Dear Sister
„Liebe Mimi,“
Das waren die ersten Worte, die sie las und schon kam sie ins Stocken. Das Papier fühlte sich rau an, doch sie konnte erkennen, dass an manchen Stellen die Tinte verschmiert war. Auch ein großer Fleck war zu sehen, der jedoch trocken getupft wurde. Sie hatte geweint, als sie ihn geschrieben hatte.
Es waren deutliche Spuren, die sich nicht leugnen ließen.
Mimi hatte ihr so schlimme Sachen an den Kopf geworfen, sodass ihr schlechtes Gewissen und ihre Schuldgefühle augenblicklich wuchsen. Wie konnte sie nur sagen, dass Noriko ihre Familie kaputt gemacht hatte? Dass sie wegen ihr ihren Vater verloren hatte?
Sie war schon längst kaputt, jedoch wusste sie es noch nicht. Mimi hatte in einer Scheinwelt gelebt, in der sie, als Papas Prinzesschen verwöhnt wurde, während Noriko und ihre Mutter die Hölle durchgemacht hatten.
Sie krampfte die Hände leicht zusammen und zerknautschte das Papier an den Seiten. In ihren Augen hatten sich Tränen gebildet. Dennoch entschied sie sich dazu weiterzulesen.
...ich habe diesen Brief unzählige Male begonnen, das Papier immer wieder zerknüllt, zu Boden geworfen und wieder von neuem angefangen. Ich wusste nicht, wie ich, das was ich dir sagen wollte, in die richtigen Worte verpacken sollte.
Es hörte sich alles so unwirklich und traurig an, dass ich es einfach vergessen wollte, wenn ich mit dir zusammen war. Jedenfalls für den Moment.
Ich hatte nie vor, dich anzulügen, doch die Wahrheit kam mir nie über die Lippen, weil ich sie selbst nicht akzeptieren wollte. Ich hatte dich doch gerade erst gefunden und wollte dich nicht verlieren.
Aber ich habe gemerkt, dass ich dir damit viel mehr weggetan habe, als ich wollte. Ich habe dich belogen, um mich selbst zu schützen. Das war egoistisch, aber ich wollte dich damit nicht verletzen.
Es tut mir leid.
„Es tut mir leid“, murmelte sie und eine einzelne Träne löste sich und rollte ihre linke Wange hinunter. Sie fuhr sich mit der flachen Hand über ihr Gesicht und unterdrückte ein leises Schluchzen.
Viele Dinge strömten ihr durch den Kopf und ließen sie wieder an die gestrige Nacht denken.
Sie hatte es nicht nur getan, weil sie verletzt war und sich einsam fühlte.
Auch sie wollte vergessen.
Der Tatsache entfliehen, dass sie einen Menschen verlieren würde, den sie in kurzer Zeit so lieb gewonnen hatte. Es war schon seltsam, wie viele Gemeinsamkeiten sie hatten, obwohl sie nicht miteinander aufgewachsen waren. Mimi hasste die Rinde von Brot, genauso wie Noriko.
Beide banden ihre Haare zu einem unordentlichen Dutt zusammen, wenn sie gemeinsam kochten. Und auch der Geruch von angebrannter Milch, ließ beiden die Nackenhaare zu Berge stehen und ein Gefühl von Ekel überkommen.
Mimi fasste sich durch die Haare, kratzte mit ihren Schneidezähnen über ihre Unterlippe und fixierte den Brief erneut. In ihr machte sich ein Gefühl breit, dass sie nur schwer beschreiben konnte.
Es fühlte sich so an, als hätte ihr jemand einen spitzen Gegenstand in die Brust gejagt und versuchte diesen immer tiefer hineinzubohren. Es war kein Schmerz, den sie einfach so rauslassen konnte.
Er saß tief in ihrem Inneren und fraß sich in ihr Herz, wie ein Parasit.
Ich werde dir versuchen, alles zu erklären. Von Anfang an. Bestimmt hast du gedacht, dass unsere Begegnung damals in dem Club, purer Zufall war. Doch dem war nicht so.
Schon damals mit dreizehn, habe ich versucht dich zu finden und fand dich auch. Jedenfalls dein Mixi-Profil, das mir sagte, dass du in den USA lebst.
Seither hatte ich dich immer mal wieder beobachtet, einige Bilder von dir durchgeschaut und mir öfters überlegt, ob ich dich nicht einfach einschreiben sollte.
Einmal hatte ich sogar etwas getippt, doch ich hatte nicht den Mut es abzuschicken.
Und wenn ich ehrlich war, hatte ich zu diesem Zeitpunkt genug eigene Probleme. Nach meiner Chemo wurden unsere finanziellen Probleme immer deutlicher und es fiel mir sehr schwer, anfangs wieder Anschluss in der Schule zu finden.
Ich war mehrere Monate die Außenseiterin in unserer Klasse, da sich niemand mit dem Glatzenmädchen anfreunden wollte. In dieser Zeit war Etsuko immer an meiner Seite und hörte mir zu. Sie war auch die Einzige, die von Anfang an von dir wusste.
