Hier und Jetzt
Sie öffnete die Tür und stolzierte freudig in die leere Wohnung, die sich in einem Mehrfamilienhaus befand.
Man hörte die Absätze ihrer Schuhe auf dem Laminatboden klackern und ein wiederkehrendes Hallen war zu hören.
„Und was sagst du? Schön, oder?“
Ihre Mutter breitete die Arme aus und tänzelte durch das offene Wohnzimmer mit angrenzender Küche. „Wir haben sogar einen kleinen Balkon“, verkündete sie euphorisch und ging zur Balkontür, um Mimi ihr persönliches Highlight der Wohnung zu zeigen.
Skeptisch blieb sie immer noch am Eingang stehen und schaute sich langsam um. Sie konnte nicht leugnen, dass ihr der Gedanke wenig gefiel, dass sie aus ihrem schönen Haus in ein Mehrfamilienhaus umziehen mussten. Sie hatten einen großen Garten und Mimi mochte ihr Zimmer, dass sie damals nach ihren Wünschen eingerichtet hatte.
Doch blieb ihr eine Wahl? Nein.
Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und ging zur kleinen Küche. Ihr hoher Zopf wippte Schritt für Schritt mit und ein paar Haare fielen ihr ins Gesicht, als sie sich bückte und die unteren Schränke inspizierte.
Es war nicht sonderlich groß, aber für sie beide würde es sicherlich reichen. Sie hatten einen kleinen Herd und einen mittelgroßen Kühlschrank, der ihnen der Vorbesitzer überlassen hatte.
„Wo finde ich denn mein neues Zimmer?“, fragte Mimi interessiert und richtete den Blick zu ihrer Mutter, die zu Grinsen begann.
„Komm mit, ich zeig‘ dir, wo es lang geht“, sagte sie und winkte sie zu sich. Etwas genervt trottete Mimi ihr hinterher. Zuerst zeigte sie ihr das kleine Badezimmer, das eine Dusche und Badewanne in einem hatte. Dann öffnete sie die Tür zu ihrem einen Zimmer, das wirklich winzig war.
Sobald ein Schrank und ein Bett drinnen stehen würden, war es voll – wortwörtlich.
Sie hoffte wirklich, dass Ihres etwas größer war.
„So, kommen wir nun zu deinem Zimmer“, kündigte sie groß an und platzte förmlich vor Freude, was Mimi nicht sonderlich verstehen konnte.
Doch nachdem sie das Zimmer betreten hatten, war auch sie sprachlos geworden.
„Wow, das ist ja riesig!“, stellte sie erstaunt fest und ging zur Raummitte. Die Wände waren weiß und ein großes Fenster spendete dem Zimmer genügend Licht.
„Ich habe mit der Vermieterin gesprochen…wenn du willst kannst du sogar die Wände in deiner Lieblingsfarbe streichen.“
„Das wäre wirklich cool“, brachte sie noch hervor, bevor ihre Mutter ihr das Wort abschnitt.
„Rosa stelle ich mir hier drinnen sicher toll vor“, meinte sie träumerisch und richtete scheinbar schon gedanklich ihr Zimmer ein, als Mimi sachte den Kopf schüttelte.
Sie wollte kein Rosa-Mädchenzimmer.
„Ich denke eine farbliche Veränderung wäre auch nicht so schlecht“, erwiderte sie gedankenverloren.
Überrascht zog ihre Mutter eine Augenbraue in die Höhe.
„Ach ja? Und in welcher Farbe willst du es streichen?“
Mimi lächelte nur und drehte sich ihrer Mutter zu.
„Grün“, antwortete sie strahlend und fing den irritierten Blick ihrer Mutter sofort auf.
„Grün?“, wiederholte sie misstrauisch. Mimi nickte nur.
„Okay, wie du willst. Es ist ja dein Zimmer“, ruderte sie plötzlich zurück und schlenderte zu dem großen Fenster.
Auch Mimi ging interessiert zu ihr und starrte hinaus. Der Ausblick war nicht sonderlich berauschend. Man konnte viele Häuser erkennen, ein wenig Grünzeug und ein paar Leute, die die Straßenseite wechselten.
„Wir bekommen das schon hin“, meinte ihre Mutter auf einmal und erweckte Mimi Aufmerksamkeit.
„Klar, bekommen wir das hin“, bestärkte Mimi sie und legte ihre Arme um sie. „Wir sind ein Spitzenteam!“
Ihre Mutter lächelte und tätschelte mit ihrer Hand Mimis Oberarm. „Ich weiß, aber trotzdem möchte ich noch etwas mit dir besprechen.“
Ihre Stimme klang ernst und Mimi ließ sie sofort los. Angestrengt sah sie zu ihr, konnte sich aber nicht zusammenreimen, was sie ihr sagen wollte.
