Musikalische Synthese
Zusammengekauert saß sie auf dem harten Plastikstuhl und betrachtete die Türen, die sich vor ihr befanden. Ein leises Piepen war zu hören, dass Mimi immer unruhiger werden ließ.
Sie schaute zur großen Uhr und stellte fest, dass erst fünf Minuten vergangen waren. Nervös wippte sie mit ihrem Fuß und stützte sich mit ihren Ellenbogen auf ihren Oberschenkeln ab. Sie kaute an ihrem Daumennagel und ihr ganzer Körper schien unter Storm zu stehen.
Sie hasse Krankenhäuser. Ein bedrückendes Gefühl machte sich in ihr breit, wenn sie zu den drei Türen, mit Zahlen von fünf bis sieben, sah.
Ihr Blick wanderte zu Masaru, der direkt neben ihr saß und seelenruhig eine Zeitschrift durchblätterte.
Sein Bruder Yasuo hatte keinen Platz mehr bekommen und saß daher auf dem Boden, den Rücken an die kalte Heizung gepresst.
Chiaki saß zu Mimis Rechten. Ein riesiges Instrument ragte hervor und lehnte sachte an der Wand an.
Sie hatten Orchesterprobe, auch wenn Ferien waren. Für Noriko war es jedoch die Letzte überhaupt. In zwei Wochen würde sie ihre Chemo anfangen und hätte nicht mehr die Kraft zur Schule zu gehen. Heute hatte sie ihre letzte Bestrahlung, zu der sie alle begleitet hatten.
Chiaki und Masaru mussten sogar zwangsweise ihre Instrumente mitnehmen, da es ihre eigenen waren und man sie nicht in der Schule lassen durfte.
Mimi rutschte ihren Stuhl hinab und schnaufte herzhaft. Alles zog an einem rasenden Tempo an ihr vorbei.
Erst vor kurzem hatte sie noch Geburtstag gehabt und schon saß sie hier. Rings um sie herum, kranke und gebrechliche Menschen, die wahrscheinlich dem Tod direkt in die Augen blicken mussten.
Unter ihnen, Noriko, ihre Halbschwester, mit der sie sich erst vor kurzem wieder vertragen hatte.
Auch mit Sora hatte sie sich ausgesprochen und einen schönen Nachmittag verbracht, auch wenn sie ihr immer noch nicht die Wahrheit über ihre familiäre Situation beichten konnte.
Selbst als sie an ihrem Geburtstag fragte, wo ihr Vater war, griff Mimi lieber nach einer raffinierten Ausrede, statt zur Wahrheit zu stehen.
Und Sora hatte ihr einfach geglaubt, ohne irgendwelche Rückfragen zu stellen. Anscheinend fand sie es normal, wenn Väter am Geburtstag ihrer Kinder arbeiten mussten. Vielleicht lag es daran, dass ihr eigener Vater selten an ihrem Geburtstag zu Hause war.
Auch ihre anderen Freunde hatten sich bei ihr gemeldet und ihr herzlich gratuliert gehabt. Selbst Tai, dem sie zurzeit lieber aus dem Weg ging.
Und auch, wenn sie merkte, dass so viele Menschen an ihrem Geburtstag an sie dachten, fühlte sie sich allein. Spürte, dass sie sich selbst verloren hatte, um den Schein zu wahren.
Keiner kannte die Wahrheit, abgesehen von ihrer Mutter und den Personen, die hier saßen.
Auch sie würden Noriko irgendwann verlieren und sie schmerzlich vermissen, da sie schon seit Jahren Freunde waren.
Mimi wollte und konnte sich dieses Gefühl kaum ausmalen. Es würde sie unerwartet treffen und von innen heraus allmählich zerreißen. Mit Tod kam sie nie sonderlich gut klar.
Als sie ein Kind war, starb die Mutter ihres Vaters und sie hatte sich geweigert an der rituellen Beerdigungszeremonie teilzunehmen, da sie Angst vor der unschönen Seite des Lebens hatte.
Der Tatsache, dass jedem das gleiche Schicksal ereilte und früher oder später nichts als Staub von einem übrig blieb.
