Grenzenlose Wut
Apathisch stocherte sie in ihrem Mittagessen herum und hatte ihren Kopf leicht auf ihrer Handfläche abgestützt. Schon seit Tagen hatte sie keinen Appetit, wollte kaum noch aus dem Bett und hatte sogar Silvester regelrecht verschlafen. Alles zog nur so an ihr vorbei, als würde es ihr kaum etwas bedeuten. Auch die Schule und die bevorstehenden Prüfungen schienen ihr egal geworden zu sein.
Seit eineinhalb Wochen hatte sie der Schulalltag wieder, den sie mehr schlecht als recht, bestritt.
Widerwillig aß sie einen kleinen Happen, da die Blicke ihrer besten Freundin auf ihrer Haut brannten.
Besorgt sah Sora zu ihr und ließ ihre eigene Gabel auf ihren Teller sinken.
„Mimi? Was hast du denn?“, durchdrang ihre flehende Stimme den Nebel, der sich seit Norikos Beerdigung, in ihrem Kopf ausgebreitet hatte.
Kaum merklich hob sie den Kopf und richtete den Blick zu Sora, in deren Augen sich die pure Verzweiflung wiederspiegelte.
Schon länger versuchte sie sie zu erreichen, scheiterte jedoch immer wieder an Mimis abweisender Art, die sie als Schutzwall errichtet hatte.
Ihr fiel es unsagbar schwer, aufrichtig zu Sora zu sein, da sie dieses Geheimnis schon viel zu lange mit sich trug. Was wenn sie ihr Vorwürfe machen würde, weil sie ihr die ganze Zeit nichts gesagt hatte?
Was wenn sie ihre Familie verurteilte, weil ihr Vater achtzehn Jahre ein uneheliches Kind verheimlichte?
Sie wusste, dass bei Sora diese Sorgen eigentlich unbegründet waren. Doch sie hatte die Blicke der Nachbarn gesehen, die sich zwar aus Höflichkeit von Noriko verabschiedeten, aber alles andere als gut, von ihrer Familie dachten.
Außerdem redete sich Mimi tagtäglich ein, dass es sowieso zu spät war. Mit ihrer Trauer musste sie alleine fertig werden.
„Hey, wenn du willst können wir uns am Wochenende mal wieder treffen. Ich brauche vom Lernen auch mal eine Pause“, startete sie einen erneuten Versuch, nachdem Mimi nicht reagiert hatte.
„Das ist wirklich sehr lieb…“, begann sie leise, hielt aber kurz inne, als Tai mit ein paar Jungs vom Fußballverein an ihr vorbei lief. Ihre Blicke trafen sich unweigerlich, doch sie senkte schnell den Kopf und versuchte sich wieder auf Sora zu konzentrieren.
„I-Ich will dich aber nicht vom Lernen abhalten! Ihr habt ja schließlich bald Abschlussprüfungen“, erinnerte sie sie nachdrücklich.
„Aber ich merke doch, dass es dir nicht gut geht“, stellte sie sorgenvoll fest. „Du distanzierst dich von uns. Mit Tai redest du komischer Weise auch nicht mehr! Was ist denn vorgefallen?“
Mimi kniff angestrengt die Augen zusammen und verfluchte sich innerlich dafür, in seine Richtung gestarrt zu haben. Sora hatte schon länger mitbekommen, dass die Beziehung der beiden angespannt war.
Während sie und Matt sich Tai langsam wieder annäherten, spürte man die Distanz zwischen den beiden deutlich.
Sie hatte keine Ahnung, wie sie mit ihm umgehen sollte. Seit sie diesen ominösen Blumenstrauß von ihm erhalten hatte, schien er auf eine Reaktion von ihr zu warten, doch sie war einfach nur überfordert.
Was sollte dieser plötzliche Sinneswandel? Warum schickte er ihr ausgerechnet Gardenien? Hatte er sich etwas dabei gedacht, oder den Strauß einfach wahllos herausgesucht?
