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Zwischen den Welten

Das Mary Sue-Projekt
von
Koautor:  Erenya

Vorwort zu diesem Kapitel:
Vorwort der Göttin:
»Liebe Shicchi, was für ein feuriger und doch entspannender Abend das war. Was könnte man mehr wollen? Außer etwas Gewissheit, vielleicht ein Ikki, der wirklich neben einem liegt usw.«

*hat rotzfrech die Anweisung gegen ein Vorwort der Göttin ersetzt*
Es geht recht entspannt weiter. Ereignislos, möchte man meinen. Rückblickend betrachtet kann ich nur sagen, dass der Titel "Herz gegen Verstand" 100% treffend für alles in diesem Kapitel ist. Ich hatte Zweifel, ob eine Entwicklung vorhanden ist, doch inzwischen: Ja, ist sie. Nicht so, dass sie einen anspringt, aber definitiv ja, ist sie.
Viel Spaß! Komplett anzeigen

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Herz gegen Verstand

Der Duft frisch gebrühten Kaffees, der durch die offene Tür in das Zimmer strömt, kitzelt mich aus meinem Schlaf. Ich bleibe noch einige Zeit liegen, bis ich vernehme, wie es irgendwo klappert und klirrt. Klingt nach Geschirr.

Müde grummle ich, drehe mich herum und ziehe die Decke über mich. Stille kehrt ein, dann geht das Geklimper von Neuem los.

Langsam setze ich mich auf, reibe meine Augen und gähne in die Hand. Ich blinzle verschlafen ins Nichts. Wie spät ist es?

Nur langsam nehme ich mein Umfeld wahr. Das vollständig möblierte Zimmer. Die vielen Farben an den Wänden, vor dem Fenster, sogar auf dem Boden und auf der mir aufliegenden Bettdecke. Das hier ist definitiv nicht mein Zimmer, und gerade kehren meine Erinnerungen an den letzten Abend zurück.

Ich finde keine Uhr, keinen Wecker in der Nähe, und mein Handy scheine ich auch nicht in greifbarer Nähe zu haben. Während ich überlege, wo ich es zuletzt gesehen habe, steige ich aus dem Bett – und werde von einem Laster in meinem Kopf überrollt. Argh, Mist! Damit hätte ich rechnen müssen …

Eine Hand an meiner Stirn, suche ich das kleine Zimmer nach meinen Sachen ab. Meine Tasche mit den Umziehkleidern ist bald gefunden. Ich angle sie hervor und beginne, Hose voran, mich anzuziehen. Wo sind eigentlich meine Klamotten von gestern? Das Kleid von Rika? Habe ich sie im Badezimmer gelassen?

Die Brille auf der Nase richte ich das Bett. Ich gucke, wo ich Unordnung verbreitet habe, und beräume sie. Von meinem Handy fehlt weiterhin jegliche Spur.

Ach stimmt ja, kommt es mir in den Sinn. Ich hatte es zuletzt in der Hand, als ich Ukyo geschrieben habe. Das war im Flur gewesen. Ich hatte es anschließend zurück in die kleine Tasche gelegt, die vorne am Kleiderhaken hängt. Dumm, wieso hatte ich es nicht mit mir genommen?

Ein letztes Mal sehe ich mich in dem Zimmer um. Erst jetzt fällt mir auf, dass es kaum Dinge beherbergt. Keine Bücher, keine Blöcke und Stifte, nicht einmal einen Tisch; nur einen Nachtschrank neben dem Bett. In den Regalen stehen einige Skulpturen und Pflanzen, sonst nichts. Alles Deko, nichts zur Beschäftigung, keine Zerstreuung. Luka kommt offenbar nur zum Schlafen hierher. So lebt also ein vielbeschäftigter Künstler. Wieso stimmt mich das traurig?

Ich ignoriere das schmerzhafte Ziehen in meiner Brust, umfasse meine Tasche fester und ziehe die Tür hinter mir zu.

 

Im Flur vor der Küche kommt mir Luka entgegen, in den Händen ein blumenbemaltes Holztischgestell, auf dem ich Kaffee, Geschirr und einige Gläser und Körbe erkenne. Er bremst, als er mich sieht, und schaut überrascht. „Du bist schon wach?“

„Ich wusste nicht, wie spät es ist.“

„Es ist erst … Kurz nach sieben dürfte es mittlerweile wohl sein. Wie schade, ich wollte dich gerade wecken kommen.“ Er wirkt enttäuscht, während er das sagt.

„Tut mir leid“, sage ich schuldbewusst und schiebe die Schultern nach vorn. Fragend nicke ich in Richtung seiner Fracht. „Was ist das?“

„Frühstück“, seufzt er unglücklich. „Ich wollte dich überraschen. Ich hatte gehofft, ein Frühstück am Bett würde unseren Tag inspirieren. Daraus wird jetzt wohl nichts.“

Ich versichere Luka, dass es mir leidtut und ich nie vorhatte, seine Pläne zu kreuzen. Leider kann ich die Situation nicht mehr ändern. Wir einigen uns, das Frühstück ins Wohnzimmer zu verlegen, was das Problem zwar löst, Luka jedoch wenig zu trösten vermag.

Kurzerhand schaffe ich etwas Platz auf dem Wohnzimmertisch und Luka breitet sein Gedeck darauf aus. Ich bin verblüfft, als ich bemerke, wie viele Dinge er darauf verteilt.

„Ich war nicht sicher, was du bevorzugst“, erklärt er, als er sich neben mir auf die Couch setzt. „Sind Brötchen okay? Ich habe auch Croissants gekauft. Und hier habe ich … Marmelade, Honig und etwas Käse. Brauchst du noch etwas? Habe ich etwas Wichtiges vergessen?“

„Nein, das ist vollkommen okay so“, versichere ich. Neugierig greife ich nach dem Marmeladenglas und überprüfe die Sorte. Erdbeere. Nicht ganz mein Geschmack, aber ich kann damit leben. Ich bedanke mich und ergattere ein Brötchen. „Wow, die sind ja noch warm. Aufgebacken oder vom Bäcker?“

„Vom Bäcker“, meint Luka und schenkt uns Kaffee ein.