Sie wollte sich nicht vorstellen, dass ihre Halbschwester, die gerade mal siebzehn war, in naher Zukunft ebenfalls in einen solchen Loch verrotten würde.
Sie biss sich instinktiv auf die Zunge. Sowas sollte sie nicht denken. Nein, sowas durfte sie nicht denken.
Plötzlich hörte sie einen dumpfen Schlag. Erschrocken drehte sie ihren Kopf und versuchte das Geräusch zu lokalisieren, als es wieder erklang.
Auch Masaru wandte sich dem Geräusch zu und verzog sein Gesicht zu einer verärgerten Miene.
„Yasuo, hör auf damit“, tadelte er seinen jüngeren Bruder streng.
„Aber mir ist so langweilig“, protestierte er vehement und das Geräusch ertönte wieder.
Mimi beugte sich neugierig nach vorne, erkannte aber nicht, was Yasuo machte.
Wieder und wieder erklang das dumpfe Geräusch, dass Mimi allmählich immer bekannter vorkam. Die Töne hatten sich miteinander verbunden und ergaben ein Lied, dass sie durchaus kannte.
„Jetzt hör auf damit“, erwiderte Masaru noch genervter als vorher und die Töne verstummten abrupt.
Chiaki beugte sich über Mimi hinweg, während sie sich nachdenklich gegen den Stuhl presste. Woher kannte sie nur diese Melodie?
„Was hat er denn gemacht?“, fragte Chiaki an Masaru gewandt.
„Der Trottel schlägt die ganze Zeit gegen die verdammte Heiz…“, er brach ab, als Yasuo wieder dagegen schlug, so als wollte er ihn bewusst provozieren.
„Sag mal bist du noch ganz dicht?“, fluchte er lautstark, sodass schon einige Patienten zu ihnen sahen. „Du nervst die Leute damit!“
„Also mich haben sie noch nicht böse angeguckt“, verteidigte er sich sofort und machte weiter.
Während Masaru einen halben Tobsuchtsanfall zelebrierte, legte Mimi nachdenklich den Kopf zur Seite. Auf einmal fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.
„Yasuo, ich werde dir gleich die Hand abhacken, wenn du nicht damit aufhörst!“, drohte er und versuchte seine Hand zu ergreifen, was sich als schwierig herausstellte, da er sich unter die Sitze geschafft hatte und fröhlich im Takt weiterklopfte.
„I got my ticket for the long way 'round, two bottle 'a whiskey for the way “, sang Mimi und vertraute ganz auf ihr Gefühl.
Sie kannte diesen Song gut. Er war schon sehr alt, doch ihre damalige Cheerleader-Mannschaft der Junior High School hat ihn neu interpretiert und bei einem Schulfest aufgeführt. Sogar den Text hatten sie etwas umgedichtet, damit er besser passte. Mimi erinnerte sich noch gut an die unbeschwerte Zeit ihres Lebens und auch an die schönen Momente, die sie in den USA erleben durfte.
Masaru und Chiaki starrten sie an, als sie unbeirrt weitersang. Yasuo hatte von der Heizung abgelassen und klatschte nun den Takt mit den Händen nach.
„Was geht denn jetzt ab?“, fragte Masaru mit geöffnetem Mund.
„Das ist das eine Lied, das wir heute gespielt haben“, stellte Chiaki überrascht fest. „When I’m gone von A.P. Carter.“
„Und dazu gibt es auch einen Songtext?“, fragte Masaru entgeistert und blickte zu Mimi, die aufgesprungen war und wie selbstverständlich neben Yasuo stand und sang.
When I'm gone
You're gonna miss me when I'm gone
Sie schüttelte ihre Mähne wild und bemerkte die neugierigen Blicke auf ihrer Haut, die ihr allerdings wenig auszumachen schienen.
„Komm wir machen mit“, stimmte Chiaki begeistert ein und war gerade im Begriff sich seinen Bass zu schnappen, als Masaru dagegen feuerte.
„Spinnst du, ich mache mich doch nicht zum Deppen!“
Masaru hatte die Arme vor der Brust verschränkt, während Mimi die Liebe zur Musik regelrecht gepackt hatte. Sie wusste selbst nicht, was gerade in sie gefahren war.
