Zum Inhalt der Seite

Zwischen den Welten

Das Mary Sue-Projekt
von
Koautor:  Erenya

Vorwort zu diesem Kapitel:
Anweisung der Göttin:
»Nachdem du von Sawa allerhand an Infos bekommen hast, geht die Schicht weiter. Plötzlich kommt Rika als Kundin, was natürlich bedenklich ist, weil Ikki frei hat und sie das wissen sollte. Noch dazu fordert sie ausdrücklich, dass du ihre Maid bist.«

Ich habe damals die Warnung erhalten und ich gebe sie weiter: Achtung, viel Input! Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Wahrheitssuche

Nach Ende meiner Pause kehre ich zu den anderen zurück. Mit meiner nächsten Gelegenheit gebe ich Toma Bescheid, dass er jetzt eine Auszeit nehmen kann. Er nimmt es gern an, bedankt sich und überlässt für die nächste viertel Stunde das Feld in Frauenhand.

Es ist angenehm ruhig im Café. Die anwesenden Gäste sind bedient und nur gelegentlich wird eine von uns beiden gerufen, um eine weitere Bestellung aufzunehmen oder den Kunden zu verabschieden. Sawa bedient derweil den Abwasch und ich bringe noch das letzte Geschirr zur Küche, ehe ich mich an ihre Seite geselle.

„Du, sag mal“, wage ich sie zaghaft anzusprechen, während ich einige der aus der Küche geholten Teller im Schrank einräume. „Wegen vorhin … du wolltest doch noch etwas sagen?“

„Hm? Zu Luka-san und dir?“

Ich nicke.

„Eigentlich nichts Besonderes. Du weißt, das ist deine Sache und ich möchte dir da nicht reinreden. Ich mache mir nur ein wenig Sorgen.“

„Wieso denn?“

„Na, wegen dir natürlich. Wegen euch, der ganzen Sache eben“, erklärt sie und besieht mich sorgevoll. „Ich kann einfach nicht glauben, dass das noch immer zwischen euch hält.“

„Wieso sollte es das denn nicht?“

„Sag mal!“, nimmt ihre Stimme einen strengen Ton an, als sie sich schwungvoll nach mir umdreht. Ich bin mir sicher, dass sie noch etwas sagen will, doch dadurch, dass sie laut geworden ist, sind einige der Kunden auf unser Gespräch aufmerksam geworden. Das muss auch Sawa auffallen, denn sie wendet sich sogleich wieder von mir ab und erneut dem Abwasch zu. „Hör doch bitte auf damit“, höre ich sie leise sagen.

Ich verstehe nicht, was sie meint. Gibt es einen guten Grund zu der Annahme, die Beziehung von Luka und mir sei zum Scheitern verurteilt? Ist etwas zwischen uns vorgefallen? Gestern hatte ich jedenfalls nicht den Eindruck, dass etwas zwischen Luka und mir im Raum stehen würde.

Ich rücke näher an sie heran, um leise zu ihr sprechen zu können. „Bist du jetzt wütend auf mich? Wenn ja, dann tut es mir leid. Das wollte ich nicht“, sage ich vorsichtig.

Ich sehe an ihren Schultern, dass sie kurz seufzt. Anschließend schüttelt sie den Kopf, was ihren hochgebundenen Pferdeschwanz in Schwingung versetzt. „Nein, ich bin nicht wütend auf dich. Wie könnte ich auch?“, gibt sie zaghaft zur Antwort.

Ich lächle erleichtert.

„Es ist nur so dumm, weißt du? Ich versteh‘ nicht, wie du damit klarkommen kannst. Oder bin ich nur zu naiv und unerfahren, um das verstehen zu können?“

Bahnhof. Aber ich bin auf einem guten Weg, an Informationen zu gelangen. Das sagt mir mein Gefühl.

„Ich weiß wirklich nicht, was du meinst, aber bisher hatte ich nicht das Gefühl, dass du in irgendeiner Form zu naiv wärst“, erkläre ich. Sacht stoße ich mit der Schulter gegen ihre in einer Geste der Aufmunterung. „Du bist vielleicht manchmal etwas zu gutherzig, aber sonst …“

Ich erkenne ein schwaches Lächeln, als sie zu mir hersieht. „Danke. Und du bist manchmal etwas zu verrückt.“

Ihr Kontra lässt mich leise auflachen. „So, findest du? Nun, ich denke, damit kann ich leben.“

Sawa stimmt in mein Gelächter ein. Es ist kaum zu beschreiben, wie gut es tut, endlich mit jemandem lachen zu können. Seit ich hier bin, habe ich das vermisst, das wird mir erst jetzt so richtig bewusst.

Die nächsten Minuten helfe ich Sawa beim Abwasch, indem ich das Abtrocknen übernehme. Zweimal muss ich diese Arbeit unterbrechen, um neue Bestellungen der Kunden aufzunehmen. Ein weiterer Tisch wird frei und nachdem ich unsere Gäste verabschiedet habe, mache ich mich direkt ans Abräumen. In der Küche vermeide ich es, groß mit Kento zu reden, um mich nicht erneut vor ihm in Verlegenheit zu bringen. Auf meinem Rückweg ins Café begegnet mir Toma, der gerade mit seiner Pause fertig geworden ist, und er begleitet mich in bester Plauderlaune.

Zurück im Cafébereich erkenne ich Sawa bei einem jüngeren Pärchen, das frisch eingetroffen ist. Es ist witzig, wie sie mit ihrer eher lockeren Art versucht, in die Maidrolle hineinzupassen. Aber sie macht es gut und ich erkenne ihr an, dass sie dieser Arbeit schon länger nachgeht als ich.

„Dir scheint es besser zu gehen“, merkt Toma von der Seite an und holt mich dadurch aus meinen Gedanken.

Erst fragend, dann lächelnd sehe ich zu ihm hoch. „Ja klar. Sawa ist jetzt hier und du warst die ganze Zeit da. Wie könnte es mir da nicht gut gehen?“, erkläre ich.

