Neues Leben (Abschied)
23. Juli 2015, Tateyama, Präfektur Chiba
Es war also ein 23. Juli an dem der kleine Sohn von Hikari Yagami und Takeru Takaishi das Licht der Welt erblickte. Noch immer war Taichi vollends überwältigt von diesem Gefühl und wusste überhaupt nicht, wie er heute Nacht in den Schlaf finden sollte. Nach ihrer Ankunft in Tateyama hatte er sofort nochmal bei seiner kleinen Schwester angerufen, um sich zu vergewissern, dass wirklich alles in Ordnung war. Mimi hatte sich besorgt ins Wohnzimmer zu ihrer Großmutter gesetzt. Kimiko ging es zwar soweit ganz gut, aber sie hatte nicht wirklich viel gegessen. Taichi war noch immer mit seiner Schwester am telefonieren und daher verschwand Mimi ins Badezimmer. Nach einer heißen Dusche hatte sie ihre Gedanken bezüglich des heutigen Tages auch etwas sortiert und betrachtete ihren nackten Körper im Spiegel. Ihre Silhouette war in den letzten Tagen deutlich schmaler geworden. Irgendwie kein Kunststück, denn gegessen hatte sie kaum und auch mit dem regelmäßigen Schlaf sah es eher mäßig aus. Die Worte der jungen Yagami brannten Mimi noch immer in der Brust. Ihr Blick wanderte prüfend zu ihrem kleinen Schminktäschchen. Vorsichtig öffnete sie den Reißverschluss und zog das schmale Blister der Pillenverpackung hervor. Verkrampft drückte ihre Hand das kleine Stück Aluminium zusammen. Es war leer. Aufgrund ihrer Geldnot, der jüngsten Ereignisse in ihrem Leben und dem ganzen Hin und Her mit Tai hatte sie vollkommen vergessen eine neue Packung zu besorgen.
„Das kann unmöglich sein...“ flüsterte sie und stützte sich auf dem kalten Porzellan des Waschbeckens ab.
Sicherlich war das alles nur ein Irrtum. So einfach passierte so etwas doch nicht und schon gar nicht von diesem einen Abend. Wie immer legte Mimi ihr lächelndes Pokerface auf und setzte sich zu ihrer Großmutter aufs Sofa. Taichi schien noch immer mit seiner Schwester zu telefonieren.
„Was bedrückt dich denn meine Kleine?“ fragte Kimiko und stellte den Ton etwas leiser.
Mimi lächelte und schüttelte sachte ihren Kopf. „Mich bedrückt nichts. Ich habe mich nur gefragt, für wen du die Söckchen gestrickt hast, die du heute Tai mitgegeben hast. Weißt du denn, warum wir nach Tokyo gefahren sind?“
Kimiko grinste geheimnisvoll und sah auf den Fernseher. „Glaubst du nicht, dass Tai ein sehr guter Mann ist?“
Verwundert musterte Mimi das grinsende Gesicht ihrer Großmutter. „Was hat das denn mit den Socken zu tun? Warum weichst du meiner Frage aus?“
„Ich weiche deiner Frage nicht aus. Ich versuche sie dir so zu beantworten, dass auch du es endlich verstehst. Wenn du diesen Mann liebst, dann solltest du auch mit ihm zusammen sein. Dann sollte es keine Zweifel mehr geben in deiner Brust.“ langsam erhob sich die betagte Dame und trottete zum Treppenaufgang. „Und jetzt bin ich viel zu müde...“
Mimi betrachtete dieses süffisante Grinsen der alten Hexe und war sich absolut sicher, dass sie ihrer Frage ausweichen wollte. Aber eigentlich war sie jetzt auch viel zu erledigt, um mit Kimiko zu streiten, also ließ sie ihre Großmutter gehen. Denn offen gestanden, hatte sie momentan viel größere Sorgen als das. Doch noch bevor Kimiko den oberen Treppenabsatz erreichte, wendete sie sich erneut ihrer Enkeltochter zu und schenkte ihr ein liebevolles Lächeln.
„Ich dachte immer, dass ich, um glücklich zu sein meine riesigen Träume verwirklichen müsste. Doch am Ende sind es die kleinen Dinge im Leben, die uns bewegen und unsere Träume erst wirklich riesig werden lassen. Ich hoffe du kannst es auch irgendwann sehen, denn das Glück liegt stets irgendwo direkt vor unseren Füßen...“
Mimi spürte deutlich, wie sich ihr Hals zusammenschnürte und ihr Herz immer heftiger gegen ihren Brustkorb schlug. Die Worte ihrer Großmutter ergriffen sie und ungewollt kämpfte sie gegen ihre Tränen an. Letztlich war es ein zögerliches stummes Nicken, was sie ihr als Antwort anbieten konnte. Warum hörte sich alles so einfach an, wenn Kimiko es sagte? Warum waren die Zweifel, die man in sich trug, immer soviel stärker als alles andere?
Die nächsten Tage verbrachten Mimi und Tai ihre Zeit mit Kimiko. Der junge Mann spürte deutlich, wie angespannt und unruhig seine Freundin war. Beinahe jede Nacht wachte sie stundenlang am Bett ihrer Großmutter und versuchte sie davon zu überzeugen, doch noch ins Krankenhaus zu gehen. Aber die sture alte Dame verweigerte jegliche Behandlung. Letztlich konnte sie sich mit ihrer Enkelin nur darauf einigen, dass sie wenigstens die hochdosierten Schmerzmittel einnahm und somit ihre körperlichen Leiden etwas minderte. Taichi tat alles, um die ältere Dame zufrieden zu stellen. Jeden Morgen stellte er ihr frische Blumen aus dem Garten auf den Tisch. Pflegte die Pflanzen und führte einige Reparaturen im Haus durch. In den Nächten sorgte er sich immer häufiger um seine junge Freundin, die kaum noch schlief oder etwas aß. Also kochte er ihr spät am Abend noch etwas zu essen oder trug, die vollkommen erschöpfte junge Frau in ihr Bett, damit sie endlich ein paar Stunden schlafen konnte. Alles was Erleichterung brachte, alles womit er helfen konnte, Taichi tat es.