Doch er hatte ihr extra ein Kärtchen geschrieben und betont, dass ihre gemeinsame Nacht nicht bedeutungslos war.
Schon bevor sie seine Blumen erhalten hatte, versuchte Tai hin und wieder Kontakt mit ihr aufzunehmen, schrieb ihr dutzende SMS, die sie nicht las, oder rief sie an.
Mimi jedoch hatte keine Nerven, sich auch noch mit Tai herumzuschlagen. Auch wenn sie seine Bemühungen durchaus süß fand, konnte sie sich nach all dem Drama nicht dazu durchringen mit ihm zu reden.
Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrem Ärmel. Erschrocken sah sie in das unruhige Gesicht von Sora, die eine Antwort von ihr verlangte.
Mimi ging etwas auf Abstand und schüttelte nur beiläufig den Kopf.
„Es ist alles in Ordnung, okay?“, meinte sie nur distanziert, stand auf und nahm ihr Tablett in ihre zitternden Finger. Ihre Essen hatte sie kaum angerührt.
„I-Ich muss noch mal zur Toilette“, sagte sie knapp und setzte sich, ohne eine Antwort abzuwarten, in Bewegung.
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Sie öffnete die Kabine und steuerte direkt auf eines der Waschbecken zu. Kaltes Wasser traf ihre Handflächen, während sie sie säuberte und etwas Seife aufnahm.
Gedankenversunken spülte sie Wasser über ihre Hände und schaute in den Spiegel, der über dem Waschbecken hing.
Ihre Augen sahen unfassbar müde aus, so als hätte sie die ganze Nacht durchgemacht. Ihr Teint war fahl und nur etwas Rouge zauberte ihr etwas Lebensfarbe ins Gesicht.
Ihre Haare hingen platt nach unten und Mimi war sich noch nicht mal mehr sicher, ob sie sie heute Morgen überhaupt gebürstet hatte.
Sie schüttelte sich kurz bei ihrem Anblick und ließ rasch von ihrem Spiegelbild ab. Sie trocknete ihre Hände und verließ stürmisch die Toilette.
Der Schulflur war noch leer, da sich die meisten beim Essen befanden. Langsam schritt sie den kargen Gang entlang und ließ sich kurz bevor sie ihr Klassenzimmer erreichte auf dem Boden nieder.
Sie seufzte, zog die Beine dicht an ihren Körper, schloss die Augen und genoss die Stille, die nur wenige Minuten anhielt.
„Was machst du denn da unten?“, fragte eine bekannte Stimme.
Mimi schlug überrascht die Augen auf und sah wie sich ausgerechnet Matt grinsend zu ihr hinunter beugte und sie begutachtete.
„Sitzen, sieht man doch!“, antwortete sie leicht schnippisch und hoffte, dass er sich wieder in Bewegung setzte und ging. Matt war auch einer der Kandidaten, denen sie lieber aus dem Weg ging, statt mit ihnen zu reden.
Doch Matt schnaubte nur unbeeindruckt und setzte sich direkt neben sie.
„Hier hat man während der Mittagspause seine Ruhe. Manchmal nehme ich mir mein Pausenbrot und verziehe mich in den Musikraum und genieße die Stille.“
Überrascht sah Mimi zu ihm, wandte aber relativ zügig die Augen von ihm.
Beide hatten schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr miteinander gesprochen. Sie war gar nicht mehr im Bilde, was bei ihm eigentlich so los war.
Sie wusste nur, dass er sich mit Tai wieder versöhnt hatte und sich seit kurzem auch wieder mit Sora traf, um ihrer Dreieinigkeit eine weitere Chance zu geben.
„Wie geht´s dir eigentlich?“, fragte er auf einmal und hatte denselben besorgniserregenden Blick wie Sora aufgelegt, so als hätten sie sich abgesprochen.
