlich flapsige Art und die dreiste Frage, ob Erd eine Freundin gefunden habe, hatten auf Petra keinen besonders vertrauenswürdigen Eindruck gemacht. Erd, der mit hochrotem Kopf alles abgestritten hatte, aber nun ebenfalls anwesend war, machte ein ernstes Gesicht. Natürlich hatte er sich an Charlys kleine Schwester erinnert, Petra ihrerseits hätte ihn mit seinen kinnlangen Haaren fast nicht erkannt. Und er schien bei weitem nicht mehr so kindisch zu sein wie früher. Was vermutlich auch an seinem Spitzbärtchen lag, das ihn älter wirken ließ, als er tatsächlich war. Zu guter Letzt war da noch drei andere Mitglieder gewesen, die mit allerlei organisatorischen und logistischen Aufgaben beschäftigt gewesen waren. Jetzt schob der älteste der drei Wache vor ihrer Tür, während der Rest weiter arbeitete.

Hanji kratzte sich am Kinn.

"Das sind schwere Anschuldigungen, die du erhebst", stellte sie klar.

Petra starrte verschämt auf den Boden. Dass die an ihrer Geschichte zweifeln würden, war ihr von vornherein klar gewesen. Immerhin war Hanji so fair gewesen, ihr zuzuhören. Während das Mädchen erzählt hatte, war der fröhliche Gesichtsausdruck ihres Gegenübers nach und nach verschwunden. Jetzt schien sie abzuwägen, was sie tun sollte.

"Meine Schwester hat keinen Grund, diese Geschichte zu erfinden", erklärte Charly.

Erd warf seinem Bekannten aus Kindheitstagen schnell einen Blick zu und schüttelte unmerklich den Kopf.

Hanji lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück.

"Euch ist hoffentlich klar, dass – wenn eure Geschichte der Wahrheit entspricht – ihr in größter Gefahr schwebt, oder?"

"Wir?", fragte Petra erstaunt.

Sie hob ihren Kopf wieder, um der Kommandantin der kleinen Truppe ins Gesicht zu schauen.

"Natürlich ihr! Ob von dir beabsichtigt oder nicht, dein Bruder ist Mitwisser dieser Sache geworden und somit ebenfalls eine Gefahr für die ... Militärpolizei."

Petra und Charly warfen sich einen kurzen Blick zu.

"Ich wollte niemanden in Gefahr bringen! Ehrlich!", protestierte das Mädchen.

"Nein, natürlich nicht", antwortete Hanji beschwichtigend, "Niemand wirft dir vor, absichtlich jemanden in Gefahr gebracht zu haben. ... Trotzdem möchte ich dich darauf hinweisen, dass auch der Aufklärungstrupp in Teufels Küche kommen kann, wenn sich einige seiner Mitglieder mit der Militärpolizei anlegen."

Die Vierzehnjährige war einem Heulkrampf nahe und auch Charly schien mittlerweile überzeugt davon, dass seine Idee, den Aufklärungstrupp um Hilfe zu bitten, doch nicht so gut war. Hanjis Brillengläser spiegelten, als sie leicht den Kopf neigte.

"Um Himmels Willen, Hanji!", protestierte Erd.

Er ging zu Petra hinüber, um das Mädchen tröstend auf die Schulter zu klopfen und machte ein verschämtes Gesicht.

"Na schön!"

Hanji stand auf und streckte sich einmal ausgiebig so, als wäre sie gerade erst aufgestanden.

"Eld, du bist für die beiden verantwortlich, während wir nach Shiganshina reiten!"

"Ich?!", fragte der Angesprochene überrascht.

"'Die beiden'?!", rief Charly entsetzt.

Nur Petra schien ein großer Stein vom Herzen zu fallen. Erd wollte bei Hanji Widerspruch anmelden, drehte sich aber dann schnell zu dem blonden Mädchen hin, als er bemerkte, dass sie schimmernde Augen bekommen hatte und schniefte.

"Natürlich du...", fügte die Kommandantin an, "sie ist schließlich deine Freundin."

Hanji ging an ihnen vorbei.

"Wir reiten los, sobald alles fertig ist. Als seht zu, dass ihr bereit seid... Wir werden nicht auf euch warten!"

Charly stolperte ihr hinterher und griff nach ihrem Arm. Hanji blieb stehen und sah ihn fragend an.