„Frühstückst du immer so?“

„Nein“, gesteht er und lächelt ein wenig. „Ich finde selten Zeit dafür. Um ehrlich zu sein, ich musste Rika um Rat fragen, wo ich um die Zeit etwas organisiert bekomme. Sie gab mir erst die Idee und hat ein Geschäft empfohlen, in dem ich frische Brötchen bekomme.“

„Das wäre wirklich nicht nötig gewesen“, murre ich und kann meinen Verdruss nicht verbergen. Während ich mein Brötchen bestreiche, kommt mir ein Gedanke. „Wieso musstest du sie erst fragen? Gehst du nicht einkaufen?“

„Selten“, meint er. „Ich esse meist außer Haus. Oder Rika bringt mir etwas Gekochtes vorbei. Sie ist eine wirklich großartige Köchin, meine kleine Schwester. Alles, was ich abseits des Alltäglichen benötige, organisiere ich spontan auf meinen Wegen. Sofern ich daran denke.“ Er lacht und ich vermute, dass ihm auffallen muss, wie chaotisch das klingt. „Ich schätze, du bist da etwas organisierter als ich.“

„Nicht wirklich“, sage ich. „Vielleicht was die Einkäufe betrifft, aber sonst … Ich frühstücke normalerweise auch nicht.“ – Außer mit Ukyo, wie ich in Gedanken ergänze.

„Das wusste ich nicht. Aber ist es nicht schön so? Gemeinsam zu zweit, in aller Ruhe. Ich gebe zu, ich genieße es sehr.“

Ich sehe Luka aufrichtig lächeln und kann nicht anders, als es zu erwidern. Wie mir diese Welt zeigt, hat es tatsächlich was an sich, wenn man nicht allein ist. Ich fange an, mich daran zu gewöhnen.

Wir nehmen unser Frühstück beim zwanglosen Plaudern ein. Die Stimmung ist gut und ich fühle mich rundum zufrieden, als wir gemeinsam den Tisch abräumen.

Nach dem Essen ziehe ich mich ins Bad zurück, nicht ohne mir vorher mein Handy zu angeln. Enttäuscht stelle ich fest, dass ich keine neuen Nachrichten habe. Ich frage mich, wie es ihnen wohl geht – Ukyo, Orion und Ikki. Ob irgendwer Groll gegen mich hegt?

Ich erledige meine Hygiene, stelle mein Aussehen wieder her und kehre anschließend ins Wohnzimmer zurück. Dort besprechen Luka und ich den weiteren Plan: Ich muss nach Hause und mich für meine Schicht im Meido richten, er hat noch Terminen nachzugehen. Wir beschließen, demnächst aufzubrechen, sodass uns genug Zeit für unsere Vorhaben bleibt.

Ein letztes Mal kontrolliere ich, ob ich all meine Dinge habe. Rikas Leihsachen verbleiben bei Luka, bis klar ist, was mit ihnen werden soll. Ich bin ein wenig traurig darüber, denn auch wenn sie immer noch Rika gehören, sind sie mir doch auf nostalgische Weise ans Herz gewachsen.

Luka führt mich zum Auto und ohne viel Erklärung fahren wir los. Während der Fahrt erscheint mir Luka ganz der Alte: Er redet und schwärmt, ohne an Stoff zu verlieren. Mir derweil dröhnt der Schädel, als wolle er bersten. Sobald ich zu Hause bin, muss ich zu allererst eine Tablette nehmen. Ich überstehe den Tag sonst nicht.

Keine halbe Stunde später halten wir vor meinem Haus. Ich fühle mich seltsam, als ich aus dem Wagen steige. Nachdenklich mustere ich den Wohnblock und frage mich, was dieser Abend in mir verändert hat. Fühle ich mich anders Luka gegenüber? Hat unsere Beziehung Fortschritte gemacht? Ich weiß es nicht zu sagen.

„Ich wünsche dir heute Abend viel Spaß“, sagt Luka neben mir. Sacht zieht er mich an sich und setzt einen Kuss auf meinen Kopf. „Rede bitte nicht allzu schlecht über deinen Freund. Ich habe einen guten Ruf zu verlieren“, scherzt er.

Fragend sehe ich hoch. Wovon redet er da?

„Mal sehen“, meine ich neckend, als es mir klar ist. Natürlich, der Mädchenabend. „Bisschen lästern gehört aber dazu, da musst du wohl durch. Aber ich versuche, nicht allzu fies zu sein.“

„Erzähl mir morgen, wie es war.“

„In Ordnung.“

Luka drückt meine Hand und lächelt mich an. Dann kehrt er zum Wagen zurück und startet den schnurrenden Motor. Ich warte, bis der nachtblaue Jaguar aus meiner Sicht ist, bevor auch ich mich abwende.

 

„Ich bin wieder da“, rufe ich in den Flur, als ich die Wohnung betrete. Ich habe die Tür kaum geschlossen, da wirft sich mir Orion um den Hals.

„Willkommen zurück! Zum Glück, ich habe mir Sorgen um dich gemacht!“

Lächelnd tätschle ich über den kurzen Rücken. Ich suche den Flur nach einer weiteren Person ab, doch nichts passiert. „Ist Ukyo nicht da?“

„Er ist schon früh losgegangen“, erklärt Orion und lässt von mir ab. „Er sagte, er hat noch etwas zu erledigen. Er hat seine Tasche mitgenommen.“

„Viel beschäftigt wie immer“, murmle ich leise. Ich bin zugegeben enttäuscht, dass er nicht da ist. Bei allem, was mir aus meinem Gespräch mit Rika noch nachhängt, hätte ich ihn wirklich zu gern gesehen. „Und, wie war euer Abend? Habt ihr ordentlich auf den Putz gehauen ohne mich?“

Orion und ich gehen ins Wohnzimmer, wo er zu berichten beginnt. Er erzählt, dass Ukyo und er auswärts gegessen haben. Sie wären lange spazieren gewesen und hätten sich viel unterhalten: über mich, über Niel, und über Ukyos Vergangenheit. Ukyo hat ihm einige Dinge zu sich erklärt und dabei sehr bekümmert gewirkt. Aber Orion versteht ihn nun besser.

„Ukyo tut mir so leid. Er hat es wirklich nicht leicht“, meint Orion abschließend und senkt traurig den Kopf.

Ich nicke zustimmend. „Ja, er hat schon ein schweres Los gezogen. Wir können uns nicht ausmalen, wie es ihm innerlich geht.“

„Wie war es bei dir?“, wechselt Orion auf mich. Aufmerksam rückt er nach vorn, bis auf den Rand seines Platzes. „Wieso bist du gestern nicht mehr nach Hause gekommen? Wir haben uns Sorgen gemacht! Hat Luka dich etwa gezwungen, bei ihm zu bleiben?“

Abmildernd schüttle ich den Kopf. „Nein, er hat mich nicht gezwungen. Ich hatte etwas zu viel getrunken, das ist alles. Er hat es nur gut gemeint. Wirklich, es ist alles in Ordnung“, lächle ich.