„Hast du mit Sora geredet?“, unterstellte sie ihm gereizt und schielte zur anderen Seite.
Konnte denn niemand verstehen, dass sie alleine sein wollte?
„Sie macht sich nur Sorgen. Wir alle machen uns Sorgen“, sagte er mit sanfter Stimme.
Mimi biss sich auf die Unterlippe und zog sie nach innen.
„Braucht ihr wirklich nicht, mir geht es gut“, versicherte sie Matt, ohne ihm ins Gesicht zu schauen.
Sie wusste nicht, was sie mehr beunruhigte…dass ihre Freunde hinter ihrem Rücken über sie sprachen oder, dass man ihr die Traurigkeit bereits ansah?
„Tai macht sich auch große Sorge um dich“, eröffnete er ihr auf einmal und Mimi schnellte mit dem Kopf zu ihm. Verwundert sah sie ihn an und überlegte, was sie darauf antworten sollte, ohne ihm nähere Details über ihre verkorkste Beziehung zu unterbreiten.
Doch bevor sie sich eine Antwort zurecht legen konnte, hatte er wieder das Wort ergriffen.
„Ich weiß nicht was da genau zwischen euch vorgefallen ist, aber ihm geht es sehr schlecht deswegen. Ihm ist auch schon aufgefallen, dass du kaum noch etwas in der Schule isst.“
„Das ist nicht sein Problem“, erwiderte sie nur kühl, obwohl seine Worte ihr schon nah gingen.
Mit bebenden Fingern krallte sie sich in ihren Unterarm, den sie auf ihren Knien platziert hatte.
„Aber wir sind doch alle miteinander be…“
„Wir haben uns teilweise auseinander gelebt. Sora und du werdet nach dem Schulabschluss weg sein. Joe hat seit seinem Medizinstudium kaum noch Zeit für uns und die Jüngeren machen ihr eignes Ding“, unterbrach sie ihn schroff und sprach das aus, was sie schon länger dachte.
Ihr war es bewusst geworden, nachdem Sora ihre Pläne für Paris offenbart hatte.
Es ging alles auseinander.
Vielleicht war es sogar besser so. Manche Freundschaften waren nicht für die Ewigkeit bestimmt.
„Was redest du denn da? Du tust ja so, als wäre unsere Freundschaft bereits verloren.“
„Vielleicht ist sie das ja auch“, murmelte sie leise vor sich hin und raffte sich auf.
Auch Matt stellte sich hin und beäugte sie kritisch.
„Mimi, das ist Schwach…“
„Nein, ist es nicht! Ihr habt euch zwar wieder einigermaßen vertragen, aber eure Freundschaft wird nicht mehr dieselbe sein. Nicht nachdem, was alles passiert ist.“
Sprachlos stand er ihr gegenüber und wollte gerade etwas erwidern, als die Schulglocke läutete.
„Die nächste Stunde fängt an, du solltest in dein Klassenzimmer gehen“, sagte sie ausdruckslos und verschränkte die Arme vor der Brust.
Matt schüttelte nur sein blondes Haar, als sie an ihm vorbei ging und die Tür zum Klassenraum öffnete.
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Ein paar Tage später war Mimi auf dem Weg zu Ayame. Gelegentlich ging sie nach der Schule bei ihr vorbei, um nach ihr zu sehen.
Meist waren auch abwechselnd Ren oder Etsuko bei ihr gewesen, um ihr etwas Trost zu spenden. Auch ihre Mutter war ein paar Mal bei ihr gewesen, obwohl Ren ihr mehr Verantwortung übertragen hatte und sie somit auch mehr arbeiten musste.
Sie waren mitten im Umbau, der seit November begonnen hatte. Ren wollte seinen Club mit einer separaten Cocktailbar erweitern und befand sich gemeinsam mit ihrer Mutter in der Planungsphase.
Das Gute daran war, dass Mimi wenigstens zu Hause ihre Ruhe hatte, auch wenn sie sich manchmal sehr einsam fühlte.