"Ich muss mit?", stammelte Petras Bruder.

"Selbstverständlich!"

"Ich kann aber nicht mit. Mein Ausbilder wird mir den Hals umdrehen und mich rauswerfen... Wenn er es nicht sowieso schon gemacht hat."

"Willst du dich lieber mit der Militärpolizei auseinandersetzen?", fragte die Braunhaarige leidenschaftslos.

"Nein, aber..."

"Du bist für sie genauso gefährlich wie Petra. Wenn ihre Geschichte stimmt... Das muss dir doch bewusst sein."

Charly sagte nichts. Frustriert ließ er nur die Schultern hängen, während Hanji zu einem der anderen Mitglieder des Aufklärungstrupps hinüber ging und leise mit ihm sprach. Derjenige nickte nur, ließ alles stehen und liegen, wo es war und verließ das Gebäude.

Derweil führte Erd Petra aus dem Zimmer heraus.

"Wollen wir zu den Pferden gehen?", fragte er nett.

Als die beiden draußen waren und Charly ihnen kurz darauf gefolgt war, schüttelte Hanji nur den Kopf.

"Wenn das keinen Ärger gibt...", murmelte sie und ging wieder an die Arbeit.
 

* * *
 

In der Wildnis, früher Abend:
 

Petra klammerte sich am Sattel fest. Trotzdem wurde sie auf ihrer fuchsbraunen Stute hin und her geschleudert. Hanji hatte wütend abgelehnt, langsamer zu reiten, als Erd sie darum gebetet hatte und gemeint, dass es besser sei, so schnell wie möglich aus Karanese zu verschwinden. Jetzt versuchte er, der Vierzehnjährigen Tipps zu geben.

"Du darfst dich nicht so nah ran ducken!", rief Erd durch den Wind, "Versuch mal, locker im Sattel zu sitzen!"

"Leichter gesagt, als getan...!", jammerte Petra.

Sie hatte sich sofort mit dem Tier angefreundet, als sie in den Stall gegangen waren. Aber Petra glaubte nicht so recht dran, dass die Stute sie nicht abwerfen würde.

"Sie spürt deine Angst! ... ... Wenn der Reiter unruhig ist, überträgt sich das auf das Pferd!"

Das Mädchen richtete sich etwas im Sattel auf, presste aber nach wie vor beide Beine an die Seiten des Tieres. Sie wurde erneut durchgeschüttelt, als die Stute mit einem Sprung über einen kleinen Graben hinweg setzte. Anscheinend orientierte sich das Pferd derzeit mehr an seinen Artgenossen als an seinem Reiter.

"Ich wünschte, das wär alles nicht passiert!", schrie Petra, blieb aber aufrecht im Sattel.

Im Gegensatz zu ihr hatte Charly sehr schnell begriffen, wie man richtig ritt und saß selbstsicher auf seinem gefleckten Hengst. Neben Hanji und Erd bestand ihre Eskorte nur noch aus zwei weiteren Mitgliedern des Militärtrupps. Petra hatte sich die ganze Zeit gewundert, wohin der Fünfte verschwunden war, hatte es aber zwischenzeitlich wieder verdrängt.

"Es lässt sich nicht mehr ändern. Wir können nur dafür sorgen, dass euch die Militärpolizei nicht in die Finger bekommt. ... Aber dafür müssen wir schneller reiten!", konterte Erd.

"Ouch!"

Petra war zu nah an einem Busch vorbeigeritten und hatte ein paar Zweige ins Gesicht bekommen. Einige Tropfen Blut quollen aus Ritzen in der Haut hervor, verflüchtigten sich aber im Wind.

"Wieso musste ich mir die Haare schneiden?!", johlte das Mädchen weinerlich durch den Wind.

Erd ließ den Kopf hängen. Sie würde es ihm wohl nie verzeihen, dass er mit dieser Idee gekommen war. Und dass er ihr ihren Haarzopf kurzerhand abgeschnitten hatte, als sie unaufmerksam war und eines der Pferde gestreichelt hatte. Wenigstens Charly hatte ihm zugestimmt und versucht, Petra von der Zweckmäßigkeit des Frisurwechsels zu überzeugen. Und dass Petra auch mit kurzen Haaren eine Schönheit sei. Was sie ihm allerdings nicht geglaubt hatte. Seitdem hatte die Vierzehnjährige nicht mehr aufgehört, ihn anzustarren, wohl aus Angst, er würde noch einmal etwas an ihrem Aussehen verändern wollen.