Er erwidert mein Lächeln. „Das ist schön zu hören. Scheint, als hätte ich mir zu viele Gedanken gemacht.“

„Habe ich das nicht gesagt?“, zeige ich ein Grinsen. „Das darfst du im Übrigen auch gern Shin erzählen. Ich bin eben auch nur ein Mensch, Fehler und schlechte Tage unterlaufen mir nun einmal.“

Er lacht auf. „Das werde ich wohl mal machen.“

Bei meinem Nicken erklingt die Türglocke. Sowohl Toma als auch ich richten unsere Aufmerksamkeit nach vorn, um zu sehen, welchen neuen Gast wir bekommen haben.

Mir gefriert instant sämtliches Blut in den Adern.

Auch Sawa hat unseren neuen Gast bemerkt und ich realisiere am Rande, wie sie unsicher zu uns hinter sieht. Ich weiß nicht, ob Toma etwas auf ihren Blick erwidert, aber er setzt sich neben mir in Bewegung. Es wird schlagartig kalt an meiner Seite und ich habe den Wunsch, mich irgendwo zu verstecken.

„Willkommen zurück, Rika-san“, höre ich Sawa zögerlich sagen. Die Aussprache des Namens jagt einen Ruck durch meinen Körper.

Ich beobachte mit einer Mischung aus Unglauben und Entsetzen, wie Toma an die Seite der jungen blondhaarigen Frau tritt und sich in aller Förmlichkeit vor ihr verneigt. „Willkommen zurück, Herrin. Ich, Toma, stehe Ihnen heute zu Diensten.“

„Nicht nötig“, entgegnet sie mit einer solch vornehmen Ausdrucksweise, dass es weitere Blicke unserer Kunden auf sie lenkt. Es wäre ohnehin nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie das Zentrum unseres Cafés dargestellt hätte, so auffällig, wie sie in ihrem dunkel-aristokratischer Kleid und dem elegant geschwungenen Damenhut ist.

Ihr Blick durchstreift aufmerksam den Raum. Als er direkt auf mich trifft, versteift sich jeder Muskel in mir. Ich wünsche, mich in Luft aufzulösen.

Ihre schmalen, ungeschminkten Lippen umspielt ein dünnes Lächeln. „Ich wünsche, dass sie meine Bedienung ist“, erklärt sie mit weicher, filigraner Stimme. Schlagartig ist es so still im Café geworden, dass selbst ich es hören kann, obwohl sie nicht sehr laut gesprochen hat.

Ich?!

Toma verneigt sich gehorsam. „Ganz wie Ihr wünscht, Herrin.“

„Ist das in Ordnung für dich?“, flüstert mir Sawa leise zu. Ich habe in meiner Paralyse gar nicht bemerkt, wie und wann sie an meine Seite getreten ist.

‚Um Himmels willen, nein, ist es nicht!‘, schreit es in meinem Kopf, doch ich bekomme nur ein stummes Kopfdrehen zustande.

Habe ich eine Wahl? Ich glaube nicht. Im Augenblick bin ich auf Schicht und muss meine Arbeit vollrichten. Wäre es anders, könnte ich verneinen. Aber wäre es selbst dann klug, es zu tun?

„Schon okay“, sage ich leise, dass es nur Sawa hören kann. Meine Knie fühlen sich weich an, mein Rücken schmerzt unter den verkrampften Muskeln und meine Finger sind ausgekühlt. Ich muss Zwang anwenden, damit sich meine Beine in Bewegung setzen.

Toma hat Rika derweil an einen Platz geführt und zieht höflich den Stuhl zurück, damit sie sich setzen kann. Ich vermeide, ihn anzusehen, als sich unsere Wege auf seinem Rückzug kreuzen. Sein Blick ruht auf mir, das kann ich spüren, aber ich weiß nicht, was er vermitteln soll. Meine Konzentration liegt auf dem, was mir bevorsteht, und der Beherrschung, die ich aufbringen muss, um nicht fluchtartig umzukehren. Nein, ich will das hier wirklich nicht.

Ich habe Angst vor Rika. Im Spiel habe ich erlebt, wozu sie fähig ist. Auch wenn es mich nicht betrifft, aber ich fürchte mich vor dieser Seite an ihr. Mehr als alles andere. Mehr noch, als ich mich vor Ukyo oder Luka fürchten könnte.

Natürlich muss das, was im Spiel ist, nicht auf die Realität zutreffen. Ich weiß auch, dass Rika noch ganz anders sein kann. In einer anderen Route war sie sehr gut mit der Heroine befreundet, hat sie sogar gerettet und in Schutz genommen. Aber selbst das ändert nichts daran, dass es da noch diese andere Seite an ihr gibt, die zutage kommt, sobald es um Ikki geht. Und ich befinde mich hier im Spadeverse, oder nicht? Waka ist der unumstrittene Beweis dafür.

Welche Rolle spiele ich in dieser Welt? Bin ich ein Ersatz der Heroine? Bin ich ein Bonus? Ein Eindringling? Je nachdem, was ich bin, könnte Rika entweder gut oder ganz schlecht auf mich zu sprechen sein. … Bei dem Gedanken wird mir übel.

Ich zwinge mich zu einer Verbeugung, als ich neben Rika angekommen bin. „Ergebensten Dank, dass Ihr heute zu uns zurückgekehrt seid, Herrin“, bete ich herunter, wie ich es von Ikki gelernt habe, wenn man einen guten Stammkunden begrüßt. Rika als meine »Herrin« zu bezeichnen, würgt ein ekelhaftes Gefühl in mir hervor.

Das auffangende Lächeln, welches sie mir schenkt, macht es nur noch schlimmer. „Ich bin aufrichtig erfreut, dich heute zu sehen, Shizana-san“, grüßt sie höflich zurück. Die formelle Anrede, die sie für mich verwendet, ist höchst ungewohnt.