Schweren Schrittes steuerte sie auf die Wohnung von Ayame zu. Norikos Zimmer war immer noch unberührt, lediglich die Bettwäsche wurde gewechselt.
Chiaki hatte sich bereiterklärt, um Gandhi zu kümmern, der als einziger nicht mehr in ihrem Zimmer stand. Sonst sah alles so aus, als würde sie jeden Augenblick zurückkehren.
Mimi war nur einmal nach ihrem Tod, in ihrem Zimmer gewesen.
Nicht mal fünf Minuten hielt sie es aus und ergriff unter Tränen fast panisch den Rückzug. Meist gesellte sie sich kurz zu Ayame ins Wohnzimmer, da auch dort ihre Urne stand, die Anfang Februar auf dem Friedhof beigesetzt werden sollte.
Leise und mit Ehrfurcht erfüllt, stieg sie die Treppen des Mehrfamilienhauses hoch und steuerte den Flur, indem sich Ayames Wohnung befand, an.
Kurz bevor sie um die Ecke bog, blieb sie abrupt stehen. Ihr Atem stockte und ihre Augen rissen sich unter Schock auf.
Sie ging ein paar Schritte zurück, versteckte sich hinter der Ecke, die wieder zum Treppenhaus führte.
Mimi legte ihre Fingerspitzen auf das kühle Mauerwerk und beobachtete mit offenstehendem Mund das vor ihr stattfindende Szenario.
Es war eine Ewigkeit her, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Sie hatte versucht ihm aus dem Weg zu gehen, da sie nicht mit ihm sprechen wollte.
Mimi hatte genug von seinen fadenscheinigen Ausreden und Lügen, die er ihnen jahrelang auftischte.
Doch warum war er hier? Und wieso redete Ayame überhaupt mit ihm?
Fassungslos sah Mimi, wie er seine Schuhe richtig anzog, ihr eine Hand auf die Schultern legte und sie in eine sachte Umarmung zog, die sie nur kraftlos erwiderte.
Völlig schockiert über, die für sie innig wirkende Umarmung, ging sie wieder ein paar Schritte zurück und presste ihren Rücken gegen die Wand.
Ihre Atmung war unkontrolliert. Ihr wurde unvermittelt schlecht, sodass sie ihre Augen zusammenkniff und verzweifelt nach Luft schnappte.
Sie griff sich gegen ihre Stirn, öffnete aber kurz danach wieder ihre Augen.
Mimi tastete sich mit den Fingern zur Ecke vor und schielte zu den beiden Personen.
Schnell stellte sie fest, dass er direkt auf sie zugesteuert kam.
Von Panik ergriffen rannte sie die Treppen hinunter, übersah die letzten zwei Stufen, kam leicht ins Straucheln, fing sich aber wieder und schaffte es, sich hinter der Hausfassade zu verstecken.
Einige Minuten später tauchte er ebenfalls auf, zückte seinen Schlüssel und ging zu seinem Wagen, der in einer Nebenstraße parkte.
Der Motor ertönte und Mimi hörte gerade noch wie er Gas gab und langsam davonfuhr – so als wäre er nie hier gewesen.
Schwerfällig begab sie sich aus ihrem Versteck und starrte ihm eine Zeitlang hinter, bis ihr Blick zu Ayames Wohnung hochwanderte und mit zusätzlichen Fragen belastete.
Was wollte er nur hier? Er hatte sich all die Jahre nie um Noriko gekümmert, warum besuchte er ihre Mutter ein paar Wochen nach ihrem Tod?
Und warum gaben sie sich einer innigen Umarmung hin? Was hatte das nur zu bedeuten? Lief etwa wieder etwas zwischen ihnen? Hatte der Tod ihrer Schwester sie einander näher gebracht? Fielen sie ihrer Mutter erneut in den Rücken, obwohl sie sich eigentlich denken konnten, wie schwer die beide es hatten?