"Die wachsen schnell wieder nach...", seufzte er.

Die Gruppe flog über die Ebene dahin. Wie Hanji geplant hatte, waren sie ziemlich bald nach ihrem vertraulichen Gespräch aufgebrochen. Die Feldwebel hatte der Mauergarnison noch zwei weitere Pferde abgeschwatzt, während Petra und Charly den anderen Mitgliedern der Aufklärungslegion dabei geholfen hatten, die wenigen Ausrüstungsgegenstände, die sie mitnehmen wollten, zu verpacken. Danach hatte Erd ihnen einen Crashkurs im Reiten verpasst, sie auf die Pferde gesetzt und sie dann unter Aufsicht einige Runden im Schritt und danach sogar im Trab drehen lassen. Doch Galopp über unebenes Gelände war etwas ganz anderes.

Die Sonne senkte sich mittlerweile dem Horizont entgegen und sie hatten etwa die Hälfte bis nach Shiganshina zurückgelegt. Doch es würde unweigerlich bereits Nacht sein, wenn sie in der südlichsten Stadt der Menschheit ankamen, wo sich derzeit der Aufklärungstrupp aufhielt.

Petra fragte sich die ganze Zeit schon, wie es dort wohl sein würde. Sie war bisher nie aus Karanese heraus gekommen, allenfalls einmal, um mit ihrem Vater die ein oder andere Besorgung zu machen. Das Hinterland von Mauer Maria hatte sich als ziemlich langweilig herausgestellt. Daran konnte auch das vermutlich zehnte Wäldchen nichts mehr ändern, das die kleine Gruppe gerade passierte.

Das Mädchen saß mittlerweile etwas entspannter im Sattel, was dazu führte, dass der Galopp ihrer Stute gleichmäßiger zu werden schien. Unbewusst starrte sie nun Erd auf den Hinterkopf, der eine halbe Pferdelänge seitlich vor ihr ritt. Er schien ihren Blick zu fühlen, denn der junge Mann bremste sein Tier etwas und ritt dann auf gleicher Höhe neben ihr.

"Ist was?", fragte er.

Petra zögerte. Sollte sie ihn wirklich fragen? Möglicherweise unterschied es sich nicht besonders zu dieser Gegend. Aber vielleicht hatte Erd auch Dinge gesehen, die sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht vorzustellen mochte.

"Warst du schon mal auf der anderen Seite?", wollte sie wissen.

Erds Gesichtsausdruck verfinsterte sich.

"Ich glaube nicht, dass dich das wirklich so brennend interessiert", meinte er lapidar.

"Wah?"

"Hinter der Mauer ist es nicht viel anders als hier..."

Die Vierzehnjährige sah ihn neugierig an.

"Hast du schon mal einen von ihnen gesehen?", hakte sie nach.

"Also DAS ist nun wirklich nichts für hübsche Mädchen wie dich!", entgegnete Erd.

Petra war immerhin schon erwachsen genug, um knallrot anzulaufen. Erst im zweiten Augenblick begriff sie, dass er elegant das Thema gewechselt hatte.

"Warum nicht?", fragte sie entrüstet, "Ich bin gerade im besten Alter, mich der Trainingseinheit anzuschließen."

Erd fiel fast vom Pferd. Entsetzt gaffte er seine Freundin aus Kindheitstagen an.

"Das überlegst du doch nicht wirklich, oder?!", konterte er.

Mit immer noch rotem Gesicht starrte Petra auf den Sattelknauf vor sich.

"Schlag dir das lieber wieder aus dem Kopf! Es gibt genügend andere Möglichkeiten, wie du später deinen Unterhalt verdienen kannst. Welche, bei der du nicht befürchten musst, hinter dem nächsten Baum verschlungen zu werden..."

Das Mädchen sagte nichts mehr und Erd beließ es dabei. Tatsächlich hatte sie das nur so daher gesagt. Petra hatte noch nie ernsthaft in Betracht gezogen, sich der Trainingseinheit anzuschließen, geschweige denn einer der drei späteren militärischen Einheiten der Menschheit. Und Erd hatte schließlich Recht. Der Aufklärungstrupp hatte nur Platz für wirklich hart gesottene Menschen.