Es war ein heißer Freitagnachmittag. Morgen würde der 1. August sein und somit das jährliche Treffen der Freunde anstehen. Doch aufgrund der Geburt von Akio waren alle damit einverstanden, es zunächst zu verschieben. Irgendwie hatte jeder von ihnen gerade sehr viel um die Ohren. Hikari und Takeru konnten gerade erst mit dem Kleinen das Krankenhaus verlassen und endlich nach Hause gehen. Joe hatte seine letzten Prüfungen hinter sich und würde im August die Stelle als Assistenzarzt im Krankenhaus in Tateyama annehmen. Sora und Yamato würden in wenigen Tagen ihre Flitterwochen antreten und die nächsten drei Monate in Europa verbringen. Der schlechte gesundheitliche Zustand von Kimiko ließ Mimi auch nicht verschnaufen und sie hätte ihre Großmutter momentan unter keinen Umständen alleine gelassen. Trotz der Nachrichten, die Mimi ihrem Vater und ihrer Mutter schrieb und von dem besorgniserregenden Gesundheitszustand ihrer Großmutter berichtete, meldete sich ihr Vater nicht zurück. Von ihrer Mutter bekam sie wenigstens ab und an eine kurze Antwort mit Genesungswünschen.
Taichi räumte gerade einige verdorrte Strauchabschnitte vom Garten auf die Straße und sah, dass seine Freundin etwas erschöpft die Einkäufe aus dem Auto räumte. Sofort eilte er zu ihr und konnte sie gerade rechtzeitig stützten, bevor sie vornüber kippte.
„Hey Prinzessin, was ist denn mit dir los?“ fragte er besorgt und strich ihr über die glühende Stirn. Sie war völlig verschwitzt und ihr Gesicht war kreidebleich. „Hast du heute überhaupt etwas gegessen und getrunken?“ Tai setzte sich mit ihr auf die kleine Treppe vor der Hauseingangstür.
Mimi rang schwerfällig nach Atem und lehnte sich an seine Schulter. Die letzten Tage waren einfach die Hölle. Sie konnte kaum schlafen und essen. Ständig fühlte sie sich erschöpft und diese beständig anhaltende Übelkeit brachte sie beinahe um den Verstand.
„Ich bin mir nicht sicher...“ stöhnte sie und schenkte ihm ein entschuldigendes Lächeln. Ständig war er so besorgt um sie und versuchte ihr das Leben leichter zu machen.
Sein Blick wurde wütend und er wollte gerade aufstehen, um ihr etwas zu trinken zu holen, als Mimi erneut fast umkippte. Hastig packte er sie am Arm und zog sie rauf. „Jetzt reicht es aber. Ich bringe dich zu Dr. Watanabe. Dir geht es die ganze Zeit schon nicht wirklich gut.“
Sie wollte sich von ihm wegdrücken, aber sie war viel zu schwach. „Ich brauche keinen Arzt. Nur etwas Ruhe und was zu essen...“ murmelte sie. Doch ihr Freund setzte sie einfach ins Auto und fuhr mit ihr die paar Minuten zum Krankenhaus.
„Du gönnst dir weder das Eine noch das Andere. Wie soll sich dein Körper denn da erholen? Mimi, wenn du nicht auf dich achtest, dann bist du auch keine Hilfe für deine Großmutter.“ sein Tonfall war eine Mischung aus Wut und Sorge.
„Hör auf, so mit mir zu sprechen. Du bist nicht mein Vater und ich kann sehr gut selbst auf mich aufpassen.“
Diese Diskussion hätten sie jetzt ewig fortsetzen können, doch Tai hatte einfach keinen Bock darauf. Im Grunde waren sie beide verdammte Sturköpfe und würden das jetzt sowieso nicht klären. Als sie das Krankenhaus erreichten gingen sie geradewegs in das Büro von Dr. Watanabe. Natürlich mussten sie einige Zeit warten, da Asuna gerade mit anderen Patienten beschäftigt war. Doch nach circa zwanzig Minuten kam die junge Ärztin über den Flur geeilt.
„Was ist passiert? Geht es Kimiko schlechter?“ fragte sie und entsorgte ihre Latexhandschuhe im Mülleimer.
Taichi schüttelte den Kopf und berichtete von dem besorgniserregenden Gesundheitszustand seiner Freundin. Genervt fuhr Mimi ihm immer wieder dazwischen und versuchte alles zu relativieren.
„Vielleicht spreche ich erstmal mit Mimi alleine. Wärst du so freundlich hier draußen zu warten?“ sagte sie sehr höflich und deutete Taichi sich hinzusetzen.
Beide Frauen gingen in ihr Büro und setzten sich an ihren Schreibtisch.
„Was ist los mit dir Mimi? Du siehst wirklich schlecht aus. Sehr blass, dünn und du hast tiefe Augenringe...“
„Ich glaube, dass alles im Moment viel zu viel für mich ist. Der Streit mit meinem Vater, die Nachricht, dass ich eine Halbschwester habe, die immer schlechter werdende Gesundheit meiner Großmutter und vor wenigen Tagen hat eine sehr gute Freundin vorzeitig entbunden. Im Moment läuft einfach alles drunter und drüber.“ sie lächelte matt.
„Wie äußert sich das? Also ich meine, woran merkst du denn, dass es dir schlecht geht?“ Asuna zückte ihren Kugelschreiber und machte sich einige Notizen.
„In letzter Zeit ist mir sehr häufig übel. Mir ist schwindlig und ich fühle mich wahnsinnig erschöpft. Aber wahrscheinlich liegt es daran, dass ich zu wenig esse und schlafe.“
„Wann hattest du deine letzte Periode?“ als Mimi diese Frage vernahm schluckte sie hart und starrte die junge Ärztin erschrocken an.
„Wie bitte?“ erwiderte sie.