„Ich wollte dich unbedingt treffen“, fährt sie derweil fort, ohne sich von meinem krampfhaften Verhalten beirren zu lassen. „Hast du gegebenenfalls ein wenig Zeit, mir beim Tee Gesellschaft zu leisten? Es sollte für Waka-san in Ordnung sein, wenn es für mich ist.“

Verblüfft sehe ich sie an. Ich weiß nicht, was mich mehr überrascht: die freundliche Art oder dass sie um meine Gesellschaft verlangt.

„Ich … weiß nicht“, gebe ich stammelnd zur Antwort.

„Wärst du vielleicht so freundlich, ihn zu fragen? Oh, und ich hätte gern einen Earl Grey White. Ohne Zucker, bitte.“

„Äh … sehr wohl, Herrin. Ich werde Eurem Wunsch sofort nachkommen.“

Ihr leises Kichern begleitet mich, als ich mich nach einer schnellen Verbeugung von ihrem Tisch entferne und zu den anderen zurückkehre. Sawa erwartet mich bereits hinter dem Tresen und auch Toma zu ihrer Seite scheint alles beobachtet zu haben.

„Hey … alles okay?“, empfängt mich Sawa im gedämpften Flüsterton. Die Sorge um mich ist ihr dennoch anzuhören.

„Hat sie etwas bestellt?“

„Einen Earl Grey White ohne Zucker“, reagiere ich auf Tomas Frage, ohne die geringste Regung in der Stimme. Es gelingt mir nicht, einen der beiden anzusehen.

„Hm, verstehe. Sie wird also ein Weilchen bleiben.“

„Und meine Gesellschaft“, ergänze ich.

Sawas Stimme überschlägt sich. „Wie bitte?!“

„Das ist ungewöhnlich“, bemerkt auch Toma, was der Grund ist, warum ich zu ihnen aufschaue. „Soll ich mit Waka-san sprechen?“

‚Nein, ich mach‘ das schon‘, will ich sagen, bin aber noch zu gelähmt, um diesen einfachen Satz aus mir herauszubringen.

„Sawa, übernimmst du solange? Ich bin gleich zurück.“

„Eh? J-ja, natürlich.“

Toma deutet uns ein Nicken, schon entfernt er sich in den Personalbereich. Sawa und ich bleiben allein zurück.

„Schon seltsam, oder?“, beginnt Sawa erneut zu reden, während ich mich der Zubereitung des Tees annehme, den Rika bei mir bestellt hatte. „Ich meine, es ist schon selten genug, dass Rika-san zu Besuch kommt, wenn Ikki-san keine Schicht hat. Hm, wenn ich es so überdenke, kommt es eigentlich nie vor. Wieso heute?“

„Hm“, gebe ich leise von mir.

Ja, es ist schon seltsam. Rika wäre die letzte Person gewesen, die ich hier erwartet hätte, solange Ikki nicht in der Nähe ist. Und dass sie nicht weiß, an welchen Tagen er Dienst hat, kann ich mir nicht vorstellen. Vermutlich kennt sie sogar seine Arbeitszeiten bis ins kleinste Detail, selbst dann, wenn sie spontan vom Plan abweichen. Also wieso ist sie ausgerechnet heute hier?

Etwa …?

„Es kommt eigentlich nur eine Antwort in Frage“, verkündet Sawa das Ergebnis ihrer eigenen Überlegung. Unverwandt sieht sie mich an. „Sie ist deinetwegen hier. Bestimmt, weil sie von deinem gestrigen Date mit Luka-san weiß. Er ist immerhin ihr über alles geliebter Bruder.“

Ich schlucke. Ja, den Gedanken hatte ich auch. Es kann nur das sein.

Rika und Luka sind miteinander verwandt. Geschwister. Ich weiß dank der Spiele und etwaiger CD-Dramen, was sie einander bedeuten. Sicher weiß sie von ihm und mir. Ist das der Grund, weshalb sie so auffallend freundlich zu mir ist?

Oder halt! Kann es nicht auch sein, dass ich …?

Ich versuche, meine Panik zu überspielen, als ich Sawa ansehe. „Du meinst, es hat nichts mit Ikki zu tun?“

Ihr Blick zeigt Verständnislosigkeit. „Wieso sollte es etwas mit Ikki-san zu tun haben? Er ist doch gar nicht hier, wie wir soeben wieder festgestellt haben.“

Das ist wahr. Würde es für Rika genügen, den Weg extra auf sich zu nehmen, um mir im Interesse des Fanclubs einen spontanen Besuch abzustatten? Welche Gründe könnte es dafür geben? Bin ich überhaupt Mitglied in Ikkis Fanclub?

„Naja, ich meine nur“, versuche ich mich herauszuwinden und zeitgleich einen Weg zu finden, um eine Antwort auf diese Frage zu provozieren. „Mal angenommen, sie hätte ein, nennen wir es mal »Pflichtinteresse«, bewusst in seiner Abwesenheit herzukommen …“

„Moment mal, was willst du damit sagen?“ Sie scheint durch meine umschleichenden Worte alarmiert. „Sag mir nicht, du hast dich ihnen nun doch angeschlossen? Du warst doch so entschieden gegen ihren Fanclub!“

Oh, okay. Das ist irgendwie … beruhigend.

„Nein, wo denkst du hin?“, entgegne ich abwehrend. Ich bin wirklich erleichtert, dass ich mit diesem Thema so ehrlich umgehen darf. „Ich hatte nur die Überlegung, ob sie nicht vielleicht nur die Lage checken will.“

Sie verzieht die Augenbrauen in Skepsis. „Das macht keinen Sinn, wenn du mich fragst. Warum sollte sie das tun?“

„Weiß nicht. Hm, war nur so eine Überlegung.“ Ich spiele ein schweres Seufzen vor. „Vermutlich hast du recht und es ist wirklich wegen mir und Luka.“

„Das sage ich doch die ganze Zeit, Dummie.“

 

Ich kann nicht glauben, was ich hier tue. Die Vorstellung, dass ich Rika friedlich gegenübersitzen und genussvoll Tee trinken könnte, erscheint mir grotesk. Aber genau das ist die Situation, in der ich mich gerade befinde.