Von Wut ergriffen biss sie die Zähne fest aufeinander und verschwand in die andere Richtung.
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Wuterfüllt torkelte sie vor ihrem eigenen Wohnhaus auf und ab, nippte an der halbleeren Flasche Sake, die sie im Nachtschränkchen ihrer Mutter gefunden hatte.
Sie konnte mittlerweile verstehen, warum sie ab und zu zur Beruhigung ein Schälchen Sake trank.
Ihr ging es zurzeit nicht anders, auch wenn sie den Alkohol dazu missbrauchte, sich fehlenden Mut anzutrinken.
Sie setzte erneut an und kippte einen großen Schluck hinunter, sodass sogar etwas Sake auf ihre Kleidung tropfte.
Ihr Kopf fühlte sich bereits vollkommen benebelt an, als zwei Gestalten auf sie zugesteuert kamen.
Mimi fuhr sich durch ihr nasses Gesicht, trank wieder etwas und hielt die Flasche am Hals kraftlos fest.
Sie lief schwankend den beiden entgegen und fixierte den Älteren mit einem bösartigen Blick.
„Warum bringst du deinen kleinen Bruder mit?“, fragte sie vorwurfsvoll und merkte, dass ihre Zunge ganz schwer geworden war.
„Hä? Du hast doch nur gesagt, dass ich vorbei kommen soll! Ich habe nicht gewusst, dass ich Yasuo nicht mitbringen darf…er ist doch sonst auch immer dabei“, stellte er nüchtern fest und musterte sie verwirrt.
Doch Mimi schüttelte nur rasch den Kopf und drückte sich an ihnen vorbei.
„Ist jetzt auch egal“, murrte sie gereizt und setzte sich in Bewegung. „Wir müssen zur U-Bahn-Station“, kommandierte sie, ohne auf die beiden weiter einzugehen.
Sie leerte die Flasche in einem Zug, wusch sich über den Mund und stellte sie am Boden ab.
Sie stützte sich mit der Hand an der Wand ab und hielt sich kurz die Stirn, da ihr plötzlich ganz schwarz vor Augen wurde.
„Ist alles in Ordnung? Was ist denn passiert, Mimi?“, fragte Masaru besorgt und legte seine Hand auf ihre Schulter.
Mimi schüttelte sie sofort ab und ging wankend ein paar Schritte voraus. „Es ist alles gut“, meinte sie schwerfällig, wohlwissend, dass gar nichts gut war.
Sie drehte sich zu den beiden hin, hatte kurz Orientierungsschwierigkeiten, da sich bei ihr alles drehte.
„Ich will zu meinem Vater!“, eröffnete sie ihnen und blickte in erstaunte Gesichter.
„Warum? Du bist ihm die letzten Monate komplett aus dem Weg gegangen“, stellte Masaru spitzfindig fest. Yasuo senkte nur den Kopf und schien zu merken, dass er eher unerwünscht war.
„Ich habe mit ihm etwas zu klären“, beharrte Mimi steif und wandte beiden wieder den Rücken zu. „Ich wollte allerdings nicht alleine gehen.“
Ihre Stimme war immer leiser geworden.
Ja, sie wollte ihn zu Rede stellen! Sie brauchte diese Antworten, dringender als sie es erwartet hätte.
Seit sie ihn bei Ayame gesehen hatte, wuchs ihre Wut ins Unermessliche.
Sie musste ihr Luft machen, sonst würde sie noch explodieren.
„Okay, aber findest du wirklich, dass es jetzt passend ist? Du bist angetrunken!“, murmelte Masaru, in der Hoffnung, sie von ihrem Vorhaben abhalten zu können.
Doch Mimi war nicht davon abzubringen. Erbost drehte sie sich zu ihm und funkelte ihn an.
„Nein, ich muss das jetzt klären! Ist mir egal, ob ihr mitkommt, oder nicht! Ich werde heute noch mit ihm sprechen!“
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„Mach‘ auf, du blödes Arschloch!“, brüllte sie aus tiefster Seele und schlug gegen seine Wohnungstür.