'Und man muss wohl auch eine eigentümliche Ansicht über das eigene Leben haben, um hinter Mauer Maria reiten zu wollen', dachte sie.

Unbewusst hatte Petra ihren Blick auf Hanji gerichtet, die vor ihr in das Abendrot ritt.
 

* * *
 

In der Wildnis, nachts:
 

Flinn ritt wie der Blitz, so dass Armand, Louise und Doug alle Mühe hatten, mit ihm mitzukommen. Der Staub, den die Hufe seines Pferdes aufwirbelten, flog ihnen ins Gesicht.

"Er reitet, als ob der Boss höchstpersönlich hinter ihm her wäre...!", kommentierte Louise und versuchte, ihr Gesicht vor dem Dreck abzuschirmen.

Sie hatte sich das Blut so gut es ging von der Nase gewischt.

"Es muss sich um eine alte Angelegenheit handeln", vermutete Armand.

Am Nachmittag waren die beiden zusammen mit einem dritten Mitglied des Unterdrückungstrupps in Karanese zu Flinn gestoßen und er hatte sie zu höchster Eile gedrängt. Die gesuchte Person hatte sich mit Hilfe ihres Bruders an den Aufklärungstrupp gewandt und ritt nun einige Meilen vor ihnen über die Ebene nach Shiganshina.

Armand, der auch diese Mission leitete, hatte angeordnet, die Pferde gegen ausgeruhte auszutauschen und die 3D-Manöver-Ausrüstung samt Klingen zu überprüfen. Anders als Kenny hatten sie nach wie vor nur die normale Ausrüstung, die auch die Mauergarnison und der Aufklärungstrupp nutzten. Danach waren sie losgeritten. Der Unterdrückungstrupp musste verhindern, dass die Zielpersonen die südliche Stadt von Mauer Maria erreichten. Idealerweise würden sie sie in einem Wäldchen in eine Konfrontation verwickeln, aber wenn die Leute des Aufklärungstrupps wussten, dass sie ihnen bereits auf den Fersen waren, würden sie definitiv im offenen Gelände bleiben.

Flinn hatte die Kommandantin der kleinen Gruppe nicht persönlich gekannt. Doch durch seine Beschreibung ihres Aussehens wusste Armand sehr wohl, dass sie es mit Hanji Zoe und ihrer Einheit zu tun hatten. Was ihn mehr beunruhigte, war die Tatsache, dass die Frau ein Mitglied ihrer Truppe voraus geschickt hatte, vermutlich um Hilfe zu holen. Von daher war es nicht verwunderlich, dass sie nur so über die Ebene flogen. Doch was speziell Flinn so zur Eile antrieb, wusste er nicht.

Die Sonne war mittlerweile untergegangen, doch die Leute des Unterdrückungstrupps drosselten die Geschwindigkeit ihrer Pferde nicht. Es war waghalsig, da die Tiere jederzeit in ein Mauseloch oder auf einen Stein treten und so zu Fall gebracht werden konnten. Aber Armand und die anderen mussten die Zielpersonen unbedingt stellen, bevor sie Shiganshina erreichten. Und bevor ihnen jemand zu Hilfe kam.
 

* * *
 

"Das sieht furchtbar aus!", stammelte Petra.

Charly lag am Boden mit blutüberströmtem Gesicht. Erd kniete neben ihm und versuchte, dem jungen Mann so gut es ging zu helfen. Petras Bruder hatte sich die Nase und eine Augenbraue blutig geschlagen, als er bei völliger Dunkelheit gegen einen herabhängenden Ast geritten war. Sein Hengst war noch einige Meter weitergelaufen und dann stehen geblieben, als Charly sich plump zu Boden hatte fallen lassen. Nun standen sie zu dritt um ihn herum, während die zwei anderen Mitglieder des Aufklärungstrupps nach Verfolgern Ausschau hielten.

"Wir haben keine Zeit, ihn hier zu verarzten", meinte Hanji, "Verbinde ihm die Nase und die Stirn, so gut es geht... Dann reiten wir weiter."

Erd unterdrückte einen Fluch und holte seinen Wasserschlauch heraus, um die Wunden wenigstens halbwegs zu säubern.