„Hat er … irgendetwas versucht?“

„Nein. Wobei, schon komisch, wenn ich so darüber nachdenke. Es wäre die perfekte Gelegenheit gewesen … Aber es ist nichts passiert. Er scheint doch ein ganz anständiger Kerl zu sein.“

„Meinst du?“

„Ich weiß nicht“, zweifle ich und fahre durch mein offenes Haar. Still lasse ich den vergangenen Abend und den Morgen Revue passieren. Es stimmt, dass Luka nichts versucht hat, aber warum eigentlich nicht? Nicht dass ich darauf aus wäre, aber welch anderes Interesse hat er an mir, an dieser Beziehung, wenn es Sex nicht zu sein scheint? Bin ich ihm nicht sexy genug? Will er, dass ich den ersten Schritt tue? Ist er nur schüchtern? Vielleicht ist er auch mehr der platonische Typ, aber das glaube ich nicht.

„Und du?“, stört Orion meine Gedanken. „Magst du ihn jetzt lieber als vorher?“

„Ich weiß nicht“, sage ich und spüre, wie meine Wangen glühen. Ich schüttle den Kopf und seufze verzweifelt, lasse mich schwer gegen die Couchlehne fallen. „Ich weiß nicht mehr, was ich noch denken soll.“

Orion bittet mich, ihm von meinem Erlebten zu erzählen. Ich beginne mit meiner gestrigen Schicht im Meido, wie das Spieleevent verlief, und wie Luka weit vor der Zeit im Café aufgetaucht war. Ich beschreibe bestmöglich meine Eindrücke von der Ausstellung, dem großen Haus, der wunderschönen Aufmachung, den unterschiedlichen Leuten. Ich erzähle von Rika, wie fürsorgend sie sich verhielt, und ich beschreibe so viele Kunstwerke wie möglich, an die ich mich noch erinnern kann.

„Urgs“, macht Orion, als ich geendet habe. „Das klingt ja alles furchtbar.“

„Findest du?“, frage ich und blinzle verblüfft.

„Ja! Ich meine … Was ist das bitte für Kunst? Ich dachte, Luka sei ein ernsthafter Künstler? Und was ist mit dieser Tante? Wie kann sie dich so abwertig behandeln, nur weil du schreibst und nicht malst? Wenn ich dagewesen wäre, ich hätte ihr so richtig ordentlich die Meinung gegeigt!“

Ich schmunzle bei Orions Aufruhr.

„Und was Rika angeht“, fährt er tobend fort. „Ich meine, was soll das? Bist du ihre Schwester? Für mich klingt das so, als hätte sie dich die ganze Zeit bevormundet. Wieso muss sie sich überall einmischen? Du kommst auch prima allein zurecht!“

„Aber so war es nicht“, widerspreche ich ruhig. „Na ja, sie hat sich schon eingemischt. Aber ich bin ihr auch dankbar zum Teil. Dank ihr sah ich nicht wie ein Dorftrottel neben ihnen aus. Und im Gegensatz zu ihr bin ich sehr ungelenk, was mein Äußeres betrifft. Und immerhin, sie hat mich in dem ganzen Chaos gefunden.“

„Ich finde nicht, dass das genügt, damit du sie in Schutz nimmst“, beharrt Orion. Er plustert die Backen und verschränkt protestierend die Arme.

Ich kehre in mich. Eine Sache habe ich Orion nicht erzählt, die ihn vermutlich bestätigen würde: Rikas Drohung. Dass sie von meinem Zusammenleben mit Ukyo weiß, dass sie schlecht über ihn geredet hat, und dass sie will, dass ich mit Luka zusammenziehe. Sie hat es nicht direkt gesagt, aber wenn ich so überlege, haben ihre letzten Worte nach einer Warnung geklungen. Was, wenn ich auf ihren Vorschlag nicht eingehe? Wird sie mich dann an Luka verraten? Wird sie aggressiv gegen mich vorgehen? Oder würde sie gar zu Ukyo gehen, irgendwelchen Blödsinn erzählen, der einen Keil zwischen uns treibt?

„Ist alles in Ordnung?“, klingt Orions Stimme besorgt.

Ich lächle bemüht. „Ja. Ich bin nur noch etwas erschöpft. Der Abend war sehr anstrengend gewesen.“

Ich erinnere mich, dass ich eine Tablette gegen den Kater nehmen wollte, und komme dem nach. Anschließend ziehe ich mich auf mein Zimmer zurück und überlege, was ich noch tun will. Viel Zeit bleibt ohnehin nicht, bis ich auf Schicht muss. Es reicht, um einige Sachen zu packen und ein Brot für die Pause zu schmieren. Motiviert bin ich nicht im Geringsten.

Verstohlen linse ich zu meinem Bett. Ich zögere kurz, dann gehe ich hinüber und greife unter das Kissen. – Ein Glück, es ist noch da.

Erleichtert angle ich das kleine Notizbuch hervor und schlage es an einer beliebigen Stelle auf. Ich durchblättere die Seiten, ohne die Zeilen zu lesen. Dabei macht sich Kummer in mir breit. Wieso hat dieses Buch in Lukas Kunstzimmer gelegen? War es richtig gewesen, es einfach so zu entwenden? … Ob er es wohl schon bemerkt hat? Oder war es nicht wichtig genug, um danach zu schauen?

An einer Stelle im Text sticht mir Ikkis Name ins Auge. Ich streiche über die Zeichen, seufze schwer, und lege das Buch in sein Versteck zurück. Vielleicht sollte ich ihm ein Besseres suchen.

 

Orion begleitet mich auf Schritt und Tritt, während ich durch die Wohnung streife. Wir reden über die Arbeit und den bevorstehenden Abend, den ich mit den Mädels verbringe.

„Bist du aufgeregt?“, möchte er wissen.

„Schon“, gebe ich beiläufig zurück. Bislang hatte ich es tunlichst vermieden, darüber nachzudenken. „Mine bereitet mir etwas Sorge. Unser Verhältnis scheint nicht gerade das Beste zu sein. Ach ja, übrigens: Mari kommt morgen Abend vorbei.“

Ich berichte von ihrem gestrigen Erscheinen im Meido. Sie hat darauf bestanden, dass wir alle anwesend sein sollen. Ich trage Orion daher auf, Ukyo und Niel über ihr Anliegen in Kenntnis zu setzen. Nur für den Fall, dass Mari es nicht längst selbst getan hat.