Vielleicht war es die Musik, die sie einst so sehr liebte.
Chiaki hatte nur den Kopf geschüttelt und war ebenfalls von seinem Platz aufgesprungen und hatte seinen Bass hervorgeholt. Ohne Bogen begann er zu spielen, indem er die Saiten zupfte.
You're gonna miss me by my hair
You're gonna miss me everywhere, oh
You're gonna miss me when I'm gone
Mimi breitete die Arme aus und hielt Masaru ihre Hand entgegen. Wie mechanisch bewegte er seinen Kopf von der einen zur anderen Seite.
„Ach komm schon!“, hörte sie Chiaki rufen, während auch die Zuhörer bereits Masaru anstachelten mitzumachen.
Mimi blickte in die glücklichen Gesichter der Patienten und merkte, dass sie ihnen hiermit eine Freude bereiten. Möglicherweise nahmen sie ihnen auch ein wenig die Angst, die bis vor kurzem noch in ihren Gesichtern zu sehen war.
Mimi sang noch immer als sie kurz zu Yasuo sah, der verschwörerisch zu seinem Bruder grinste.
Beide gingen einen Schritt auf ihn zu und packten ihn an beiden Ärmel, um ihn auf seine Füße zu stellen. Er zog sie Augenbraunen zusammen und gab einen genervten Laut von sich, als Yasuo ihm die Gitarre in die Hand drückte.
Augendrehend, aber auch grinsend gesellte er sich zu ihnen und stimmte bei der nächstbesten Gelegenheit mit ein.
Zu viert performten sie zusammen, so als hätten sie in ihrem Leben nichts anders getan.
Einige Patienten, die den Song ebenfalls kannten, versuchten im Takt mit zu klatschen.
Yasuo hatte sich wieder auf einen der Stühle gesetzt und trommelte auf der glatten Fläche mit flacher Hand. Ab und zu klatschte er beherzt die beiden Handflächen zusammen, bis Mimi den letzten Ton anstimmte und in die Menge schmetterte.
Sie hatte die Augen geschlossen und genoss diesen Moment in vollen Zügen. Ihr Puls raste und ihre Kehle war etwas trocken.
Erst als sie ein Klatschen hinter sich vernahm öffnete sie die Augen und drehte sich herum.
Sie blickte die gleichen braunen Augen wie die Ihrigen. Nun applaudierte auch der Rest, der sich vor Jubelrufen fast überschlug.
„Wow, da habe ich wohl einiges verpasst“, meinte Noriko überrascht und hatte ihre Jeansjacke in ihre Armbeuge gelegt. Sachte fuhr sie über den rauen Stoff und lächelte vor sich hin.
Keiner von ihnen hatte mitbekommen, wie lange sie bereits dort stand und ihnen zuhörte.
„Das war einfach fantastisch. Ich wusste ja, dass du singen kannst, aber das hier…“, sie ging auf Mimi zu und legte ihre Hände auf ihre Schultern, „das ist einfach unglaublich.“
Mimi sah in ihr begeistertes Gesicht und schmunzelte leicht. Ein einfaches Lied hatte eine unsagbare Wirkung gezeigt und Menschen, die vorher geistesabwesend und verängstigt wirkten, glücklich gemacht.
„Ich kann es kaum glauben, ihr solltest wirklich öfters Musik zusammen machen“, schlug Noriko euphorisch vor und rüttelte leicht an ihren Schultern.
Mimi wandte sich um und zuckte nur mit den Achseln.
Yasuo nickte eifrig, Chiaki fuhr sich verlegen mit der Hand über den Hinterkopf und Masaru gab einen undefinierbaren Laut von sich. „War ja klar, dass sowas kommt.“
Noriko kicherte nur, während Mimi immer noch überlegte, ob sie es wirklich ernst meinte.
Denn auch sie fand diese Idee gut. Sie vermisste die Musik und die Singerei ungemein, auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte in einer Band zu spielen. Doch so spontane Musikeinlagen könnten sicher witzig werden.