"Hier, du kannst das benutzen."

Petra hielt ihm das Stofftaschentuch hin, welches sie am Nachmittag zuvor von ihrem Bruder bekommen hatte.

"Das wird wohl gehen müssen..."

Erd verband Charly die Stirn.

"Nur keine Umstände wegen mir", keuchte der Patient.

Er versuchte, sich aufzurichten, war aber noch etwas benommen.

"Los, aufsitzen!", befahl Hanji und wandte sich ihrem Pferd zu.

Erd zog Charly in die Höhe und Petra hielt die Zügel des Hengstes fest, während der eine dem anderen beim Aufsitzen half.

"Wir sollten vielleicht langsamer reiten?", überlegte die Vierzehnjährige, als sie im Sattel saß.

"Nein...!", entschied die Anführerin der kleinen Gruppe.

Sie ritten los und Erd schob sich unauffällig an Hanji heran, während Petra neben ihrem Bruder her ritt und auf ihn Acht gab.

"Werden wir verfolgt?", raunte er ihr zu.

Erst einige Augenblicke später nickte sie.

"Ich weiß nicht, ob wir direkt verfolgt werden. Aber ich habe das unbestimmte Gefühl, dass wir hier draußen nicht mehr alleine sind."

"Es wird zum Kampf kommen, oder?"

Hanji warf einen Blick zurück auf Petra und Charly.

"Wenn es dazu kommt, müssen sie die Köder spielen..."

Erd seufzte. Er war nach wie vor der Überzeugung, dass es richtig gewesen war, Petra und ihrem Bruder zu helfen. Aber die Angelegenheit entwickelte sich langsam zu etwas, was scheinbar weit über die üblichen Scharmützel zwischen Militärpolizei und Aufklärungstrupp hinaus ging. Wieso verschleppte die Militärpolizei einfache und unbescholtene Bürger? Und warum jagten sie unschuldige blonde Mädchen? Hanji jedenfalls musste Petras Geschichte Glauben schenken. Sonst hätte sie nie eingewilligt, sie auf eigene Gefahr hin nach Shiganshina zu bringen. Erd wollte ihr gerade etwas sagen, als ein Schrei ihrer Nachhut ertönte.

"Verdammt!", fluchte Hanji, "Du kümmerst dich, dass die beiden weiterreiten. Wir halten sie auf."

"Oh Gott!"

Erd tat, wie ihm geheißen, während Hanji mit dem Pferd kehrt machte. Ihre Nachhut war bereits in einen Kampf verwickelt, der sich auf Pferderücken allerdings schwer gestaltete. Und es war nicht auszumachen, mit wie vielen Militärpolizisten sie es zu tun hatten. Gut möglich, dass in der Finsternis noch welche im Hinterhalt lauerten. Die Kommandantin stürzte sich ins Getümmel, ohne weiter auf Erd und seine beiden Schützlinge zu achten.

Denen stand wahrlich die Angst in das Gesicht geschrieben. Petra hatte sich wieder auf das Pferd geduckt, was in Anbetracht der Umstände keine schlechte Idee war. Erd ließ sie aufholen.

"REITET IMMER WEITER!", brüllte er ihnen durch den Wind zu, "SCHAUT NICHT ZURÜCK!"

Er wusste nicht, ob sie ihn gehört hatten. Notgedrungen heftete Erd sich an ihre Fersen und versuchte hin und wieder mit einem Blick über seine linke Schulter, etwas vom Kampf hinter sich mitzubekommen. Doch in der Dunkelheit war nichts zu erkennen. Nur das häufige Klirren von aufeinander treffenden Klingen verriet ihm, dass seine Kollegen alle Mühe hatten, ihre Verfolger abzuwehren.

"VORSICHT!", schrie Petra.

Erd bekam sein Pferd gerade noch herumgerissen. Fast wäre er gegen einen großen Felsen geritten, den Charly und seine Schwester bereits umrundet hatten.

"Verflucht noch eins!"

Etwas flog an ihm vorbei und Erd sah wieder über seine Schulter.

"Ist das etwa...?"

Der junge Mann holte zu Petra und Charly auf.

"Bleibt bloß nicht stehen", raunte er ihnen zu.