Meine Haltung ist steif, der Rücken gerade, ohne die Banklehne hinter mir zu berühren. Ich bin nicht in der Lage, mich zu entspannen. All meine Muskeln sind gespannt, meine Konzentration geschärft. Ich bin auf höchste Alarmbereitschaft gestimmt.

Aufmerksam beobachte ich Rika mir gegenüber. Aus der Nähe erkenne ich, dass sie doch Makeup aufgetragen hat. Einen dezenten Lippenstift, der aus der Ferne nicht zu erkennen gewesen war; einen dunklen Lidstrich und rötlich verlaufender Lidschatten, um die goldfarbenen Augen zu betonen; helles Makeup mit wenig Rouge, das perfekt mit ihrem natürlichen Teint harmoniert. Nichts, das sie zu jemandem machen würde, der sie nicht ist. Alles dient lediglich der Unterstreichung ihrer bereits vorhandenen Vorzüge. Beneidenswert. Ich vermute, dass ich dem gegenübersitze, was man allgemeinhin als eine »natürliche Schönheit« bezeichnet. Wie frustrierend …

Rika ist hübsch, das muss ich zugeben. Ihre langen, dichten Wimpern haben es mir besonders angetan. Und ihre fein zugeschnittene Nase. Sie hat außerdem sehr schöne, schmale Hände, die äußerst weich und gepflegt wirken. Ich hege wirklich keine Neigung gegenüber Frauen, aber wenn mir ein Juwel begegnet, kann ich es nicht mit Indifferenz strafen. Ganz gleich dem Geschlecht.

Von ihr geht ein Duft aus, den ich nicht recht bestimmen kann. Ich glaube, eine Note von Opium zu entschlüsseln, aber der zart-blumige Mantel, der diesen erkennungstypischen Duft umgibt, straft dieser Wahrnehmung Lüge. Ich weiß nicht, welches Geheimnis tatsächlich hinter ihrem Parfüm steckt, aber es riecht angenehm; für meinen Geschmack sogar richtig gut. Es passt zu ihr, scheint mir.

„Ich hörte, du warst gestern mit meinem werten Bruder zusammen?“, eröffnet Rika die Schlacht. Zumindest fühle ich mich wie auf Gefechtsstation, trotz der höflichen Tonlage, die sie mir gegenüber anwendet.

Ich nicke vorsichtig. „Ja.“

Ist das jetzt gut oder schlecht?

„Mir scheint, du machst ihn sehr glücklich. Er spricht stets gut über dich.“

Ach echt?

„Als ich ihn gestern sah, wirkte er äußerst beseelt auf mich. Er trug ein solch zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht. Ihn so befreit zu sehen, nachdem er mit dir zusammen war, macht auch mich ungemein glücklich.“

Oh, Rika … bitte, hör auf. Nicht nur, dass man deine Worte falsch auslegen könnte, du weißt doch außerdem gar nicht, was du da sagst. Ich weiß es nicht.

„Das freut mich“, presse ich belegt hervor.

Ein Lächeln umspielt ihre Lippen. In vornehmer Haltung sitzt sie auf ihrem Stuhl, ein Bein damenhaft überschlagen und in ihren Händen ihre Tasse Tee samt Untertasse. Es fällt mir schwer, den direkten Blickkontakt zu erwidern, doch mein Gefühl warnt mich, keine Schwäche vor ihr zu zeigen.

Lange sieht sie mich an. Es dauert, bis mir bewusst wird, dass sie auf eine Antwort von mir wartet. Dabei gibt es nichts, was ich ihr zu sagen hätte.

„Luka-san ist großartig“, sage ich, um die Stille zu überbrücken. Ich weiß nicht, warum ich vor Rika in eine förmliche Anrede zu ihrem Bruder verfalle, aber hinsichtlich dessen, wie hochgreifend sie über ihn spricht, erscheint es mir angemessener als der persönliche Level. „Er ist äußerst zuvorkommend und großzügig. Ein begnadeter Künstler obendrein.“

„Ja, so ist er, mein geschätzter Bruder“, stimmt sie mir bei. Ihre Augen verraten ein stolzes Leuchten. „Nicht wahr? Er ist in der Tat großartig.“

Damit hatte ich etwas angerichtet.

Die nächsten Minuten gelingt es Rika, einen überschwänglichen Lobesmonolog über Luka zu führen. Ich gebe mir größte Mühe, ihr aufmerksam zuzuhören, doch schon nach kürzester Zeit merke ich, dass es mir unmöglich ist. Ich bin zur Passivität gezwungen, denn es gibt nichts, was ich beisteuern könnte. Es gibt nichts, was ich über Luka weiß, und was ich bislang zu ihm dachte, kann ich Rika schlecht auf die Nase binden. Also beschränke ich mich darauf, ihr zuzustimmen und ihre Worte zu spiegeln, um nicht den Verdacht zu erwecken, mit Desinteresse und mangelndem Intellekt zu glänzen. Auch wenn mir mein Beitrag geringfügig erscheint.

Rikas Tasse leert sich nur langsam. Wann immer sie zum Trinken ansetzt, werfe ich einen verstohlenen Blick zur Uhr. Die Minuten ziehen sich wie Gummi. Wie gern würde ich Toma und Sawa bei der Arbeit unterstützen, stattdessen bin ich nutzlos und unproduktiv, um einer Scheinlady als Zeitvertreib dienlich zu sein. Waka muss einen guten Grund haben, dass er dieses Kaffeekränzchen gestattet, anders kann ich mir seine großzügige Einwilligung zu Rikas Wunsch nicht erklären. Ich hoffe nur, es wird mir nicht nachträglich zulasten gelegt werden.

 

Endlich scheint es überstanden. Rika beendet ihren Tee und rückt ihre Haltung zurecht, um das Geschirr vornehmlich zurück auf den Tisch zu stellen.

„Hab vielen Dank für deine Gesellschaft. Es ist wirklich äußerst bedauerlich, aber ich habe noch wichtige Dinge zu erledigen“, erklärt sie mir.