Ihr Gesicht wirkte angestrengt, so als wollte sie nicht gerne darüber sprechen. Sie lehnte sich gegen das Fensterbrett und fixierte Mimi nachdenklich.
„Dein Vater kommt bald aus Hong Kong wieder. Vor ein paar Tagen hatten wir telefoniert und einige Dinge besprochen.“
Mimi schluckte und verschränkte die Arme hinter ihrem Rücken, damit ihre Mutter nicht sehen konnte, wie sehr ihre Finger zitterten. Solche Telefonate klangen nie gut.
„Und was gibt´s?“, fragte Mimi und versuchte eher desinteressiert zu klingen, auch wenn sie vor Neugier förmlich explodierte.
„Wir werden uns scheiden lassen!“, sprach sie aus und Mimi wurde mit der vollen Wucht dieses Satzes getroffen, sodass sie ihre Emotionen nur schwer kontrollieren konnte.
Das innere Kind in ihr hatte immer noch gehofft, dass sich beide wieder versöhnen würden.
„Oh“, murmelte sie erstickt und senkte den Kopf.
Ein Kloß hatte sich in ihrem Hals gebildet, den sie verzweifelt versuchte hinunterzuschlucken, ihr jedoch immer weiter die Tränen in die Augen trieb.
Plötzlich spürte sie wie ihre Mutter ihr Kinn abhob und sie zwang, sie anzuschauen. Tränen lösten sich und rannen ihre Wangen hinunter. Der besorgte Blick ihrer Mutter machte es nicht besser.
„Es tut mir leid, dass es soweit kommen musste, aber ich kann ihm nicht mehr vertrauen“, sagte sie schwach und Mimi erkannte das auch ihr Tränen in den Augen standen.
Mimi schüttelte nur den Kopf und fuhr sich mit dem Ärmel ihrer Strickjacke über ihre Augen.
„Ich kann dich verstehen! Ich bin immer noch so böse auf ihn und kann seine Gegenwart nicht ertragen. Ich möchte nicht wissen, wie es dir damit geht“, flüsterte sie und unterdrückte einen Seufzer.
Sie umfasste ihr Gesicht. Ihr Blick war liebevoll, aber auch etwas traurig.
„Mir geht es gut. Du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen! Es wird schon wieder alles gut werden!“
_
Sie hielt an der Seite an und Mimi schnallte sich ab. Ihre Mutter hatte sie direkt nach der Besichtigung am Nachmittag zu Kari gefahren, die sie gestern beim Tanztraining spontan gefragt hatte, ob sie nicht bei ihr übernachten wollte.
Mimi drehte sich herum und griff nach ihrer Tasche, die auf der Rückbank des Wagens lag.
„Ich hoffe, du hast heute Abend viel Spaß. Ist er denn auch zu Hause?“, fragte sie interessiert und Mimi wusste sofort, wen sie mit er meinte.
Sie senkte den Kopf und hielt kurz inne. Ihre Hand, die bereits die Wagentür öffnen wollte, verkrampfte sich und sie zog sie wieder zurück.
„Nein, er ist mit Sora unterwegs“, antwortete sie niedergeschlagen. Die beiden versuchten nach wie vor an ihrer Freundschaft zu arbeiten, auch wenn das alles andere als einfach war. Was wenn Tai wieder versuchte ihr näher zu kommen?
Bisher war Sora standhaft geblieben. Die Frage war, für wie lange noch?
„Oh, heißt das etwa…“, hakte sie vorsichtig nach.
Doch Mimi brauchte nichts zu sagen, da ihre Mutter ihren Blick genau deuten konnte.
„Ist alles okay. Sollte eben nicht sein“, sagte sie und versuchte es hinunter zu spielen. Es so aussehen zu lassen, dass es ihr eben nichts ausmachte, auch wenn es ihr zusätzlich das Herz zerbrach.
Gerade als ihre Mutter ansetzte wieder etwas zu sagen, öffnete Mimi die Wagentür und stieg aus.
Sie kannte ihre altbekannten Sätze und war im Moment nicht in der Stimmung sie zu ertragen, auch wenn es ihre Mutter nur gut meinte. Ihr ging es sicher nicht anders.
„Mir geht es gut“, versicherte sie ihr, als sie den Kopf nochmal zur Beifahrerseite hineinstreckte.
