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Erwachen

Hannah Murphy war anders als ich. Sie trug ihr Haar lang und dunkel, mit Stirnfransen, war Läuferin, und hatte dennoch ein paar Kilo zu viel auf den Hüften, war gut in Mathematik, und hatte einen kleinen Bruder. Wir hatten den gleichen Geburtstag. Sie wohnte knapp 10 Kilometer von meinem letzten Wohnort entfernt, von dem Ort wo ich gestorben war. Jakobs Wohnung.

Es war dunkel um mich herum, und ich verstand lange nicht, warum. Hannahs Zeitgefühl- sie hatte ihres wohl noch nicht verloren- nach war es morgen. Endlich verstand ich, und öffnete die Augen, erschrocken von dem, was ich vorfand.

Ich war Hannah Murphy. Anstatt zu sterben, war ich zu ihr geworden. Zu einer Person, von der ich noch nie etwas gehört hatte.

Ich war zu verwirrt, um zu hinterfragen, wie ich in ihr Bett, in ihren Körper gekommen war. Ich drehte das Licht auf und sah mich um. Es war halb sieben, der Raum war sauber, über einem Schreibtischsessel hingen Hnnahsa Sachen für den Tag, schon bereitgelegt. Ich stieg unter die Dusche, die ich sofort fand, und putzte Hannahs, meine Zähne, zog ihre Sachen an, die nun meine waren- ein grüner Pullover, blaue Jeans, rote Socken, ein rotes Haarband. Im Bewusstsein, dass ich wohl bald zur Schule musste, zur Schule, wo ich lange nicht mehr gewesen war, aber Hannah heute eine Arbeit über technische Physik schrieb, für die sie gelernt hatte. Als ich aus dem Badezimmer kam, lagen auf ihrem Schreibtisch Karteikarten. Ich überflog sie, und kannte ihren Inhalt genau. Ich war Hannah Murphy. Ich wusste, was sie wusste.

Leider blieb keine Zeit, die Bücher genauer zu betrachten, oder alles andere, aber der Blick aus dem Fenster schien unglaublich bekannt, so wie... nun ja, der Blick aus dem Fenster des Zimmers, in dem man jahrelang gelebt hatte. Auf dem Weg in die Küche ging ich noch einmal in das Badezimmer, blieb kurz vor dem Spiegel stehen, wunderte mich, ob ich das war, betastete mein Gesicht, zog die Konturen meiner Wangenknochen nach. In der linken Hälfte des Spiegelschranks fand ich Make-up, Puder und Kajal in anderen Farben, als ich sie verwendet hatte, aber zu meinem neuen Gesicht passten sie erstaunlich gut. Hannahs Hände waren präzise, sie zitterten nicht, im Gegensatz zu meinen alten.

Während ich auf den Toast wartete, warf ich einen Blick in die Zeitung, die auf dem Tisch lag. Außer Hannah war niemand daheim, ihr Bruder hatte bei ihrer Großmutter übernachtet, mit der sich Hannah nicht so gut verstand. Kurz überlegte ich, und fand heraus, dass sie wohl bisexuell war, und sich vor kurzem von ihrer Freundin getrennt hatte. Ihre Eltern waren in Tschechien, auf Geschäftsreise. Sie besaßen eine Tischlerei.

Auf der letzten Seite der Chronik las ich eine Story über jugendliche Drogenkonsumentinnen. Eigentlich überflog ich ihn nur, bis ich meinen Namen laß. Julia Maurer. Ich las genauer.

"...Während die meisten Drogenkonsumentinnen mit sechzehn erst abhängig werden, oder noch später, gab es für Julia nur noch Drogen. Ihr Freund, Jakob R., selbst abhängig, versuchte, sie vom Freitod abzubringen, blieb aber erfolglos. Julia Maurer starb letzte Nacht an einer Überdosis in der Wohnung ihres Freundes, welche sie Tage davor aufgesucht hatte. Sowohl psychisch als auch physisch war sie stark abhängig, und hatte keinen anderen Lebensinhalt mehr als Drogen. Ihr Tod ist sowohl tragisch als auch erschreckend..."

Ich las nicht weiter. Dem Artikel nach, so schlecht er auch geschrieben war, war ich tot. Tot. Und nicht in Hannah Murphys Körper. Der Toast sprang aus dem Toaster. Er war verbrannt. Irgendetwas sagte mir, dass das Hannah nicht das erste Mal passierte. Ich seufzte, bestrich ihn mit Erdnussbutter, die ich nie ausstehen konnte, mir aber erstaunlich gut schmeckte, und verließ die Wohnung. Instinktiv stieg ich erst in den Bus, dann in die Straßenbahn, und stand schließlich vor einem schmucklosen Gebäude. 'Vienna International School', verriet mir das Schild über dem Eingang. Erst jetzt fiel mir auf, dass Hannahs gesamter Gedankengang auf Englisch war. Ihr Deutsch war gut genug, um den Zeitungsartikel zu lesen, aber brüchig. Sie wechselte häufig den Wohnort. Und sie lebte in Wien.