Wenig später befinden wir uns auf meinem Weg zur Arbeit. Es war nicht nötig gewesen, Orion um Begleitung zu bitten; er war bereits angezogen, bevor ich ihn fragen konnte. Offensichtlich hat Niel mich nicht als Einzige eindringlich geimpft. Das war zu erwarten gewesen.

„Ihr werdet bestimmt über Jungs schwärmen. Und über andere Mädchen lästern. Oder oh, warte, ich weiß! Bestimmt flechtet ihr euch gegenseitig die Haare und erzählt euch eure schlimmsten Erlebnisse mit Jungs!“

„Als ob“, weise ich lachend zurück. Orion ist so enthusiastisch beim Thema, dass ich nicht anders kann, als sein Fiebern zu teilen. Je länger wir reden, je arger wir blödeln, desto mehr freue ich mich auf den bevorstehenden Abend. Auch wenn die Vorstellung, die ganze Zeit Mine um mich zu haben, mir weiterhin Bauchschmerzen bereitet.

„Da vorn ist es schon“, meint Orion und zeigt über die Straße. Das weiße Schild des „Meido no Hitsuji“ auf rotem Backstein ist auf diese Distanz bereits gut zu erkennen.

Wir halten bei der Ampel und warten auf Grün. Ich bin mit meinen Gedanken bereits im Café, als ich vertraute Stimmen vernehme. Wenige Meter von mir diskutieren sie hitzig: „Nein, der Vater kann gar nicht der Mörder sein. Er war zu der Zeit bei seiner Tochter, oder nicht? Wie soll er den Mord da begangen haben?“

„Du denkst, wie immer, zu engstirnig.“

„Gar nicht wahr! Aber, hmm, wenn ich es recht bedenke, bei allen anderen macht es noch weniger Sinn. Ich meine, dieser Typ war ein Riese! Wie sollte ein anderer … Oh, warte! Käme nicht auch noch die Nanny infrage? Ich wüsste zwar noch nicht, wie sie’s gemacht hat …“

„Junge, Toma! Lies einfach das Buch und hör auf, uns zu nerven!“

Ich lehne mich blinzelnd nach vorn, da entdecke ich sie: Shin, Toma und Hanna, die ebenfalls warten. Worüber auch immer sie reden, sie scheinen mich nicht zu bemerken. Nur Hanna, die sich weniger involviert gelegentlich umsieht, erkennt mich schließlich zwischen den Leuten. Sie lächelt und deutet eine Verbeugung an.

Die Ampel schaltet auf Grün, und alles um mich setzt sich in Bewegung. Ich will mich dem Menschenstrom anschließen, da spüre ich, wie etwas warm meine Hand umfasst.

Fragend sehe ich zu Orion hinunter, der zögernd verharrt. Ich erkenne, als ich seinem scheuen Blick folge, dass es wegen Hanna ist. Gerade sieht sie zu uns zurück und scheint sich zu wundern, warum ich noch stehe.

Ich weiß, ich müsste zu ihnen aufholen. Doch ich bringe es nicht fertig, Orion gewaltsam mit mir zu ziehen. Also warte ich, lasse die Ampel auf Rot springen, und erwidere den klammernden Händedruck.

„Alles okay?“, frage ich flüsternd. Prüfend sehe ich zu Orion hinab, der starr gen Boden stiert. Unter der dunklen Öhrchenkapuze ist sein zaghaftes Nicken kaum zu erkennen.

„Möchtest du lieber nach Hause?“, unterbreite ich sanft. „Mir wird schon nichts mehr passieren. Das Meido ist gleich da drüben, und es sind überall Menschen um mich herum.“

Orion schüttelt den Kopf und umfasst meine Hand fester. „Ist schon okay. Ich habe es Niel-sama versprochen. Und ich habe es dir versprochen.“

„Willst du sie sehen?“

Vorsichtig schielt Orion zu mir hoch. Ich sehe ihm an, dass er mit sich ringt.

Ich wende mich ihm gänzlich zu und schließe beide Hände um seine. „Ist schon okay, du brauchst keine Angst zu haben. Wenn es das ist, was du willst, dann finde ich einen Weg, damit du mit ihr reden kannst. Das verspreche ich dir. Aber jetzt geh besser nach Hause, ich komme die paar Meter schon zurecht. Hast du noch Ukyos Schlüssel?“

Ich gebe ihm meinen, als er verneint. Ich vertraue darauf, dass er zu Hause sein wird, wenn ich morgen vom Mädchenabend zurückkomme. Vorsorglich erinnere ich ihn daran, nicht dass ich am Ende vor verschlossener Tür stehe.

Als die Ampel das nächste Mal grün ist, überquere ich endlich die Straße. Ich winke Orion ein letztes Mal zu, dann blicke ich nur noch auf das, was vor mir liegt.

 

„Da bist du ja endlich“, nimmt mich Toma vor dem Meido in Empfang. Er, Hanna und Shin stehen gesammelt vorm Eingang. „Wer war der Junge? Dein kleiner Bruder?“

„Nicht wirklich“, sage ich kopfschüttelnd. „Wobei, so etwas in der Art irgendwie schon. Sorry, ihr hättet nicht warten müssen.“

„Habe ich’s nicht gesagt? Auf sie zu warten war vollkommen unnötig“, kommentiert Shin von der Seite und stößt sich von der Wand ab, gegen welche er lehnte. „Können wir dann reingehen? Wir haben genug Zeit hier draußen vertrödelt.“

„Shin, sei nicht so unhöflich. Hatten wir das Thema nicht neulich?“

Shin wirft erst Toma, dann mir einen unfreundlichen Blick zu. „Immerhin habe ich nicht vergessen, dass sie ganz allein und ohne Familie nach Japan gekommen ist. Du wirst langsam nachlässig, Toma“, schließt er, damit betritt er den Flur. Wir anderen folgen ihm versetzt.

Hanna und ich gehen zum Umziehen in den Waschraum, während die Jungs in der Umkleide verbleiben. Ihre fortwährende Diskussion ist bis durch die Tür zu hören. Um mich geht es dabei längst nicht mehr.

Auf Hannas Nachfrage erzähle ich von der Ausstellung. Ich halte mich allgemein, für mehr reicht die Zeit nicht. Ein Blick auf die Uhr im Pausenraum verrät, dass wir uns langsam im Café sammeln sollten.