„Also grundsätzlich denke ich nicht, dass dir etwas fehlt. Ich kann dir gerne noch Blut abnehmen, um auszuschließen dass es ein Virusinfekt ist. Ebenfalls sind der anhaltende Stresspegel und Nahrungs- sowie Schlafentzug mögliche Faktoren für Trägheit, Müdigkeit und Übelkeit. Aber es könnte ebenso gut eine Schwangerschaft sein. Oder ist es so abwegig?“
Verkrampft spielte Mimi an ihren Fingern herum und starrte auf ihre Knie. „Der letzte Tag meiner Periode war am Tag der Hochzeit meiner Freunde. Also der 27.06....“
Asuna fragte nun auch noch die Länge des Zyklus ab und berechnete anhand dessen den Eisprung und somit die zwei möglichen fruchtbaren Tage. Dann entnahm sie ihrer nervösen Patientin noch eine winzige Blutprobe und versah sie mit einem Kennungsetikett.
„Wann hattest du das letzte Mal Geschlechtsverkehr?“ fassungslos zuckte Mimi bei dieser Frage zusammen. Verdammt war es ihr peinlich und sie hätte am liebsten im Erdboden versinken wollen.
„Zwei Mal, drei Mal...“ murmelte die junge Frau leise. Sie versuchte sich daran zu erinnern wie oft sie mit Tai geschlafen hatte.
Zuerst passierte es auf seinem Futon im alten Zimmer ihres Vaters. Dann ein weiteres Mal, jedoch am Fenster und später auf der Kommode. Danach waren sie irgendwann unten in der Küche, um etwas zu essen. Beide konnten überhaupt nicht an sich halten und Taichi vernaschte sie tatsächlich auf dem Küchentisch. Im Anschluss schafften sie es ins Badezimmer und wollten duschen, was aber dazu führte, dass es wahnsinnig heißen Sex unter der Dusche gab. Selbst ein junger, hemmungsloser und verdammt erotischer Yagami brauchte nach diesen drei Runden eine kleine Auszeit, was ihn jedoch keinesfalls daran hinderte, bereits wenige Stunden später, erneut über sie herzufallen und mit einer atemberaubenden Runde Morgensex zu überraschen. Alleine schon diese Erinnerungen an seine Berührungen auf ihrer Haut, seine Finger in ihrem Haar, seine Küsse auf ihren Lippen, seine Zunge zwischen ihren Schenkeln und sein betörender Duft in ihrer Nase. Einfach jedes Detail brachten ihre Knie zum zittern und bescherten Mimi eine unfassbare Gänsehaut. Tai war ein sehr guter Liebhaber und Mimi wollte lieber nicht so genau wissen, wo und vor allem mit wem er das geübt hatte.
Asuna blickte erstaunt von ihrem Blattpapier auf und musterte Mimi. Die junge Frau schien völlig in ihren Gedanken versunken zu sein. „Nein, ich fragte wann zuletzt und nicht wie oft.“
Die Brünette sog die Luft scharf durch ihre Lippen und starrte verlegen an die Decke. „Es waren vier Mal an einem Abend. Am Abend des Tanabata.“
Sofort blieb der jungen Ärztin die Spucke weg. Schockiert starrte sie diese junge schüchterne Frau vor sich an und rang selbst nach Atem. Plötzlich stand sie auf und ging zur Tür des Behandlungszimmers. Sie schob mit beiden Fingern die Rippen der Jalousie auseinander und stierte förmlich den jungen brünetten Mann an, der wartend auf dem Krankenhausflur saß.
„Das ist ja beeindruckend. Also ich will auch nochmal so einen jungen Liebhaber haben. Ganze vier Mal in einer Nacht?“ sie seufzte wehmütig und wendete sich wieder Mimi zu.
Wo war dieses alles verzehrende Loch im Boden, wenn man es am meisten brauchte? Mimi wäre am liebsten gestorben. Es war ihr so verdammt peinlich. Doch die Worte der Ärztin rissen sie aus ihrer Schockstarre.
„Also rein rechnerisch wäre es durchaus möglich, dass du schwanger bist. Bei einem Zyklus von 28 Tagen würde dein Eisprung auf den 07.07 oder 08.07 fallen. Aber um sicher zu sein, kannst du es erstmal damit probieren und wenn der positiv sein sollte, musst du auf alle Fälle nochmal herkommen. Denn diese Schnelltests sind keine hundert Prozent.“ sie legte einen Schwangerschaftstest auf ihren Schreibtisch und versuchte die Regungen in Mimi's Gesicht zu deuten.
„War der 07.07 nicht dein Geburtstag?“ Asuna grinste und wollte die junge Frau etwas aufmuntern. „Das wäre doch ein wundervolles Geschenk. Gleich beim ersten Schuss ein Treffer!“
Mimi erhob ihren Kopf nicht einen Zentimeter. Zitternd verkrampften sich ihre Hände ineinander und Tränen tropften auf ihre Oberschenkel. Asuna betrachtete die junge Frau zunächst sehr verwundert, denn irgendwie war das keine Reaktion, die man von einer jungen Frau erwartete.
„Wenn du Gewissheit hast, dann kannst du weiter entscheiden, ob du die Schwangerschaft abbrechen möchtest oder nicht. Aber solange es nicht zu hundert Prozent feststeht, solltest du dir auch nicht deinen hübschen Kopf zerbrechen.“ sie lächelte sie an und versuchte ihr die Ängste zu nehmen. Doch Mimi reagierte überhaupt nicht darauf.
„Ich bin gewiss nicht schwanger und deshalb brauchen wir auch über nichts weiter zu sprechen.“ plötzlich wirkte ihre Stimme wieder fröhlich.
Mimi war wie ausgetauscht. Sie stand auf, steckte den Test in ihre Handtasche, bedankte sich höflich bei Asuna und wollte das Büro der Ärztin verlassen. Harsch griff Asuna nach ihrem Arm und hielt sie für einen kurzen Moment zurück. Mit einfühlsamer Besorgnis musterte sie die mit Angst gefluteten Augen ihrer jungen Patientin, denn diesen Blick konnte Mimi nicht verbergen.