Bevor ich meine Gedanken weiter ausführen konnte, kam ein etwa zwölf Jahre alter Junge auf mich zu. Jarov. Mein Bruder. Er begann, mich vollzuplappern, und brachte mir ein Stück von Omas Kuchen mit. "Ich soll fragen, ob du noch immer lesbisch bist."

"Ich war nie lesbisch."

"Ich sag ihr also ja?"

Ich wirbelte ihn durch die Luft, und seinem Quietschen nach war das die angemessene Reaktion. Ich hatte richtig geraten.

Wir gingen gemeinsam in das Gebäude, verabschiedeten uns, und ich betrat den Prüfungsraum.

Ich schrieb die Arbeit über Dinge, von denen ich noch nie gehört hatte, in säuberlicherer Handschrift als ich es je vermocht hatte, und war früher fertig, als ich es je zustande gebracht hätte. Hannah überraschte mich. Sie war so anders.

Als ich abgab, wartete Marie auf mich, meine beste Freundin in Wien, gebürtige Kanadierin, aber französischer Abstammung, zierlich und blond, in einem roten Kleid. Wir gingen Mittagessen, ich gab Marie meinen Kuchen, es war wohl das, was Hannah normalerweise tat. Während ich in meinem Essen herumstocherte, erzählte Marie von Jean, einem anderen Franzosen, der laut ihr die wunderbarste Person auf dieser Erden sein musste. Als sie mich nach meinen letzten Abenteuern in Sachen Liebe fragte, zuckte ich nur die Schultern. Es musste Montag sein. Als sie neugierig blieb, erzählte ich ihr von Jakob, und ließ dabei seine Abhängigkeit von Drogen und unsere lange Beziehung aus. Ausführungen von Hannahs letzter Beziehung würden Marie nur langeweilen. Ich erzählte von den ersten Tagen unserer Beziehung, und schwächte sie ab, so dass es vernünftig klang, als ich erklärte, dass er leider das Land verlassen hatte. Es klang zumindest vernünftiger, als "Marie, ich heiße eigentlich Julia Maurer, und bin drogensüchtig. Jakob ist mein Freund, und auch abhängig. Hey, Lust ihn zu besuchen?"

Irgendwie überstand ich den Schultag, begleitete Marie ein Stück des Weges, die offenbar nichts seltsames an mir feststellen konnte, und verzog mich in die wiener Hauptbibliothek, der einzige Ort in Wien in dem ich mich je wirklich daheim gefühlt hatte, egal ob als Julia oder Hannah. Statt die Annehmlichkeit einer warmen, halbwegs sauberen Toilette zu genießen oder mir mit Zeitschriften den Tag zu vertreiben, griff zu einem Werk von Schnitzler, und lieh es aus, einen Ausweis hatte ich zum Glück dabei.

Ich schaffte es nach Hause, setzte mich in den Garten- meine Eltern waren offenbar reich genug, um sich Haus und Garten in Wien leisten zu können, laut Hannahs Erinnerungen stimmte diese Annahme- und las. Das Buch, welches ich in der Schule als langweilig empfunden hatte, faszinierte mich nun. Mein Handy läutete. Eine Melodie von Bach. Hannah war offenbar gebildet, aber zu klug, um mehr Freundinnen als Marie zu haben, denn der Anruf kam von meiner Mutter, die sofort in Spanisch auf mich einredete. Ich verstand sie, obwohl ich felsenfest davon überzeugt war, dass sich mein Spanisch auf Si und Muchas Gracias beschränkte, in furchtbarer Aussprache. Zu meiner Überraschung beherrschte ich die Sprache offenbar fehlerfrei und mit korrekter Aussprache.

Meine Mutter ließ mich nur wissen, dass sie planmäßig am nächsten Tag nach Hause kommen würde. Ich bereitete mich darauf vor, meine Eltern zu sehen- der Vater Engländer, groß, schlank, intelligent, die Mutter klug, zierlich und Argentinierin. Ihre Bilder sah ich klar vor mir, auch wenn ich mir sicher war, dass ich sie noch nie mit eigenen Augen gesehen hatte.

Wie in Trance aß ich zu Abend, las etwas und putzte die Zähne. Während ich in meine Schlafsachen schlüpfte, ein T-Shirt für Mädchen, gut passend, ganz anders als Jakobs, und Hosen, informierte ich mich mehr und mehr über mein Leben. Es schien interessant, ich hatte schon viel von der Welt gesehen.

Während ich im Bett lag, dachte ich darüber nach, ob ich nun Hannahs Leben gestohlen hatte, und Hannah gestorben war, oder ob es Hannah erst gab, seit ich tot war. Tot. Vielleicht war das ja der Tod, vielleicht ging man ja von Welt zu Welt. Der Gedanke beruhigte mich, bis sich die Frage aufdrängte: Warum konnte ich mich an mein altes Leben erinnern? Und: Wo war die echte Hannah? Ich wälzte mich unruhig hin und her, schlief aber zum ersten Mal seit langem schnell und ruhig ein.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  CatariaNigra
2015-08-16T04:47:38+00:00 16.08.2015 06:47
Dieses Kapitel fand ich total interessant! Die Story scheint spannend und ist gut geschrieben, ich bleibe mal dran!


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