Ich nicke verstehend. „Schon in Ordnung. Ich bin froh, dass wir ein wenig Zeit hatten.“ Urks, bitterste Lüge so far.

Höflich warte ich, bis sie Anstalten macht, sich zu erheben. Erst dann erhebe auch ich mich und mühe mich von der Sitzbank hinter dem Tisch hervor. Am Rande vernehme ich, wie unsere Türglocke läutet, um einen weiteren Gast anzukündigen oder zu verabschieden.

„Rika! Was machst du denn hier?“

Sowohl Rika als auch ich sehen bei der vertrauten Stimme auf. Wenn ich bis hierhin gedacht hatte, der Tag könne nicht mühseliger werden, dann belehrt mich Rikas gejauchztes „Onii-sama!“ gerade eines Besseren.

„Ich bin hier, um Shizana-san einen Besuch abzustatten“, berichtet sie sogleich, kaum dass sie sich unserem Besucher empfangend zugewandt hatte. Ihre weiche Stimme schwingt im Klang vor lauter hervorgeholter Begeisterung. „Wir haben Tee getrunken und uns ein wenig unterhalten. Zu schade, dass du erst jetzt zu uns stößt. Ich wollte gerade aufbrechen.“

„Ganz meine kleine Schwester! So aufmerksam und vorausschauend!“ Voller Beherztheit greift Luka nach Rikas Händen, um sie liebevoll zu drücken.

Sie wendet verlegen den Blick zur Seite ab. Ich glaube, eine dezente Röte auf ihren Wangen zu erkennen. „Nicht doch, verehrter Bruder.“

Ich beobachte das Schauspiel zwischen den beiden Geschwistern mit einer Mischung aus Scham und Verwirrung. Beide sind schon im Einzelnen nicht gerade unauffällig, und nun haben wir beide auf einem Haufen. Und ich mittendrin. Sonderlich leise sind sie auch nicht. Oh Mann …

„Du hast gewusst, dass ich heute herkommen würde, nicht wahr?“, fährt Luka derweil in seiner Begeisterung fort, um seiner Schwester noch ein wenig länger zu huldigen. „Eigentlich hatte ich erst später ankommen wollen, aber etwas hat mich hierhergezogen. Es muss Bestimmung sein! Rika und ich am selben Ort zur selben Zeit, ohne uns zuvor besprochen zu haben … Nein, es besteht gar kein Zweifel! Du verstehst dich stets darauf, mich freudig zu überraschen. Meine kleine, geniale Schwester.“

„Onii-sama, genug jetzt, bitte … Du bringst mich in Verlegenheit“, flüstert Rika leise.

„Bitte verzeih mir, Rika.“

Um uns herum höre ich es tuscheln.

Er zaubert sein hellstes Lächeln hervor, das seiner Schwester gilt, ehe er ihre Hände freigibt und sich mir zuwendet. „Oh, bitte entschuldige. Jetzt habe ich dich ganz ignoriert. Ich hatte nicht erwartet, Rika hier anzutreffen.“

„Kein Problem“, bringe ich unsicher hervor. Ich bin noch immer mit dieser Situation überfordert und versuche angestrengt, sie irgendwohin einzuordnen.

Luka zieht derweil an Rika vorbei und kommt direkt auf mich zu. Bei mir angekommen, ergreift er meine Hand, hebt sie und beugt sich ein Stück vor, um ihr einen hingebungsvollen Kuss auf die Fingerrücken zu hauchen. Ich spüre just in dem Moment, wie mir das Blut in den Kopf steigt. Das Tuscheln um uns herum wird augenblicklich lauter.

„Du siehst heute wirklich bezaubernd aus“, spricht er umschmeichelnd, wobei er meine Augen sucht. Der direkte Blickkontakt lässt meine Ohrenspitzen glühen. „Ich weiß, ich bin heute sehr früh dran. Eigentlich hatte ich dich überraschen wollen, aber dann hat es mich doch früher in diese Gegend gezogen. Wie sieht es aus, hättest du nach Feierabend noch ein wenig Zeit für mich?“

Wawawas geht hier ab? Wieso will heute jeder Zeit mit mir verbringen? Ich bin auf Arbeit, um Himmels willen!

„Ich … weiß noch nicht“, sage ich unschlüssig. Rikas wacher Blick begegnet mir, als ich versuche, Lukas eindringlichen Augen zu entkommen. Durch meine Schultern geht ein Ziehen. „Ich müsste das erst noch mit Waka-san besprechen“, ergänze ich schnell, um den Anschein zu decken, ich wolle Lukas Anfrage entfliehen.

„Oh, ich verstehe.“ Endlich gibt Luka mich frei, weicht einen Schritt zurück und gesellt sich an die Seite seiner Schwester, von wo aus er mich gutgestimmt anlächelt. „Dann frag ihn doch bitte. Ich kann warten, wenn es sein muss. Und wenn du doch erst später Feierabend haben solltest, kann ich mir die Zeit bis dahin anderweitig vertreiben, um dich dann abzuholen.“

Ich nicke gezwungen. Was soll ich auch sonst anderes machen?

„Willkommen zurück, Herr“, lässt mich die kühle Stimme, die plötzlich neben uns aufgetaucht ist, erschrocken zusammenfahren. Mein Blick schnellt empor zu dem hochgewachsenen Mann, der mein Boss ist, und allem Anschein nach genug davon hatte, die Szenerie von der Personaltür aus zu beobachten.