Vor einer viertel Stunde waren sie bei ihm angekommen, doch er öffnete nicht die Tür, obwohl sein Wagen auf dem Parkplatz stand.
Von Verzweiflung getrieben, hatte Mimi das ewige Klingeln aufgegeben und hämmerte mit der bloßen Faust gegen seine Appartementtür.
Masaru hatte sich gegen das Treppengeländer gelehnt und verschränkte genervt die Arme vor der Brust, während Yasuo sich auf der Treppe niedergelassen hatte.
„Mach‘ gefälligst auf!“, kreischte sie schrill, als Masaru lautstark stöhnte.
„Man, dass hat doch keinen Sinn! Er ist nicht da, lass uns wieder gehen“, schlug er vor und versuchte entspannter zu klingen, als er eigentlich war.
Mimi konnte sich denken, dass sie sein Nervenkostüm strapazierte. Schon in der U-Bahn war sie alles andere als einfach gewesen.
Der Alkohol ließ sie äußerst emotional werden, sodass sie ihre Gefühle kaum noch kontrollieren konnte. Immer wieder brach sie in Tränen aus und erzählte im Sekundentakt, was sie gesehen hatte und was sie letztlich reininterpretierte.
Selbst Masarus Beruhigungsversuche scheiterten, ließen sie nur noch mehr aus der Haut fahren und ihn an den Rand des Wahnsinns treiben.
Mimi war felsenfest davon überzeugt gewesen, ihn heute anzutreffen und mit ihm reden zu können. Ihr kam nicht mal der Gedanke, dass er vielleicht einfach nur etwas essen gegangen war, da er selbst nicht kochen konnte, oder vielleicht einfach zu Fuß irgendwo hingegangen war.
In ihrem Kopf drängte sich der Gedanke auf, dass er sie einfach nicht reinlassen wollte.
Dass er derjenige war, der sie nun ignorierte und ihr aus dem Weg gehen wollte.
Ein letztes Mal hämmerte sie gegen die Tür, als Masaru plötzlich ihre Hand packte und zu sich drehte.
„Mimi, beruhig‘ dich jetzt! Er ist nicht da! Wir sollten einfach nach Hause gehen.“
„Ach lass‘ mich doch“, schrie sie und wandte sich aus seinem lockeren Griff.
Sie stieß mit dem Fuß gegen Yasuo, der gerade seine Handkamera ausgepackt hatte.
Sie rutschte ihm aus der Hand und Yasuo konnte sie gerade noch mit einer Hand auffangen, als Mimi wutentbrannt die Treppen hinunterlief, gefolgt von Masaru.
Sie steuerte fuchsteufelswild auf den Wagen ihres Vaters zu und schlug mit beiden Fäusten auf die Motorhaube ein.
Masaru kam direkt hinter ihr zum Stehen, als Yasuo leise zu den beiden aufschloss.
„Du blödes Arschloch! Wie konntest du uns das nur antun?“, brüllte sie verzweifelt und drosch weiter auf den Gegenstand ein, auch wenn ihre Hände schmerzten.
In ihrer Ausweglosigkeit hatte sie alle rationalen Gedanken über Bord geworfen. Langsam zog sie sich zurück und starrte mit gläsernen Augen auf die Motorhaube.
Ihre Hand verschwand in ihrer Jackentasche und ertastete etwas kleines Kühles darin. Sie umfasste es mit ihren Fingern und zog es bedächtig aus der Tasche.
„Hast du dich jetzt wieder beruhigt?“, fragte Masaru vorsichtig und trat etwas näher an sie heran.
Doch Mimi nahm ihn nicht wahr. Es schien so, als hätte ihr eigener Körper ein Eigenleben entwickelt.
Sie sah wie ihre Hand sich bewegte und wie sie sich leicht über die Haube beugte.