„Mimi, ich kann dir nur sagen, ein Kind passt niemals und doch immer. In unserem menschlichen Größenwahnsinn glauben wir zwar, dass wir unser Leben selbst planen, aber letztlich fügen wir uns immer unserem Schicksal und passen unsere Pläne dem an, was für uns vorgesehen ist.“
Asuna berührte sanft ihre Wange und lächelte zögerlich. „Ich war selbst noch blutjung, als das zwischen mir und deinem Vater passierte. Natürlich hätte ich mir mein Leben anders vorgestellt. Ein Leben mit Ehemann und Kind, nicht alleine und unverheiratet. Aber heute möchte ich meine Tochter nicht mehr missen und bin froh, dass alles so gekommen ist, wie es heute ist. Denn Leben ist das, was passiert, während wir Pläne machen.“
Als die brünette junge Frau das Behandlungszimmer verließ, stand Taichi sofort auf und blickte sie besorgt an.
„Was ist? Alles in Ordnung?“ fragte er und wechselte mit seinem Blick zwischen Mimi und Asuna hin und her.
Die junge Ärztin ergriff das Wort und antwortete auf Tai's Frage. „Ja, soweit ist eigentlich alles in Ordnung. Sie braucht einfach Ruhe und muss regelmäßig essen. Ich habe ihr Blut abgenommen und werde es ins Labor schicken. Sollte dabei etwas auffällig sein, werde ich mich melden. Ansonsten ist Mimi gesund.“
Ohne etwas zu erwidern, begab sich Mimi zurück zum Auto. Ihre Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf. Alles lief an ihr vorbei wie in einem Film. Sie hörte die Worte ihres Freundes überhaupt nicht, der mittlerweile neben ihr saß und mit ihr zurück zum Haus fuhr. Mit einem Mal schien alles so surreal und sie wusste jetzt noch viel weniger, wie es weiter gehen sollte.
Einige Wolken drängten sich vor die gleißende Nachmittagssonne und hüllten die trockene Landschaft in einen gräulichen Schleier. Die Luft roch nach Regen und einzelne Blitze zuckten bereits am Himmel. Es waren die ersten Vorboten eines kräftigen Gewitters. Mimi bereitete gerade etwas Tee in der Küche zu, als Taichi von draußen herein kam und berichtete, dass es sehr bald anfangen würde zu regnen.
„Mimi Schatz, könntet ihr mir die letzten Blumen vor dem Gewitter retten?“
Die Stimme ihrer Großmutter klang müde und kraftlos. Mit einem Lächeln gingen Mimi und Taichi von der Küche hinüber ins Wohnzimmer.
„Das sind dann aber wirklich die letzten kleinen Blüten vom Sonnenhut. Soll ich sie dir wirklich abmachen, denn dann ist der Strauch kahl.“ sagte der junge Mann und hockte sich vor der älteren Dame hin.
Kimiko grinste und nickte. „Lieber schaue ich sie mir in der Vase an, als dass sie am Strauch verblühen...“
„In Ordnung...“ sagte Tai lachend und ging wieder in den Garten.
Mimi wollte soeben wieder zurück in die Küche gehen, als Kimiko nach ihr rief. „Bitte hilf diesem grobmotorischen Tollpatsch und stell die Blumen gleich in die Vase. Es war die letzten Tage sehr heiß und trocken. Ich möchte nicht, dass sie ihre wundervollen Blütenblätter bereits im Garten verlieren.“
Die junge Frau musste über die Bemerkung, bezüglich Taichis Grobmotorik lachen. Ohne weiteres ging Mimi mit in den Garten und half ihrem Freund dabei, die letzten Blüten vom Strauch zu schneiden. In der Ferne war bereits das erste Donnergrollen zu hören.
Mimi stellte die dunkelblaue Vase mit den sonnengelben Blumen auf den Wohnzimmertisch, während Taichi in der Küche verschwand, um etwas zu trinken.
„Wirklich schade, dass jetzt keine Blüten mehr am Busch sind. Aber der letzte Strauß sieht wirklich richtig schön aus...“
Als sie keine Antwort von ihrer Großmutter erhielt, drehte sich Mimi zu ihr um und tippte ihr sachte auf die Schulter.
„Hey, bist du etwa eingeschlafen?“
Mit etwas mehr Nachdruck presste sie ihre Finger auf die knochige Schulter ihrer Großmutter.
„Großmama?“ doch auch dieses Mal bekam Mimi keine Antwort. Stattdessen blickte sie in das reglose Gesicht ihrer Großmutter.
Als die ersten Regentropfen zu Boden fielen und das heftige Grollen des Donners die Stille durchbrach, wurde Mimi mit einem Mal bewusst, was geschehen war.
Nichts auf dieser Welt bereitet uns auf diesen Moment vor. Obwohl wir wissen, dass dieser Moment kommen wird und egal wie sehr wir uns einreden, dass er uns nicht bis in die Tiefen unserer Seele erschüttern wird, der Tod eines geliebten Menschen wird uns immer hart und unvermittelt treffen. Dieser eine Moment, wird uns für immer verändern und einen Teil von uns mit sich nehmen. Plötzlich ist da nichts als Stille. Alles scheint zu erstarren, wir können nicht einmal den Schmerz dieses unerträglichen Verlustes spüren. In einem quälenden Automatismus schlägt unser Herz weiter in der Brust und zwingt uns dazu, weiter zu atmen und in diesem endlos erscheinenden Moment zu verharren.
Das dumpfe Geräusch ihrer Knie, die auf dem harten Holzboden aufprallten, beförderte Mimi zurück in die Gegenwart. Ihre dünnen Fingern lagen auf dem Schoß ihrer Großmutter. Kimiko hatte ihre Augen geschlossen und es schien, als würde sie nur schlafen. In ihren Händen hielt sie noch immer zwei Stricknadeln und auf ihrem Schoß lagen zwei winzige fertig gestrickte Babysöckchen. Als Taichi den Raum betrat starrte er zunächst verwirrt zu seiner Freundin, die kreidebleich und zitternd vor ihrer Großmutter kniete. Ihre nussbraunen Augen schienen wässrig, aber keine Träne rollte über ihre Wange.