In einer höflichen, geraden Verbeugung wendet er sich beiderseits Rika und Luka zu. „Meinen ergebensten Dank für Eure Rückkehr, Rika-dono. Ich hoffe, Euer Aufenthalt bei uns ist angenehm?“

„Ah, Waka-san.“ Rika erwidert die Begrüßung mit einem Kopfnicken. „Vielen Dank der Nachfrage. Ich genieße meinen Aufenthalt sehr.“

„Ich bin erfreut, das zu hören. Meine Mitarbeiter und ich stehen Euch jederzeit zu Diensten“, erklärt er. Nachdem er in eine aufrechte Haltung zurückgekehrt ist, richtet er sich an Luka. „Kann ich dem Herrn irgendwie dienlich sein?“

„Mir?“, gibt Luka fragend zurück. Unterstreichend, als gäbe es mehr mögliche Angesprochene neben ihm, legt er sich eine Hand an die Brust. „Oh, ich bin eigentlich nicht zu Gast hier. Heute nicht. Ich wollte nur nach meiner Freundin sehen und mich über ihren Feierabend in Kenntnis setzen.“

Ich bemerke ein missgünstiges Zucken in Wakas linker Gesichtshälfte. Oh, oh, das kann kein gutes Zeichen sein.

„Mein Personal ist unabdingbar“, erklärt er eisern. Sein strenger Tonfall lässt keine Widerrede zu. „Und überaus kostbar. Ich kann auf keinen einzigen Mann an der Front verzichten.“

„Verzeihung, Waka-san?“, mischt sich Rika überaus höflich in das Gespräch der beiden Männer mit ein. „Der Tee war vorzüglich. Ich würde gern bezahlen.“

Auf Wakas Gesicht zeigt sich ein plötzlicher Sinneswandel, als er seine schmale Brille bedeutend nach oben schiebt. „Ganz wie Ihr wünscht, Rika-dono.“

 

Auf Wakas stummen Verheiß hin ziehe ich mich zurück und überlasse ihm das Feld. Ich bin froh, nichts mehr sagen zu müssen, fühle mich aber zugleich wie ein elender Versager, der auf die Hilfe seines Bosses angewiesen ist. Das ist das zweite Mal, dass er aktiv dazwischengehen musste, und auch wenn diese Situation ganz anders war als die an meinem ersten Tag, so wage ich nicht, mir die Schuld abzusprechen. Inkompetenz lässt sich nicht schönreden.

Erst auf meinem Rückweg bemerke ich, wie viel Aufmerksamkeit wir tatsächlich erregt haben. Nahezu die gesamte Kundschaft hat den Blick nach vorn gerichtet. Es wirkt leerer im Café, woraus ich schließe, dass einige Gäste gegangen sein mussten. Man sieht mich an, was mir höchst unangenehm ist, und ich hasse mich dafür, in diese verzwickte Situation hineingeraten zu sein. Wieso nur das alles, wieso?

Ich passiere Toma, der gerade einige Gäste bedient, und ziehe auch an Sawa hinter dem Tresen vorbei, ohne sie anzusehen. Im Personalbereich lasse ich mich gegen die nächstbeste Wand sinken und verweile so, um kurz zur Ruhe zu kommen.

„Hey, alles okay mit dir?“ Sawas leise Stimme lässt mich schwer seufzen.

„Du fragst mich das heute ganz schön oft“, stelle ich trocken fest. Nichtsdestotrotz bemühe ich mich um ein schwaches Lächeln, als ich den Kopf drehe, um das Mädchen anzusehen, das mir aus Sorge gefolgt ist. „Was ist los?“, will ich sanft von ihr wissen.

„Naja, also“, beginnt sie zögerlich und tritt weiter in den Gang hinein, um vertrauter mit mir sprechen zu können. „Ich kann mir vorstellen, dass das ganz schön viel für dich war. Ich meine, erst taucht Rika-san hier auf und kurz darauf auch noch ihr Bruder. Einer von beiden reicht ja schon, aber beide ...“

„Kannst du sie nicht leiden?“, unterbreche ich ihre gutgemeinte Anteilnahme mit einer Frage.

Sie schüttelt den Kopf. „Darum geht’s weniger. Rika ist mir zwar nicht ganz geheuer mit ihrem Fanclub, und das habe ich auch schon zu Hanna-chan gesagt, aber ich hatte bisher nie Probleme mit ihr. Und ihren Bruder kenne ich nicht gut genug, um mir ein Urteil über ihn erlauben zu können.“

„Hm.“ Da geht es mir ganz genauso wie ihr. „Aber du scheinst ihm gegenüber misstrauisch zu sein“, bemerke ich, wobei ich an unsere bisherigen Gespräche zurückdenke.

Für einen kurzen Moment nehmen ihre braunen Augen einen Ausdruck an, als hätte ich sie bei einer Untat ertappt. Indem sie das Kinn senkt, weicht sie meinem Blick aus und sieht betreten zu Boden. „Tut mir leid“, spricht sie leise und hält sich in einer unwohlen Geste den Arm. „Es ist nichts Persönliches gegen ihn und ich hoffe, du kannst es mir irgendwie nachsehen … aber ich finde es doch recht verdächtig, wie er sich verhält.“

Da ist sie wieder, die Fährte, der ich folgen muss. Ich darf sie nicht noch einmal aus den Augen verlieren!

„Wieso?“, frage ich daher freiheraus. „Wie verhält er sich denn?“

„Naja, er taucht hier wie aus dem Nichts auf, macht dir kurz darauf ein Liebesgeständnis und bittet dich, seine Freundin zu werden. Ohne dich zu kennen. Wenn das nicht seltsam ist?“

Ich weite überrascht die Augen. Was erzählt sie mir da?

Sie hebt den Blick und sieht mich an. Ich erkenne etwas Zweifelndes in ihrem Gesicht. Im leisen Flüsterton setzt sie hinzu: „Und du gehst auch noch darauf ein.“

Wie bitte?!

Ich bin baff, erschüttert. Ich kann nicht glauben, was sie mir da erzählt. Das klingt ganz und gar nicht nach mir. Wieso sollte ich mich auf jemanden einlassen, den ich kaum kenne und umgekehrt genauso? Und dann auch noch ausgerechnet Luka? Das macht einfach keinen Sinn!

Ich weiß nichts zu sagen. Mir fehlen die Worte. Meine Fähigkeiten beschränken sich darauf, Sawa starr in die Augen zu blicken und dank des Schocks, den diese Information in mir ausgelöst hat, unkontrollierte Gesichtsregungen zu vermeiden.