Ihr Verstand war abgeschaltet, alles fühlte sich so an, als würde sie es nur beobachten und nicht selbst tun.
Doch das kratzende Geräusch und Masarus Stimme brannten sich in ihr Gedächtnis.
Er packte sie plötzlich und versuchte sie von dem Wagen wegzuziehen, während sie um sich schlug.
„Bist du noch ganz dicht?“, hörte sie ihn sagen.
„Lass mich los!“, kam über ihre Lippen. Ihr Tonfall war aggressiv und sie spürte, wie sie sich aus seinem Griff wandte und mit ihrem Schlüssel über den Lack kratzte.
„Das ist Sachbeschädigung!“, brüllte er, packte sie am Becken, doch konnte sie nicht halten, da sie mit aller Kraft um sich schlug und sogar nach ihm trat.
„Yasuo! Ruf sofort Etsuko oder Chiaki an! Sie ist komplett wahnsinnig geworden.“
Von hinten umfasste er ihre Handgelenke, während sie sich immer wieder zu befreien versuchte.
Sie hörte immer wieder, wie Yasuo und Masaru miteinander stritten, nahm ihre Worte aber gar nicht mehr richtig wahr.
Ihr wurde immer schwindeliger. Ihre Kräfte schwanden und sie fühlte wie ihr die warmen Tränen die Wangen hinunterliefen.
Kraftlos ließ sie sich auf der Motorhaube nieder und schluchzte herzzerreißend. Masaru konnte sie kaum noch halten, ging deswegen neben ihr auf die Knie, um sie besser stützten zu können.
Sie drückte ihr Gesicht auf die kühle Haube, in ihren Finger befand sich immer noch der Schlüssel, der seine Spuren hinterlassen hatte.
Tränen tropften auf das Wort, das sie in den Lack geritzt hatte. Sie sackte zusammen, als ihr plötzlich schwarz vor Augen wurde.
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Erschrocken zuckte sie zusammen, als sie das kalte Wasser traf. Würgend beugte sie sich über und hielt sich krampfhaft am Badewannenrand fest.
Sie blinzelte und nahm ihre Umgebung erst sehr verschwommen wahr, bis sie sich orientieren konnte.
Erst nach und nach, erkannte sie, dass sie sich in ihrem eigenen Badezimmer befand und jemand den Arm um sie gelegt hatte.
Das Wasser prasselte auf sie nieder. Sie rang immer noch nach Luft, gewöhnte sich aber an die kühle Nässe, die ihre Haut bedeckte.
„Was hast du nur gemacht?“, ertönte eine sanfte Stimme und strich ihr vorsichtig ein paar Strähnen aus dem Gesicht.
Mimi richtete den Kopf auf und sah in das besorgte Gesicht von Etsuko, die ebenfalls halb in der Badewanne stand.
„W-Was ist passiert?“, hakte sie verwirrt nach und konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie sie überhaupt zurück zur Wohnung gekommen war. Und wo waren Masaru und Yasuo?
Sie sah an sich hinunter und stellte fest, dass sie nur in Unterwäsche bekleidet war. Neben der Wanne lag ein Kleiderhaufen, der nur ihrer sein konnte.
Etsuko hangelte sich nach oben und stellte die Duschbrause ab. Danach stieg sie aus der Wanne und half Mimi ebenfalls heraus.
Sie legte ein Handtuch über ihre Schultern und krempelte ihre Hosenbeine wieder runter, während Mimi apathisch alles beobachtete.
„Erinnerst du dich an überhaupt nichts mehr?“, fragte Etsuko skeptisch nach und trocknete mit einem kleinen Gästehandtuch ihre Füße ab.
Mimi kniete sich langsam hin, da ihr Kopf immer noch schwirrte. Sie umklammerte ihr Handtuch und presste ihren Rücken gegen die Wanne.