„Guten Morgen, Kento“, werfe ich in die Küche hinein, als ich Shin dahin folge. Ich überblicke sie flüchtig. „Ist Ikki noch gar nicht da?“

„Guten Morgen. Bedaure, aber nach Ikkyu suchst du vergebens.“

„Wo ist er?“, fragt Shin an meiner Stelle. „Seid ihr nicht zusammen gekommen? Sonst sehe ich euch immer gemeinsam auf und von Schicht gehen, sofern gegeben.“

„Meistens“, sagt Kento, „aber nicht immer. Ikkyu hat mich heute Morgen gebeten, nicht auf ihn zu warten. Er hatte noch eine dringende Verabredung mit Rika.“

Mein Herz durchzieht ein Stich bei diesem Namen.

„Dann muss es wichtig sein. Ihre Interaktionen im Café sind seltener geworden im Verhältnis zu damals“, überlegt Shin.

„Darüber bin ich nicht im Bilde. Möglicherweise“, gibt Kento schulterzuckend zurück.

„Ich gehe dann mal nach vorne“, sage ich und bin bemüht, mir meinen Unmut nicht anmerken zu lassen. Auf meinem Weg ins Café höre ich Toma und Hanna noch in der Umkleide reden. Von Mine und Sawa ist nichts zu sehen, Ikki ist offensichtlich nicht da. Waka ist mir bislang nicht begegnet, aber das muss nichts heißen. Besser, ich trödle nicht länger und suche mir etwas zu tun.

Als ich den Personaleingang passiere, höre ich, wie die Tür neben mir aufgeht. Ich stoppe und sehe Ikki, der gerade den Flur betritt. Er scheint mich nicht zu bemerken, seine Aufmerksamkeit ist ganz auf die Person hinter der Türschwelle gerichtet.

„Ich will dir danken, Rika, dass du die Zeit für mich gefunden hast“, spricht er.

„Nicht doch, Ikki-sama“, weist Rika lieblich zurück. Der säuselnde Klang ihrer Stimme lässt mich erschauern. „Es lag ganz in meinem Sinne, und war mir zudem ein äußerst großes Vergnügen. – Guten Morgen, Shizana-san.“

Ich nicke gezwungen, als die Aufmerksamkeit beider plötzlich auf mir liegt. Unter dem Vorwand der Arbeit ergreife ich höflich die Flucht und höre bald nur noch entfernt, wie sich Ikki von Rika verabschiedet.

 

Nach und nach füllt sich das Café mit meinen Kollegen. Toma hilft mir mit der Theke, Hanna spricht in der Umkleide mit Mine, die vor wenigen Minuten eingetroffen ist. Ikki vermute ich in der Küche bei Kento. Nur von Sawa fehlt weiterhin jede Spur.

„Sawa ist spät dran“, sage ich, den Blick sorgenvoll zur Uhr gewandt. „Wenn sie nicht bald auftaucht, wird sie sich verspäten. Waka wird das sicher nicht gutheißen.“

„Man muss ihr immerhin zugutehalten, dass es lange her ist, dass sie zu spät kam“, meint Toma neben mir. „Als sie hier angefangen hat, war das fast schon die Regel. Du weißt ja selbst, wie viel Ärger sie deswegen schon hatte. Dass sie noch hier abeiten darf, liegt sicher nur daran, dass Waka-san ungern neue Leute einstellt. Sie sollte es trotzdem besser nicht herausfordern.“

„Warum geht sie nicht einfach etwas früher los?“

Toma schüttelt den Kopf. „Du kennst sie“, seufzt er gequält. „Sawa ist einfach schrecklich unorganisiert. Wäre ihr Kopf nicht an ihrem Hals festgewachsen, ich wette, sie würde selbst den noch vergessen.“

Wir lachen. Kurz darauf erscheint Waka im Café und trommelt den Rest der Besatzung zusammen. Ich entdecke Ikki, der neben Mine den Raum betritt. Ihr gemeinsamer Anblick versetzt mir einen weiteren Stich. Ich halte mich entschieden an Toma, der als eine Art Trennwand zu Ikki fungiert. Ich bilde mir ein, mich dadurch geschützt zu fühlen, und bemerke zugleich, wie feige das ist. Still hasse ich mich dafür.

Waka erteilt seine Befehle wie immer, anschließend werden wir Zeuge, wie er das Feuer eröffnet. Auf Sawa, die zwanzig Minuten verspätet auf Arbeit erscheint. An sich immer noch pünktlich, wir öffnen erst in fünf Minuten. Für Waka nichtsdestotrotz ein Kapitalverbrechen. „Wer zu spät zur Besprechung erscheint, überlässt seine Kameraden dem Feind!“, so seine Worte.

Wir stehen bereits in der Bedienung, da höre ich noch, wie Waka im Pausenbereich seine Rüge an Sawa erteilt. Als sie endlich das Café betritt, eile ich an ihre Seite.

„Alles okay?“, frage ich besorgt. Sawa wirkt schrecklich mitgenommen, völlig aus der Puste, und ihr Pferdeschwanz hängt etwas schief.

„Ich dachte, diesmal ist es soweit. Ich habe wirklich gedacht, gleich prügelt er mich mit seinem Holzstock windelweich. Ich sag’s dir, ich habe mich schon in allen Grün- und Blautönen da rauskommen sehen …“

„Was war denn überhaupt los? Warum bist du zu spät gekommen?“

„Ach, das Übliche mal wieder“, seufzt sie betont. „Ich habe mich beim Bummeln ein wenig in der Zeit verloren, und dann habe ich die Bahn verpasst. Ich wollte eine Abkürzung nehmen, aber diese Idioten haben die Straße gesperrt. Am Ende bin ich einen Umweg gelaufen, und weil ich schon so spät dran war, bin ich bei Rot über die Ampel. Weißt du, sonst ist da nie Polizei, wenn du sie brauchst. Und ausgerechnet heute haben die mich festgehalten und um die zehnmal ermahnt! Aaah, heute ist einfach nicht mein Tag!“

Ich lächle mitfühlend. Hanna gesellt sich zu uns und begrüßt ihre Freundin, danach geht sie in die Küche, um eine Bestellung abzugeben.