Dieses Mal war er sich ziemlich sicher, dass sie ihn verstanden, denn die Vierzehnjährige sah ihn mit angstvollen Augen an und nickte schließlich.

"Es ist nicht mehr weit bis Shiganshina und Hilfe ist bereits unterwegs! ... Seht nicht zurück!"

"Erd? ... ERD!"

Der Angesprochene ignorierte Petras furchtsame Rufe und ließ sich zurückfallen, um den Kampf mit seinem Verfolger aufzunehmen.
 

* * *
 

"Lange nicht gesehen, Erd!", rief Flinn über den Lärm hinweg.

"Das kann man wohl sagen..."

Der Militärpolizist hieb sofort nach seinem Kontrahenten, aber der Schlag war kraftlos und schlecht gezielt. Trotzdem hatte Erd sein Reittier etwas weggelenkt, ließ die Zügel nun vor sich auf den Sattel fallen und griff nach seinen Schwertern. Da sie nach wie vor auf offenem Gelände waren, war sein 3D-Manöver-Apparat so gut wie nutzlos.

"Wieso machen wir das nicht wie richtige Männer untereinander aus?", höhnte Flinn, der zu ihm aufgeschlossen hatte.

"Hah!"

Erd wusste, dass sein alter Bekannter von der Trainingseinheit ihn provozieren und in eine Falle locken wollte. Darauf durfte er sich nicht einlassen. Konzentration erforderte die Situation, so dass Petra und Charly genügend Zeit hatten, zu entkommen. Wie es Hanji und den anderen erging, wusste er nicht. Der junge Mann überlegte, wie er Flinn am besten außer Gefecht setzen konnte, doch schon musste er einen Schlag gegen seinen linken Oberarm in Kauf nehmen. Er zog scharf die Luft ein, als Blut seinen Ärmel tränkte, griff seine Klingen dann aber fester und erwiderte den Angriff. Flinn duckte sich hinweg und stach dann nach Erds Kopf, den dieser gerade noch im letzten Moment wegziehen konnte.

"Verschlagen wie eh und je!", kommentierte er diese gemeine Attacke.

"Ich würde es 'zielstrebig' nennen", konterte Flinn.

Die beiden mussten sich kurzerhand voneinander trennen, wollten sie mit ihren Pferden nicht im nächsten Gebüsch landen. Erds Wunde schmerzte, aber er unterdrückte es. Als sein Gegner gerade von dem Strauch verdeckt wurde, überdachte der junge Mann seine Taktik. Am einfachsten würde es sein, Flinns Pferd auszuschalten. Erd war aber nie im Leben bereit, soweit zu gehen.

"Besser ist es, ihn von seinem Pferd zu trennen..."

Doch es würde alles andere als einfach sein, an die entsprechende Stelle ranzukommen wo der Sattelgurt den Leib des Tieres umspannte. Zumal Flinn sie mit seinen Beinen abschirmte. Sie passierten die Büsche und ritten dann wieder aufeinander zu. Erd versuchte Flinns Angriff von gerade eben zu kopieren und auf dessen Beine anzuwenden, aber sein Kontrahent durchschaute seinen Plan.

"Gefallen dir meine Beine nicht?", rief er gespielt entrüstet.

"Die brauchen eine Rasur..."

Das wollte Erds alter Bekannter nicht auf sich sitzen lassen. Mit einer wütenden Mine lenkte er sein Pferd gegen das seines Gegners, was diesen aus dem Gleichgewicht zu bringen schien. Erd bekam seine Halbklingen-Schwerter gerade noch zwischen sich und Flinns Waffen. Danach stemmte er sich mit aller Kraft gegen seinen Kontrahenten, schob den Kopf in seine Richtung und gab Flinn eine Kopfnuss, was diesen mit einem erschrocken "ouch" zurückweichen ließ. Erds Gegner rutschte im Sattel zur Seite, verlor den Halt im rechten Steigbügel und fiel dann vom Pferd, das unbeirrt weiterritt. Wütende Flüche und Kraftausdrücke verfolgten Erd, wurden aber schnell leiser und erstarben dann komplett. Er steckte seine Waffen weg und griff nach den Zügeln des herrenlosen Pferdes.

"Einer weniger..."

Erd hetzte weiter, um Petra und Charly einzuholen. Von den anderen seiner Truppe war weit und breit nichts zu sehen.