Plötzlich fühlte sich seine Kehle staubtrocken an und Taichi wurde bewusst, was hier geschehen war, als er den leblosen Körper im Sessel erblickte. Langsam kniete er sich neben seine Freundin und legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter. Trotz aller Mühe, konnte er einfach keine passenden Worte finden. Vielleicht gab es in diesem Moment auch einfach kein einziges passendes Wort. Mimi tastete fahrig nach den Händen ihrer Großmutter und legte ihren Kopf auf ihren Schoß. Er ertappte sich dabei, wie er immer wieder ins Gesicht von Kimiko sah und prüfte, ob sie wirklich tot war. Das konnte doch nicht sein, schließlich waren sie gerade mal zehn Minuten im Garten gewesen. Hatte sich dieses gerissene Weibstück tatsächlich klammheimlich aus dieser Welt geschlichen ohne ein Wort des Abschiedes? Sein Blick ruhte wieder auf Mimi, die sich verzweifelt an ihre Großmutter schmiegte und nach Trost suchte.
Er spürte wie sich sein Magen immer weiter zusammenzog und sich seine Kehle immer enger zu schnürte. „Mimi...“ entwich es mit einem Mal seinen Lippen.
„Sicherlich ist Kimiko jetzt bei deinem Großvater. Beide waren doch lange genug voneinander getrennt und endlich können sie wieder zusammen sein. Glaubst du denn nicht, dass sie sich das immer gewünscht hat?“
Ihm fiel jetzt wirklich nichts anderes ein und die Worte verließen seinen Mund sowieso ohne vorher bei seinem Hirn anzuklopfen.
Alles in ihr fühlte sich unendlich leer an. Da waren keine Trauer, kein Schmerz, keine Verzweiflung. Es herrschte einzig und allein endlose Kälte. Mimi hörte seine Worte, doch sie bedeuteten ihr nichts. Alles um sie herum erstarrte, nichts war noch von Bedeutung für sie. Noch nie hatte sie sich derart verloren und einsam wie in diesem Moment gefühlt. In einer fließenden Bewegung wischte sie seine Hand von ihrer Schulter und nahm die kleinen Wollsocken in ihre Hand. Sie erhob sich allmählich von ihren Knien und hauchte ihrer Großmutter einen Kuss auf die Stirn.
„Wenn ein geliebter Mensch stirbt, gibt es keinen Trost. Also spar dir deine leeren Worte.“
Vollkommen vor den Kopf gestoßen blickte Taichi rauf zu ihr und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass ihn ihre abweisenden Worte verletzten.
Als hätte sie nie etwas anderes getan, informierte Mimi ihren Onkel und ihre Tante vom Tod ihrer Großmutter. Es dauerte keine halbe Stunde, bis alle im Haus eintrafen und ihr Mitleid aussprachen. Sogar Asuna und Sae waren gekommen. Taichi beobachtete seine Freundin besorgt, denn Mimi zeigte überhaupt keine Gefühlsregung. Mimi blieb selbst dann vollkommen regungslos, als ihre Tante davon erzählte, dass sie Sōsuke bereits von Kimikos Tod benachrichtigt hätte. Diese sonst so temperamentvolle junge Frau schien mit einem Mal wie ausgewechselt.
Als der Bestatter eintraf und Kimiko schließlich mitnahm, besprachen Onkel Kazuki und Tante Mei die letzten Details bezüglich der Trauerfeier, welche bereits am nächsten Tag stattfinden würde. Wie es in Japan traditionell üblich war, würde es eine Feuerbestattung geben und damit sich alle Freunde und Familienmitglieder nochmals von dem verstorbenen Menschen verabschieden konnten, erfolgte zuvor eine Aufbahrung.
In dieser Nacht fand Tai einfach keine Ruhe. Stundenlang lief er im Regen durch den Garten und versuchte herauszufinden, wie er sie trösten konnte. Warum hatte Kimiko sie raus geschickt und blieb allein zum sterben zurück? Weshalb schenkte sie ihrer Enkeltochter nicht ein einziges Wort des Abschiedes? Warum meldete sich ihr Vater nicht, um ihr Trost zu spenden? Wäre es nicht seine Aufgabe gewesen, die Bestattung seiner verstorbenen Mutter zu organisieren? Wie konnte er seine Tochter hier alleine ihrem Schmerz überlassen? Je länger er darüber nachdachte, desto wütender wurde Taichi und es fiel ihm immer schwerer einen klaren Gedanken zu fassen.
Er konnte jetzt nicht mit seinen Gedanken alleine sein. Diese Kälte fraß ihn förmlich auf. Mit irgendwem musste er jetzt sprechen. Seine Schwester konnte er jetzt unmöglich anrufen, die sollte schließlich die Zeit mit ihrer kleinen Familie genießen und seine zwei besten Freunde turtelten irgendwo in Europa herum. Blieben also nur noch zwei übrig. Doch Taichi wusste genau, dass wahrscheinlich nur einer der beiden Mimi mindestens genauso gut kannte wie er selbst und ihm sagen konnte, wie er sich jetzt am besten verhalten sollte.
Joe hatte gerade die letzte Kiste zusammengepackt, denn jetzt war es endlich soweit. Sein Studium war beendet und morgen würde er von Kyoto nach Tokyo umziehen, damit er seine Stelle im Krankenhaus in Tateyama antreten konnte. Täglich von Tokyo nach Tateyama zu pendeln würde zwar ein relativ weiter Arbeitsweg sein, aber irgendwie konnte er sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, außerhalb der Großstadt zu wohnen. Erschöpft saß er nun, mitten in der Nacht, mit einem Bier und Zigarette auf der Couch, als sein Handy neben ihm vibrierte. Perplex starrte er auf den Display und nahm noch einen Schluck aus der Flasche. Warum rief er ihn in der Nacht um drei Uhr an? Hatten sie nicht bereits alles geklärt? Was gab es denn so wichtiges? Sollte er jetzt wirklich ans Telefon gehen? Doch noch ehe Joe das Für und Wieder abgewogen hatte, nahm er den Anruf an. Zu seiner Verwunderung hatte er einen überaus friedlichen Taichi am Telefon, welcher ihm unumwunden von dem Tod Kimikos berichtete. Diese schlechte Nachricht ließ sogar den routinierten angehenden Mediziner etwas zusammenzucken.