„Egal“, wendet sich Sawa mir zu. „Was viel wichtiger ist: Wie war es bei dir? Wie war’s auf der Ausstellung? Du musst mir wirklich alles erzählen!“

„Was, jetzt?“, frage ich unsicher. Ein Rundblick durch das Café lässt mich zweifeln, ob das der richtige Zeitpunkt für die Art Gespräch ist.

„Ach, komm schon!“, drängelt sie weiter. „Wann, wenn nicht jetzt? Ich habe den ganzen Abend mit dir gefiebert! Wie wäre das, wir könnten uns zur Putzarbeit abstellen lassen? Dann stört sich niemand daran, wenn wir reden.“

„Erst zu spät kommen, und dann nicht arbeiten“, höre ich Toma neben uns sagen. Im Vorbeigehen drückt er Sawa ein leeres Tablett in die Hand und stellt sich selbst hinter den Tresen, wo er in einigen Schränken wühlt. „Tut wenigstens so, als wärt ihr beschäftigt. Wenn Waka-san brüllt, vertreibt das nur wieder die Gäste. Ich muss von irgendwas meine Miete bezahlen.“ Toma holt mehrere Gedecke hervor und bahrt sie ordentlich vor sich auf. „Und mein Studium.“

„Hast ja recht. Sorry“, gibt Sawa kleinlaut zurück. „Aber kannst du es mir wirklich verübeln? Sie war gestern immerhin auf einer Kunstausstellung! Weißt schon, zu so einer ganz gehobenen Sache! Das kann man nicht mit einem Besuch im Museum vergleichen. Du hast da doch bestimmt einige ganz schräge Vögel gesehen, stimmt’s? Und wie war’s mit Luka? Hat er sich zur Abwechslung benommen?“

„Sawa …“

„Biiitteee“, fleht sie an Toma wie mich. „Lass sie doch erzählen! Ich muss es wissen, biiitteee!“

Ich setze zu einer Antwort an, als Ikki plötzlich hinter uns auftaucht. „Na, was ist denn hier los? Sawa-chan, du siehst aus, als würdest du jeden Moment vor Neugier platzen. Dürfte man sich euch anschließen?“

Ich halte meine Worte zurück. Nicht nur wegen Ikki, sondern auch wegen Mine, die direkt hinter ihm folgt. Unsere Blicke begegnen sich kurz und ich bilde mir ein, mehr Ablehnung denn je in ihnen zu erkennen. Ob sie mir sauer ist, weil Waka sie gestern in meine Schicht gerufen hat?

Auch Sawa hat ihren Eifer verloren. Sie wendet sich Mine zu, grüßt sie überschwänglich, dann zieht sie mich aus dem Kreise der Jungs in eine Ecke zu sich. Wir unterhalten uns flüsternd. „Ich werde Waka-san fragen, ob er uns abziehen kann. Ah, das ist vielleicht nicht meine beste Idee … Waka-san wird sicher nicht Ja sagen, wenn ich ihn frage …“

„Ich kann ihn fragen“, biete ich an. „Aber wollen wir nicht lieber bis zur Pause warten? Wir können auch später noch reden, wenn wir zu Hanna gehen.“

„Und vor Mine über Luka reden? Du weißt, ich habe nichts gegen sie, aber Mine …“ Sawa sucht nach den richtigen Worten. „Sagen wir, sie wird mein Interesse nicht teilen. Und ich will wirklich wissen, was da gestern noch los war. Erinnerst du dich noch an unser Telefonat? Du warst dir nicht einmal sicher gewesen, ob du dort überhaupt hin willst. Und mit Luka bist du dir auch immer noch unsicher, habe ich recht?“

Damit trifft Sawa ins Schwarze. Ich sehe ein, dass ich genauso jemanden zum Reden brauche, wie sie ihre Neugier befriedigen will. Und wem neben Ukyo könnte ich mich besser anvertrauen als ihr?

Ich willige ein, mit Waka zu sprechen, und verschwinde im Personalbereich. Bevor ich Wakas Bürozimmer erreiche, hält mich eine Stimme zurück. „Warte. Hast du einen kurzen Moment für mich?“

Mir rutscht das Herz in die Hose. Ikki ist mir gefolgt. Mir ist nicht recht wohl dabei, mit ihm alleine zu sein. Dass er mit Rika zusammen war, will mir nicht aus dem Kopf. Was hat sie ihm erzählt? Ist es richtig, mich ihm jetzt zu stellen?

Nichtsdestotrotz drehe ich mich herum. Es ist nicht so, als hätte ich eine Wahl. Ich bringe alle Mühe auf, ein unbefangenes Lächeln zu zaubern. „Klar. Was gibt’s?“

Ikki kommt auf mich zu. Bevor ich mich versehe, hält er mich in den Armen. Im Reflex halte ich still, wage kaum, zu atmen. Ich verstehe nicht ganz, was hier geschieht.

„Ich musste das tun“, höre ich ihn flüstern, nah bei meinem Ohr. Seine Arme umschließen mich fester, halten mich an ihn, als könnte ich zu Staub zerfallen. Und alles wird still.

Irgendwann ist der Zauber vorbei. Langsam, wenn nicht zögernd, gibt Ikki mich frei. Ich fühle mich seltsam verlassen, als seine an mir hinterlassene Wärme ihm folgt. Warum ist das nur so? Was hatte diese Aktion zu bedeuten?

Ich suche nach Antworten in Ikkis Gesicht. Doch er lächelt mich an, als sei nichts gewesen. „Ich muss wieder nach vorn. Toma wird sicher etwas Unterstützung brauchen. Wir reden später.“ Damit hebt er die Hand, dreht sich herum und ist schon nicht mehr bei mir.

Verwirrt sehe ich ihm nach. Zu spät bemerke ich, dass er beim Durchgang zu jemanden spricht. Als er außer Sicht ist, betritt stattdessen Mine den Flur und entdeckt mich im nächsten Moment. Ich weiß ihren Blick nicht zu deuten, dafür sind wir zu weit entfernt, spüre jedoch, dass er ein Zögern zu lang auf mir ruht.

Mine dreht sich herum und biegt in die Küche. Erst da dämmert es mir, warum ich ursprünglich hier stehe. Ich wende mich der Tür hinter mir zu, hebe den Arm und atme tief durch, ehe ich klopfe.

 

„Da hast du ja echt was erlebt“, meint Sawa und gibt mir den Lappen zurück. Ich mache ihn frisch und reiche ihn ihr erneut, damit sie weiter die hochhängenden Schränke abwischen kann.