Ihre Mutter nickte nur schwach und wünschte ihr viel Spaß. Danach schlug Mimi die Tür zu und der Wagen fuhr lautlos davon.
Sie atmete tief durch und machte sich auf den Weg zu der Wohnung der Yagamis.
Etwas außer Atem kam sie vor der Wohnungstür zum Stehen und betätigte die Klingel.
Ihre Tasche hielt sie mit beiden Händen fest umklammert und wartete bis Kari ihr öffnete.
Sie und Tai hatten sturmfrei, da ihre Eltern zu einem Wellnesswochenende aufgebrochen waren.
Den halben Abend würden sie alleine verbringen, da Tai mit Sora gemeinsam einen Vergnügungspark besuchen wollte, der vor kurzem erst eröffnet hatte. Sora hatte sie erst gefragt, ob sie mitkommen wollte, doch sie hatte abgelehnt, da sie nicht schon wieder in diese komische Situation mitreingezogen werden wollte. Es war eine Sache zwischen Sora und Tai.
Sie hatte genug andere Probleme.
„Ich komme“, hörte sie Kari von Innen rufen. Ein paar Sekunden später wurde ihr die Tür geöffnet.
Kari hatte bereits ihre Pyjamahose an und begrüßte sie herzlich.
„Dein Bett habe ich schon vorbereitet“, flötete sie fröhlich und ließ sie hinein. „Willst du eher was kochen oder wollen wir eine Pizza bestellen?“
Mimi erinnerte sich an ihren letzten Kochversuch und der beißende Geruch von verbranntem Fleisch stieg ihr automatisch in die Nase, sodass ihr sich die Nackenhärchen leicht aufstellten.
„Pizza klingt gut“, meinte sie überzeugend und zog ihre Schuhe aus.
„Okay gut, dann bestelle ich gleich! Wenn du willst kannst du dir noch etwas Bequemes anziehen“, schlug Kari vor, da Mimi noch ihre Jeans anhatte.
Sie nickte nur verhalten und brachte ihre Sachen in Karis Zimmer. Schnell entledigte sie sich ihrer Jeans und schlüpfte ebenfalls in ihre Pyjamahose.
Sie fragte sich, wie Tai später auf sie reagieren würde und ob neuer Streit vorprogrammiert war. Kari schien nichts von dem mitbekommen zu haben, weshalb Mimi sich auch wenig wunderte, dass sie sie einlud.
Beide hatten schon länger geplant gehabt, auch mal etwas zu zweit zu unternehmen, gerade weil Kari auch die einzige war, die von ihren Gefühlen zu Tai wusste.
Doch Mimi zierte sich, da sie ihre mitleidigen Blicke nicht ertragen konnte. Nicht jetzt. Gerade wo alles so den Bach hinunterging.
Dennoch hatte sie sich dazu durchgerungen heute bei ihr zu übernachten, da sie der Überzeugung war, dass Kari sie in Ruhe ließ, wenn sie nicht selbst das Thema ansprach.
Außerdem würde Tai auch irgendwann wieder zu ihnen stoßen und sie wollte sicher nicht Gefahr laufen, vor ihm aufzufliegen.
Langsam trottete sie wieder ins Wohnzimmer und sah wie Kari bereits eine Schüssel mit Chips befüllte und auf den kleinen Glastisch stellte.
„Ich habe auch Filme besorgt“, meinte sie euphorisch und hielt zwei DVDs in die Höhe. „Ich konnte mich nicht entscheiden und wir werden ja bestimmt eine Zeitlang auf bleiben.“
„Ach die beiden Filme klingen doch gut“, antwortete Mimi verhalten, da es zwei romantische Komödien waren, die zu Mimis Stimmung komplett konträr waren.
Doch vielleicht halfen sie ja, sie ein wenig aufzuheitern, auch wenn ihr wohl eher nach einem Drama zu Mute war.
„Okay“, sagte Mimi und klatschte in ihre Hände, „wann kommt die Pizza?“
_
Sie hatten sich auf der Couch ausgebreitet. Vor ihnen erstreckten sich zwei Pattkartons mit Salamipizza, eine Schüssel mit gesalzenen Chips und eine weitere Schüssel mit süßem Popcorn.
Nebenher lief der Film „...und dann kam Polly“, der wirklich viele witzige Momente hatte.
Mimi musste mehr als einmal herzlich lachen und hatte sich sogar beinahe an ihrer Cola verschluckt, die Kari ihr kurz zuvor eingeschenkt hatte.
Als sie ungefähr die Hälfte des Filmes erreicht hatten, bemerkte Kari wie plötzlich ihre Haustür ins Schloss fiel und ein wütender Tai ins Zimmer gestürmt kam.