„Mimi muss am Boden zerstört sein. Nach all diesem Hin und Her mit ihrem Vater...“ sagte Joe und nahm einen langen Zug von seiner Zigarette.
„Das ist es ja, wenn sie wenigstens am Boden zerstört gewesen wäre, dann wäre es wenigstens irgendeine Reaktion gewesen. Aber es kam nichts. Einfach überhaupt gar nichts.“ erwiderte der Brünette am anderen Ende der Leitung.
„Alle Menschen haben eine eigene Art mit dem Verlust eines geliebten Menschen umzugehen, obwohl es für Mimi schon sehr ungewöhnlich ist, so gar keine Gefühle zu zeigen.“
„Was soll ich nur zu ihr sagen? Womit kann ich sie trösten?“ ungewollt klang Tai verzweifelt.
Zum Glück konnte er, das süffisante Grinsen seines älteren Freundes am anderen Ende des Telefons nicht sehen. „Manchmal solltest auch du besser die Klappe halten...“ noch ehe Taichi ihm wütend ins Wort fahren konnte, führte Joe seinen Satz zu Ende. „...ich glaube nichts was du sagen könntest, würde sie trösten. Es gibt eben nicht für alles die richtigen Worte und man sollte wohl besser schweigen, wenn man sonst nichts sagen kann. Du solltest ihr jetzt einfach ein Freund sein. Gib ihr Halt und Trost, indem du einfach an ihrer Seite bist. Manchmal ist das alles was wir tun können und meistens ist es das Beste.“
Nachdenklich legte Taichi seinen Kopf in den Nacken und atmete tief durch. „Was ist nur mit dir los? Immer hast du eine kluge Antwort auf sämtliche Fragen.“
Joe lachte laut und konnte sich das ratlose Gesicht seines langjährigen Freundes am anderen Ende der Leitung bildlich vorstellen. „Weil das Leben eigentlich ganz simpel ist, wir machen es uns nur immer wieder so verdammt schwer. Sei einfach für sie da, sei an ihrer Seite und sei ihr einfach ein wahrer Freund.“
Nachdem die beiden Männer ihr Telefonat beendet hatten, wanderten seine tiefbraunen Augen hinüber zum Fenster. Der fahle Schein des Mondes tauchte die Nacht in einen merkwürdig silbergraunen Glanz. Durstig erhob er sich von seinem Bett und trottete durch den Flur hinab zur Treppe. Verwundert bemerkte er, dass im Wohnzimmer noch Licht brannte. Mimi saß auf dem Sessel ihrer Großmutter und blätterte in einigen Fotoalben. Mit zögerlichen Schritten näherte er sich. Die junge Frau schreckte kurz auf und schenkte ihm einen verwunderten Blick. Mit einem sanften Lächeln kniete er sich vor ihr nieder und legte seine Hände auf ihre Knie. Auf ihrem Schoß lagen einige ältere Fotos. Darauf war meistens ein kleines Mädchen und einige Erwachsene zu sehen. Manchmal am Strand und ab und zu auch hier im Garten.
„Es ist schon so lange her, dass ich die kleine Mimi auf Fotos gesehen habe...“ Taichi musste kichern und nahm eines der Bilder in seine Hände.
„Aber du kennst mich doch mindestens seitdem wir in den Kindergarten gehen. Eigentlich müsstest du doch wissen, wie die kleine Mimi aussieht.“ mit ihren schmalen Fingern blätterte sie die nächste Seite im Fotoalbum auf.
„Schon verrückt, dass wir uns so lange kennen. Seit zwanzig Jahren?“ als ihm die letzten Worte über die Lippen kamen erschauderten beide gleichermaßen und starrten sich fassungslos an.
„Um Gotteswillen! Zum Glück konnten wir uns 80% davon niemals leiden.“ sie schlug das Album zu und schob seine Hände sanft von ihren Knien.
„Oh wie großzügig du bist. Wer sagt denn, dass ich dich heute mehr leiden kann als damals? Schließlich hast du ständig meine Schuhe versteckt oder mir mein Spielzeug geklaut und heute ist das nicht wirklich anders...“ er grinste und ließ Mimi von dem Sessel aufstehen.
„Du hast nur deine gerechte Strafe erhalten. Schließlich hast du mir ständig an meinen Zöpfen gezogen und mir ekelhafte Spinnen im Rucksack versteckt. Du bist einfach ein unausstehlicher Kerl gewesen und hast es nicht anders verdient.“
Sie fuhr sich durch ihr langes, offenes Haar und wollte nach oben gehen, doch Taichi erkannte deutlich die Anspannung und tiefe Trauer in ihren Augen. Mit leichtem Nachdruck packte er ihre Hand und zog sie zu sich. Sanft bettete er ihren Kopf an seine Brust und küsste ihren Haarschopf.
„Du musst nicht tapfer sein...“ flüsterte er ganz leise.
„Wie kann sie mich einfach alleine lassen? Ohne ein Wort des Abschiedes?“ ihre Finger krallten sich in den dünnen Stoff seines Shirts.
Zärtlich streichelte er über ihr langes Haar und sog den süßliches Duft ihres Parfüms in sich auf. „Ich glaube nicht, dass sie dich ohne Abschied zurück gelassen hat. Vielmehr denke ich, dass sie nur auf dich gewartet hat, um endlich gehen zu können. Du hast ihr so sehr gefehlt und sie wollte dich in Sicherheit wissen. Sie wollte, dass du glücklich und zufrieden bist. Erst dann war sie dazu bereit, den Rest ihres Weges zu gehen.“
„Trotzdem ist es so verdammt egoistisch! Denn am Ende ist es doch so simpel. Den eigenen Tod, den stirbt man nur, aber mit dem Tod der anderen muss man leben.“
Ihre Worte berührten ihn und er nahm ihr Gesicht zaghaft in seine großen Hände. Seine dunkelbraunen Augen sahen tief in ihre. „Aber du bist mit diesem Schmerz nicht alleine...“
Beide sprachen noch sehr lange über ihre gemeinsam verlebte Kindheit und Erinnerungen, die sie miteinander verbanden, bis Mimi irgendwann völlig erschöpft in seinen Armen einschlief. Der nächste Tag brach erbarmungslos schnell heran. Es war mittlerweile Spätsommer geworden und die Tage waren nicht mehr so unerträglich heiß. Wie in einer Art Automatismus verloren, stürzte sich Mimi in die Arbeit. Gemeinsam mit ihrer Tante und Schwester bereitete sie alles für die bevorstehende Trauerfeier am heutigen Nachmittag vor. Trotz intensiver Bemühung, gelang es Taichi nicht, seine Freundin in ihrem Tatendrang zu bremsen. Er fühlte sich schlichtweg völlig überflüssig. Aber vielleicht sollte er es einfach akzeptieren, dass es diese Vorbereitung auf die Beerdigung war, die Mimi eine gewisse Erleichterung und Ablenkung brachte. Er würde dennoch nicht von ihrer Seite weichen.