Inzwischen habe ich Sawa alles erzählt, was es zu der gestrigen Ausstellung zu berichten gibt. Es war einfach gewesen, Waka zu überzeugen, Sawa und mich eine Weile putzen zu lassen. Nur solange es ruhig ist, das war seine Bedingung. Ich hatte mit etwas mehr Widerstand gerechnet, aber vermutlich hat ihn die Rüge an Sawa doch sehr ermüdet.

„Ich kann mir das regelrecht vorstellen, wie Rika an dir herumpfuscht. Aber dass da nicht mehr gelaufen ist … Ganz ehrlich, ich hätte Luka nicht als jemanden eingeschätzt, der sich so lange Zeit lässt“, meint Sawa weiter.

„Weiß auch nicht“, sage ich und zucke die Schultern.

„Gerade wenn ich bedenke, wie das alles zwischen euch angefangen hat“, ergänzt sie. „Aber ist doch gut für dich, oder? Bei all den zweifelhaften Dingen, die Luka betreffen, solltest du dich zu keinen voreiligen Schritten verleiten lassen. Auch wegen der anderen Sache.“

„Welcher anderen Sache?“

„Oh, ach ja. Das wollte ich dich noch fragen.“ Sawa sieht prüfend um sich, dann beugt sie sich zu mir hinab und flüstert mir zu. „Mir ist da so ein Gerücht zu Ohren gekommen. Stimmt es, dass du dich mit Ikki-san triffst?“

Ich spüre, wie meine Ohren heiß werden. „Wo hast du das denn her?“

„Hanna-chan hat’s mir erzählt. Und, sag schon, stimmt es?“

„Es stimmt“, gestehe ich kleinlaut.

„Oha“, stößt Sawa aus und schaut überrascht. „Du fährst also zweigleisig? Alle Achtung, das nenne ich mutig. Ich nehme an, Luka weiß nichts davon?“

„Ich fahre nicht zweigleisig“, wehre ich ab. „Und nein, Luka weiß nichts davon. Es ist auch nicht so, wie du es gerade darstellst. Wir treffen uns nur als Kollegen.“

„Nur als Kollegen, so so. Ich habe da etwas anderes gehört“, grinst sie. Im nächsten Moment wird sie ernst. „Aber das musst du mir erklären. Warum ausgerechnet Ikki-san? Ich weiß, er sieht gut aus … Aber du weißt doch bestimmt, was man über ihn sagt?“

„Und?“

„Ich meine ja nur. Mich würde das skeptisch machen. Sein gesamtes Verhalten Frauen gegenüber … Und dann ist da ja auch noch diese Sache mit Hanna-chan. Wusstest du, dass die beiden ein Paar waren? Sie haben sich vor erst zwei Monaten getrennt.“

„Ja, das weiß ich.“

„Macht dich das nicht verrückt? Wer sagt, dass er dich nicht nur benutzt, um über Hanna hinwegzukommen?“

„Das denke ich nicht“, sage ich und schüttle entschieden den Kopf.

„Zutrauen würde ich’s ihm.“ Sawa besieht mich nachdenklich, fast schon besorgt. Ich spüre Widerwillen in mir aufsteigen, diesen Blick zu ertragen.

„Zwischen Ikki und mir läuft nichts“, sage ich, als müsse ich Sawa beschwichtigen. „Unsere Treffen sind rein platonisch. Ikki weiß, dass ich einen Freund habe. Jeder hier weiß das. Wir verbringen nur gelegentlich Zeit miteinander und reden, das ist alles.“

„Bist du sicher?“

„Ja“, sage ich und zweifle, ob das womöglich gelogen ist.

„Hm. Na wenn du meinst.“ Sawa wendet sich wieder dem Putzen zu. „Ich verstehe jedenfalls deinen Männergeschmack nicht. Sie sehen zwar beide ganz gut aus, ohne Frage … Aber ich könnte Typen wie denen nie über den Weg trauen.“

„Und auf welche Art Typen stehst du? Gut aussehen dürfen sie ja schon einmal nicht“, necke ich sie.

„Blödsinn, das habe ich nie gesagt.“

„Komm schon, jetzt will ich’s wissen! Angenommen, du müsstest jemanden von der Arbeit als Favoriten bestimmen: Wer wäre das und warum?“

„Also das wäre …“, beginnt sie, bremst sich jedoch. Ich glaube zu erkennen, dass Sawas Gesicht im Profil etwas Farbe gewinnt. „Darauf falle ich nicht herein! Es reicht schon, dass Mine mich aufzieht. Das will ich nicht von noch jemanden haben.“

„Womit zieht sie dich denn auf?“

„Nein, vergiss es.“

„So schlimm?“

„Eigentlich nicht, aber … Aaah, vergiss es einfach! Okay? Übrigens, Mine weiß nichts von dem, was wir vorhin besprochen haben.“

Ich muss überlegen, was Sawa meint. „Du meinst diese Ikki-Sache?“

„Genau“, nickt sie. „Ich dachte, das sei vielleicht besser. Vorerst zumindest. Sie kann dich so schon kaum ausstehen, und Ikki-san hat sie schon drei Mal abblitzen lassen, soweit sie’s mir erzählt hat. Sie wäre bestimmt nicht erfreut, zu erfahren, dass er sich lieber mit dir trifft. Mine ist da sehr … eigen, möchte ich sagen.“

Da mag sie wohl recht haben. Gleichzeitig löst es in mir ein zutiefst unbehagliches Gefühl aus. Es ist, als sei es bereits ein Vergehen, wenn ich Ikki abseits der Arbeit treffe. Warum wird daraus so eine große Sache gemacht? Nur weil er diese ach-so-liebestollen Augen hat und ich in einer unfreiwilligen Beziehung feststecke? Wo ist das einem von uns fair gegenüber?