Überrascht blickten sich die beiden Mädchen an und waren sichtlich über die verfrühte Heimkehr von Tai verwundert gewesen.
„Was machst du denn schon hier?“, fragte Kari unbeirrt und stopfte sich ein paar Chips in den Mund.
Tai gab nur einen undefinierbaren Laut von sich, zog seine Schuhe aus und warf seine Jacke über einen der Küchenstühle.
„Man nerv‘ nicht“, gab er nur von sich und fixierte Mimi, die verschüchtert die Couch hinabrutschte. Er biss sich nervös auf die Unterlippe, konnte ihrem Blick aber nicht lange standhalten und steuerte deswegen ohne ein weiteres Wort zu verlieren direkt ins Bad. Die Tür schlug er mit einem lauten Knall hinter sich zu, sodass Mimi kurz aufschrak.
„Der hat ja eine Laune“, kommentierte Kari das Verhalten ihres Bruders.
„Ist er immer so drauf?“, hakte Mimi nach und runzelte die Stirn. Die arme Kari. Kein Wunder, dass sie lieber Zeit bei Takeru verbrachte.
Tai war unmöglich. Wie er sie schon angesehen hatte…bestimmt war sie ein Dorn in seinem Auge.
Traurig richtete sie den Blick wieder auf den Fernseher und seufzte herzlich.
„Er wird hoffentlich in seinem Zimmer blieben“, murrte Kari und schüttelte ihre Haare.
Mimi hingegen stierte in den Fernseher, obwohl sie insgeheim das Gleiche hoffte.
Man hörte eine viertel Stunde das gleichmäßige Prasseln der Dusche, bis er ein paar Minuten danach oberkörperfrei aus dem Bad gestürmt kam.
Er trug nur seine Boxershorts und es schien ihm auch egal zu sein, dass Mimi ihn so sah.
Kari quietschte schrill auf, als er den Boden nass tropfte.
„Man trockne dich mal richtig ab und zieh‘ dir was an! Wir haben einen Gast!“, forderte sie, doch Tai grinste nur selbstgefällig.
Mimi versuchte ihn nicht zu auffällig anzustarren, auch wenn das was sie sah, ihr deutlich gefiel.
„Ich glaube, Mimi hat sicherlich nichts dagegen, oder Mimi?“
„W-Was?“, stotterte sie und fühlte sich ertappt. Ihre Wangen glühten und die Hitze schien sich in ihrem ganzen Gesicht auszubreiten, was Tai sichtlich zu amüsieren schien.
„Sie bekommt eben nicht jeden Tag solche Bauchmuskeln zu sehen“, tönte er großspurig und fuhr sich über seine durchtrainierte Brust, während Kari nur verächtlich schnaubte.
„Zieh‘ dir was an! Nachher wirst du noch krank…wir haben keinen Sommer mehr“, tadelte sie und warf ein Kissen nach ihm, das er selbstverständlich sofort auffing.
„Ist ja schon gut, du Spaßbremse!“, knurrte er, warf es zurück und verschwand in sein Zimmer.
Mimi war währenddessen etwas näher an Kari herangerückt und zog sie an ihrem Arm näher an sich heran. Ihr Kopf war immer noch feuerrot, was ihm sicherlich nicht entgangen war.
„Ahnt er irgendwas?“, flüsterte sie ihr verzweifelt zu.
Erschrocken riss Kari die Augen auf. „Nein, ich habe ihm jedenfalls nichts gesagt!“
Mimi lehnte sich nachdenklich wieder zurück und drehte sich kurz zu seinem Zimmer um.
„Bin ich sehr rot geworden?“, fragte sie und hielt ihre kühlen Handflächen gegen ihre heißen Wangen.
Kari lächelte milde und verzog leicht das Gesicht.
„Vielleicht ein wenig“, versuchte sie die Situation zu retten, doch Mimi wusste bereits, dass sie aussah wie eine reifgewordene Tomate.
Sie fuhr sich einige Strähnen aus dem Gesicht und hoffte, dass ihre Gesichtsfarbe sich wieder normalisieren würde.
Genervt tauchte Tai, diesmal in seinen Schlafsachen bekleidet, wieder im Wohnzimmer auf und ließ sich direkt neben Mimi auf der Couch nieder.
„Was guckt ihr denn da für einen Mist?“, fragte er herablassend und stierte zum Fernseher. Es liefen die letzten Minuten des ersten Filmes, bis der Abspann einsetzte.