Am späten Nachmittag traf der Priester des kleinen Dorfes ein und besprach sämtliche Einzelheiten mit Tante Mei und Onkel Kazuki. Es waren einige alte Freunde und Kollegen aus dem Krankenhaus zur Trauerfeier erschienen. Sie versammelten sich im Gemeindehaus des Dorfes und wollten heute ein letztes Mal an diese bewundernswerte, temperamentvolle, kämpferische und unendlich hingebungsvolle Frau gedenken, die Kimiko ihr gesamtes Leben lang gewesen war. In der Mitte des Raumes befand sich der aufgebahrte Sarg und bot jedem die Möglichkeit, sich noch einmal persönlich zu verabschieden. Der Priester, welcher Kimiko auch persönlich kannte und bereits die Trauerfeier von Mimi's Großvater begleitet hatte, richtete zu Beginn einige einfühlsame Worte an die Trauergäste. Doch bevor er zum Ende kam, unterbrach ihn Mimi zögerlich und bat ebenfalls darum, etwas sagen zu dürfen. Ohne weitere Einwände machte der Geistige ihr etwas Platz, sodass Mimi vor der trauernden Gemeinde sprechen konnte. Taichi und Mei waren überaus erstaunt, dass die junge Frau nun vor die Menge trat und etwas sagen wollte. Schützend stellte sich der brünette junge Mann hinter seine Freundin und versuchte für sie da zu sein, sobald sie ihn brauchen würde.
Ihre Stimme erzitterte unter ihrer innerlichen Anspannung. Jegliche Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen und alles was blieb, war der Versuch sich einzig und allein auf das zu konzentrieren, was ihr auf dem Herzen lag.
„Ich erinnere mich, dass ich in dieser letzten Nacht ziemlich spät mit einer Vorahnung schlafen ging und einen sehr traurigen Traum hatte. Am Nachmittag brachte ich dir für ein letztes Mal deine Blumen und das Grollen des Donners durchbrach die Stille. Meine Vorahnung wurde Realität. Eine unauslöschliche Narbe in meinem Herzen hinterlassend, bist du allein zum Stern geworden. Leb wohl, du bist jetzt an einen Ort gegangen, an dem wir uns nie wieder treffen können. Ich kann die Kälte des ewigen Abschiedes nicht akzeptieren. Leb wohl, doch ich weiß, dass sogar meine letzten Worte dich jetzt nicht mehr erreichen.“
Ihre blassen Finger krallten sich so fest an den kleinen hölzernen Tisch vor ihr, dass die schmalen Fingerknochen durch ihre zart gebräunte Haut schimmerten. Ihre Zähne bohrten sich ins Fleisch ihrer Lippen und Mimi war sich sicher, dass sie etwas Blut schmecken konnte. Alles an ihr war vollkommen angespannt und jede Faser in ihrem zitternden Körper versuchte die aufkommenden Tränen zu unterdrücken. Taichi wollte ihr seine Hand auflegen, doch im gleichen Moment hörte er, dass sie tapfer versuchte, mit erstickter Stimme weiter zu sprechen.
„Aber vielleicht können meine Worte einen anderen Menschen erreichen, der uns beiden sehr viel bedeutet hat und der heute nicht hier ist. Du sagtest, du hättest deinem Sohn verziehen. Aber ich weiß nicht, wie ich meinem Vater vergeben kann.“
Sämtliche Trauergäste reagierte sehr ergriffen auf die Worte der jungen Frau. Vor allem Mei und Sae wischten sich unaufhörlich ihre Tränen aus dem Gesicht. Denn es war kaum zu übersehen, wie viel Schmerz diese zierliche junge Frau in ihrem Herzen trug und wie mutig sie doch war, vor all diesen fremden Menschen ihre Gefühle zu offenbaren. Doch was währenddessen niemand bemerkte war, dass ein bestimmter Gast, versteckt in der Menge der trauernden Menschen, ergriffen und zugleich beschämt zu dieser starken jungen Frau aufsah.
„Ich wünschte ich hätte nur einmal von ihm hören können, dass ich mit Sicherheit von ihm geliebt wurde, auch wenn es eine Lüge gewesen wäre. Ich wünschte ich hätte nur einmal von ihm hören können, dass er die Tage, die wir zusammen verbracht haben, niemals bereute, auch wenn es eine Lüge gewesen wäre. Meine Sorgen, die ich für endlos hielt, kommen langsam zu einem Ende. Die Jahreszeiten ändern sich auch weiterhin. Der Sommer geht allmählich und ich fühle die beißende Kälte des Winters in meinem Herzen. Aber ich vergesse den Tag des Sommeranfangs niemals, als mich mein Vater auf seinen Schultern über den Strand trug und wir eine Familie waren.“
Als sie ihre Ansprache stockend beendet hatte und die warme Hand ihres Freundes auf ihrer Schulter spürte, konnte sie nicht länger an sich halten. Tränen schossen ihr in die Augen und rannen über ihr Gesicht. Mimi stieß Tai von sich und eilte Hals über Kopf aus dem Raum. Er wollte ihr umgehend folgen, doch Mei hielt ihn sofort zurück.
„Lass sie gehen. Gib ihr diesen kurzen Moment allein.“ Brüskiert starrte er die ältere Frau an und biss sich auf die Zunge. War es wirklich richtig, sie jetzt alleine zu lassen?