Später freundete ich mich mit Chiaki und Masaru an, die ich im Orchester kennen lernte.
Und auch die Zeit verging dadurch viel schneller, sodass ich mehr durch Zufall herausfand, dass du wieder mit deinen Eltern nach Japan gezogen warst.
Doch ich hatte eigentlich gar keinen Grund dich anzusprechen. In manchen Situationen war ich ziemlich wütend. Du hattest das Leben, das ich immer haben wollte. Und wahrscheinlich war ich damals, bei unserer ersten Begegnung, auch so ruppig zu dir.
Allerdings kam der Moment, der plötzlich alles veränderte. Schon mehrere Wochen, wenn nicht sogar Monate, fühlte ich mich immer unwohler. Ich habe es versucht, mir nicht anmerken zu lassen, doch meiner Mutter konnte ich immer sehr schlecht etwas vormachen, weshalb wir ins Krankenhaus gingen und der Arzt feststellte, dass meine Leukämie wieder da war und sich bereits Metastasen gebildet hatten. Der Arzt redete ohne Punkt und Komma, während ich nur die Hälfte verstand. Meine Mutter hatte geweint, aber ich realisierte erst Tage später, was mit mir passiert war.
Mein Körper hatte sich gegen mich gewandt und würde irgendwann vom Krebs zerfressen werden. Und niemand konnte mir sagen, wie viel Zeit ich noch hatte.
Mimi starrte fassungslos auf das Blatt Papier. Alles klang sehr abgeklärt und gefasst geschrieben, doch sie erkannte, dass es nicht so war.
Immer wieder stolperte sie über kleine nasse Stellen, die die Tinte etwas verwischten und über die mit der Hand kurz drüber gefahren wurde.
Noriko war es nicht leicht gefallen, darüber zu schreiben.
Mimi fragte sich, was sie in dem Moment alles gefühlt haben musste? Ihr fiel es sicher schwer, über ihre Vergangenheit zu schreiben, Dinge aufzudecken, die bis vor kurzem noch ihr verborgen waren.
Ich hatte es eigentlich nur Etsuko erzählt, da sie als einzige verstand, was ich durchmachte. Uns verband die Tatsache, dass wir beide dem Tod bereits gegenüberstanden.
Sie war auch diejenige, die mich daran erinnerte, dass ich mit dreizehn alles versucht hatte, um meine Schwester zu finden.
Ich hatte einen Grund dich diesmal anzusprechen, mit dir zu reden, dich ein einziges Mal zu sehen.
Deswegen nahm ich all meinen Mut zusammen und rief bei euch an. Die Nummer hatte ich im Telefonbuch gefunden. Doch ich hatte das Glück gleich an unseren Vater zu geraten, der mir klar machte, dass ich dich ganz sicher nicht zu Gesicht bekommen würde. Er meinte, ich sollte euch in Ruhe lassen, doch das konnte ich nicht.
Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, dich kennen zu lernen.
Durch Mixi erfuhr ich, dass du oft die Konzerte der Teenage Wolves besuchst und ich war auf gut Glück einfach mal hingegangen. Masaru war damals mit mir gegangen, da er herausgefunden hatte, was mit mir los war. Ich war bei meiner wöchentlichen Bestrahlung, als ich ihn im Krankenhaus traf. Er wollte einen aus dem Orchester besuchen, der sich das Bein gebrochen hatte, als er über seinen Gitarrenkoffer gestolpert war.
Die anderen haben bis zu meinem Zusammenbruch nichts gewusst. Selbst Chiaki nicht, auch wenn ich ihm gerne die Wahrheit gesagt hätte.
Jedenfalls waren Masaru und ich euch unauffällig gefolgt und ebenfalls in dem Club gelandet. Masaru hatte mich regelrecht dazu genötigt, mit dir zu sprechen und mir einen Stoß in die richtige Richtung gegeben. An den Rest kannst du dich sicher selbst noch gut erinnern.
Und ob sie sich an diesen Abend erinnern konnte. Sie hatte gehofft, diese unhöfliche Person nie wieder zusehen, auch wenn sie ziemlich schnell spürte, dass diese Begegnung alles andere als bedeutungslos war.
Doch sie wollte es nicht wahrhaben, da sich ihre Gedanken immer um Tai und seine nichtvorhandenen Gefühle kreisten.
Ihre Welt bestand aus Problemen, die genau genommen keine waren. Erst jetzt, wo alles auseinander brach, schien sie zu realisieren, dass Liebeskummer wirklich eines ihrer geringsten Probleme war.
Wahrscheinlich wäre sie mit der Zeit darüber hinweg gekommen, hätte sich in einen anderen netten Jungen verliebt und wäre glücklich geworden.
Doch das hier, war nicht damit zu vergleichen. Diese Kluft, die ihr Vater hinterlassen hatte, konnte so schnell keiner mehr füllen. Er hatte sie belogen und ihr all die Jahre ihre Schwester vorenthalten.