Erleichtert schnaubte Tai und griff sofort zur Fernbedienung und war gerade im Begriff den DVD Player auszuschalten, als Kari empört die Stimme erhob.
„Hey! Wir wollten noch einen Film gucken!“
„Nicht dein Ernst, oder?“, seufzte er und fasste sich an den Kopf.
„Meckere nicht so viel und nimm‘ dir einfach ein Stück Pizza“, meldete sich nun auch Mimi zu Wort und deutete mit dem Kinn auf die Pattschachtel.
„Wer hat dich denn gefragt?“, fragte er ruppig und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Man Tai, benimm‘ dich!“, ermahnte Kari ihn und warf ihm einen strafenden Blick zu.
Tai verrollte nur die Augen und griff schlussendlich doch zu dem Stück Pizza.
_
Angespannt saß sie neben ihm und hatte ihre Beine dicht an ihren Körper gepresst.
„Willst du noch Popcorn?“, fragte Kari und reichte ihr die Schüssel.
Mimi schüttelte nur den Kopf und stierte zum Fernseher.
Ihr war die Situation unangenehm und sie hoffe noch immer, dass er nicht den ganzen Abend mit ihnen verbringen wollte.
Doch ihre Hoffnungen schwanden, als er obendrein noch über den Film zu meckern begann.
„Das ist doch mega anstrengend“, nörgelte er und schüttelte seine wilde Mähne. „Wer will denn schon eine Frau daten, die sich nach einem Tag nicht mehr an einen erinnern kann?“
„Du bist so unromantisch“, riefen Kari und Mimi im Chor und sahen ihn herausfordernd an.
„Was ist daran denn romantisch? Er rackert sich voll ab und sie? Sie vergisst einfach alles!“
„Das macht sie doch nicht absichtlich“, meinte Kari und legte ihren Kopf auf ihren Knien ab. „Sie hatte einen schlimmen Autounfall!“
„Also ich finde es wirklich süß, wie er sich so um sie bemüht! Das zeigt, dass er sie wirklich liebt“, erkannte Mimi und sah verträumt zum Fernseher.
Gemeinsam hatten sie den Film „50 erste Dates“ mit Adam Sandler angefangen.
Während Kari und Mimi die Bemühungen des Hauptdarstellers rührend mitfolgten, zog Tai immer noch ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter.
„Das du sowas sagst, war mir klar gewesen“, entgegnete er herablassend und schielte kurz zu ihr, bevor er seinen Blick wieder abwandte.
Mimi gab nur ein zischendes Geräusch von sich und versuchte ihn ab nun zu ignorieren.
Doch immer wieder stieg ihr sein Duft in die Nase und reizte ihre Sinne.
Er roch so unfassbar gut, dass sie ihn gar nicht wirklich ignorieren konnte.
Ihre ungestillte Begierde nach ihm wuchs ins Unermessliche.
Sie wusste nicht, wie sie den Abend überstehen sollte, wenn er so dicht neben ihr saß. Ihre Arme berührten sich leicht und eine zarte Gänsehaut überzog ihren Arm.
Wieder und wieder schielte sie begierig zu ihm, auch wenn sie keine Reaktion von ihm erwartete.
Doch diesmal war etwas anders.
Zwar erwiderte er ihren Blick nicht, doch er begann sie auf einmal auffällig zu mustern, was ihr nicht entging, da sie heimlich zu ihm schaute.
Er grinste immer wieder kurz und konnte komischer Weise kaum die Augen von ihr wenden.
Ihr wurde allmählich heiß, da sie es nicht gewohnt war von ihm angestarrt zu werden.
„Ich werde nochmal etwas Popcorn machen“, sagte Kari auf einmal, nahm die Schüssel und verschwand zur Kochnische.
Kurz nachdem Kari außer Reichweite war, spürte wie Tai sich ihrem Gesicht gefährlich näherte, so als hätte er regelrecht auf ihre Abwesenheit hin gefiebert.
Sie fühlte seinen Atem an ihrem Ohr und verkrampfte sich leicht, da sie nicht einschätzen konnte, was er vorhatte.
„Ist dir kalt?“
„Was?“, fragte sie irritiert und sah ihn verdattert an. Ihre Gesichter waren sich ganz nah, sodass sie seine Blicke auf ihrer Haut deutlich spüren konnte.
Er grinste lüstern und senkte seinen Blick. Mimi folgte ihm unbeirrt und erkannte schnell, dass er auf ihre Brüste guckte.
Ihre Augen weiteten sich augenblicklich, als sie sah, was er sehen konnte.
„Boah Taichi!“, quietschte sie schrill und stieß ihn unsanft weg, während er ein Kichern nicht unterdrücken könnte.