Die Worte ihrer wundervollen Enkeltochter hatten sehr viele Gäste berührt. Doch als sich Mimi auch am Abend nicht wieder blicken ließ, machte sich Taichi wirklich große Sorgen. Als auch die letzten Personen die Trauerfeier verlassen hatten, räumten Sae und Mei noch etwas auf, bevor sie die zahlreichen Blumenkränze und Sträuße neben dem Sarg ordneten. Morgen früh würde die Einäscherung stattfinden und über die Nacht, würde Kimiko hier verweilen. Schließlich verabschiedete sich auch der junge Yagami und machte sich auf den Weg zurück zum Haus. Es fühlte sich merkwürdig an dieses Haus zu betreten und zu wissen, dass es mit einem Mal so unendlich leer war.
„Mimi? Bist du hier?“ rief Tai, während er in die Küche trat und seinen Hausschlüssel auf den Tisch legte.
Sein Blick fiel auf eine kleine Papiertüte mit dem Emblem der örtlichen Apotheke. Daneben lag ein Kassenzettel. Besorgt starrte er auf das bedruckte Papier.
„Lippenbalsam, Aspirin, 5 Mal....“ seine dunkelbraunen Augen weiteten sich unnatürlich und er musste heftig schlucken. „Was? Wie bitte?“ erneut las er den Kassenzettel durch und wurde mit einem Mal ganz nervös.
„Mimi? Mimi! Wo bsit du?“ sein Rufen wurde immer ungehaltener und er eilte durch das Wohnzimmer, bis er vor der Badezimmertür zum stehen kam.
Leise hörte er ihr Schluchzen und betätigte zunächst vorsichtig die Türklinke, doch es war abgeschlossen. „Mimi? Ist alles in Ordnung? Was ist mit dir? Bitte mach auf, sprich mit mir...“
„Nichts ist in Ordnung! Geh weg und lass mich alleine!“ fauchte sie wütend.
Langsam ging er vor der Tür auf die Knie und seufzte. „Ich lasse dich jetzt nicht alleine! Das was du gesagt hast auf der Trauerfeier, dass du deinen Vater vermisst und wie sehr es dich verletzt...du solltest diesen Schmerz nicht alleine tragen und außerdem....was liegt da auf dem Küchentisch?“
Erschrocken starrte Mimi gegen die Tür. Hatte sie etwa die Quittung in der Küche liegen gelassen? Nachdem der erste Test positiv gewesen war, ist sie sofort zur nächsten Apotheke und hat noch mehr eingekauft. Doch leider zeigten diese kein anderes Ergebnis. Warum ging einfach alles schief? Warum saß er da jetzt vor dieser Tür? Warum konnte sie nicht einfach im Erdboden versinken?
Die unendlich wirkende Stille endlich durchbrechend, wagte Taichi die alles entscheidende Frage. „Mimi, bist du etwa schwanger?“
Plötzlich riss sie die Badezimmertür auf und Taichi konnte ihr nur knapp ausweichen, als sie wütend über ihn hinweg schritt.
„Warum steckst du deine Nase immer Angelegenheiten, die dich überhaupt nichts angehen?“ schrie sie wütend, als ihr versehentlich etwas aus der Hand fiel.
Als sie sich auf den Boden kniete, um die kleinen gestrickten Babysöckchen aufzuheben, konnte Taichi eindeutig erkennen, dass Mimi stundenlang geweint haben musste. Auch jetzt rannen ihr noch riesige Tränen über die bereits völlig gerötete Haut. Sachte ergriff er ihre Hand und kniete sich ebenso zu ihr. Liebevoll sah er ihr in die Augen und wischte mit seinem Daumen ihre Wangen trocken.
„Warum so wütend? Wenn es tatsächlich so wäre, dann wäre es doch etwas wundervolles. Ich würde mich sehr darüber freuen. Ich liebe dich doch und genauso so sehr würde ich ein gemeinsames Baby lieben.“
Mit aller Kraft schlug sie seine Hand von sich weg. Ihre Augen waren gezeichnet von Missachtung und unbändiger Wut.
„Mit deiner leichtsinnigen Verantwortungslosigkeit kannst du so was natürlich einfach so daher sagen. Aber Fakt ist doch, dass ich nichts besitze, kein Geld, keinen Job, keine Wohnung und von Liebe allein kann ein Kind nicht leben!“
Erschrocken über ihre Kaltherzigkeit wich Taichi etwas zurück. „Du hast doch aber mich! Ich werde dich immer halten und euch immer beschützen! Du bist nicht alleine. Ich will dieses Kind und wenn wir beide ehrlich sind, haben wir es doch darauf angelegt. Wir sind keine Teenager mehr und unterschwellig wusstest du genau, dass du deine Pille nicht genommen hast und ich habe bewusst überhaupt nicht nachgefragt. Wir beide sind in dieser Nacht eins geworden. Wir haben es provoziert, weil wir insgeheim wissen, dass wir eine Familie sein sollten. Das wir zusammengehören! Ich liebe dich und unser Kind in deinem Bauch!“
Zitternd fuhren ihre schmalen Finger durch ihr braunes Haar. Immer wieder versuchte sie diesen Gedanken von sich zu schieben, seine Worte zu vergessen. Aber das was er gerade zu ihr gesagt hatte, war so viel mehr als bloße Worte. Doch sie konnte es einfach nicht. Sie würde ihm jetzt wehtun müssen, denn es würde die einzige Möglichkeit sein, ihn von diesem Kind und dem Gedanken einer gemeinsamen Familie zu lösen.
„Es ist mein Körper und ich will dieses Baby nicht! Wer gibt dir die Macht über mich zu entscheiden und außerdem ist es überhaupt nicht zu hundert Prozent klar, ob ich schwanger bin. Ich müsste zuvor ins Krankenhaus und einen Ultraschall machen lassen...“
Das was sie jetzt sagte, brach ihr selbst das Herz. Aber es musste sein, er musste diesen Gedanken los lassen, denn wie sollten sie jemals eine Familie werden?
„Ach und Taichi, woher willst du überhaupt wissen, dass du der Vater bist?“