Ihre Schwester, die sie in absehbarer Zeit verlieren würde. Und diese Lücke konnte niemand einnehmen. Sie hatte nur eine Schwester, auch wenn sie sie erst so kurz kannte.
Ich weiß, dass ich viel falsch gemacht habe. Doch nachdem wir uns das zweite Mal, diesmal zufällig, getroffen hatten, konnte ich mich kaum beherrschen. Deine Mutter hat sofort gewusst, auf was ich hinaus wollte. In dem Moment war mir auch egal gewesen, was ich anrichte. Ich wollte dich näher kennen lernen und den Hass, den ich auf unseren Vater hatte, freien Lauf lassen.
Aber natürlich wollte ich nicht, dass es so endet. Ich weiß, dass du unglücklich bist und die neue Situation euch eine Menge Probleme eingehandelt hat.
Und ich kann dir gar nicht sagen, wie leid es mir tut. Ich wollte deine Familie nicht kaputt machen, sondern ich wollte einfach dazugehören. Dich einmal meine Schwester nennen und gemeinsam mit dir diese besonderen Geschwister-Momente erleben.
Natürlich ist mir klar, dass das nicht mehr bei mir liegt. Du hast die Wahl, mir zu verzeihen, oder es nicht zu tun.
Mit diesem Brief wollte ich dir einerseits sagen, dass du mir in kurzer Zeit unheimlich ans Herz gewachsen bist, sodass mich meine eigenen Gefühle manchmal schon erschrecken und auch überwältigen. So eine Verbundenheit zu einem Menschen habe ich noch nie empfunden.
Und dafür danke ich dir.
Du wirst im Umschlag des Briefes noch eine Kleinigkeit finden und es ist deine Entscheidung es anzunehmen. Mein größter Traum war es einmal auf die Spitze des Fujis zu schaffen.
Ich habe schon länger daraufhin gespart und wollte gemeinsam mit Chiaki und Masaru mir diesen Traum erfüllen. Du weiß, dass es gesundheitlich im Moment nicht gut um mich steht, weshalb ich es wohl auch nie schaffen werde. Doch das Ticket ist bereits bezahlt und liegt in dem Umschlag des Briefes bei.
Ich weiß, dass du Millionen Gründe hast, nein zu sagen, aber bitte überleg‘ es dir. Gibt mir diese eine Chance und ich werde dir versprechen, dich nie wieder zu belügen, oder zu enttäuschen.
Wenn du das Ticket annimmst, werde ich wissen, dass wir beide nochmal eine Chance auf einen Neuanfang haben werden, auch wenn es schwer und alles andere als unkompliziert sein wird.
Ich bin bereit, diesen Weg zu gehen und hoffe, dich an meiner Seite wissen zu dürfen.
In Liebe,
deine Schwester Noriko
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Mimi war während des Lesens der Mund aufgeklappt. Ihre Miene war starr und immer noch blickte sie auf die letzten Zeilen des Briefes. Sie ließ ihn sinken und schnappte sich den Umschlag.
Sie fasste mit der Hand hinein und ertastete tatsächlich etwas.
Argwöhnisch zog sie den Fund hervor und stellte mit Erschrecken fest, dass sie es ernst meinte.
Sie hielt wirklich in Ticket, mit dem sie auf den Fuji wandern konnte, in ihren Händen.
Mimi legte ihre Hand vor den Mund und schien ganz in ihren Gedanken versunken zu sein, als sie plötzlich das Datum sah. Es war das Wochenende ihres Geburtstages, den sie fast vergessen hätte.
Ob Noriko wusste, dass sie bald Geburtstag hatte?
Doch viel mehr drängte sich die Frage auf, ob sie schon bereit war, ihr gegenüber zu treten. Natürlich war es nicht leicht, sich damit auseinanderzusetzen, aber sie wusste auch, dass sie nicht bereit war, Noriko endgültig aufzugeben. So zu tun, als würde sie nicht existieren, als wäre alles nur ein böser Traum gewesen.
Doch auf den Fuji klettern? Sie? Mimi war sich nicht sicher, ob sie das schaffen würde. Wahrscheinlich würde ihr Körper auf der Hälfte des Weges schlapp machen und sie könnte dann sehen, wie sie wieder runter kam.
Nein, sowas war einfach nicht ihr Ding. Wenn sie jedoch nicht gehen würde, ging Noriko sicher davon aus, dass sie sie nie wieder sehen wollte.
Und das durfte sie nicht zulassen. Sie wollte nochmal in Ruhe mit ihr reden, alles aus der Welt schaffen und beten, dass man ihr doch irgendwie helfen konnte. Dass sie nicht sterben musste.
Wunder geschahen doch immer wieder, warum nicht auch hier?
Mimi war sich sicher, dass sie das auch ohne Besteigung des Fujis hinbekam. Sie musste nur irgendwie über ihren eigenen Schatten springen, auch wenn es ihr schwer fiel.