„Was denn? Ist mir nur aufgefallen!“, verteidigte er sich und warf die Arme schützend vors Gesicht, als Mimi aufsprang und peinlich berührt ihre Brüste vor ihm verdeckte.
„Du bist so ein Idiot“, zischte sie und stapfte wütend in Karis Zimmer.
Sie hörte wie Kari den lachenden Tai fragte, was passiert war, doch er gab ihr keine Antwort, sondern kicherte unbeirrt weiter.
Mit hochrotem Kopf kramte Mimi nach einem Jäckchen und zog es schnell über.
Auch den Reißverschluss zog sie bis zum Anschlag nach oben, schaute kurz in den Spiegel und fuhr sich über ihre rotgewordenen Wangen.
Wieso musste Tai nur so ein Idiot sein? Sowas konnte doch jedem Mal passieren, besonders wenn man fror, doch er machte sich einen Heidenspaß daraus.
Angesäuert ging sie wieder zurück und wurde fragend von Kari empfangen, die bereits eine frische Schüssel Popcorn auf den Tisch gestellt hatte. Tai hatte sich währenddessen wieder etwas beruhigt, sah sie dennoch provokant an.
„Was war denn los?“, hakte Kari nach, als Mimi über Tais Beine zu ihrem Platz stieg und sich fallen ließ.
Mimi erwiderte seinen Blick herausfordernd. „Ach, dein Bruder hat wohl noch nie Brüste gesehen und war wohl etwas überrascht, dass sich ab und zu mal etwas abzeichnet.“
Kari runzelte die Stirn, während Tai lauthals protestierte. „Natürlich habe ich schon Brüste gesehen! Und ich weiß auch ziemlich gut, was man damit alles anstellen kann!“
„Bah ihh! Zu viele Informationen“, sagte Kari angewidert, die wohl genauso wenig über sein Sex-Leben wissen wollte, wie Mimi.
Sie wollte sich nicht vorstellen, wie er mit einem anderen Mädchen schlief, auch wenn es keine Bedeutung für ihn hatte, da er Sora liebte.
Dennoch hinterließ es einen tiefen Stich in ihrem Herzen, den sie versuchte zu unterdrücken.
Sie lächelte nur traurig und erkannte das Tai regelrecht wartete, dass sie etwas dazu sagte.
Doch sie wandte sich von ihm ab und griff in die Schüssel Popcorn.
Verdattert blickte er sie unentwegt an, besonders nachdem sie näher zu Kari gerückt war und sich ganz belanglos mit ihr über den Film unterhielt.
Tai hielt Ruhe und starrte zu dem flimmerten Bildschirm, ohne das er noch ein negatives Wort über den Film verlor. Gelegentlich merkte sie, wie er verwundert zu ihr schaute.
Er war es wohl nicht gewohnt gewesen, dass sie ihre Widerworte irgendwann einstellte, besonders nicht bei so einem heiklen Thema.
Doch sie hatte keine Kraft mehr. Eigentlich hoffte sie, dass sie nach dem Film schnellstmöglich ins Bett verschwinden könnte.
_
Gegen zwei Uhr nachts, wurde Mimi von ihrer Blase aus dem Bett getrieben. Nach dem Film waren die beiden Mädchen in Karis Zimmer verschwunden und hatten noch eine Zeitlang gequatscht, bevor ihnen vor Müdigkeit die Augen zugefallen waren.
Auf leisen Sohlen schlich sich Mimi ins Bad. Als sie fertig war, wollte sie eigentlich schnellstens zurück ins Bett kriechen, als ihr ein kalter Luftzug entgegenkam und sie aus ihrem Halbschlaf riss.
Sie blieb abrupt stehen und sah, dass die Balkontür geöffnet war.
Leise schlich sie sich heran und blieb im Türrahmen stehen.
„Seit wann rauchst du denn?“, fragte sie sprachlos, als Tai ertappt zusammenzuckte.
„Man, musst du mich so erschrecken?“ Er drehte sich zu ihr, hielt jedoch unbeeindruckt seine Zigarette in der Hand.
Mimi schritt auf den Balkon und musterte ihn skeptisch, als er genüsslich daran zog und danach den Rauch aus seiner Lunge blies.
„Mein Vater hat in seinem Arbeitszimmer immer eine Schachtel versteckt, da er manchmal mit Arbeitskollegen nach Feierabend Eine rauchen geht. Wenn ich ein bisschen Stress habe, klaue ich mir ein, zwei von ihm“, erklärte er und starrte in die dunkele Nacht.