„Darf ich dich etwas fragen?“, holt mich Sawas zögerliche Stimme nach einiger Zeit der Apathie in die Gegenwart zurück.

Ich nicke stumpf.

„Liebst du ihn?“

Die Frage jagt einen Ruck durch meinen Körper. Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll.

„Du musst das nicht tun“, spricht sie auf mich ein, leise und bedächtig. „Ich weiß nicht, warum … aber es ist der falsche Grund. Du bist nicht auf seinen Schutz angewiesen. Vergiss uns nicht, wir sind doch auch noch da.“

Schutz? Lukas »Schutz«? Wovor? Was ist hier los?

„Oder, sag mir nicht … Denkst du, dass er dich wirklich liebt?“

Ich wende den Blick von ihr ab. Ich verstehe überhaupt nichts mehr.

„Ich weiß es nicht …“

 

Unser Gespräch findet ein Ende, als Toma auf seinem Weg zur Küche zu uns stößt. Sawa gelingt es, ihn schnell von mir abzulenken, sodass er keine Fragen stellt. Nachdem sie gegangen sind, warte ich noch einen Moment, um mich zu sammeln.

Mir wird nun einiges klar. Meine Beziehung mit Luka ist ein Fake. Nichts als eine Lüge. Keine Gefühle, keine Romantik. Davon kann ich zumindest ausgehen. Aber warum?

Ich seufze schwer. Es ist noch zu früh, um alles verstehen zu wollen. Was ich bisher habe, sind nur kleine Schnipsel einer Karte, deren genauen Umfang ich noch nicht kenne. Diese erste Erkenntnis nützt mir noch gar nichts, um das Gesamte zu verstehen. Meine Scheinbeziehung mit Luka und die Frage nach dem Grund ist nur ein Fingerhut im Vergleich zu der Frage, warum ich hier und wie ich in diese Welt gelangt bin, die es eigentlich gar nicht geben dürfte. Das zumindest dachte ich bisher immer.

Es ist keine schöne Nachricht, aber immerhin ein Anfang. Ich muss beginnen, nach vorn zu schauen. Bisher schlage ich mich doch ganz gut, ich muss nur noch ein wenig länger durchhalten. Das sollte doch zu machen sein, bedenke ich, mit welchen netten Menschen ich hier zu tun habe. Ich muss einfach nur anfangen, das Beste daraus zu machen, und muss aufhören, alles schwarz zu malen. Eines Tages, das weiß ich, werde ich es sonst bereuen, wenn ich in meine Welt zurückgekehrt bin. Das wäre doch viel zu schade, nicht wahr?

Entschieden straffe ich die Schultern. Es ist nun, wie es ist. Aber meine Schicht ist noch nicht beendet. Und da sind noch Sawa und Toma, die auf mich zählen. Zeit, voranzugehen!

Ich kehre ins Café zurück. Als ich durch die Tür trete, bemerke ich noch gerade so, dass mir Waka entgegenkommt und kann einen Zusammenprall verhindern. Vielleicht sollte ich mir angewöhnen, etwas langsamer zu laufen.

„Augen auf, Soldat“, höre ich ihn sagen, soweit gedämpft, dass es die Kundschaft nicht mitbekommt.

Ich stelle mich gerade hin. „Ja, tut mir leid.“

„Im Übrigen: Du hast um achtzehn Uhr Feierabend“, erklärt er mir.

Irritiert sehe ich zur Uhr, es ist bereits zehn nach fünf. „Aber das ist ja bald“, stelle ich mit Ernüchterung fest.

„Mach dich bis dahin noch nützlich.“

Waka geht an mir vorbei. Bevor er im Gang verschwinden kann, drehe ich mich nach ihm um. „Chef!“

„Was ist?“, verlangt er zu erfahren und bleibt tatsächlich stehen, um sich mir zuzuwenden. Es klang schroff, aber nicht erbost oder zurückweisend. Das allein gibt mir schon genug Ermutigung.

„Ich, also … können wir … kann ich kurz mit dir reden?“

Ich beobachte, wie eine seiner Augenbrauen interessiert nach oben geht. Einen Moment später dreht er sich um und gibt mir mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass ich ihm folgen soll.

 

„Worum geht’s?“, leitet er wenig später unser Gespräch ein, nachdem wir uns im Pausenraum verschanzt hatten.

Ich brauche einen Moment, um meine Gedanken zu ordnen. Es gibt so viel, was ich ihm sagen will.

„Also, zu allererst“, beginne ich dann einfach bei dem Thema, das mir am leichtesten fällt, „möchte ich mich bei dir bedanken. Dafür, dass du heute Morgen angerufen und mich an meine Schicht erinnert hast und dafür, dass du mich vorhin in den Dienst zurückgerufen hast. Und vor allem dafür, dass du die letzten Tage so nachsichtig mit mir warst.“ Ich falle in eine Verbeugung vor, wie es mir so langsam zur Gewohnheit wird. „Wirklich, danke. Ich verspreche, dass ich dir ab sofort weniger Sorge bereiten und meine Arbeit wieder besser machen werde.“

Es kommt nichts zurück. Als ich mich langsam wieder aufrichte, erkenne ich, dass mich Waka mit einem fragwürdigen Blick besieht. Ich kann nur hoffen, dass mein Verhalten nicht zu sehr von dem abweicht, was er von mir gewohnt ist.

„Ähm … als Zweites: Ich soll dir einen lieben Gruß von Ukyo ausrichten.“

„Ukyo, hm?“ In seinem Gesicht tut sich etwas. „Das freut mich. Wie geht es ihm? Wir haben ihn lange nicht mehr hier gesehen.“

Ich bin positiv überrascht. Es ist das erste Mal, dass wir so etwas wie Smalltalk führen. Und es ist wesentlich angenehmer, als ich gedacht hätte.