Aber ich sehe ein, dass es besser ist, darüber zu schweigen. Auch wenn Mine längst nicht so schlimm ist wie Rika, so will ich sie doch nicht zum Feind haben. Ob wir jemals noch Freunde werden, wage ich immer mehr zu bezweifeln.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Aufgaben:

1. Du wachst früh auf, geweckt vom Duft von Kaffee und frischen Brötchen, recht unjapanisch. Wenn du noch etwas döselig bist und lauschst, wirst du klapperndes Geschirr hören. Entscheide, ob du noch liegen bleibst oder aufstehst.
a) Stehst du auf: Du gehst in die Küche und siehst, wie Luka gerade Frühstück am Bett vorbereitet. Er wird zeigen wie enttäuscht er ist, dass sein Plan schief ging, da du ja jetzt auf bist. Aber ihr werdet improvisieren und das Frühstück ins Wohnzimmer verlagern
2. Luka wird dich nach dem Frühstück nach Hause fahren, weil er ja selbst zur Auktion muss, die nicht abends ist. Du hast Zeit, dich umzuziehen und für die Arbeit fertig zu machen.
3. In der Wohnung wird es keine Spur von Ukyo geben, aber von Orion, der sofort aufgeregt zu dir gerannt kommt und scheinbar sehen will, ob noch alles an dir dran ist. Er wird dir erzählen, dass Ukyo und er sich Sorgen gemacht haben und sie nicht sicher waren, ob Luka dir nicht etwas tut.
4. Doch scheinbar sind die beiden nicht die einzigen. Es klingelt an der Tür, jemand will noch etwas Zeit mit dir verbringen. (Hier entscheidest dieses Mal du wer Zeit mit dir verbringen, ob es dein “Traummann” ist, oder vielleicht Sawa, oder doch eher Toma oder Shin? Suchs dir aus was am besten deiner Meinung nach passt.)
→ Diese letzte Aufgabe ließ sich so nicht ausführen, da es nicht ausreichend zeitlichen Raum in der Geschichte gab. Stattdessen wurde mir erlaubt, mit der Schicht zu beginnen. Ich durfte das übrige Kapitel ausfüllen, wie ich wollte, und ich habe mich bemüht, jedem ein wenig Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. (Kento ist ein wenig zu kurz gekommen, fürchte ich.)

Ich habe recht lange an dem Kapitel gesessen, was vorwiegend an meiner beruflichen Situation lag. Ich habe eine höllische Zeit hinter mir … Wenn ich aber geschrieben habe, hatte ich Spaß und bin mit dem Ergebnis auch recht zufrieden. Ich hoffe, dass man meine unerschöpfliche Liebe zu Amnesia beim Lesen spürt. ♥
In dem Sinne, bis zum nächsten Kapitel! Besucht mich gern mal auf Twitter. ^^/ Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  fie_fy
2020-09-19T14:33:06+00:00 19.09.2020 16:33
Ach, es ist schon echt putzig wie sich der kleine Orion hineinsteigert <3

Ahhh, ich hoffe wir bekommen noch etwas aus dem Büchlein zu lesen! Vielleicht steht ja drinnen warum du Luka zum Freund hast und anscheinend steht da auch mehr über Ikki. Ob auch etwas über deinen Stalker drin steht? Hat die vorherige Shizana deshalb Luka als Freund akzeptiert? Ich glaube Sawa hat mal etwas in der Richtung erwähnt, dass du ihn nicht zum Schutz brauchst?

Und warum muss Shin denn immer so schroff sein, als hättest du ihm mit Absicht das Essen versalzen? T.T Hoffentlich ist er nach eurem Date etwas... taktvoller? Andererseits, wenn er nicht grantig wäre, wäre er ja nicht Shin. *schulterzuck*

Ohje, das mit Mine.... ich glaube sie wird nie mein Lieblingscharakter. Im Anime war sie schon unsympathisch, aber hey, vielleicht liegts im Endeffekt ja nur am Alter und sie wächst aus ihrer unguten Art heraus.

Ich bin jedenfalls schon sehr gespannt auf was auch immer noch kommt! Die größten Fragen in meinem Kopf sind im Moment woher Rika von Ukyo und dir weiß und was gerade mit Ikki los ist. Den Armen scheint ja etwas zu bedrücken :'(

Ja, deine Liebe zu Amnesia spüre ich definitiv immer wieder aufs Neue. xD Kann aber auch daran liegen, dass ich es auch liebe <3


Fy~
Antwort von:  Shizana
19.09.2020 17:13
Hallo Fy.

Ja, auf das Büchlein bin ich auch sehr gespannt! Ich muss meine Göttin immer mal anstupsen, dass sie es nicht vergisst. Ich wette, da stehen ein paar äußerst interessante Sachen drin!
Der Stalker hatte sich damals als Niel entpuppt, falls du den meinst. Ansonsten wüsste ich gerade selbst nicht von einem neuen Stalker. xD
Ich selbst kenne bisschen die Hintergründe, warum der SI mit Luka zusammen ist. Aber bislang wurde es in ZdW noch nicht zur Sprache gebracht. Der SI soll es ja selbst irgendwie herausfinden. Wo wir wieder beim Buch wären … Ich wette, da steht etwas drin! (Interessant btw., dass du dich an all diese Dinge noch erinnerst. ♥)

Shin und Mine sind zwei Charaktere für sich. Aber sie gehören eben dazu. Es ist, denke ich, ganz normal, dass man nicht mit jedem gut auskommt. In meinem Fall ist es eben vorrangig Mine, wobei die Gute ja selbst dazu beiträgt, dass der SI sich nicht mit ihr anfreunden kann. Schade eigentlich.
Mit Shin geht's einigermaßen. Ich glaube, die beiden pflegen ihre eigene Art von Zuneigung. xD

Ich habe deine Fragen mal an meine Göttin weitergeleitet. Vielleicht gesteht sie mir zu, bald darauf einzugehen. :)


Alles Liebe und danke, dass du dabei warst.
Shizana
Antwort von:  fie_fy
19.09.2020 17:40
Hey!
Ach so! Ich hatte an den anonymen SMS Verfasser zur Kuchenzeit gedacht. Dass das Niel war habe ich vergessen. Doch kein so gutes Erinnerungsvermögen. xD Ich habe während der längeren Upload-Pause immer wieder mal reingeschaut, weil ich die Geschichte einfach mag. ^-^

Gegen Shin habe ich im Grunde nichts, ich wundere mich nur, dass er immer einen Grund findet rotzig zu sein, was teilweise auch lustig ist. xD Aber er versucht wenigstens sich oder die Beziehung zu Shizana zu verbessern, was ja schon den Unterschied zwischen ihm und Mine macht. Stimmt schon, dass man sich nicht mit jedem vertragen kann, es einem allerdings mit Absicht schwer zu machen ist schon unfair. :/

Ich schätze mal man kann nur abwarten was noch passiert. xD

\o/
Antwort von:  Shizana
19.09.2020 23:21
Ah, stimmt. Der SMS-Stalker. Der wurde noch nicht aufgeklärt, soweit ich mich erinnere. (Allerdings weiß ich als Autor inzwischen, was dahintersteckt. xD) Ich werde die Göttin mal darauf ansprechen. *salutier*


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