„Ich wollte mit meinem Vater reden“, erinnerte sie sich dunkel, „aber er war nicht da!“
„Das hat mir Masaru auch erzählt“, schnaufte sie und setzte sich ihr gegenüber. „Du bist komplett durchgedreht. Du hast das Auto von deinem Vater zerkratzt und hast dich von Masaru überhaupt nicht mehr beruhigen lassen. Ich war fassungslos, als Yasuo mich angerufen hat und mir erzählt, dass du nach seinem Bruder trittst.“
Mimi riss die Augen auf und fasste sich beschämt an den Kopf.
„Was? Das weiß ich gar nicht mehr…“
In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, dass sie furchtbar wütend war, aber nicht, dass sie das Auto ihres Vaters beschädigt hatte und mutwillig nach Masaru trat.
„Wo sind die Jungs denn?“, fragte sie nach einen kurzen Moment der Stille.
Etsuko drehte den Kopf zur Tür und deutete hinter sich.
„Sie sind im Wohnzimmer. Chiaki ist auch gekommen.“
Verlegen sah sie auf ihren Schoss und zupfte mit den Fingern am Zipfel ihres Handtuches. Sie schämte sich ungemein. Noch nie im Leben war sie so dermaßen ausgerastet. Alles war außer Kontrolle geraten, nur weil ihre unausgesprochene Wut alles ins Wanken brachte und sie wie ein fehlgezündeter Feuerwerkskörper explodieren ließ.
„Mein Vater war bei Ayame. Ich habe gesehen, wie er aus ihrer Wohnung kam und sie umarmt hat“, sprudelte plötzlich aus ihr hervor.
Mit den Augen suchte sie nach Etsuko, die weniger überrascht aussah, als sie vor wenigen Stunden.
Sie streckte die Arme nach ihr aus und sah Mimi tief in die Augen.
„Er wollte sich verabschieden. Ich war auch da gewesen, weil ich nach Ayame sehen wollte. Es ist nicht das passiert, was du dir vielleicht vorstellst. Er hat sich nur verabschiedet“, stellte sie klar und Mimi spürte einen leichten Druck auf ihren Schultern.
„A-Aber es hat ihn nie interessiert, wie es ihr geht!“, protestierte sie wehleidig und merkte, wie die Tränen in ihren Augen aufstiegen.
„Ich weiß auch nicht, was ihn dazu bewegt hat, aber es ist sein gutes Recht sich…“
„So ein Blödsinn“, unterbrach sie sie schroff und drückte sie unsanft beiseite. „Er hätte schon viel früher dazu stehen müssen. Jetzt ist es zu spät und sie ist tot.“
Krächzend kamen ihr die Worte über die Lippen, bevor ihre Stimme abbrach und sie ihre Lippen zitternd aufeinanderpresste.
„Mimi“, ertönte Etsukos Stimme und ihre Hand legte sich auf ihren Oberschenkel, „ich weiß, dass das alles nicht leicht für dich ist. Wir vermissen sie alle. Aber es bringt nichts, wenn du alle von dir stößt! Sie war ein wichtiger Teil von uns, von uns allen!“, betonte sie sanftmütig und strich ihr zart über ihre Haut. Mimi drehte sich zu ihr hin und bibberte unaufhörlich.
Ihre Worte drangen sofort in ihr Herz und machten ihr bewusst, wie Recht sie hatte.
Sie war nicht die einzige, die jemanden verloren hatte.
Noriko war nicht nur ihre Schwester, sondern eine Freundin und geliebte Frau, die bei allen eine tiefe, schmerzende Wunde hinterließ.
Etsuko rutschte auf den Knien zu ihr und legte den Arm um sie. Es war das erste Mal, dass sie vor jemandem weinte und offen ihre Gefühle zeigte.
Sie drückte ihr Gesicht in ihre Armbeuge, registrierte ihre warme Hand auf ihrem Rücken, die behutsam darüber fuhr und ihre selbsterrichtete Mauer zum Einsturz brachte.