Ein paar Sterne waren zu sehen, obwohl die meisten von dem Smog verdeckt wurden.
Mimi stützte sich am Geländer ab, wandte ihm jedoch immer noch ihr Gesicht zu.
„Was ist denn heute passiert? Haben wir dich so genervt?“
Er lächelte nur und lockerte seine Beine.
„Ihr nervt mich doch immer, besonders du“, meinte er lachend und stellte sich dicht neben sie.
„Sehr witzig“, knurrte sie gespielt beleidigt und stupste ihn leicht an. Er zog nur gequält die Mundwinkel nach oben.
Lautlos rauchte er seine Zigarette, während Mimi ihn besorgt beobachtete.
Er wirkte so unfassbar traurig, dass sie ihn am liebsten in den Arm genommen hätte, auch wenn sie seine Art immer noch unausstehlich fand. Doch wenn sie alleine waren, war irgendetwas zwischen ihnen. Eine Anziehung, die sie nicht beschreiben konnte.
„Es tut mir leid“, entschuldigte er sich plötzlich und senkte den Kopf.
Mit seinen dunkelbraunen Augen sah er sie direkt an und fing ihren verwirrten Gesichtsausdruck auf.
„Hä? Was meinst du denn?“
„Alles“, erwiderte er nur und zog ein letztes Mal an seiner Zigarette, als er sie am Balkongeländer ausdrückte und in die Ferne schnipste. „Ich war ein richtiges Arschloch!“
Ihre Augen weiteten sich, da sie nicht wirklich verstand, worauf er hinaus wollte.
Mimi biss sich leicht auf die Unterlippe und zog sie schmerzhaft mit den Zähnen nach hinten.
Sie hatte das Bedürfnis etwas zu sagen, doch sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte, weshalb sie ihm das Reden überließ und aufmerksam zuhörte.
„Seit die ganze Sache so eskaliert ist, läuft alles nur noch schief. Ich bin zu den Menschen gemein, die ich eigentlich mag und bin mit allem nur unzufrieden, so als würde ich einem tiefen schwarzen Loch entgegen segeln“, begann er zu erzählen. Er sah sie dabei nicht an, sondern betrachtete die beleuchtete Stadt, die sich vor ihnen erstreckte.
Ein laues Lüftchen wehte und brachte Mimis Haare ein wenig durcheinander. Mit einer fahrigen Bewegung strich sie sich einige störende Strähne aus dem Gesicht, ohne den Blick von ihm zu wenden.
„Hätte ich gewusst, dass zwischen Matt und Sora wieder etwas läuft, hätte ich sie niemals geküsst!“
Mimi schluckte.
Sie umfasste das Geländer und hatte das Gefühl einen Backstein verschluckt zu haben, der gegen ihre Magenwände polterte. Wollte er ihr jetzt ernsthaft etwas über seine unglückliche Liebe zu Sora erzählen? Reichte es nicht, dass sie schon Soras persönlicher Mülleimer war?
„Wir haben uns heute wieder gestritten“, eröffnete er ihr wehmütig. „Ich wollte ihr nur was zu Trinken ausgeben und sie hat sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, sodass mir selbst bei ihr irgendwann der Geduldsfaden gerissen ist.“
Mimi presste die Lippen aufeinander und unterdrückte das Bedürfnis laut losschreien zu wollen.
Was wollte er damit nur bezwecken? Wollte er sie auf seine Seite ziehen?
„Tai, ich…“
„Und dich habe ich in den ganzen Mist auch mitreingezogen!“, unterbrach er sie und fuhr sich hastig durch seine Haare, die in alle Himmelrichtungen standen. „Es tut mir so leid, dass ich dich geküsst habe, um Sora eifersüchtig zu machen. Mir war nicht bewusst gewesen, welches Chaos ich damit anstelle. Erst als du mich letztens so angekackt hast, ist es mir bewusst geworden. Und durch heute.“
„Durch heute?“, wiederholte sie fragend und zog eine Augenbraue hoch.
Tai richtete seinen Blick auf sie und ließ die Schultern hängen.
„Du hast dich gegenüber mir komplett verändert. Früher hast du mir immer Widerworte gegeben und heute? Heute war ich der Idiot, der dich sogar provoziert hat, um festzustellen, ob du mich überhaupt noch magst!“
Mimis Gesichtszüge entglitten. Sie verstand nur noch Bahnhof.
„Was? Das macht überhaupt keinen Sinn!“, stellte sie fest und zog die Stirn in Falten.
„Klingt bescheuert, oder?“
„Ja! Nur weil ich dich nicht ständig angiftete, heißt das noch lange nicht, dass ich dich nicht mehr mag“, sagte mit Nachdruck und erschrak ein wenig über ihren eigenen Tonfall, der besonders ernst klang.
Sie mochte ihn nicht nur. Nein, sie war in ihn verliebt. Deswegen hatte sie keine Lust ihn ständig zu ärgern, so wie sie es früher getan hatte, doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass Tai auf einmal dachte, sie könnte ihn nicht mehr leiden.
„I-Ich…mir ist eben im Moment nicht danach“, gestand sie sich vor ihm ein und sah bedrückt zu dem Betonboden.
„Wie schade, ich mochte unsere Sticheleien immer gerne“, antwortete er und lächelte verschmitzt.
Mimis Herz begann schneller zu schlagen.
Was tat sie hier nur? Warum konnte sie ihm nicht sagen, was sie für ihn empfand? Sie wusste doch ohne hin schon, dass er ihr einen Korb erteilen würde, was hatte sie also noch zu verlieren?
Sie wäre eine ihrer vielen Lasten endlich los und konnte nach vorne schauen.
Plötzlich trieb es ihr die Tränen in die Augen. Geschockt versteckte sie sich unter ihrem Haarvorgang, konnte allerdings ein leises Schluchzen nicht länger unterdrücken.
Sie presste ihre Hand vor den Mund, doch Tai hatte es bereits gemerkt und legte äußerst behutsam den Arm um sie.
Er beugte sich leicht zu ihr hinunter und strich ihr liebevoll ihre Haare aus dem Gesicht, um sie direkt ansehen zu können.
„Und warum weinst du jetzt?“, fragte er unverblümt und musterte sie sorgenvoll.
Mimi zuckte nur hilflos mit den Achseln und rang um ihre Worte.
„Keine Ahnung, ich glaube ich hatte in letzter Zeit einfach genug Streit und bin es leid geworden“, entgegnete sie wahrheitsgemäß.
„I-Ich, ich wollte dich wirklich nicht…“
„Es ist nicht deine Schuld. Mein Leben steht einfach nur Kopf!“
Ohne darüber nachzudenken, sprach sie die Worte aus, die sie lange tief in ihrem Herzen gehütet und vor ihren Freunden versteckt hatte. Sie brauchte jemanden.
Jemanden, der ihr zuhörte. Der sie in den Arm nahm und ihre Tränen trocknete.
Eigentlich wollte sie es nicht sagen, doch Tais Besorgnis brannte sich auf ihre Haut, sodass sie es nicht mehr zurückhalten konnte.
„Meine Eltern lassen sich scheiden! Mein Vater wohnt schon seit Wochen nicht mehr bei uns und heute haben wir uns sogar eine neue Wohnung angeguckt, da unser Haus viel zu groß und zu teuer ist.“
Sie merkte, wie sich ein riesengroßer Stein von ihrem Herzen löste und Tai seinen Griff um ihren zierlichen Körper verstärkte.
„Oh Gott…warum…was ist? Oh Mimi, ich bin so ein Idiot!“, stammelte er unvollständig und schien sich an seine Worte von letztens zurück erinnert zu haben.
„Du kannst nichts dafür“, erwiderte sie schwach und lächelte milde. „Mein Vater ist der Arsch, nicht du.“
Vorsichtig rieb er ihr über ihren Rücken, was ihr erneut die Tränen in die Augen triebt.
Komisch, dass sie sich ausgerechnet Tai anvertraute. Der Junge, der sie in der letzten Zeit mehr als einmal verletzt hatte und sich nun für alles zu entschuldigen schien.
„H-Hat er deine Mutter etwa…?“
Mimi begann zu zittern. Ein undefinierbarer Laut kam ihr über die Lippen, den sie halb unterdrückte, um nicht laut los zu schluchzen. Sie wandte den Kopf zu Tai und sah ihn mit einem qualvollen Blick an, sodass er direkt Bescheid wusste und mit dem Schlimmsten rechnete.
Salzige Tränen rannen ihr über die Wangen, als er beide Arme um sie schlang und sie hingebungsvoll umarmte.
Sie verlor jegliches Zeitgefühl, als sie zaghaft seine liebevolle Geste erwiderte. Sie fühlte sich in seinen Armen so geborgen, dass sie sich fallen ließ und ihre Gefühle offen zeigte, ohne sich zu schämen. Es war ihr egal, was er von ihr hielt, oder ob sie sein Mitleid dadurch erweckte. Alles was zählte war das hier und jetzt. Und dieser Moment hätte für sie ewig andauern können…