Überleben und Tod

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Zukunft

In der Wildnis, früher Morgen:
 

"Ich bin so froh, dass es dir gut geht...", meinte Charly.

"... Das sagst du jetzt bestimmt schon zum hundertsten Mal", stellte Petra fest.

"Was denn?"

Er umarmte sie gerade wieder, als Erd sich zu ihnen gesellte.

"Na, haben sie dich wenigstens ordentlich gelobt?", fragte Charly.

"Hah!"

Erd beugte sich zu Petra hinab, die auf dem Boden saß und wuschelte ihr durch den Kopf.

"Hey!", beschwerte sie sich.

"Wie geht es jetzt weiter?", fragte ihr Bruder.

"Weiß ich nicht", gab Erd zu und verschränkte die Arme, "Ich bin nur ein einfacher Soldat. ... Welche Pläne der Kommandant hat, weiß ich nicht. ... Ich bin mir sicher, er wird euch auf jeden Fall verhören wollen."

"Muss das sein?"

Petra klang frustriert. Sie wollte aufstehen, wurde aber von den beiden Männern so lange mit Argumenten und Anweisungen bombardiert, bis sie freiwillig wieder zurücksank.

"Du wirst nicht drum herum kommen. In einer Sache hatten diese Militärpolizisten Recht: Du bist eine wichtige Zeugin."

"Wofür denn bitte?"

Charly und Erd warfen sich einen Blick zu.

"Das soll dir lieber der Kommandant erklären."

Die Vierzehnjährige grummelte. Die drei schwiegen und sahen den wenigen Quellwolken zu, die über den Morgenhimmel dahinzogen. Petra kam es wie eine Ewigkeit vor, dass sie bei ihren Großeltern zu Besuch war. Lebten sie noch? Das würde wohl lange Zeit ein Geheimnis bleiben. Aber Petra hatte vor, es zu lüften. Und wenn sie sich dafür dem Aufklärungstrupp anschließen musste, sie würde die Wahrheit herausfinden. Das war sie Oma und Opa schuldig.
 

~ FIN ~
 



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Von: abgemeldet
2015-05-23T10:17:29+00:00 23.05.2015 12:17
Hallo!

Man staunt immer wieder, wie schnell ein einzelnes Ereignis und eine handvoll Tage ein ganzes Leben verändern können. Der Prolog war ein drastischer Einstieg und ich hatte mich während der ersten Szene danach quasi pausenlos gefragt, womit die Alten das verdient hätten. Gerade durch diesen alltäglichen Hergang, den Blumenkohl-Auflauf und die Erwähnung der Essensmarken hatte man vor Augen, dass Beide ein bescheidenes, gutes Dasein führten, obwohl die Umstände schwierig schienen. Ich hatte viel Sympathie für die zeitschindenden Großeltern, als die Militärpolizei einem schlechten Traum gleich einfiel. Flinn und Louise lagen mir übrigens am Meisten vom Charakterdesign her. :-)
Auf der Gegenseite war der Favorit Erd, vor allem weil ihn die Haarzopfgeschichte nicht mehr losließ. Das war ein schöner Schachzug, um den Gedanken an Normalität trotz der bedrohlichen Fluchtsituation nicht zu vergessen: Und diese Kindheitsfreude-Sache war fast niedlich. Insgesamt bin ich allerdings nicht davon ausgegangen, dass Petra lebend herauskommt - sie hatte wirklich Glück im rechten Moment. Da waren einige Situationen, die ganz anders hätten ausgehen können, wie z.B. ganz am Ende das ungleiche Duell mit Louise. Hätte die bloß nicht so viel geredet (andererseits ist ihr Charakter so konzipiert, dass sie solche Überlegenheit auskostet), und gründlicher auf Erd geachtet.
Nur eingangs bei der schweren Kiste fragte ich mich, weshalb es in einem totenstillen Haus keinen hörbaren Lärm verursachte, sie zu verschieben. Ist das eine Eigenheit bei Attack on Titan wie die 3D-Manövergeräte? Und wieviel wusste der Großvater wirklich, wenn er einen solchen Ort vorbereitete?

Viele Grüße. Ich freue mich, dass mir deine Geschichte im Zonk-Weblog empfohlen wurde.
Morgi


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