„Es geht ihm soweit gut“, sage ich voller Überzeugung, hege jedoch insgeheim Zweifel, ob dem tatsächlich so ist. „Er ist im Moment viel beschäftigt. Ich bin mir sicher, er wird wieder vorbeikommen, wenn es mit der Zeit besser um ihn steht.“

„Ich hoffe darauf.“ Sein Gesicht wird daraufhin wieder ernst. „Und?“

„Ähm …“ Das war abrupt. Schon wieder suche ich nach den richtigen Worten. „Also, ich wollte auch nochmal nach meinem weiteren Schichtplan fragen. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich die Tage noch etwas daran verändern müsste“, bringe ich mein Anliegen nur vorsichtig hervor.

„Das wäre im Augenblick äußerst ungünstig, gemessen an unserer derzeitigen Personalsituation“, erklärt er mir.

Ich hebe fragend die Augenbrauen. Was meint er damit?

„Was musst du denn ändern?“, will er wissen.

Ich senke das Kinn in Vorsicht. „Das müsste ich vor Augen haben“, erkläre ich.

Verstehend nickt er. „In Ordnung.“ Er wendet sich von mir ab, löst von seinem Gürtel eine kleine, quadratische Ledertasche und holt aus dieser einen Schlüsselbund hervor. An den Spinden wählt er den äußersten, entschließt ihn und holt mit einem einfachen Handgriff einen schwarzen Aktenordner heraus, auf welchem ich das Logo des »Meido no Hitsuji« erkenne.

Mit einem Kopfnicken bedeutet er mir, mich am Pausentisch einzufinden, an welchen er sich auf dem Stuhl mir gegenüber setzt. „Hier“, gibt er zu verstehen und schiebt mir ein Blatt entgegen, auf welchem der Schichtplan aller verfügbaren Mitarbeiter für den gesamten Monat eingetragen ist. „Nimm ihn zu morgen mit und überleg ganz in Ruhe zu Hause, wo du eine Änderung vornehmen möchtest. Wir besprechen das dann am Wochenende, wenn alle anwesend sind.“

„Ja, mache ich. Vielen Dank.“ Ich nicke, während ich den Plan, der wie ein Kalenderblatt in Wochen und im Zweischichtsystem aufgestellt ist, kurz überfliege.

„Pack ihn weg und dann geh zurück an die Arbeit“, weist Waka mich an, ohne die Stimme zu erheben. „Achtzehn Uhr, denk daran.“

„Ja.“

Kaum dass Waka weg ist, werfe ich noch einen letzten Blick auf den Plan. Mein regulärer Feierabend wäre um neunzehn Uhr gewesen. Ich darf also eine Stunde früher gehen. Hm, seltsam. Ich war auf halb zehn eingestellt gewesen. Aber wie es scheint, sind halbe Schichten hier keine Seltenheit. Die Frühschicht dauert prinzipiell gerade einmal vier Stunden.

Morgen habe ich wieder Spätschicht, zusammen mit Kento, Ikki und Sawa. Diese Aussicht lässt mich lächeln. Ich kann es jetzt schon kaum erwarten, sie morgen wiederzusehen. Hoffentlich werde ich dann besserer Dinge sein, um die gemeinsame Zeit mit ihnen genießen zu können.

Doch etwas lässt mich stutzen. Alle verzeichneten Namen sind mir bekannt, bis auf einem: »Hanna«. Ihr Name war zu gestern und morgen eingetragen, wurde jedoch durchgestrichen. Ich hätte gestern mit ihr zusammen Schicht gehabt, zu morgen ist statt ihrer mein Name in kantiger Handschrift nachgetragen worden.

Fragend lege ich den Kopf schief. Wer ist »Hanna«? Ich erinnere mich, dass Sawa diesen Namen vorhin kurz erwähnt hatte. Hat noch jemand neben mir in diesem Café angefangen, den ich nicht kenne?

Ich gehe die übrigen Namen durch. Jedem kann ich eine Person zuordnen. Die einzige Person, die ich nicht zuordnen kann … kann das sein?

Mein Herz schlägt in einem aufgeregten Rhythmus bei diesem Gedanken. Handelt es sich bei »Hanna« möglicherweise um die Heroine? Das würde ja bedeuten, sie existiert in dieser Welt und ich bin doch nicht nur ihr Ersatz. Gott sei Dank!

Ich hoffe inständig, dass ich mit dieser Vermutung richtig liege. Denn wenn das stimmt, besteht in der Tat noch Hoffnung für mich. Ich würde sie nur zu gern kennenlernen!

Voll neuer Motivation packe ich den Zettel fein säuberlich in meine Tasche. Anschließend beeile ich mich, zu den anderen zurückzukehren.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Aufgaben:

1. Entlocke Sawa so viele Informationen wie möglich. (Rest aus Kapitel 5)
2. Rika behandelt dich sehr freundlich, finde heraus warum. (AW: Natürlich weil du die Freundin ihres Bruders und damit kein Ikki-Fan bist XDD)
3. Da du schon etwas länger am heutigen Tag arbeitest, musst du nicht bis Ende arbeiten sondern darfst ein paar Stunden früher abtreten. Du solltest dennoch mal deinen Plan in Erfahrung bringen, rede also mit Waka darüber.
4. Dein Freund holt dich ab und sorgt für großes Aufsehen. Spiele möglichst eine glückliche Beziehung vor, nicht dass da noch falsche Gerüchte entstehen.

Es gab noch eine weitere Aufgabe, aber weil das Kapitel bereits so lastig an Input war, habe ich mit meiner "Göttin" vereinbart, es in das nächste Kapitel zu übernehmen.
Meine Angst vor Rika ist nicht gelogen. Ich würde ihr wirklich nicht gegenüberstehen wollen, wenn sie schlecht auf mich zu sprechen ist. Wir werden sehen, ob diese Furcht unbegründet ist. Ich weiß es selbst noch nicht.
Der Schichtplan existiert btw. wirklich. Selbsterstellt und in den Händen der "Göttin". Ich bin sehr stolz darauf, jaha.
Den Hintergrund zu meiner Beziehung mit Luka hat mir natürlich meine "Göttin" zugeflüstert. Nix meins. Ich war selbst ganz perplex beim ersten Mal. Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück