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Prelude of Shadows

Die Team Shadow Chroniken
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo ihr Lieben!

Ich wünsche euch allen frohe Weihnachten nachträglich, einen schönen Sylvesterabend und einen guten Rutsch ins neue Jahr! Ryans erstes Abenteuer neigt sich langsam den Ende, ich hoffe aber, euch mit Jayden und Chris genauso unterhalten zu können :D

LG, yazumi-chan Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo ihr Lieben!

Es tut mir wahnsinnig leid, dass es so lange gedauert hat, aber ich war kreativ ein wenig am Ende und brauchte eine Pause, um wieder neue Motivation und Inspiration zu tanken. Nach diesem hier trennt Ryan nur noch ein Kapitel vom Ende seines ersten großen Abenteuers und ich freue mich darauf, es mit euch zu teilen. Ich weiß noch nicht, wann genau ich Kapitel 8 hochladen werde, aber es wird zeitnah geschehen, das verspreche ich.

Eure yazumi-chan Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo ihr Lieben,

dies ist das letzte Kapitel für dieses Jahr. Ich nehme mir über Weihnachten und Silvester eine kleine Auszeit mit Freunden und Familie :) Am 08.01.2022 geht es weiter.
Ich wünsche euch allen eine besinnliche und schöne Zeit und einen guten Rutsch ins neue Jahr. Bleibt gesund!

Eure yazumi-chan Komplett anzeigen

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Präludium

Kanto, dreizehn Jahre nach Reds Verschwinden.

Team Rocket breitet sich wie ein Geschwür in allen Gesellschaftsebenen aus. Ihre Diebstähle haben zahllose Trainer ihrer Pokémon beraubt. Angst und Misstrauen begleiten ihre Rückkehr.

In Prismania City findet sich eine Gruppe Trainer zusammen, angezogen von dem Wunsch, auf Gleichgesinnte zu treffen. Ihre Reisen begannen vor vielen Jahren, in verschiedenen Regionen, doch ihre Wege kreuzen sich hier. Neun Jugendliche, jeder einzelne eine Trainerkoryphäe, geeint durch ihr Desinteresse an Orden und den Gerechtigkeitssinn einer jungen Reporterin.

In ihrer Vergangenheit liegt das Geheimnis ihres Erfolgs, ein Erfolg, der hart erkämpft wurde. Dies sind ihre Geschichten, bevor sie zu Team Shadow wurden und Team Rocket aus Kanto und Johto vertrieben.

Dies ist Prelude of Shadows.

Ryan – Akt 1, Szene 1

9 Jahre vor Team Shadows Gründung
 

[JUSTIFY]Es gab kein Internet.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Vergiss Internet, es gab nicht mal einen Computer. Ryan saß im Schneidersitz auf dem Sofa ihres frisch bezogenen Baumhauses und kontemplierte das Ende seines Lebens. Gute Luft, sagten sie. Bessere Wohnverhältnisse. Arbeit für ihre Mutter im Klima-Institut auf Route 119.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan wollte keine gute Luft. Er wollte einen Computer. Und hier saß er, auf dem einzigen Möbelstück, das seine Eltern aus ihrer alten Wohnung in Laubwechselfeld mitgenommen hatten, neben einem Baumstamm, der durch ihr Wohnzimmer ragte und ihn mit seiner schieren Anwesenheit verhöhnte.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Es war kein guter Tag für Ryan und er hasste Baumhausen City vom ersten Moment an mit einer Leidenschaft, die ihn selbst überraschte.[/JUSTIFY]

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[JUSTIFY]Tag Drei. Immer noch kein Internet.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Ryan lag in seinem Zimmer auf dem Rücken, umringt von Kistenstapeln und starrte an die Decke. Holz. War klar. Merkten die Bewohner überhaupt, wie heuchlerisch es war, in einem Baumhaus aus Holz zu leben? Wo war die Logik? Sei eins mit der Natur, aber erst, nachdem genügend Bäume abgeholzt wurden, um dir ein Baumhaus zu bauen? Kannibalismus, das war es.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Er hatte sich bemüht, im Pokécenter eine Petition für Internetzugang zu organisieren, der auch die privaten Haushalte abdeckte. Schlimm genug, dass er dafür über wacklige Hängebrücken balancieren musste, nur um überhaupt wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Diese Stadt war ein Witz, eine absolute Blamage, und er steckte mittendrin und konnte nicht mal problemlos sein eigenes Haus verlassen.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Als er heute Morgen trotz aller Hindernisse ein zweites Mal ins Pokécenter gegangen war, um den Stand seiner Petition zu überprüfen, war seine Stimme nicht nur die erste, sondern auch die einzige geblieben.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Oh, es wurmte ihn, aber vielmehr entrüstete ihn das Verhalten von Schwester Joy, die ihm durch sein braunes Haar gewuschelt hatte, so als würde ihm das irgendwie mit seinen Problemen helfen. Sie alle dachten, er wäre ein Kind. Zwölf Jahre lang hatte die Welt Zeit gehabt, zu begreifen, dass er nicht wie andere Kinder war.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Er brauchte einen Computer.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Ein Klopfen riss ihn aus seinen Fantasien von Bildschirmen, die sein Zimmer mit blauem Licht fluteten und Tastaturen, die unter seinen Fingern klackerten—[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Ryan, Schatz?“ Seine Mutter. „Kann ich reinkommen?“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Wenn du musst“, murmelte Ryan und wartete, bis die Holztür sich öffnete und die Füße seiner Mutter über den Holzboden in seine Richtung patschten. Sie hatte sich viel zu schnell an all das hier gewöhnt. Schon jetzt lief sie wie ein Großteil der Stadtbevölkerung barfuß durch das Haus, um die positive Energie des Baums in sich aufzunehmen. Es war so unfair, dass diese Stadt ihren Wünschen entsprach, wenn sie ohnehin bald alle Werktage im Klima-Institut verbringen würde. Es war nicht fair.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Du hast ja noch gar nicht ausgepackt“, stellte sie fest und ließ ihren Blick durch den kleinen Raum mit der einen runden Seite gleiten. Ihre Stimme war ganz ruhig. Liebevoll. Früher hätte sie ihn angefahren, wenn er nach drei Tagen noch immer nicht ausgepackt hätte, aber seit sie hier waren, schien sie tiefenentspannt. Unter normalen Umständen hätte Ryan diese neue Schwäche in ihren Erziehungsmethoden sofort ausgenutzt, aber hier, in Baumhausen Kaff, war es nur eine weitere Veränderung, die sein früheres Leben überschrieb.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Warum konnte nicht alles so sein wie früher? Warum musste er sich fühlen, als wäre er nicht nur in einer anderen Stadt, sondern in einer anderen Familie?[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Ryan.“ Er drehte den Kopf und schaute zu ihr hinauf. Helen Bittner war ihr Leben lang dick gewesen, aber selbst das würde sich wahrscheinlich bald ändern, sobald sie ihre neue Nuss- und Beerendiät zur Entgiftung begann. „Ich habe das Gefühl, dass du dich verschließt, seit wir hier sind“, sagte sie und setzte sich neben ihn auf eine der Kisten. Ihr langes, braunes Haar fiel ihr über eine Schulter und Ryan ging fast durch die Decke, als seine erste Assoziation zu der Farbe nussbraun war.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Ich will hier weg“, sagte er und zwang sich, ihren Blick zu erwidern. „Es gibt hier kein Internet, ihr weigert euch, mir einen Computer zu kaufen und die gesamte Baumfreundmentalität in dieser Stadt macht mich krank.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Sie sah verletzt aus und Ryan atmete erleichtert aus. Dieser Blick hatte sich immerhin nicht verändert. „Ist es so schlimm für dich, mit uns einen Neustart anzufangen?“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Das ist kein Neustart“, sagte er sofort. „Bei einem Neustart verändert sich nicht alles. Was ihr macht, ist eine komplette Umstrukturierung unseres gesamten Lebens. Aber ich mochte mein Leben! Ich mochte Laubwechselfeld, und den Computer in unserem Büro und die Schwester Joy dort hat mich gekannt und nicht behandelt wie ein… ein Baby.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Du weißt, dass die Asche in der Luft deinem Vater große Lungenprobleme bereitet hat“, sagte seine Mutter streng, aber nicht ohne Mitgefühl. Das war auch eine Seite, die Ryan von ihr kannte und er begann zu hoffen. Vielleicht war noch nicht alles verloren.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Ich weiß, aber wir hätten auch nach Malvenfroh City ziehen können. Das ist zwar ein weiterer Weg, aber dort gibt es immerhin Internet.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Nicht alles im Leben dreht sich um Technik und Computer“, erwiderte seine Mutter. „Du hast in deiner Kindheit schon viel zu viel Zeit in verdunkelten Zimmern verbracht und deine Reaktion jetzt zeigt mir, dass es richtig war, herzukommen.“ Sie stand auf. „Du musst lernen, dich auch mit dir selbst zu beschäftigen und nicht so abhängig von diesem technischen Schnickschnack zu sein. Es wird dir gut tun, hier in der Natur aufzuwachsen. Und jetzt pack deine Kisten aus.“ Sie marschierte aus dem Zimmer.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Immerhin verhält sie sich wieder so wie früher, dachte Ryan, bevor er sich an seinen Umzugskartons zu schaffen machte. Der Streik hatte seinen Zweck erfüllt. Seine Mutter war auf ihn zugekommen, es war zu einer Aussprache gekommen und ab jetzt hatte es wenig Sinn, sein Zimmer so leer stehen zu lassen wie zuvor.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Das Ergebnis der Diskussion, nun, daran musste er noch arbeiten.[/JUSTIFY]

Ryan – Akt 1, Szene 2

9 Jahre vor Team Shadows Gründung
 

[JUSTIFY]Ryan saß auf der kleinen Holzveranda seines neuen Zuhauses, ließ die Füße baumeln und warf mit Eicheln nach den Taubsi, die im Waldstück unter ihm nisteten. Zwei Wochen. Zwei Wochen redete er nun schon auf seine Eltern ein und es hatte sich nichts getan![/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Seine Petition war wegen mangelndem Interesse abgebrochen worden, ihm fehlten weiterhin Internet und ein Computer und er litt unter enormen Schlafentzug. Sogar mehr als gewöhnlich. Das Zwitschern der Taubsi weckte ihn, bevor er richtig eingeschlafen war und der Rat seiner Mutter, einfach früher ins Bett zu gehen, war so lachhaft, dass Ryan ihre Worte nicht einmal mit einer Antwort würdigte.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Kurzum, sein Leben glich einer ausgewachsenen Apokalypse.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Ryan stöhnte und ließ sich platt nach hinten auf den Rücken fallen. Er musste hier weg, egal wie. Wenn er auch nur einen Tag länger Beerensuppe essen musste, lief er Amok. Während er in den ekelhaft kaugummiblauen Himmel starrte, ließ Ryan seine Gedanken schweifen.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]In Baumhausen City gab es genau einen Computer, und der besaß keinen Internetanschluss. Das Pokémonlagerungssystem verfügte schließlich über sein eigenes Netzwerk und Internet war daher moderner Schnickschnack, wie Schwester Joy nie müde wurde, ihm zu erklären. Als Minderjähriger gestand sie ihm nicht mal Zugang auf die einfachsten Textverarbeitungsprogramme zu und die beiden Male, die Ryan das Passwort ihres Hauptaccounts geknackt hatte, stand fünf Minuten später sein Vater im Pokécenter und schleppte ihn unter farbenfrohen Drohungen zurück nach Hause.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Nein, wenn er dieser technikhassenden Hölle entrinnen wollte, musste er von hier verschwinden. Ryan vermutete, dass das Klima-Institut Internet und jede Menge Computer hatte, aber sein Vorschlag, Helen zu ihrem Arbeitsplatz zu begleiten, war prompt abgeschmettert worden. Blieben noch Malvenfroh und Seegrasulb City. Beide Städte waren einige Tagesmärsche entfernt, wenn man wie Ryan kein Fahrrad besaß.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Den Weg nach Malvenfroh City über Route 119 kannte Ryan, aber wenn er sich noch einmal durch die Steilhänge mit ihren mörderischen Stiegen oder das brusthohe, dauernasse Gras voller tollwütiger Insekten und Dachse schlagen musste, strangulierte er sich lieber gleich mit einer Liane. Er durfte nicht vergessen, dass er allein sein würde. Ohne Eltern, ohne einen Wildranger oder Guide, der ihn vor wilden Pokémon beschützen konnte.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Ihm blieb also nur übrig, die ihm unbekannten Routen 120 und 121 abzuklappern und zu hoffen, dass er heil in Seegrasulb City ankam. Ohne Pokémon würde die Reise äußerst beschwerlich sein, aber wenn Ryan auf etwas keine Lust hatte, dann war es, sich zusätzlich zu seinem Dilemma noch ein Pokémon aufzuhalsen. Wenn er nur daran dachte, wie viel Arbeit diese Viecher machten![/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Ruckartig setzte Ryan sich auf und warf einen prüfenden Blick ins Haus. Seine Mutter war auf der Arbeit und würde nicht vor Freitagabend zurück sein. Das gab ihm vier Tage, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Und was seinen Vater betraf… nun, der konnte gerne weiter seine Waldspaziergänge genießen und bemerkte Ryans Verschwinden hoffentlich nicht, bevor der über alle Berge war. Und überhaupt, wer schwärmte ihm denn seit ihrer Ankunft vor, dass er an die frische Luft gehen und sich mehr wie ein normales Kind verhalten sollte?[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Ryan schnaubte und verschwand in sein Zimmer, um zu packen. Er konnte nicht glauben, dass er eine mehrtägige Reise unternehmen musste, nur um einem seiner Grundbedürfnisse nachzukommen.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Der Rucksack war schnell gepackt. Skeptisch sah Ryan auf die wenigen Wertgegenstände herab, die er mitnehmen würde. Sein Sparfloinkel lag zertrümmert auf den Dielen, den Inhalt steckte er in seine Geldbörse. Darüber stopfte er eine Regenjacke, sowie die paar Tüten abgelaufener Snacks, die er vor der Ausmistaktion seiner Mutter gerettet hatte. Er weigerte sich, die Lebensmittel aus der Küche anzufassen—lieber verhungerte er.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Seinen wichtigsten Besitz verstaute er in dem kleinen Geheimfach in der Rückseite. Der USB-Stick enthielt Installationsassistenten, Textdokumente, selbstgeschriebene Programme und Viren und gescannte Lehrbücher über Mathematik, Informatik, Biologie, Chemie und Physik, die ihm die Schwester Joy aus Laubwechselfeld besorgt hatte, sowie PDF-Dateien aller möglichen Baupläne für technische Projekte. Ryan wollte sich schon immer mal seinen eigenen Computer zusammenbasteln, interessierte sich inzwischen jedoch auch für andere technische Gerätschaften. Das angesparte Geld in seiner Börse reichte kaum für den schlechtesten Laptop aller Zeiten, mal abgesehen davon, dass er zu jung war, um die Bauteile legal zu erstehen, aber es war besser als nichts.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Entschlossen schulterte Ryan den Rucksack, lief in die Küche und schnappte sich eine der Post-It-Notes, die seine Mutter gerne an den Kühlschrank klebte, um ihm seine Aufgaben für die Woche aufzutragen. Kurz dachte er darüber nach, wie er sein Verschwinden am einfachsten erklären konnte, dann kritzelte er schon seine Nachricht.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY] [/JUSTIFY]

Hallo Mama, hallo Papa. Ich werde losziehen, um mein eigenes Pokémonabenteuer zu erleben. Macht euch keine Sorgen, ich melde mich bald.

—Ryan

 

 

[JUSTIFY]Da. Das war vage und genau das, was seine Mutter sich wünschte. Wenn sie seine Pokémonfreunde sehen wollte, konnte er später immer noch lügen und vortäuschen, sie seien auf der Reise gestorben oder so … ihm fiel schon etwas ein.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Hochzufrieden mit sich stopfte Ryan seinen Wohnungsschlüssel in die Hosentasche, klebte den Zettel an den Kühlschrank, wobei er sich zu seinem großen Missfallen immer noch ziemlich weit emporrecken musste, und verließ das Haus.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Pokémonabenteuer. Dass er nicht lachte.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Mit verbissener Miene balancierte Ryan über die Hängebrücken, die Baumhausen City wie ein gewaltiges Webaraknetz verbanden und kletterte wenige Minuten später die Leiter an der Ostseite hinab. Das dichte Moos federte unter seinen Schuhen. In Baumhausen City hielt niemand es für notwendig, den Bewuchs in der Stadt aufzuhalten und sich um ordentliche Straßen oder Wege zu bemühen und so wucherte das nervige Grünzeug überall.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Ein Blick in den Himmel verdüsterte Ryans Laune weiter. Dunkle Wolken zogen von Westen her auf; musste seine Mutter ausgerechnet heute ein Experiment mit ihrem komischen Wetterpokémon machen?[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Er hatte kaum die bewohnten Baumriesen hinter sich gelassen, da platschten schon die ersten Tropfen auf seine Nase und formten Schlieren auf seiner Brille. Nur wenige Sekunden später setzte der Regen ein und durchnässte Ryan bis auf die Unterhose, bevor er auch nur die Gelegenheit hatte, seine Regenjacke anzuziehen.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Es erforderte Ryans gesamte Selbstbeherrschung, nicht auf der Stelle umzudrehen und sein Vorhaben aufzugeben. Während er mit über dem Kopf zusammengeschlagenen Armen durch das spritzende Moos rannte, das sich wie ein Schwamm mit dem kalten Wasser vollsog und mühelos seinen Hosensaum tränkte, dachte er an die Wegstrecke, die ihn bis nach Seegrasulb City erwartete. Er würde mindestens fünf Tage unterwegs sein, höchstwahrscheinlich mehr. Und all das nur, weil seine Mutter ihm keinen Computer zugestehen wollte.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Ryan verfluchte die Welt und sein Schicksal und rannte weiter.[/JUSTIFY]

Ryan – Akt 1, Szene 3

9 Jahre vor Team Shadows Gründung
 

[JUSTIFY]Das einzig Gute, was Ryan an seiner jetzigen Situation finden konnte, waren die Chips. Nachdem der Regen gegen Abend hin abflaute, suchte er sich einen halbwegs flachen Stein am Wegesrand und machte es sich darauf mit einer Tüte seines Lieblingssnacks bequem. Während er Hand um Hand des fettigen Zeugs in seinen Mund stopfte, beobachtete er die Wolkenformationen, die sich ungewöhnlich schnell auflösten. Keine Frage, seine Mutter war für den Platzregen verantwortlich. Wie hieß das Pokémon noch, dass sie im Klima-Institut untersuchten? Formeo oder so.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Nachdenklich knüllte Ryan die Verpackung zusammen und ließ sie neben sich ins Gras fallen. Ein Mülleimer war weit und breit nicht zu sehen und wenn man ihn fragte, vertrug die Umwelt ein bisschen Aluminium ohne Probleme.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Du solltest deinen Müll nicht einfach liegenlassen“, erschallte plötzlich eine weibliche Stimme. Ryan fuhr herum. Ein Mädchen, vielleicht vierzehn oder fünfzehn, duckte sich unter einigen Tannenästen hindurch, während sie aus dem Waldstück hinter ihm stapfte. Ihr roter Kapuzenpullover hob sich grell gegen das tiefe Grün der Nadelbäume ab und ein dunkelbrauner Pagenschnitt klebte nass an ihrem Kinn.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Ich wüsste nicht, weshalb ich mir von dir sagen lassen sollte, was ich tun kann und was nicht“, sagte Ryan automatisch. Er wollte noch etwas hinzufügen, doch da leuchtete ein Paar blutroter Halbmonde aus dem dunklen Dickicht auf. Ein zottiges Magnayen trat lautlos aus den Schatten und kam leise knurrend neben seiner Trainerin zum Stehen. Ryan schluckte unauffällig und verkniff sich jedweden bissigen Kommentar.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Das Mädchen bückte sich, hob Ryans Chipstüte auf und stopfte sie in ihre eigene Hosentasche. „Der Boden unter unseren Füßen ist der einzige Lebensraum, den wir haben“, fuhr sie fort und nahm mit verschränkten Armen vor ihm Aufstellung. „Wir dürfen unsere Existenz nicht auch noch selbst gefährden.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Die Bewohner von Floßbrunn kommen auch ohne Erdboden gut aus“, murmelte Ryan halblaut, ohne den Blick von dem Magnayen zu nehmen. So wie es ihn betrachtete, war es entweder sehr hungrig oder genauso tollwütig wie die Geradaks auf Route 119.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Sein Argument ließ das Mädchen immerhin rot anlaufen, was ihm ein klein bisschen Genugtun verschaffte. „Ich fordere dich zu einem Kampf heraus“, fauchte sie. Ryan riss den Kopf hoch.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Was? Aber ich habe nicht mal ein Pokémon! Soll ich mir einen Boxkampf mit deiner Hyäne liefern oder wie hast du dir das vorgestellt?“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Kein Pokémon?“ Ihre Züge entgleisten. Ungläubig umrundete sie Ryan und nahm ihn von allen Seiten in Augenschein. „Was machst du dann hier?“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Es wird wohl noch erlaubt sein, als Normalsterblicher von Stadt zu Stadt zu ziehen“, erwiderte Ryan genervt und zog den Rucksack enger an sich. Wofür hielt sich diese Trainerin eigentlich?[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Aber es laufen hier sehr starke wilde Pokémon durch das Gras, ganz zu schweigen von anderen Trainern“, fuhr das Mädchen unbeirrt fort.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„So wie du, meinst du?“, fragte Ryan trocken. Ertappt machte sie einen Schritt zurück.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Ich konnte ja nicht ahnen, dass du alleine und ohne Pokémon unterwegs ist“, murmelte sie und kraulte versöhnlich ihr Magnayen hinter den Ohren, bevor sie es zurückrief. „Und wohin reist du?“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Nach Seegrasulb City“, sagte Ryan. „Selbst?“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Oh, ich sammle Orden“, sagte sie ausweichend, während sie sich auf dem Stein neben Ryan niederließ. Er rutschte ein Stück in die andere Richtung. „Mein Name ist übrigens Corinna.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Ryan“, stellte er sich brüsk vor. „Wenn du Orden sammelst, müsstest du eigentlich durch Baumhausen City gekommen sein. Was hast du also im Wald gemacht?“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Ich habe Unterschlupf vor dem Regen gesucht“, sagte Corinna und wuschelte mit einer Hand durch ihr Haar. Wasser spritzte in alle Richtungen und sie zog eine Grimasse. „Hat leider nicht so gut funktioniert.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Aber du warst nie in Baumhausen City“, fuhr Ryan unbeeindruckt fort. „Ich wohne dort seit zwei Wochen und habe dich kein einziges Mal gesehen. Wo hast du trainiert? Und da du nun nach Seegrasulb City unterwegs bist, solltest du Wibkes Federorden haben. Zeigst du ihn mir?“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Argh, was ist nur los mit dir?“ Corinna sprang auf und sah ihn vorwurfsvoll an. „Du bist eine richtige Nervensäge. Ich hasse Vorwitztüten wie dich.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Ryan plusterte sich auf. Vorwitztüte? Jetzt hörte der Spaß aber auf. Er war nicht von zu Hause geflohen, um sich von der nächstbesten Möchtegerntrainerin beschimpfen zu lassen.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Du warst seit mindestens zwei Wochen nicht in Baumhausen City“, sagte er und sah gierig dabei zu, wie ihre Miene sich mit jedem weiteren seiner Worte verfinsterte. „Du besitzt Wibkes Orden nicht, sonst hättest du ihn mir gezeigt und ich wette, dass du auch sonst keine Orden gewonnen hast. Nördlich von hier sind nur Wald und Meer, von dort kannst du also nicht gekommen sein. Südlich sind nur Route 120 und 121. Die einzige Stadt in der Nähe ist Seegrasulb City. Du kommst also entweder von dort und läufst aus mir unerfindlichen Gründen die Route erneut ab, oder du hast die Route nie verlassen. Was immer es ist, du willst es geheim halten, sonst hättest du mich nicht angelogen. Daraus wiederum folgere ich, dass du dich vor etwas oder jemandem versteckst oder sogar auf der Flucht bist.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Er hielt kurz inne, um seine Gedanken zu sammeln. Inzwischen war es dunkel und er konnte im blassen Licht der Sterne nur den Umriss von Corinnas Gesicht ausmachen. Sie war seltsam still geworden.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Allerdings hast du mich ohne Umschweife zu einem Kampf herausgefordert, also fürchtest du dich wahrscheinlich nur vor einer bestimmten Gruppe Menschen. Möglich ist auch, dass du persönlich bislang unerkannt geblieben bist und nicht fürchtest, von anderen erkannt zu werden. Du besitzt ein Magnayen, du trägst rot und du bist —“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Eine schnelle Bewegung. Ein Klacken. Die gleißende Reflektion des Mondlichts.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Sprich weiter“, sagte Corinna und presste die Spitze ihres Taschenmessers fest gegen Ryans Kehle, dem augenblicklich kalter Schweiß ausbrach. „Na komm, du hast es fast erraten. Was bin ich?“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Ryan schluckte, seine Haut presste sich schmerzlich gegen die Klinge.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Was war hier los? Er war noch keine drei Stunden von zu Hause fort und schwebte schon in Lebensgefahr? Das sollte nicht möglich sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass gerade ihm so etwas zustieß, war verschwindend gering. Genauso gut hätte er von einem Blitz getroffen oder von einer Herde Tauros über den Haufen getrampelt werden können.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Du bist umweltbewusst“, flüsterte er und lehnte sich ein Stück zurück, um den Druck auf seiner Kehle zu reduzieren, doch Corinna drückte nur fester zu. Mit zittriger Stimme fuhr er fort. „Daraus schließe ich, dass du … ein Mitglied von Team Magma bist. Aber das ist unmöglich.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Unmöglich?“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Team Magma wurde vor nicht mal einem halben Jahr von Team Aqua ausgeschaltet und Gerüchten zufolge war Pokémonchampion Maike höchstpersönlich an ihrer Ausrottung beteiligt. Ganz Hoenn war von Groudons Dürre betroffen. Ihr solltet alle im Gefängnis stecken.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Corinnas Miene verfinsterte sich und sie zeigte die Zähne. „Maike“, spuckte sie und ritzte dabei versehentlich die oberste Hautschicht von Ryans Kehle auf. Er hielt die Luft an. „Wenn sie nicht rumgeschnüffelt und alles ruiniert hätte, wäre Hoenn der Beginn einer neuen Welt geworden! Marc wollte nur die Landmassen vergrößern, damit die Menschheit sich weiter ausbreiten kann, was ist daran falsch?“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Ryan wollte antworten, doch da hörte er ein Rascheln im hohen Gras. Er kniff die Augen zusammen. Da war jemand. „Corinna?“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Aber nein, sie musste sich einmischen und jetzt sind Freya und Arvid und die anderen im Gefängnis!“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Corinna. Bitte.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Ich hasse Maike, ich hasse sie, hasse, hasse —“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Ist ja gut, ich hab‘s verstanden“, zischte Ryan, packte Corinnas Handgelenk und zog ruckartig das Taschenmesser von seinem Hals, bevor das Magmamädchen ihn abstechen konnte. „Jetzt sei still und dreh dich um. Siehst du das?“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Corinna beobachtete ihn einige Sekunden lang argwöhnisch, dann drehte sie den Kopf und erstarrte.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Shit.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Bevor Ryan irgendetwas sagen oder tun konnte, packte sie schon sein Handgelenk, riss ihn von dem Stein und schleifte ihn hinter sich her in den Schutz der Tannen. Sie waren kaum hinter den mächtigen Stämmen verschwunden, da verdichteten sich die Laute von zuvor zu Stimmen. Weiße Lichtkegel hüpften über den plattgetretenen Pfad der Route und leuchteten grell auf, wenn sie in ihre Richtung zeigten. Corinna presste Ryan eng gegen die Tanne, das Taschenmesser wieder an seinem Hals.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Keinen Mucks“, flüsterte sie so nah an seinem Ohr, dass ihr Atem über seine Haut streifte. Alle Härchen auf seinem Körper stellten sich auf.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Wer sind die?“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Corinna gab ein Geräusch von sich, das verdächtig nach einem Fauchen klang. „Aquas. Und wie du ganz richtig vermutet hast, sind sie meinetwegen hier.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Ryan befand, dass er das Schicksal allmählich wirklich, wirklich hasste.[/JUSTIFY]

Ryan – Akt 1, Szene 4

9 Jahre vor Team Shadows Gründung
 

[JUSTIFY]Der scharfe Duft von Harz und feuchten Nadeln kitzelte Ryans Nase. Corinna presste ihn gegen den Baumstamm und so musste er sich auf sein Gehör verlassen. Der schlammige Untergrund schmatzte unter den Schritten der Aqua Mitglieder, die aus dem hohen Gras gekommen waren und nun wenige Meter von ihnen entfernt den Weg abgingen.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Ryans Herz pochte so schnell, dass er kaum Luft bekam. Corinnas Finger, die das Taschenmesser an seinem Hals umklammert hielten, zitterten. Hatte sie Angst oder war sie wütend? Ryan war nicht sicher, aber eines wusste er. Sobald sie wieder alleine waren und Corinna ihn nicht mehr bedrohte, würde er sich seinen Rucksack schnappen und zurück nach Baumhausen City gehen. Route 120 war der größte Fehler seines Lebens und … er konnte nicht fassen, dass er das einmal denken würde, aber lieber schlug er sich mit den tollwütigen Dachsen und mörderischen Steilhängen herum, als noch eine Sekunde länger mit dieser Irren zu verbringen.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Die Stimmen wurden lauter, je näher das Grüppchen kam, bis Ryan schließlich vollständige Sätze aufschnappen konnte.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Immer noch nichts?“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Diese verdammten Magmas … wie schaffen die es, jedes Mal wieder zu verschwinden? Wenn wir nicht bald was vorzuweisen haben, bringt Adrian uns um."[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Ich weiß eh' nicht, warum wir uns so viel Mühe machen. Die Reste von Magma sind über ganz Hoenn versprengt, eine mickrige Handvoll, die nicht wichtig genug war, um an dem großen Coup beteiligt zu sein. Was können die schon ausrichten?“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Frag mich nicht, Erwin. Hey, wartet mal, was liegt da?“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Weiß nicht, sieht aus wie … ein Rucksack?“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Ryans Eingeweide knoteten sich zusammen. Nein. Nein, nein, nein, das war einfach nicht wahr. Er schielte zu Boden, doch natürlich war da nichts. Corinna hatte ihn so abrupt in den Wald gezerrt, dass er keine Gelegenheit gehabt hatte, seinen Rucksack mitzunehmen. Und nun lag sein einziger Besitz, sein gesamtes Geld und all seine Dateien einsam und verlassen neben dem Stein wie ein verfluchter Wegweiser![/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Ryan bockte, drückte Corinna weg und versuchte, dem Messer zu entgehen, doch sie hatte ebenfalls zugehört. Während die Aquas die Tasche unter Beschlag nahmen, rammte sie Ryan eine Hand auf den Mund und bevor er richtig zubeißen konnte, ließ sie schon ihre Stirn auf seine prallen und verpasste ihm eine Kopfnuss, die ihm schwarz vor Augen werden und seine Ohren ringen ließ. Kurz strauchelte er, dann stützte sie ihn mit ihrem Körper und wenige Momente später presste sich die Spitze ihres Taschenmessers unter sein Kinn.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Einen Laut, und ich steche dich ab“, flüsterte sie. Ihre Hand zitterte, doch Ryan verspürte nicht das Bedürfnis, ihre Drohung zu testen. Sein Kopf pochte, er schmeckte Blut und seine Augen brannten, doch er hielt den Mund und hoffte, dass Team Aqua bald verschwand, damit er sich in Embryonalstellung zusammenrollen konnte.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Was ist drin?“, fragte einer der Aquas.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Nur Junkfood, Geld und … Moment, da ist ein Reißverschluss. Sieht aus wie ein Geheimfach.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Innerlich heulte Ryan auf. Sein wertvollster Besitz, jahrelange Programmier- und Sammelarbeit, in den dreckigen Händen von unwissenden Erwachsenen. Schlimmer konnte es nicht mehr kommen![/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Wenn die Magmagöre ihn zurückgelassen hat, muss sie überstürzt geflüchtet sein“, murmelte der dritte Aqua. Das Taschenmesser drückte sich fester in seinen Hals, als Corinna sich anspannte. Ryan schielte zu ihr hoch. Ihr Blick war an dem Baum vorbeigerichtet.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Ryan öffnete den Mund, doch ein roter Lichtblitz unterbrach ihn. Flügelschlagen drang an seine Ohren und die Luft um ihn herum schien mit der Anwesenheit des neuen Pokémons zu vibrieren.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Golbat, such den Wald mit Superschall ab. Sie kann noch nicht weit sein.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Renn!“ Das Messer verschwand von seiner Kehle, stattdessen packte Corinna seine Hand und sprintete durch das Unterholz. Golbats schriller Schrei durchschnitt die Nacht, während Ryans Entführerin fieberhaft an ihrem Pokégürtel zerrte und ihr Magnayen rief, das neben ihnen in einen langbeinigen Trab verfiel, mit dem es problemlos Schritt hielt. Ryan kämpfte unterdessen gegen Wurzeln, Dornen und Gestrüpp an, die eigens für ihn aus dem Waldboden zu sprießen schienen. Er hasste Wälder, er hasste Pflanzen, er hasste all das hier und noch mehr hasste er, dass er wie ein Verbrecher vor dem Team floh, das seinerzeit ganz Hoenn gerettet hatte.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Ich komme nicht mit!“, fauchte er, riss sich von Corinna los und machte auf dem Absatz kehrt, doch sie sprang ihn von hinten an und rempelte ihn zu Boden. „Lass mich los!“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Du weißt, wie ich aussehe“, schrie Corinna ihn an und drückte seine Handgelenke in den feuchten Erdboden. Verzweiflung schwang in ihrer Stimme mit. „Ich kann dich nicht einfach laufen lassen!“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Ist mir verdammt nochmal egal“, konterte Ryan und riss und zerrte, bis er die Taktik änderte und Corinna mit dem Knie in den Bauch rammte. Sie keuchte und er stieß sie mit aller Kraft von sich. „Ich bin nicht auf der Flucht, ich habe nichts zu verbergen und ich gehe jetzt zurück und —“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Der zweite Superschall durchfuhr die Bäume wie ein unheilvoller Wind und rang in seinen Ohren nach. Schwindel überkam ihn. Er hustete, drehte sich auf die Seite und übergab sich unzeremoniell ins nasse Laub. Als er den Kopf hob, war seine Sicht verschwommen. Wabernde Bilder überlagerten sich, formten Farbflecke und geometrische Muster und alles erschien ihm doppelt. Mit etwas Mühe entdeckte er Corinna, die ihr Magnayen umarmte und vergeblich versuchte, es davon abzuhalten, sich selbst in die Flanke zu beißen. Die gefletschten Fänge des Unlichtpokémons glänzten ihm Schein der Taschenlampen.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Moment. Taschenlampen?[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Da sind sie!“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Verwirrt richtete Ryan seine Aufmerksamkeit auf die Stimme, die von allen Seiten auf ihn einzudringen schien. Ein scharfes Stechen in seiner linken Schulter ließ ihn wie in Zeitlupe den Kopf drehen. Violette Fledermausflügel nahmen ihm die Sicht und ein gewaltiges, speicheltriefendes Maul öffnete sich weit, bereit zum Biss.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Magnayen krachte seitlich gegen das Golbat und riss es mit einem Tackle zu Boden. Gleichzeitig packte Corinna wieder seine Hand, zog ihn auf die Füße und zerrte ihn hinter sich her, einen Arm um seine Taille geschlungen.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Sandwirbel und Brüller!“, befahl Corinna über ihre Schulter hinweg. Hinter ihnen konnte Ryan das kollektive Heulen eines ganzen Rudels von Magnayen hören, dicht gefolgt von markerschütterndem Brüllen. Plötzlich tauchte Corinnas Pokémon neben ihnen auf. Es scharrte mit den Krallen durch die feuchte Erde, die in Klumpen durch die Luft flog und grollte frustriert. Soweit zum Thema Sandwirbel.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Ryan erinnerte sich schummrig an einen Plan, den er vor dem Superschallangriff gehabt hatte, aber so sehr er sich auch bemühte, seine Gedanken blieben ein einziges Chaos. Er konnte nicht mal die Richtung einschätzen, in die sie sich bewegten, geschweige denn ohne Corinnas Hilfe laufen. Sie musste fast sein gesamtes Gewicht stützen, denn Ryan war sicher, dass er alleine sofort eingeknickt wäre.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Was … was ist los mit mir?“, fragte er matt. Seine Stimme klang seltsam fern. „Das ist doch nicht nur der Superschall.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Giftzahn“, brachte Corinna mühsam hervor, während sie sich unter Ryans Gewicht dahinschleppte. „Ich dachte nicht, dass sie sofort zu solchen Mitteln greifen würden.“ Kurz lachte sie auf. „Aqua muss wirklich frustriert sein.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Aber … warum?“ Es war dunkler geworden. Ryan wusste nicht, ob sie ihre Verfolger abgewimmelt hatten oder ob seine Sehkraft nachließ. „Ich habe doch nichts gemacht.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Sie glauben, du gehörst zu mir“, fuhr Corinna fort und half ihm über einen halb umgestürzten Baumstamm. Magnayen sprang mühelos hinterher. „Wir müssen hier weg, bevor sie wieder die Spur aufnehmen. Maggy, leg eine falsche Fährte. Wir treffen uns bei unserem letzten Versteck.“ Magnayen knurrte zustimmend und verschwand im Gestrüpp.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Es tut mir leid“, fuhr Corinna ungefragt fort. „Das ist meine Schuld. Wenn ich dich nicht mitgezerrt hätte, wärst du nie unter Verdacht geraten, ein Magma zu sein. Ich bin nur … ich hab Panik bekommen, verstehst du? Seit Monaten fliehe ich vor ihnen und komme nirgends zur Ruhe und als du mich heute Abend so mühelos enttarnt hast, da ist die Paranoia mit mir durchgegangen.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Ryan war nicht sicher, was sie da redete. Seine Gedanken verliefen in immer kleiner werdenden Kreisen, seine Atmung ging schon seit Minuten rasselnd und seine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding. Doch als Corinnas Monolog zum Erliegen kam, hob er leicht den Kopf.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Es ist einfach nur …“ Sie schniefte und zog Ryan höher über ihre Schulter. Er zuckte bei der Bewegung zusammen. Alles drehte sich und seine Schulter brannte höllisch, bevor sie wieder nur dumpf pochte. „Ich habe damals alles verloren, verstehst du? Team Magma war meine Familie und jetzt sind sie alle im Gefängnis. Mir ist fast niemand mehr geblieben und ich will nicht wie sie enden. Es tut mir so leid, ich —“ Weiter kam sie nicht.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Ryan sackte zwischen ihren Armen hindurch und fiel reglos in den Schlamm.[/JUSTIFY]

Ryan – Akt 1, Szene 5

9 Jahre vor Team Shadows Gründung
 

[JUSTIFY]Ryan erwachte mit dröhnendem Schädel und pelziger Zunge. Spitze Nadeln stachen unangenehm in seine Handflächen, aber seine Wange lag weich. Sein Kopf musste auf etwas abgelegt worden sein. Stöhnend drehte er sich zur Seite und blinzelte mehrmals, bis sich sein Sichtfeld fokussierte.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Corinna saß an eine Tanne gelehnt da; ihr Kopf war auf ihre Schulter gesunken und getrocknete Tränenspuren verliefen über ihre Wangen. Sie schlief mit offenem Mund. Ryan schielte zur Seite und gab einen erstickten Schrei von sich, als er sich Auge in Auge mit ihrem Magnayen wiederfand, dessen dunkler Schädel auf den Oberschenkel seiner Trainerin gebettet war. Ryans eigener Kopf lag auf dem anderen.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Er wollte sich vom Boden abdrücken und so schnell wie möglich von der Hyäne wegkommen, doch seine Arme knickten fast augenblicklich ein und ein stechender Schmerz durchfuhr seine Schulter und wanderte pochend heiß durch seinen Arm und seinen ganzen Körper. Corinna, aufgeschreckt durch seinen Schrei, packte ihn unter den Achseln und half ihm in eine aufrechte Sitzposition. Ryan betastete vorsichtig die Giftzahnwunde, die das Golbat ihm zugefügt hatte. Die Schwellung glühte förmlich.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Gut geschlafen?“, fragte Corinna vorsichtig.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Die Erinnerungen an den gestrigen Abend hämmerten plötzlich von allen Seiten in seinen Kopf ein. „Ja, total gut“, fauchte er und wünschte, er wäre nicht zu schwach, um dramatisch davonzustürmen. „Sie haben meinen Rucksack mitgenommen, nehme ich an? Meinen gesamten Besitz, die Ergebnisse jahrelanger Arbeit?“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Corinna sah betreten zu Boden und strich durch Magnayens Fell, als ihr Pokémon bedrohlich den Kopf hob und die Lefzen zeigte. „Es tut mir leid. Ich hätte dich nicht in meine Angelegenheiten mitreinziehen sollen.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Ryans Wut ließ ihn taub und leer zurück. Alles weg. Sein Geld, seit Jahren angespart. Sein USB-Stick. Der Virus, an dem er seit Ewigkeiten arbeitete. Die PDF-Lehrbücher, die er sich von Schwester Joy mühsam erbettelt hatte. Alles weg. Und statt wie geplant auf dem Weg nach Seegrasulb City zu sein, wo ihn Technik und Computer mit Internet erwarteten, hockte er im tiefsten Wald, irgendwo im Norden von Route 120, zusammen mit einer Verbrecherin, die ihn mit einem Messer bedroht hatte und auf der Flucht vor Team Aqua war.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Was hast du wegen der Vergiftung gemacht?“, fragte er teilnahmslos.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Ich habe immer Gegengifte dabei, für solche Fälle“, sagte sie eifrig, offensichtlich froh, eine nützliche Antwort parat zu haben. „Nachdem du ohnmächtig geworden bist, habe ich dich hierher geschleift. Maggy hatte die anderen bis dahin von uns weggelockt. Ich hab dir das Gegengift verabreicht und gewartet, bis du nicht mehr in Lebensgefahr warst. Irgendwann morgens bin ich eingeschlafen.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Warum lag ich auf deinem Bein?“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Oh, das.“ Sie lachte verlegen und kratzte sich an der Nase. „Ich habe früher bei Freya immer so geschlafen, wenn es mir schlecht ging. Außerdem wollte ich sichergehen, dass du nachts nicht an deinem Erbrochenen erstickst oder so.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Grandios“, murmelte Ryan, beließ es aber dabei. Unauffällig beobachtete er Corinna aus den Augenwinkeln. Ihr brauner Pagenschnitt war über Nacht getrocknet und kringelte sich nun ihren gesamten Kopf entlang. Die rot geränderten Augen kamen entweder von ihrer Heulerei oder dem Schlafentzug. „Freya“, sagte er dann. „Du hast sie schon zweimal erwähnt. Wer ist sie, deine Mutter?“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Corinnas Blick wurde hart. „Nein. Sie hat mich vor zwei Jahren für Team Magma rekrutiert und mit ihrem Freund Arvid unter ihre Fittiche genommen.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Was ist mit deiner Familie?“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Ich will nicht darüber reden.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Schlimme Kindheit also“, sinnierte Ryan. „Lass mich raten. Dein Vater war Alkoholiker, hat dich regelmäßig geschlagen, aber deine Mutter hat dich nie verteidigt, um ihre eigene Haut zu retten. Du bist abgehauen, wurdest von einer Verbrecherbande aufgegabelt und hast dich der nächstbesten Mutterfigur an den Hals —“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Corinnas Hand schoss so schnell vor, dass Ryan die Ohrfeige erst bemerkte, als der scharfe Schmerz seinen Kopf zur Seite riss und ihm das Blut in die Wange schoss. Ihre Stimme bebte. „Noch ein Wort, und ich schwöre, ich hetze dir Maggy auf den Hals.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Ryan sah zur Seite, während er über die brennende Stellte in seinem Gesicht rieb. Kurz erwog er, sich zu entschuldigen, hielt schließlich jedoch den Mund. Er war sicher, dass er richtig gelegen hatte und Corinna war selbst schuld, dass er hier war. Überhaupt war sie an so ziemlich allem schuld, was seit Beginn seiner Reise schiefgegangen war.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Corinna zog die Knie eng an ihre Brust und umarmte ihre Beine. Sie sah ihn nicht an, als sie weitersprach. „Mein Vater ist vor meiner Geburt abgehauen. Meine Mutter war die Alkoholikerin, nicht er. Als sie…“ Sie stockte, schüttelte den Kopf und stand auf. „Ich besorge uns was zu essen. Hier in der Nähe wachsen essbare Pilze. Maggy passt auf dich auf.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Und dann?“, rief Ryan ihr hinterher, als sie schon halb zwischen den Nadelbäumen verschwunden war.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Dann bringe ich dich zurück nach Hause. Baumhausen City, oder? Das ist nicht weit von hier.“ Noch bevor ihre Worte verhallt waren, schluckten sie die Schatten der Tannen.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY] [/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Corinna blieb eine ganze Weile weg. Ryan nutzte die Zeit, um sich vorsichtig aus Regenjacke und T-Shirt zu schälen und seine Wunde genauer unter die Lupe zu nehmen. Wie erwartet war die betreffende Stelle entzündet und als er mit den Fingern auf der Wölbung herumdrückte, sickerte dicker Eiter aus der Öffnung. Der Anblick ekelte ihn so sehr an, dass er würgen musste und zum ersten Mal an diesem Morgen froh über seinen leeren Magen war. So wurde der Geschmack in seinem Mund immerhin nicht schlimmer.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Maggy hielt Abstand, Kopf auf die schwarzen Pfoten gebettet und beobachtete ihn aus wachen, rotglühenden Augen. Ryan hätte das Biest am liebsten davongejagt, aber ihm war auch bewusst, dass das Unlichtpokémon seine einzige Verteidigung darstellte, sollte Team Aqua sie doch noch ausfindig machen.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Viel dringlicher war ihm, über Corinnas Worte nachzudenken. Es interessierte ihn wenig, was in ihrer Vergangenheit passiert war. Er wusste nur, dass sie den Verlust seines Rucksacks zu verschulden hatte und ihn nun nach Baumhausen abschieben wollte, so als wäre nichts geschehen. Als er gestern Abend von ihr mit einem Messer bedroht worden war, wäre ihm der Gedanke noch verlockend vorgekommen, aber jetzt konnte er unmöglich einfach zurückkehren. Nicht ohne seine Habseligkeiten. Das Geld war ihm noch annähernd egal, aber der USB-Stick … nein, darauf konnte er nicht verzichten. Er war losgezogen, um seine Computerleidenschaft wieder aufzunehmen, nicht, um das letzte bisschen seines alten Lebens zu verlieren, das ihm seit ihrem Umzug geblieben war und in dem verhassten Baumhaus seiner Eltern zu verrotten.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Als Corinna mit einem Arm voller schrumpeliger Pilze zurückkehrte, hatte Ryan seinen Entschluss gefasst. „Ich gehe nicht nach Baumhausen City zurück“, sagte er zur Begrüßung. Corinna hob eine Augenbraue, ging neben ihm in die Hocke und schob ihm ein kleines Häufchen Pilze zu.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Sondern?“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Ich werde meinen Rucksack zurückbekommen“, verkündete Ryan großspurig und nahm die Pilze in Empfang. „Und als Wiedergutmachung für, sagen wir, alles, wirst du mir dabei helfen.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Corinna runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist“, sagte sie und machte sich daran, ein kleines Feuer zu entfachen. „Wenn sie den Rucksack haben, dann bringen sie ihn bestimmt zu Adrian. Was sagtest du ist da drin, das so wichtig ist?“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Mein USB-Stick.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Hm …“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Ryan trommelte mit den Fingern über seine Beine, während Corinna scheinbar gedankenverloren ins Nichts starrte. „Was, hm?“, fragte er schließlich.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Wenn es um Daten geht, werden sie die vermutlich so schnell wie möglich auswerten wollen“, sagte Corinna nachdenklich. „Baumhausen City hat das nächste Pokécenter, aber —“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Baumhausen City ist technisch so unterentwickelt, dass sie genauso gut versuchen könnten, die Speicherstände mit einer Gießkanne abzurufen.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Ja, so ungefähr.“ Das Feuer erwachte unter Corinnas sorgsamer Pflege rauchend zum Leben. Sie blies vorsichtig in den Zunder, bis Flammen emporleckten und platzierte diesen dann unter einem kleinen Häufchen Stöcke. „Da wir Seegrasulb City so nah sind, werden sie vermutlich in ihr Hauptquartier gehen. Wie du da reinkommen willst, ist mir schleierhaft.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Also nach Seegrasulb City“, murmelte Ryan abwesend. Sein Gehirn durchlief bereits alle möglichen Pläne. Er hatte sich bisher nur oberflächlich mit dem Thema Hacking befasst, aber sobald er wieder Internet hatte, konnte er dem sicher auf die Sprünge helfen. Was etwaige andere Mechanismen anging, würde er ein bisschen stöbern müssen oder auf Corinnas Kenntnisse vertrauen. Sicher gab es Mittel und Wege, in das Hauptquartier einzubrechen.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Ich werde jedenfalls nicht mitkommen“, fuhr Corinna fort. Es dauerte einige Sekunden, bis ihre Worte durch Ryans Gedankengänge drangen.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Was?!“ Seine Stimme brach und er musste husten, fing sich jedoch genauso schnell wieder. „Was soll das heißen? Es ist deine Schuld, dass ich in dieser Misere sitze. Wahrscheinlich kann ich nicht mal mehr unbehelligt die Stadt betreten, weil Team Aqua mich jetzt verfolgt.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„So schlimm ist es sicher nicht“, entgegnete Corinna hastig. „Es war dunkel, sie konnten dein Gesicht unmöglich gut genug sehen, um dich wiederzuerkennen oder jemandem zu beschreiben. Und außerdem finde ich, ist meine Schuld langsam mal abgetragen. Ich habe dir gestern Nacht zweimal das Leben gerettet, nur falls du es vergessen hast.“ Sie warf ihm einen düsteren Blick zu. „Und nur so nebenbei, wirklich beliebt hast du dich nicht bei mir gemacht. Du bist unsensibel und ein richtiger Arsch.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Wenigstens bin ich intelligent genug, nicht auf leere Versprechen von Pseudowissenschaftlern hereinzufallen“, fauchte Ryan. „Was hat euer geliebter Boss nochmal vorgehabt? Alle Ozeane austrocknen lassen, um der Menschheit mehr Lebensraum zu schenken? Wie dumm muss man denn sein, um das zu schlucken?“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Corinna hielt in dem Bespicken ihrer Pilzspieße inne. „Was meinst du?“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Das euer toller Plan von Anfang an zum Scheitern verurteilt war“, sagte Ryan, dem dieses Thema schon seit gestern Abend auf der Zunge brannte. Zwischen der Bedrohung durch ein Taschenmesser und der anschließenden Flucht vor einer gigantischen Fledermaus hatte er nicht die Gelegenheit gehabt, sich auszusprechen. „Meine Mutter ist Meteorologin. Sie erforscht das Wetter und die Einflüsse von Temperatur, Luftströmen und dergleichen, ich kenne mich also ein bisschen mit der Thematik aus. Die Dürre, die ihr durch Groudon verursacht habt, hätte das gesamte Ökosystem ruinieren können. Aquatische Pokémon sterben massenhaft aus, mit ihnen die Pokémon, deren Beute sie sind. Die Agrarwirtschaft geht den Bach runter, Bestäubung von Pflanzen durch Insektenpokémon kommt zum Erliegen, die Erdtemperatur steigt an, die Meerestemperatur sinkt, Meeresströme werden umgelenkt, Salzkonzentrationen verändern sich, das Wetter spielt verrückt, Naturkatastrophen suchen uns heim und das alles für ein bisschen mehr Erdboden?“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Sei still.“ Corinna war aufgesprungen. Ihre Stimme bebte und Magnayen beobachtete das Geschehen mit gefletschten Zähnen. Ryan dachte nicht mal daran.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Der Gewinn ist im Vergleich zum Verlust so minimal, dass es lächerlich ist“, fuhr er gnadenlos fort. Er konnte Ignoranz nicht ertragen. „Wüsste ich nicht, wie nah wir damals an einer globalen Katastrophe vorbeigeschrammt sind, würde mich so viel Dummheit fast wieder beeindrucken. Deine Magmafamilie oder was auch immer die Leute dort für dich waren, hat nichts anderes verdient, als weggesperrt zu werden.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„HALT DEN MUND!“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Corinna holte zum Schlag aus, doch inzwischen kannte Ryan ihre aggressiven Anwandlungen gut genug, um rechtzeitig auszuweichen und mit der rechten Hand ihren Arm zu packen. Frustriert heulte sie auf und trat nach ihm, doch Ryan drehte sich, sodass sie nur seine Seite schrammte. Als sie zu einem erneuten Schlag ansetzte, trat Ryan ihr seinerseits gezielt gegen den Fußknöchel. Strauchelnd ging sie zu Boden und blieb mit hängendem Kopf sitzen. Tränen liefen hemmungslos ihre Wangen hinunter. Ryan hielt immer noch ihren Arm umklammert.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Du weißt, dass ich Recht habe“, sagte er.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Nein“, flüsterte sie. „Das ist nicht wahr. Das kann nicht wahr sein.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Ryan massierte sich die Nasenwurzel. Seine Tirade hatte ihn beruhigt, aber nun fühlte er sich noch ausgelaugter als bei seinem Erwachen. Ihm wurde schwindelig und er schloss die Augen. Er war zu erschöpft, um sie anzuschreien. „Doch.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Marc hätte nie … er muss doch gewusst haben, dass …“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Dass er euch alle ins Verderben führt?“ Ryan seufzte. „Anführer von solchen Gruppen wissen meist ganz genau, wie viel Schaden sie ihrer Umwelt zufügen. Ist ihnen aber egal, solange sie andere Menschen mit ihren Worten und Taten kontrollieren können. Tut mir leid, dir deine Illusion zu nehmen, aber Team Magma ist keine missverstandene Weltretterbande. Wir hatten Glück, dass Maike und Team Aqua rechtzeitig eingeschritten sind.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Corinna schniefte. „Du kannst jetzt loslassen“, murmelte sie und sah weg. „Ich werde dich nicht mehr angreifen.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Misstrauisch ließ Ryan ihren Arm los. Sie rieb sich mit den Handballen über die Augen, erhob sich und warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Das ist dann wohl Lebewohl“, sagte sie mit rauer Stimme. „Leg dich meinetwegen mit der ganzen Welt an, ist mir egal. Du findest den Weg nach Seegrasulb City schon selbst. Team Aquas Quartier ist in der Meereshöhle nordöstlich vom Strand. Tob dich aus.“ Zum Abschied stampfte sie das Feuerchen nieder und wandte sich ohne einen weiteren Blick ab. Magnayen schüttelte das zottige Fell und folgte seiner Trainerin in das Dickicht aus Tannen. Wenige Minuten später war nicht mal mehr das leise Rascheln der Nadeln unter ihren Füßen zu hören.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Es dauerte eine Weile, bis Ryan bewusst wurde, dass er weder wusste, wo er sich befand, noch wie man ein Lagerfeuer machte oder alleine in der Wildnis überlebte. Die Wut kochte wieder in ihm auf, als er den halbfertigen Plizspieß sah.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Wenn Corinna ihn nur nicht angesprochen hätte. Wenn seine Mutter ihm nur einen Computer gekauft hätte. Wenn sie nur nie aus Laubwechselfeld weggezogen wären.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]In stillem Protest aß er die Pilze roh.[/JUSTIFY]

Ryan – Akt 1, Szene 6

9 Jahre vor Team Shadows Gründung
 

[JUSTIFY]Wenn Ryan auf die vergangenen drei Tage zurückblickte, war die Erinnerung ein Zusammenschnitt seiner ganz persönlichen Hölle. Seine Füße entwickelten Blasen an all den falschen Stellen, die Schwellung seines Arms ließ nur langsam nach und ständiger Hunger schwächte ihn am Tag und hielt ihn bei Nacht stundenlang wach.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Sein einziger Lichtblick war, dass er nur wenige Stunden nach Corinnas Abreise auf ein kleines Bächlein stieß, das sich wegweisend durch den Wald schlängelte und ihn vor dem Verdursten bewahrte. Er wusch sich dürftig und reinigte die Bisswunde an seiner Schulter ohne hinzusehen, bis der Großteil an Eiter ausgewaschen war, dann ging er weiter.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ohne Karte war er auf den Stand der Sonne und die Flussrichtung des Baches angewiesen, die ihn gemeinsam langsam aber sicher Richtung Süden führten. Da Corinna ihn bei ihrer Flucht nach Norden geschleppt hatte, vermutete Ryan, bald wieder auf Route 120 stoßen zu müssen. Stattdessen schlug er sich Tag um Tag durch Dornengestrüpp und anderes Dickicht, kletterte über umgestürzte Bäume, rutschte versteckte Hänge hinab und fiel einmal in den Bach, als er darüber sprang und die Erde unter seinen Füßen wegbröckelte.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Als sich der Wald endlich lichtete, war Ryans Hose zerrissen, seine Jacke einige Stufen brauner und er selbst fühlte sich ausgelaugt, halb verhungert und bereit, Corinna, seine Mutter und jeden anderen Menschen, der ihm in die Quere kam, eigenhändig zu erwürgen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Trotz der Probleme im Wald fand Ryan sich ein gutes Stück weiter südlich wieder, als erwartet. Er musste die gesamte Zeit über parallel zu Route 120 durch den Wald gestiefelt sein, denn hinter dem Abhang, der sich vor ihm auftat, entdeckte er die plattgetretenen Pfade von Route 121. Saftige Wildwiesen neigten ihre Grashalme im Wind und das blaue Glitzern des Pyro-Sees stach in seinen Augen. Trotz seiner Erschöpfung kam Ryan nicht umhin, bei dem Anblick des darin thronenden Pyrobergs anerkennend zu pfeifen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Die Erleichterung, die Ryan bei dem bekannten Anblick verspürte, wich jedoch bald Resignation. Er besaß weder Proviant, noch Schutz vor den wilden Pokémon, die im dichten Gras noch stärker vertreten waren als im Waldgebiet. Sehnsüchtig war er einen Blick zurück in Richtung Baumhausen City. Wäre er weiter nördlich ausgekommen, hätte er den Weg nach Hause in Kauf genommen, um sich besser für die Reise auszurüsten. Nach drei Tagen in der Wildnis war ihm klar geworden, wie schlecht er selbst mit Rucksack auf die Strapazen der Route vorbereitet war. Wie die Dinge standen, rentierte sich der Rückweg jedoch nicht. Er konnte nur noch vorwärts.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan straffte die Schultern, wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und stapfte weiter.[/JUSTIFY][JUSTIFY] [/JUSTIFY][JUSTIFY]Obwohl er kein Zeichen von Team Aqua entdeckte, bewegte Ryan sich weiter im Schutz der Tannen, um Notfalls zurück ins Dickicht hechten zu können. Die Sonne wanderte über den strahlend blauen Himmel, sein Magen gab das Knurren auf und zog sich stattdessen in stillem Protest schmerzlich zusammen und die Haut an seinen Füßen rieb sich gegen die Schuhinnenseite blutig. Er fühlte sich so elend, dass es später Abend war, bevor ihm bewusst wurde, dass ihm jemand folgte.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Jemand. Oder etwas.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan spähte unauffällig über seine Schulter. Er hatte gerade ein Nachtlager aufschlagen wollen, als ihm aus den Schatten des Waldes ein blaues Augenpaar entgegenblitzte.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Gefangen zwischen dem Instinkt, wegzurennen und dem Wissen, dass die gefährlichsten Pokémon dieser Route ihn problemlos einholen konnten, verharrte Ryan in seiner Bewegung. Laub raschelte und entblößte wenige Sekunden später … nichts. Ryan kniff die Augen zusammen. Hatte er sich die Augen nur eingebildet?[/JUSTIFY][JUSTIFY]Unsinn. Er war keiner dieser Unterbelichteten, die ihre Sinne bei jeder Gelegenheit in Frage stellten. Er wusste, was er gesehen hatte. Bestimmt war das Pokémon geflohen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Plötzlich wurde es kälter. Ryans Atem formte kleine Wölkchen vor seinem Mund, die in der schnell hereinbrechenden Dunkelheit das Mondlicht reflektierten. Ein Schauer lief ihm über den Rücken und bevor er wusste, was passierte, fand er sich auf dem Hosenboden wieder und klapperte mit den Zähnen. Grauen packte ihn, ein formloses Gebiss in seinem Nacken, das ihn in Schockstarre versetzte. Da waren sie wieder. Augen, geformt wie querliegende Regentropfen, flackerten aus der Dunkelheit der Sträucher auf und fixierten ihn.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Eine Schweißperle rann Ryans Schläfe herab. Er musste hier weg. Sofort.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Er schüttelte sich, krabbelte zurück, doch da waren die Augen wieder verschwunden, nur um im nächsten Moment direkt vor ihm aufzutauchen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„GAHHH!“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Schreiend schlug Ryan um sich, machte eine verzweifelte Bewegung nach hinten und spürte, wie seine Handfläche ins Leere traf. Der Abhang. Bevor er sich fangen konnte, fiel er schon rückwärts, überschlug sich und rollte den erdigen Hügel herab. Spitze Steinchen bohrten sich in seine Hände und trockenes Laub zerbröselte unter seinem Gewicht und verfing sich in seinem Shirtkragen und seinem Haar.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Als er unten ankam, blieb er einige Sekunden einfach nur reglos liegen und fühlte auf sein Herz, das fest dazu entschlossen schien, seine Rippen von innen aufzusprengen. Blut rauschte in seinen Ohren. Dann, als nichts weiter geschah, spuckte Ryan ein paar Blätter aus und setzte sich auf.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Die Schneise, die er bei seinem Sturz in den kleinen Abhang gezogen hatte, leitete seinen Blick hinauf zu dem Waldstück, in dem er vor wenigen Momenten noch gestanden hatte. Die Augen waren verschwunden und außer aufkommenden Windböen und den leise rauschenden Tannen war es still.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Was für ein Pokémon war das?“, murmelte Ryan, der das Bedürfnis hatte, laut zu sprechen, um seine Nahtoderfahrung zu überspielen. Zuerst überließ Corinna ihn der Wildnis und nun musste er sich auch noch mit wer weiß was für Bestien rumschlagen. Wenn er sie wieder sah, konnte das Magmamädchen etwas erleben. Sie dachte, er wäre bei ihrem letzten Gespräch unsensibel gewesen? Sie hatte ihn noch nicht in Hochform erlebt. Ryan hatte noch einige Theorien zum Thema vermurkste Kindheit auf Lager und er war nur allzu bereit, sie mit ihr zu teilen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Wenn er sie je wieder sah.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Zuerst wollte Ryan den Hang wieder hinaufklettern, aber der Erdboden war lose und steil und als er das dritte Mal abrutschte, gab er fluchend auf und folgte stattdessen der herkömmlichen Route. Es war schließlich nicht so, als wäre noch irgendjemand so blöd, um diese Uhrzeit durch die Walachei zu reisen. Überhaupt sollte er aufhören, so paranoid zu sein. Er hatte nichts verbrochen. Er war kein Magma. Sicher hatten die Aquas schon längst vergessen, dass er existierte. Sollte ihm recht sein.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Stimmen näherten sich und trotz seines optimistischen Monologs raste Ryan wie vom Bibor gestochen zum nächstbesten Baum und versteckte sich schweratmend dahinter. Verärgert über sich selbst er schielte hinter dem Stamm zurück auf den Pfad. Die plattgetretene Erde glänzte dumpf im Mondlicht.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Schritte gesellten sich zu den Stimmen. Ein Klatschen. Undefinierbare Laute.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan runzelte die Stirn. Was ging da vor sich? Und warum war er noch hier und nicht schon längst über alle Berge? Er machte einen Schritt von dem Baum weg, doch in dem Moment kroch Kälte wie tausende kleiner Hände seinen Rücken hinauf. Ahnend, was er sehen würde, drehte Ryan ganz langsam den Kopf.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Vor ihm schwebte das blaue Augenpaar von zuvor, die Lieder leicht zusammengekniffen, so als grinse das Pokémon ihn mit seinem unsichtbaren Mund an. Eine kleine, blauweiße Flamme formte sich vor ihm und hüpfte davon—in Richtung der fragwürdigen Geräusche.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Irrlicht“, schnaubte Ryan, ohne die Flamme eines weiteren Blickes zu würdigen. „Ich werde es weder anfassen, noch ihm folgen. Da musst du dir schon etwas Besseres einfallen lassen.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Das Geistpokémon legte den Kopf schief und wurde im nächsten Moment vollständig unsichtbar. Erleichtert atmete Ryan aus. Seine Knie zitterten und wollten ihn nicht mehr tragen. Er sank in die Hocke. Erst, als er sicher war, dass das unbekannte Pokémon ihn vorerst in Ruhe lassen würde, hob er den Kopf und schaute nun doch zu der Irrlichtflamme, die mittig auf dem Pfad schwebte und schwach auf und ab hüpfte, so als warte sie auf ihn.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Nein. Vergiss es.“ Ryan wandte sich ab und lief los. Blieb stehen. Lief wieder los. Drehte den Kopf. Blieb stehen. Die Flamme hatte aufgehört zu hüpfen und leuchtete ihm vorwurfsvoll hinterher. „Ich werde verrückt“, murmelte Ryan und kehrte um. „Selbstgespräche. Paranoia. Irrationale Entscheidungen. Was kommt als nächstes? Eine Schwäche für Beerensuppe?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Der Gedanke schüttelte ihn. Er hatte die Flamme kaum erreicht, da erwachte sie zu neuem Leben und flog wegweisend voran. Ryan, der dem ganzen immer noch nicht über den Weg traute, hielt sich am Waldrand und schließlich im Schatten des Abhangs. Die Stimmen wurden lauter. Was wollte das Pokémon ihm zeigen?[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan erreichte einen Felsvorsprung und versteckte sich dahinter, bevor er ganz vorsichtig um die Ecke lugte. Da standen sie. Drei Aqua-Mitglieder, um ein Lagerfeuer versammelt, eine vierte Gestalt in ihrer Mitte auf dem Boden, das Gesicht in Ryans Richtung gedreht, den Kopf jedoch gesenkt. Das flackernde Licht warf unheimliche Schatten auf den plattgetretenen Boden. Neben Ryan erlosch das Irrlicht, stattdessen spürte er wieder die Kälte, die seinen Nacken emporkroch.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Wieder da?“, flüsterte er tonlos, ohne seinen Blick von den Aquas zu lösen. Die blau-weiß gestreiften Kleider und schwarzen Bandanas leuchteten im roten Feuerschein. Er presste die Lippen aufeinander und fasste unwillkürlich nach seiner Schulterverletzung. Inzwischen war die Schwellung etwas abgeklungen, aber es tat immer noch höllisch weh.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Aller Schmerz war im Angesicht dieser Chance jedoch vergessen. Er konnte seinen Rucksack erkennen, am Rand des Lagers, an der Seite, die näher zu ihm lag. Wenn er es schaffte, ihn zu stehlen, bevor sie ihn bemerkten, wenn sie ihm den Rücken zukehrten, dann—[/JUSTIFY][JUSTIFY]Das Klatschen ertönte erneut. Es dauerte einen Moment, bevor Ryan das Geräusch mit der erhobenen Hand des größten der drei Männer in Verbindung brachte. Die vierte Gestalt gab ein ersticktes Schluchzen von sich.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich wiederhole mich nur ungern“, sagte die tiefe Stimme, die noch vor wenigen Tagen dem Golbat Befehle erteilt hatte. Befehle, die Ryan seine Verletzung zugeführt hatten. „Wo ist dein Komplize?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich bin alleine unterwegs!“, fauchte die Person auf dem Boden und riss den Kopf hoch. Ryans Kehle wurde trocken. Das Pokémon neben ihm säuselte etwas Unverständliches.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Neben dem Lagerfeuer, gefesselt und inmitten von drei Aquas, saß Corinna.[/JUSTIFY]

Ryan – Akt 1, Szene 7

9 Jahre vor Team Shadows Gründung
 

[JUSTIFY]Sein erstes Gefühl war nicht Mitleid. Es war Verwirrung.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Wie zur Hölle hatte Corinna es geschafft, gefangen genommen zu werden? Sie war diejenige mit der Erfahrung in der Wildnis, dem Pfadfinderinstinkt, dem Pokémon, mit dem sie sich zur Wehr setzen konnte. Ryan hatte nichts von alldem, und trotzdem war er heil durch den Wald gekommen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Das scharfe Klatschen einer weiteren Ohrfeige schallte durch die Nacht.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan sah zu dem Geistpokémon, das neben ihm schwebte, doch wenn es da war, hatte es sich erneut unsichtbar gemacht. Ihm wurde schlagartig bewusst, dass er allein war, schutzlos, nur wenige Meter von den Männern entfernt, die ihn allem Anschein nach suchten. Er sollte Corinna zurücklassen, so schnell wie möglich das Weite suchen und in das Aqua-HQ einbrechen, um seinen USB-Stick zurückholen, sobald er einen Plan mit hoher Erfolgschance entwickelt hatte.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Aber sein Rucksack war genau da. Direkt vor ihm. Und wie wahrscheinlich war es, dass er einfach so in das Hauptquartier des mächtigsten Teams in ganz Hoenn spazieren und sich an zahllosen Wachen und Sicherheitsvorkehrungen vorbeischleichen konnte, wenn er nicht mal in der Lage war, drei Aquas auszutricksen?[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan biss sich auf die Lippen. Am Lagerfeuer wiederholte der Aqua—Erwin, so hatten ihn die anderen genannt—seine Frage in bedrohlichem Ton. Corinna stritt alles ab. Warum sagte sie ihm nicht, wer er war? Sie kannte seinen Namen, wusste, wo er wohnte. Ryan lehnte sich etwas weiter hinter dem Felsen hervor, um das Geschehen besser beobachten zu können. Er war ein Arschloch zu ihr gewesen, auch wenn er im Recht gelegen hatte. Sie waren im Streit auseinandergegangen. Welche Motivation hatte sie, ihn—[/JUSTIFY][JUSTIFY]Corinna hob den Kopf und ihre Blicke trafen sich. Eine kurze Sekunde schien sie überrascht. Ihr Mund öffnet sich einen Spalt, so als wolle sie ihm zurufen, oder ihn fragen, was er hier machte. Dann verschwand der Ausdruck von ihren Zügen und sie fixierte wieder den Anführer der kleinen Gruppe.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich weiß nicht, wen ihr meint.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Jetzt reicht’s mir langsam mit dieser Schlampe!“, fauchte Erwin und trat nach ihr. Corinna wurde von dem schweren Stiefel in die Seite getroffen und kippte stöhnend auf die Seite, ihre gefesselten Hände nicht in der Lage, den Fall abzufangen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan wusste genau, was er zu tun hatte. Sein Rucksack lag keine fünf Meter entfernt. Alle hatten ihm den Rücken zugewandt. Er konnte hinschleichen, die Tasche packen und davonpreschen, bevor man ihn bemerkte.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Er musste es wagen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Das war Ryans einziger Gedanke, bis sein Blick wieder auf Corinna fiel, die nun still weinend am Boden lag, während das Aquamitglied sie lautstark beschimpfte und schließlich sogar seinen schweren Stiefel auf ihrer Hand absetzte und die Finger darunter einquetschte.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Corinna schrie.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Jetzt reicht es“, warf einer der Männer ein und zog Erwin am Handgelenk zurück. „Wenn Adrian davon erfährt, kriegen wir alle Ärger. Lass sie `ne Nacht drüber schlafen, dann wird sie schon zur Vernunft kommen.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Erwin zögerte, nickte jedoch und setzte sich mit verschränkten Armen vor das Lagerfeuer. „Ich übernehme die erste Nachtwache“, verkündete er. „Roan, du nimmst die zweite Schicht, Mikael die dritte.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Aye.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Die beiden Aquas breiteten ihre Schlafsäcke aus und krabbelten hinein. Es dauerte nur wenige Minuten, bis leises Schnarchen die Luft erfüllte. Einzig Erwin blieb wach und starrte abwechselnd hinaus in die Nacht und zu Corinna, die sich aufgesetzt hatte und stur in die andere Richtung starrte.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan wartete sicherheitshalber eine weitere Viertelstunde—zumindest glaubte er, dass es so lange war—bevor er mit seinem Plan fortfuhr. „Pokémon?“, flüsterte er in die Dunkelheit. Er spürte ein kaltes Kribbeln, aber als sich kein blaues Augenpaar materialisierte und keine kleine Flamme die Nacht erhellte, fragte er sich, ob es nicht vielleicht schon weggeflogen war. Trotzdem sprach er weiter. „Falls du Hypnose kannst, wäre jetzt der ideale Zeitpunkt.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Er wartete. Zehn Sekunden. Zwanzig.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Nichts geschah.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Auf sich allein gestellt, blieb Ryan nur, keine Aufmerksamkeit zu erregen. In Zeitlupe setzte er einen Fuß vor den anderen, umging kleine Stöckchen und Steine und arbeitete sich still und heimlich, Meter für Meter, an das Lager heran.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Er hatte seinen Rucksack schon fast erreicht, da erhob sich Erwin plötzlich und streckte gähnend seine Arme. Ryan verharrte in Schockstarre, Augen geweitet, den Fuß schon zum Schritt erhoben. Er atmete nicht, wartete nur darauf, dass der Aqua die Drehung beendete und geradewegs in seine Richtung schaute.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ein blaues Flämmchen flackerte am Waldrand auf. Erwin drehte den Kopf, weg von Ryan, der zittrig ausatmete. „Was’n das?“, fragte er und machte einen vorsichtigen Schritt auf das Irrlicht zu. Ryan sah seine Chance gekommen. So leise wie möglich preschte er vor, schnappte seinen Rucksack und wollte gerade kehrtmachen, da traf sein Blick auf Corinnas. Er sah schnell weg, doch stattdessen entdeckte er ihre geschwollene Hand.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Später wusste er nicht mehr, was ihn in diesem Moment geritten hatte. Vielleicht war es die Erinnerung daran, dass sie ihn in der Nacht seiner Vergiftung gesund gepflegt hatte. Oder dass er hoffte, mit ihrer Hilfe schneller nach Seegrasulb City zu kommen. Aber wenn er genau in sich hineinhorchte, wusste er, dass er sie nicht in Erwins Gewalt lassen wollte.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Er lief vor, packte sie unter den Armen und zog sie hoch. Hinter ihnen stieß Erwin einen Fluch aus. Vermutlich war er so dumm gewesen, das Irrlicht anzufassen. Dann, lauter, „Was macht ihr da? Hey!“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„RENN!“, schrie Ryan und riss Corinna mit sich, die hinter ihm herstolperte und fast stürzte; erst jetzt bemerkte Ryan, dass auch ihre Fußgelenke durch einen kurzen Strick gefesselt waren. Sie war größer und schwerer als er, aber er schlang einen Arm um ihre Taille und trug sie halb mit sich, während Erwin tobte und nach seinen Pokébällen griff. Corinna versuchte unterdessen, sich loszumachen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich kann nicht weg!“, fauchte sie und schaffte es beinah, Ryan mit sich zu Boden zu reißen. „Sie haben Maggy! Wir müssen zurück!“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Was wir müssen, ist weg hier“, konterte Ryan und steuerte geradewegs auf den Wald zu. Wenn sie irgendwie von Team Aqua fliehen wollten, waren sie unweigerlich auf den Schutz der Bäume angewiesen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Nein, lass mich— Maggy! MAGGY!“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Halt den Mund verdammt!“ Ryans Worte waren ein atemloses Zischen. Der Wald war noch gute hundert Meter entfernt, weil sie erst den Hang umrunden mussten und er war jetzt schon außer Atem. Er wagte kaum, hinter sich zu schauen, aus Angst, sich Auge in Auge mit Erwins Golbat wiederzufinden, doch als er flüchtig zurück zum Lager sah, entdeckte er ein anderes Pokémon.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ein dunkelgraues, fast formloses Etwas, das sanft auf- und ab schwebte. Gleich neben dem Feuer saß Erwin, gefangen in einer düsteren Kuppel, an deren Oberfläche sich Schatten wanden und den Aqua zu einem zitternden Häufchen Elend reduzierten.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan kannte den Namen der Attacke nicht, aber allein der kurze Blick nach hinten trieb ihm kalten Angstschweiß auf die Stirn und er war sich sicher, dass es die gleiche Attacke war, mit der das Geistpokémon ihn auf dem Hang angegriffen hatte, wenn auch viel stärker.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Corinnas Ellenbogen in seinen Rippen riss ihn aus der Erinnerung. Der Schmerz reichte aus, seinen Griff unwillkürlich zu lockern und sie nutzte die Gelegenheit, sich seinem Arm zu entreißen und zurückzurennen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Sie fiel nach den ersten zwei Metern, als der Strick um ihre Knöchel sich zu stark straffte, landete der Länge nach auf dem Boden und heulte auf, als ihre Unterarme über Steine schrammten.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan war drauf und dran, sie liegen zu lassen, aber wenn Erwin sie zuvor schon so behandelt hatte, wollte er nicht wissen, wie es ihr nach einem misslungenen Fluchtversuch ergehen würde. Er machte kehrt, zerrte sie hoch und entdeckte beim Lagerfeuer nun auch Roan und Mikael, die von dem Tumult erwacht waren und besorgt um Erwin herumstanden. Das Pokémon war verschwunden. „Fühlt sich gut an, oder?“, fragte Ryan bissig und zog Corinna mit sich. „Gegen deinen Willen … mitgezogen zu werden, … wenn dein wichtigster Besitz … hinter dir zurückbleibt.“ Er war außer Atem. Sie weinte und lehnte sich halb an ihn. Gemeinsam humpelten sie Richtung Wald.[/JUSTIFY][JUSTIFY] [/JUSTIFY][JUSTIFY]Den Rest der Nacht und den halben Morgen verbrachten Ryan und Corinna damit, im Wald von einem Versteck zum nächsten zu fliehen. Die Bäume standen in diesem Gebiet sehr dicht, sodass die Golbat suchende Kreise über den Tannenspitzen zogen und versuchten, mit ihrem Superschall Anomalien im Wald zu entdecken, während die Magnayen durchs Unterholz trotteten und schnüffelnd die Verfolgung aufnahmen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan hatte seit über vierundzwanzig Stunden nicht mehr geschlafen und fühlte sich so elend wie noch nie in seinem Leben, was nach seinem dreitägigen Trip durch tiefsten Wald keine leichtfertige Feststellung war. Sie hatten gerade lange genug Pause gemacht, damit Corinna mit einem scharfkantigen Stein ihre Fesseln durchsägen konnte. Zuerst befürchtete Ryan, sie würde abhauen, sobald sie die Gelegenheit bekam und nahm sich fest vor, sie dieses Mal in ihr Verderben rennen zu lassen, doch mit der Distanz zu Maggy schien Corinnas gesunder Menschenverstand zurückgekehrt zu sein und obwohl sie kein Wort mit ihm sprach, blieb sie ihm dicht auf den Fersen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ohne das geheimnisvolle Pokémon wären sie jedoch verloren gewesen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Es dauerte einige Zeit, bis Ryan das System hinter den Irrlichtern verstand, die mal auf und ab hüpften, blinkten oder urplötzlich anwuchsen, nur um im nächsten Moment in sich zusammenzufallen. Aber nach einer Weile verstand er die Botschaften und dank dem Geist konnte er schon bald die Bewegungsmuster der Magnayen nachvollziehen und wusste, wann er und Corinna unter einem dichten Strauch oder in einem hohlen Baumstamm Schutz vor dem Superschall suchen mussten.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Als schließlich die Mittagssonne durch das tiefgrüne Nadeldach des Waldes brach, leuchtete vor ihnen ein blaues Augenpaar auf. Obwohl sie diesen Code noch nie benutzt hatten, verstand Ryan die Botschaft intuitiv.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Sie haben die Verfolgung aufgegeben.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan sackte erleichtert in sich zusammen und Corinna fiel auf die Knie. Einige Minuten verharrten sie einfach nur in dieser Position, um zu Atem zu kommen, dann schaute Ryan zu ihr. Sie schaute zurück. Ryan fühlte sich, als hätte ihn jemand ausgewrungen und gegen eine Wand geschmettert, aber die Erleichterung überwog, und er erwiderte ihr mattes Grinsen mit einem flüchtigen Lächeln.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Egal, was jetzt noch kam, schlimmer konnte es nicht werden.[/JUSTIFY]

Ryan – Akt 1, Szene 8

9 Jahre vor Team Shadows Gründung
 

[JUSTIFY]Am nächsten Morgen wachte Ryan mit pelziger Zunge und verdrehtem Nacken auf. Aus Angst, Team Aqua könnte doch noch zurückkehren, hatten er und Corinna die Nacht in einem der hohlen Baumstämme verbracht und sitzend Seite an Seite geschlafen. Corinnas Wange war noch immer auf seine Schulter gebettet und ein Speichefleck hatte sich unter ihrem leicht geöffneten Mundwinkel gebildet. Angewidert schob Ryan ihren Kopf zur Seite und kletterte steifbeinig aus dem Versteck.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Tau hing an den dunklen Nadeln und außer vereinzelten Lichtflecken war es noch immer stockduster. Sein Magen knurrte, aber zur Abwechslung ließ Ryan sich davon einmal nicht die Laune verderben.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Er zog den Rucksack zu sich, den er vor dem Schlafengehen ausgezogen hatte und strich bedächtig über den festen Stoff. Dann fiel ihm ein, dass noch Chips übrig sein mussten und für die nächsten Minuten war er zu sehr mit Essen beschäftigt, um den grauen Geist zu entdecken, der langsam auf ihn zu schwebte. Als er schließlich das fettige Salz von seinen Fingern rieb und den Blick hob, fand er sich Auge in Auge mit dem Pokémon wieder, das sie beide gerettet hatte. Es war das erste Mal, dass es sich ihm in seiner wahren Form zeigte und jetzt erkannte Ryan auch, was es war.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Das Shuppet betrachtete ihn mit großen Augen, fast als warte es auf irgendeine Reaktion von ihm.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Dein Irrlicht ist recht nützlich“, gestand Ryan. Shuppet kniff die Augen zusammen. Er verschränkte die Arme. „Was willst du sonst noch von mir hören?“, fragte er bissig. „Soll ich dir eine Lobeshymne schreiben? Vielleicht noch eine Medaille vergeben?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich glaube, ein Danke würde reichen.“ Corinna krabbelte gähnend aus dem Baumstamm und griff wie selbstverständlich die letzte Chipstüte, die Ryan noch nicht angefasst hatte. Er weigerte sich, zuzugeben, dass er sie aufbewahrt haben könnte. „Ich dachte, du bist kein Trainer“, fuhr Corinna fort, bevor sie eine Handvoll Chips in ihren Mund stopfte. Ryan entging nicht, dass sie ihre linke Hand benutzte; die rechte lag geschwollen in ihrem Schoß. Sicher sah es schlimmer aus, als es war, aber trotzdem verdrehte sich sein Magen bei dem Anblick.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Bin ich nicht“, sagte er und sah weg. „Es verfolgt mich seit gestern. Eigentlich musst du dich bei ihm bedanken. Ohne sein Irrlicht hätte ich dich nie gefunden.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Danke, Shuppet“, sagte Corinna ohne einen Hauch von Ironie, was Ryan mehr irritierte, als er zugeben wollte. Sie schwieg einen Moment. „Ich wünschte nur, ich wäre nicht alleine entkommen.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan schielte zu ihr und erstarrte, als er die Tränen sah, die über ihre Wangen kullerten. Sie wischte sich hastig über ihre Augen, aber jetzt, wo Ryan genauer hinsah, zeugten die geplatzten Adern und dicken Augenringe von einer durchheulten Nacht. Vermisste sie ihr Monstervieh wirklich so sehr?[/JUSTIFY][JUSTIFY]Er öffnete den Mund, schloss ihn jedoch wieder und widmete sich stattdessen seinem Rucksack. Eigentlich hatte er warten wollen, bis sie sicher in Seegrasulb City waren, aber Ryan lernte aus seinen Fehlern. Nie wieder würde er seinen USB-Stick getrennt von seiner Person aufbewahren. Seit er Corinna kennengelernt hatte, konnte er nie sicher sein, wann er das nächste Mal alles stehen und liegen lassen und abhauen musste.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Mit kaum unterdrückter Vorfreude kramte er sich durch die leeren Chipstüten und öffnete den Reißverschluss des Geheimfachs. Griff hinein.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Leer.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryans Herzschlag beschleunigte sich und er durchsuchte das Fach ein zweites Mal. Ein drittes Mal. Immer noch nichts. „Nein“, murmelte er, während er die Tüten aus dem Rucksack riss und zur Seite warf. Er durchforstete alle Fächer. Er stellte die Tasche auf den Kopf und schüttelte sie aus. Er drehte die Chipstüten auf links.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Nichts.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan starrte auf das Chaos, das vor ihm auf dem Waldboden verstreut lag, schwer atmend und nun selbst den Tränen nahe. Das durfte nicht wahr sein. Was hatte er verbrochen? Weshalb war er so vom Unglück verfolgt? Neben ihm wedelte Corinna mit der Hand durch die Luft.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„...Ryan. Ryan!“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Was.“ Er sah ausdruckslos geradeaus.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Was ist los?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Mein USB.“ Er sah zu ihr. „Team Aqua muss ihn rausgenommen haben.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Corinna blickte ihn durchdringend an. Sie wirkte nicht mitleidig, eher, als versuche sie, sich ihre Freude nicht anmerken zu lassen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Nun“, sagte sie langgedehnt, „du weißt, was das heißt, oder?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Dass mein Leben eine einzige Katastrophe ist, seit ich dir begegnet bin?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Corinnas Augen blitzten. „Team Aqua hat mein Pokémon und deinen USB-Stick. Weißt du noch, worum du mich damals gebeten hast?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Mir dabei zu helfen, in ihr Hauptquartier einzubrechen?“, fragte Ryan. Sie nickte.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich werde nicht viel tun können, nicht ohne Maggy. Aber egal was passiert, ich komme mit.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan schwieg. Es war sein Plan gewesen, das stimmte, aber als er ihn vorgeschlagen hatte, war Corinna auch noch in Besitz eines Magnayens und er schmerzlich naiv gewesen. Ihre Flucht vor Team Aqua hatte ihn desillusioniert. Laut den Medien war die Gruppierung um Adrian herum über fünfzig Mann stark, und auch wenn nicht alle im HQ sein würden, standen ihre Chancen verschwindend gering. Nicht zu vergessen, dass Champion Maike persönlich das Team unterstützte, wenn sie konnte. Was sie vorhatten, war eindeutig illegal. Aber schlimmer noch war, dass er mit Corinna im Tau im Falle einer Festnahme nicht auf Unschuld plädieren konnte. Dann wiederum hatte er ihr geholfen, zu entkommen. In den Augen der Aquas war er sicher nicht besser als sie.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Also gut“, sagte Ryan. „Aber damit eins klar ist, ich bin der Anführer dieser Kamikaze-Mission. Wir können uns nicht leisten, währenddessen in Streit zu geraten, also tust du, was ich dir sage, wenn ich es sage. Ich bin dir intellektuell und scheinbar auch überlebenstechnisch weit überlegen, das sollte selbst für dich ersichtlich sein.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Corinna hob die Augenbrauen, seufzte und verschränkte die Arme. „Wie du meinst, Superhirn. Aber wehe, dein Plan klappt nicht.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Der Plan ist zunächst, einen Plan zu erstellen“, sagte Ryan. Er schulterte seinen Rucksack und stapfte in die ungefähre Richtung los, in der er Seegrasulb City vermutete. Die Sonne stand noch schräg genug, um Osten anzuzeigen. Hinter ihm sammelte Corinna sorgsam die verstreuten Chipstüten auf und stopfte sie in ihre Hosentaschen, bevor sie ihm folgte. Der Stoff dehnte sich bereits gefährlich. „Bevor ich das Hauptquartier nicht gesehen habe, kann ich noch nichts sagen, aber ich bezweifle, dass wir ohne Pokémon weitkommen. Kannst du dir kein zweites fangen?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Warum?“ Corinna schielte nach hinten. „Ich meine, ich habe nichts dagegen, aber was ist mit ihm?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Mit wem?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Na, mit dem Shuppet, dass dir seit gestern folgt!“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan sah sich überrascht um. Tatsächlich, da war es. Der dunkelgraue Geist folgte ihnen in kaum zwei Metern Abstand. Ryan hatte angenommen, das Pokémon wolle ihn nur auf Corinna aufmerksam machen, aber es war noch immer hier. Das konnte nur eins bedeuten.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Sag mir nicht, es will mein Pokémon werden“, sagte er.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Corinna lachte. „Ach, ich weiß nicht. Wer will schon dein Pokémon sein? Sicher ist es ein kleiner Masochist.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Und woher kennst du so ein schweres Wort, hm?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Sie schlug ihm auf den Hinterkopf. „Sobald wir in der Stadt sind, solltest du einen Pokéball kaufen. Normalerweise sind Geisterpokémon schwer zu fangen, weil sie sich unsichtbar machen können. Du solltest dankbar sein, dass du dir das erspart hast. Auch wenn sie als Starter ziemlich anspruchsvoll sind, zumindest hat Freya das immer gesagt.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan runzelte die Stirn. Anspruchsvoll … Zwar gefiel ihm die Idee, gleich ein so seltenes Pokémon zu bekommen, aber er war immer noch vehement dagegen, überhaupt eines zu besitzen. Die Viecher machten nur Arbeit und waren allen Trainern zu Folge ein Partner für´s Leben. Wie das als Argument für Pokémon gelten sollte, war Ryan schleierhaft. Er wollte keine Beziehung für’s Leben, er brauchte nur Hilfe für diese eine Mission, danach konnte das Shuppet seinetwegen verrecken.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich entscheide das, wenn wir in der Stadt sind. Vielleicht hat es sich bis dahin ja umentschieden.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich glaube kaum“, sagte Corinna lachend. „Eigentlich ist mir sogar klar, warum es so auf dich eingeschossen ist.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ach, und warum?“, fragte Ryan genervt.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Weil du ein Stinkstiefel bist.“ Auf Ryans ungläubigen Blick hin grinste sie ihn frech an. „Wusstest du das nicht, oh großes Genie? Shuppets werden von negativen Gefühlen angezogen. Hass, Rachsucht, Trauer, Wut …“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan starrte sie an, dann starrte er zu dem Shuppet, das noch immer hinter ihm herflog und jetzt, da er genauer hinsah, einen leicht benommenen Eindruck machte, so wie seine Eltern, wenn sie ein Glas Wein zu viel intus hatten. Seufzend fuhr er sich durchs Haar.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich werde es nie mehr los.“[/JUSTIFY]

Ryan – Akt 2, Szene 1

9 Jahre vor Team Shadows Gründung
 

[JUSTIFY]Als sie zwei Tage später endlich Seegrasulb City erreichten, stimmte Ryan beinahe in Corinnas Jubelschrei mit ein, so erleichtert war er bei dem Anblick von elektrischem Licht, Zivilisation und angelegten Straßen. Obwohl er erst seit einer Woche von zu Hause weg war, fühlte es sich bereits wie eine Ewigkeit an.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Die Hafenstadt erstreckte sich über eine gestuft angelegte Hügelkette aus saftigem Gras, kleinen Steilhängen und grauen Pflasterstraßen, die sich durch die gesamte Stadt wanden. Nur im Osten, wo Seegrasulb City über einen flachen Strand mit dem Ozean verbunden war, überwog die wilde Natur und außer einer Ansammlung kleiner Wohnhäuser und dem Umriss der Meereshöhle konnte Ryan in der Ferne wenig erkennen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Viel interessanter war für ihn ohnehin die Innenstadt. Gemeinsam mit Corinna schleppte er sich zum Pokécenter, das um die sehr frühe Stunde glücklicherweise nur spärlich besucht war. Am Tresen stand eine sehr plumpe Schwester Joy. Ihre lächelnde Begrüßung ließ Ryan einen Stein vom Herzen fallen. Er wollte es nicht zugeben, aber er hatte fast damit gerechnet, von ihr enttarnt und wenige Sekunden später von einem Schwarm Polizisten festgenommen zu werden. Nicht sein rationalster Gedanke, aber die waren Ryan während seiner beschwerlichen Reise zunehmend abhandengekommen. Nebenwirkungen seines Computerentzugs, ohne Zweifel.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ihr seht aber ganz schön mitgenommen aus“, sagte sie und winkte Ryan näher. Corinna folgte misstrauisch und Shuppet blieb unsichtbar—von dem, was Ryan bislang über den kleinen Geist gelernt hatte, zeigte er sich nur sehr ausgewählten Menschen. „Habt ihr die Route unterschätzt?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan schielte zu Corinna. „Unterschätzt“, murmelte er schnaubend.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Joy sah unentwegt lächelnd zu ihnen, bis ihr Blick sich plötzlich verschärfte. Sie kam um den Tresen herum, ihre weiße Schürze über dem prallen Körper gespannt, und kam direkt vor ihm zum Stehen. „Was ist mit deinem Arm passiert?“ Ryan zog hastig den hochgerutschten Ärmel herunter, aber es war zu spät. Ohne auf eine Antwort zu warten, griff sie nach seinem Ellenbogen und betastete die Schwellung. Schmerz wie tausend Biborstiche durchfuhr seinen Arm und er riss sich los.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ein …“ Er stockte. Hinter Joys Rücken fuchtelte Corinna wild mit den Händen. „Ein wildes Golbat hat mich gebissen.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ein Golbat?“ Joy zog die Stirn kraus und nahm Ryans Arm wieder zwischen ihre wurstigen Hände, sanfter, aber bestimmt. „Die sind hier nicht heimisch. Es gibt ja gar keine Höhlen in der Nähe. Da musst du dich vertan haben.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich werde wohl noch ein Golbat erkennen, wenn ich eines sehe“, entgegnete Ryan schnippisch, bevor er sich zurückhalten konnte. Corinna, die bei der Ausrede schon enthusiastisch genickt hatte, schlug sich gegen die Stirn.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Nun, was auch immer es war, es hat ganze Arbeit geleistet.“ Joy ließ Ryans Arm sinken und stemmte irritiert die Hände in die Hüften. „Ich würde dich ja selbst behandeln, aber ich fürchte, unser Vorrat an Antibiotika ist aufgebraucht. Eine der Trainerinnen hier hat es mit dem Pokémonfangen im Meer etwas übertrieben. Sie liegt seit Tagen mit einer ausgewachsenen Bronchitis im Krankenzimmer.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Würde ein Gegengift nicht ausreichen?“, fragte Corinna, die ihre Pantomime aufgegeben hatte. „Ich habe es ihm sofort nach dem Biss gegeben.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Nun, das hat sicherlich geholfen“, gestand Schwester Joy. Ryan hörte ein sehr großes aber. „Aber Pokémonbisse sind stark infektiös. Der Speichel enthält viele Bakterien, müsst ihr wissen. Und ohne euch zu nahe treten zu wollen, so wie ihr ausseht, habt ihr die Wunde nicht gerade sauber gehalten. Wie dem auch sei, das muss behandelt werden, bevor die Entzündung sich weiter ausbreitet.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Und was sollen wir bitte machen, wenn keine Antibiotika mehr da sind?“, fragte Ryan und rieb sich über die Wunde.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Die Schwester bedeutete Ryan, ihr seinen Arm noch einmal zu geben. Zähneknirschend streckte er ihn aus und wartete, während sie die Wunde befühlte und erneut unter die Lupe nahm. „Es eitert nicht mehr und es scheint keine Blutvergiftung vorzuliegen. Schlimm genug für das Krankenhaus ist es nicht, aber ich habe leider wenige Alternativen. Ich werde eure Eltern kontaktieren und dann wird euch ein Notfallsanitäter ins Krankenhaus nach Graphitport City bringen. Wartet, ich rufe gleich dort an.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Nein!“ Corinna und Ryan hatten gleichzeitig das Wort ergriffen. Sie konnten nicht ans andere Ende von Hoenn verfrachtet werden. Sie mussten hier bleiben. „Gibt es keine … lokalere Lösung?“, fragte Ryan verzweifelt.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Joy presste nachdenklich die Lippen aufeinander. „Jetzt wo du es ansprichst, ich hätte da tatsächlich eine Idee“, sagte sie. „Die Schwester Joy, die mich vor einigen Jahren ausgebildet hat, ist jetzt im Ruhestand und lebt hier in Seegrasulb City, direkt am Strand. Sie hat ein pinkes Haus, ihr könnt sie nicht verfehlen. Antibiotika hat sie keine, aber zu ihrer aktiven Zeit war sie bekannt für ihre sehr wirksamen Kräutertinkturen.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan hob die Augenbrauen. Wollte sie ihm gerade weißmachen, dass ein paar zermatschte Blätter genauso effektiv waren wie richtige Medizin? Biologie interessierte ihn von all seinen PDF-Lehrbüchern am wenigsten, aber das hieß noch lange nicht, dass er ein Idiot war, der an Baumenergien und Naturkräfte glaubte. Trotzdem war es besser als Graphitport City. Aber die Art, wie sie von den Kräutertinkturen sprach, ging Ryan gegen den Strich. Er öffnete den Mund.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Danke für die Hilfe“, sagte Corinna und zog Ryan an seinem gesunden Arm zurück nach draußen, etwas zu ruckartig für Ryans Geschmack. Hatte sie geahnt, dass er eine wissenschaftliche Diskussion vom Zaun brechen wollte? Sie gönnte ihm auch wirklich nichts.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Wenn wir ohnehin in die Richtung gehen, kannst du gleich Pokébälle und Proviant kaufen“, sagte Corinna, während sie dem Straßenverlauf folgten. Das dämmrige Licht des anbrechenden Morgens tauchte alles in weiche Töne, die so gar nicht zu Ryans Stimmung passen wollten. Er hatte die Hände in seinen Hosentaschen verstaut und bemühte sich um eine gebührend passiv-aggressive Aura.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Jetzt schmoll nicht.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich schmolle nicht!“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich meine ja nur“, fuhr Corinna ungerührt fort. „Wir kommen eh‘ dort vorbei.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Wenn du mit eh' die entgegengesetzte Richtung meinst.“ Ryan hob den Blick. Über die Dächer der Läden und Häuser hinweg konnte er auf der nächsthöheren Stadtebene das größte Einkaufszentrum Hoenns entdecken. Unter anderen Umständen wäre ihm der Gedanke verlockend vorgekommen, sich dort nach Bauteilen für einen Computer oder technischen Fachzeitschriften umzusehen, aber Team Aquas Bedrohung saß ihm weiterhin im Nacken. Es dauerte einige Momente, bis er merkte, dass das unangenehme Gefühl von Shuppet herrührte.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Also, was ist jetzt?“ Corinna stupste ihn von der Seite an. „Team Aqua hat noch all meine Sachen, du musst also bezahlen.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich werde dort ganz sicher nicht einkaufen gehen, wenn wir gesucht werden“, zischte Ryan und beschleunigte seine Schritte. Es wurde allmählich heller und je schneller sie von der Straße wegkamen, umso besser. „Außerdem habe ich kein Bedürfnis danach, meine Existenz in naher Zukunft einem emotionsfressenden Geist zu verkaufen.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Dramaqueen“, murmelte Corinna. „Es wird dir so oder so folgen, da kannst du es auch gleich offiziell machen.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Das letzte, was ich will, ist einer dieser hirnlosen Trainer zu werden, die nichts im Kopf haben, außer Training und Ordenjagd. Ich habe keine Zeit für solche Spielereien. Weißt du, wie viel Arbeit Pokémon machen?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan wusste, dass er das falsche gesagt hatte, kaum dass ihm der Satz aus dem Mund rutschte. Corinna wandte den Blick ab und überholte ihn. Bis sie ihr Ziel erreichten, sprach sie kein Wort mehr.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Statt sich querfeldein über Wiesen, Felder und Hügelkämme zu schlagen, nahmen sie die Straße nach Norden und bogen am Kaufhaus rechts ab, sehr zum Ärger von Shuppet, das ein Irrlicht heraufbeschwor und damit in die andere Richtung deutete. Ryan ignorierte es geflissentlich.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Wie Schwester Joy vorhergesagt hatte, war das Haus ihrer ehemaligen Kollegin nicht zu übersehen. Die grellpink gestrichene Fassade hob sich beißend von der Graslandschaft ab. Blumenbeete zierten die Fensterbänke und ein selbst angelegter Kräutergarten umgab die Natursteinstufen, die zur Eingangstür hinaufführten. Ein kleines Loturzel saß inmitten der Sträucher und wiegte den Körper hin und her. Plötzlich zogen sich die Wolken über ihren Köpfen zusammen und wenige Sekunden später setzte ein heftiger Regenschauer ein. Ryan starrte das Pokémon mit versteinerter Miene an.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Oh, schau mal“, sagte Corinna. „Deine Emowolke hat sich entladen.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Shuppet gab ein zufriedenes Säuseln von sich.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ohne ein weiteres Wort stapfte Ryan zur Tür und klopfte. Nichts geschah. Er klopfte wieder, dieses Mal lauter. Corinna umrundete das Häuschen, presste die Nase gegen das Fensterglas und spähte in die Wohnung. „Da sitzt ein Paras“, verkündete sie nach einer Weile. Ryan atmete tief durch und trat mit aller Kraft gegen die Tür, die in genau dem Moment aufschwang.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Er verlor das Gleichgewicht und fiel vorwärts, geradewegs in die Arme einer molligen alten Frau, die in nichts als einem pink geblümten Nachthemd, pinken Flauschpantoffeln und mit Lockenwicklern im rosa Haar vor ihm stand.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Na, na“, sagte sie und half ihm in eine aufrechte Position. „Was tut ihr denn hier?“ Sie lugte an ihm vorbei zu Corinna.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan machte sich rasch von ihr los und hob den Kopf. Ihr Gesicht sah aus, als wäre es aus zu weichem Wachs geformt worden und in der Sonne geschmolzen. Die blauen Augen waren wässrig und unter dem Nachthemd konnte Ryan die Form von … Nein. Nein. Schnell weggucken. Er hatte nichts gesehen. Absolut gar nichts.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Schwester Joy hat Sie empfohlen“, sagte Corinna. „Mein, eh … mein Freund ist verletzt.“ Ryan nickte und drehte seinen Arm, damit die entzündende Bisswunde sichtbar wurde.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Die Frau schnalzte mit der Zunge. „Das sieht nicht gut aus. Kommt erstmal rein, ihr zwei, ich kümmere mich darum. Lotus, bring mir ein Paar desinfizierende Kräuter … nein, du weißt schon selbst, welche das sein müssen, ich erkläre es dir nicht umsonst jedes Mal.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan stöhnte innerlich. Diese Alte redete eindeutig zu viel. Trotzdem folgte er ihr in die Wohnung und als sie ihnen das Sofa und eine Tasse Tee anbot, ließ er sich nicht zweimal bitten. Die Erschöpfung saß ihm schwer in den Gliedern und jetzt, da er eingequetscht zwischen Stapeln von Kissen und Wolldecken saß und in weichen Polstern versank, fiel es ihm plötzlich sehr schwer, die Augen offen zu halten. Neben ihm gähnte Corinna. Das Paras, das auf der Fensterbank saß, drehte unmerklich den Kopf in ihre Richtung. Neben ihm stand ein Fotorahmen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ihr könnt mich Jo nennen, wenn ihr möchtet“, sagte die ehemalige Joy, während sie schwer beschäftigt in der Küche verschwand, um Tee aufzukochen. „Eigentlich heiße ich Johanna, aber wenn man lange genug Joy genannt wird, fällt es einem schwer, den Namen abzulegen. Aber natürlich kann ich mich nicht weiter Joy nennen, schließlich ist das ein offizieller Titel, also ist Jo das Nächstbeste. Und ihr?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich bin Corinna, der Stinkstiefel neben mir heißt Ryan“, sagte Corinna. Ryan warf ihr einen bösen Blick zu, bevor seine Augen wieder das Foto auf der Fensterbank fanden. Es zeigte Jo, wie sie mit einer jüngeren Frau Arm in Arm in einem Feld stand, Jutesäcke in den Händen. De beiden hatten rosa Haar, auch wenn sie lange Hosen und weite Hemden trugen. Ryan kniff die Augen zusammen. Das Gras war seltsam farblos, grau wie Asche.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Sie kennen die Schwester Joy aus Laubwechselfeld?“, fragte er ungläubig, aber laut genug, dass Jo aus der Küche kam, einen dampfenden Teekessel in der Hand. Sie folgte seinem Blick.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ah, du hast das Bild entdeckt, wie ich sehe“, sagte sie, ein nostalgisches Lächeln auf den Lippen. „Ja, ich kenne sie. Hanna ist meine Enkelin.“[/JUSTIFY]

Ryan – Akt 2, Szene 2

9 Jahre vor Team Shadows Gründung
 

[JUSTIFY]Hanna.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Für Ryan war sie stets nur Schwester Joy gewesen, die einzige Erwachsene, die ihn ernst genommen und nicht wie ein Kleinkind behandelt hatte. Es fiel ihm schwer, sich die Tatsache einzugestehen, doch irgendwie … vermisste er sie.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Jo goss ihnen Tee ein und machte sich dann daran, einen kleinen Pilz von Paras‘ Rücken abzurupfen, bevor sie wieder in der Küche verschwand. Lotus folgte wenige Sekunden später, einige Büschel Kräuter auf dem Seerosenblatt auf seinem Rücken.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Kennst du Hanna?“, rief Jo aus der Küche.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan trank einen tiefen Schluck Tee, bevor er antwortete. Er konnte seine Augen kaum noch offen halten. Sobald dieser Alptraum vorbei war, würde er auf etwas Koffeinhaltiges umspringen. „Flüchtig“, sagte er schließlich. „Sie hat mir digitale Lehrbücher besorgt, als ich noch in Laubwechselfeld gewohnt habe.“ Jos Kopf tauchte im Türrahmen auf.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ach, du bist das kleine Genie, von dem sie mir immer vorgeschwärmt hat“, lachte sie und nahm ihn nun genauer unter die Lupe. „Sie war untröstlich, als deine Familie umgezogen ist. Oh, sie wird sich freuen, wenn sie erfährt, dass ich dich getroffen habe.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan befand, dass er Jo und Hanna gleich ein gutes Stück sympathischer fand.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Jemand, der dich mochte?“, murmelte Corinna. „Kann ich mir schwer vorstellen.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Du musst aus Erfahrung sprechen“, erwiderte Ryan trocken. „Nicht mal deine Eltern konnten dich ausstehen.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Das ließ sie verstummen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Nachdem sie ihren Tee ausgetrunken hatten, massierte Jo eine scharf riechende Kräuterpaste in Ryans Bisswunde, die fürchterlich brannte, verabreichte ihm einen Tee, in dem der aufgequollene Pilz des Paras‘ schwamm, schmierte noch mehr Salbe auf seinen Arm und Corinnas Hand und umwickelte alles mit Mullverbänden.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ihr Angebot, sie könnten für die nächsten Tage bei ihr unterkommen, bis die Entzündung abgeklungen war, nahm Ryan ohne zu zögern an. Wie schon im Wald schliefen er und Corinna Schulter an Schulter, mehr aus Gewohnheit denn aus Komfort, versteht sich, und als er die Augen schließlich wieder öffnete, war es bereits tiefste Nacht. Nur ein Streifen bleichen Mondlichts fiel durch den halbgeschlossenen Vorhang auf den kleinen Kaffeetisch vor dem Sofa. Sie mussten den ganzen Tag verschlafen haben.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan entfernte sich vorsichtig von Corinna, die beim Einatmen leise Schnarcher von sich gab. Jo war nirgends zu sehen. Langsam tastete er sich durch das dunkle Wohnzimmer zur Eingangstür vor und trat hinaus an die kühle Luft. Nach all den Tagen in der Wildnis fühlte es sich fast schon angenehm an. Er würde Jo fragen müssen, ob sie einen Computer besaß. Es konnte nicht sein, dass er zu einem verdammten Pfadfinder mutierte.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Plötzlich tauchte neben ihm Shuppet auf, die blauen Augen gierig in die Ferne gerichtet. „Ich dachte, die Tür wäre geschlossen“, sagte Ryan und drehte sich um. Shuppet wurde kurz unsichtbar. „Oh, ich vergaß. Geistpokémon. Schon klar.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Gemeinsam schauten sie hinauf in den Himmel. Die Sterne waren hier nicht so gut sichtbar wie in Baumhausen City, aber das störte Ryan nicht. Im Gegenteil. Die Lichter, die Seegrasulb Citys Stadtzentrum erhellten, glichen einer eigenen Galaxie. Das Einkaufszentrum war weiterhin ausgeschildert, die Fenster blieben jedoch unbeleuchtet, das Gebäude ein schwarzer Balken gegen den Horizont.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Eine blaue Flamme zischte ins Leben.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan schielte zu Shuppet, das ihn unschuldig ansah. Das kleine Irrlicht flackerte fröhlich vor sich hin und waberte Richtung Stadt, langsam genug, um verfolgt zu werden. „Was willst du?“, fragte Ryan erschöpft. „Selbst wenn ich das Risiko eingehen wollte, erkannt zu werden, das Einkaufszentrum hat geschlossen.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Shuppet schüttelte sich.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Siehst du nicht?“, fragte er und deutete genervt zur Stadt. „Kein. Licht. Bist du blind?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Das Pokémon zeigte keine Reaktion, nur das Irrlicht hopste munter auf der Stelle.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Was willst du von mir?!“ Seine Stimme war zu laut für die Nacht und hallte in seinen Ohren wieder. Er hielt still, hoffte, dass Corinna nicht aufgewacht war, doch die Tür blieb geschlossen. Als er den Kopf zurückdrehte, schwebte Shuppet direkt vor ihm. Ryan hatte Mühe, sich nicht in die Hose zu pinkeln, als der kleine Geist ein grollendes Geräusch von sich gab und ihn mit seinem kalten Blick fixierte. Es wollte ihm etwas sagen, da war Ryan sich plötzlich sicher. Aber was? Sein Gehirn versuchte vergebens, alle möglichen Varianten durchzuspielen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Vertrau mir.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Du musst mitkommen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ich will dir helfen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Du schuldest mir etwas.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ich will dir etwas zeigen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Spring über deinen Schatten.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Komm endlich mit.[/JUSTIFY][JUSTIFY]War das, was Trainer als Band zu ihren Pokémon verstanden? Ihre Selbstgespräche auf einen stummen Partner zu projizieren? Ihm einen Charakter aufzuzwingen, den es vielleicht gar nicht hatte? Bildeten sie sich alle die Freundschaft zu ihren Pokémon nur ein?[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan schluckte und lehnte sich zurück, nickte dann jedoch schwach. „Du hast eine Chance, mich vom Gegenteil zu überzeugen“, sagte er, ohne so recht zu wissen, wovon das Gegenteil sein sollte. Seine Meinung über Pokémon oder sein Unwille, Shuppet zu fangen?[/JUSTIFY][JUSTIFY]Genervt über sich selbst und die philosophische Ader, die sich in der letzten Woche bei ihm herauskristallisiert hatte, folgte Ryan Shuppet querfeldein über die Hügelkämme zurück zum Stadtzentrum. Der Fußmarsch dauerte eine gute Stunde, aber Ryan war lange Wanderungen durch tiefsten Wald und mit Feinden im Nacken gewöhnt. Im Vergleich dazu war das hier ein lauschiger Spaziergang.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Als er schließlich im Schein einer Straßenlaterne stehen blieb und den Kopf in den Nacken legte, um das flache Terrassendach des Einkaufszentrums zu sehen, gab Shuppet ein leises Murmeln von sich, fuhr mit einem eiskalten Luftzug an seiner Wange vorbei und schwebte durch die verschlossene Eingangstür.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan blieb wie angewurzelt stehen. War es gerade … eingebrochen?[/JUSTIFY][JUSTIFY]Rasch versteckte er sich hinter ein paar großen Mülltonnen in einer Seitengasse. Wenn er wegen diesem Geist nun wirklich zu einem Verbrecher wurde, dann konnte er einpacken. Seine absolute Unschuld war bislang das einzige Argument, das er im Falle einer Gefangennahme gegen Team Aqua aufbringen konnte—Corinnas Rettung einmal ausgenommen, aber selbst dann hatte er richtig gehandelt, oder? Woher hätte er schließlich wissen sollen, dass sie ein Magma war? Er hatte nur ein Mädchen gesehen, das von erwachsenen Männern getreten und misshandelt wurde. Sicher war das löbliches Verhalten, moralisch, geradezu ritterlich, aber wenn Shuppet—[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ein Pokéball flog durch die Luft und klackerte ihm vor die Füße. In der Stille der Nacht klang es wie ein Kanonenschuss und jagte Ryan denselben Schrecken ein, wie das Hochfahrgeräusch seines Computers, wenn die Lautsprecher ganz aufgedreht waren und er eigentlich PC-Verbot hatte, mit seiner Mutter schlafend gleich nebenan.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Bevor er einen Herzanfall bekam, schnappte er den Ball vom Boden auf und sah sich um, aber außer einem Obdachlosen, der am anderen Ende der Gasse in einen Karton gewickelt auf dem Pflaster schlief, war niemand zu sehen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Hast du den gestohlen?“, fragte er ungläubig. Shuppet, das in dem Moment neben ihm auftauchte, nickte stolz und deutete mit dem Horn auf seinem Kopf zu einem Lüftungsschacht weiter oben am Gebäude. Es konnte durch Wände fliegen, aber den Pokéball hatte es wohl manuell herausschleusen müssen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan wog den Pokéball in seiner Hand. „Das löst zumindest ein Problem“, murmelte er schließlich, „auch wenn ich immer noch nicht gewillt bin, dich zu fangen. Nur damit du dir keine falschen Hoffnungen machst. Ich bin kein Trainer und ich habe sicher nicht vor, einer von diesen hirntoten Mitläufern zu werden.“ Shuppet sah ihn nur unentwegt an.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Seufzend stopfte Ryan den Pokéball in seine Tasche und zog 200 Pokédollar aus seiner Geldbörse. „Bring das zur Kasse“, sagte er. „Ich gehe schon vor.“ Shuppet umschloss die Scheine mit seinem kleinen Mund und verschwand durch den Lüftungsschacht ins Innere, während Ryan sich auf den Rückweg machte, die rechte Hand nachdenklich um den Ball geschlossen.[/JUSTIFY][JUSTIFY] [/JUSTIFY][JUSTIFY][/JUSTIFY][JUSTIFY]Am nächsten Morgen beim Frühstück brach Jo das von Ryan sorgsam gehegte Schweigen, ohne mit der Wimper zu zucken. „Wisst ihr, eigentlich habe ich oben auch zwei Gästezimmer. Seit meine Söhne ausgezogen sind, stehen die Räume leer, aber ich putze dort jede Woche. Ihr könnt dort gerne für die nächste Zeit unterkommen.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan verschluckte sich an seinem Kaffee, um den er Jo gebeten hatte, hustete und sah wütend zu der Alten. „Warum hast du das nicht früher gesagt?“, fauchte er. Corinna verschwand unauffällig hinter ihrer gigantischen Teetasse. Eine schöne Unterstützung war sie.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Jo ließ sich von seinem Tonfall nicht beeindrucken. „Ihr habt euch so süß zusammen auf das Sofa gekuschelt, da wollte ich mich nicht einmischen“, sagte sie fröhlich. Ryan verfluchte sie in allen Variationen, die ihm auf die Schnelle einfielen. Seinen Worten folgten lediglich leere Blicke beider Parteien. Ryan kniff die Lippen zusammen. Besaß denn keiner seiner Gesprächspartner wenigstens die Kompetenz, seine Beleidigungen zu verstehen?[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich nehme nicht an, dass ihre Söhne Computer in ihren Zimmern hatten?“, fragte Ryan schließlich, als er einsah, dass er auf keine gebührende Reaktion hoffen konnte. Jo schüttelte traurig den Kopf.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Nein, Schätzchen, damals gab es so etwas noch nicht, schon gar nicht in jedem Haushalt. Also zu meiner Zeit, da waren selbst Pokébälle noch nicht erfunden. Die Trainer damals mussten Aprikokos sammeln und aushöhlen, da war mit dem Fangen von Pokémon noch echte Handarbeit verbunden.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan dachte an den industriell hergestellten Pokéball in seiner Hosentasche und dankte dem Universum dafür, dass er nicht zu Jos Zeiten geboren worden war. Dann verfluchte er es, weil es ihm das Zeitalter der tragbaren Computer und internetfähigen Gehirne vorenthielt.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Du kannst immer noch ins Pokécenter gehen“, sagte Corinna. „Schwester Joy lässt dich bestimmt einen der Computer dort benutzen.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Denkst du, darüber habe ich nicht schon selbst nachgedacht?“, fragte Ryan. Er hatte darüber nachgedacht, die gesamte letzte Nacht, nachdem er und Shuppet von dem Einkaufszentrum zurückgekommen waren. Obwohl die Dunkelheit alles verschluckt hatte, war die Paranoia mit ihm durchgegangen. Jedes Knacken, jedes Windrauschen hatte seine Eingeweide zu Eis werden lassen. Sich am helllichten Tag in aller Öffentlichkeit zu zeigen und nebenbei noch Hacking zu recherchieren, war bei weitem die dümmste Idee, die er je in Erwägung gezogen hatte, sei es auch noch so kurz gewesen. Abgesehen davon war er sicher, dass die Computer in den Pokécentern von irgendjemandem überwacht wurden, und dieser jemand war mit Sicherheit entweder bei der Polizei, oder bei Team Aqua. Keine der Alternativen war sonderlich beruhigend. Und wenn er, Ryan, der Hacker von Team Aqua wäre, kurz nachdem sein Team einen USB-Stick mit selbstgeschrieben Programmen und Viren gestohlen hatte, wäre er doppelt vorsichtig, was technische Belange anging.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Nichts davon sagte er zu Corinna. Sie würde ohnehin nicht verstehen, wovon er sprach. Und außerdem … er schielte zu Jo. Sie war auch noch da. Er glaubte nicht, dass sie Verdacht schöpfte, aber er würde einen Teufel tun, ihr sein Vorhaben unter die Nase zu binden.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Corinna, die ihn die ganze Zeit über still beobachtet hatte, ergriff zaghaft das Wort. „Also willst du was genau tun?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich muss mir einen eigenen Computer kaufen“, sagte Ryan. „Das ist die einzige Möglichkeit, die wir haben, um unser Ziel zu erreichen.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Wo ist dann das Problem?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan starrte sie an. „Ich bin zwölf, Corinna. Ich bin nicht gerade aus Geld gemacht.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Und?“ Sie verschränkte die Arme. „Hol dir einen Job.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich wiederhole: ich bin zwölf. Das ist illegal.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Oh.“ Sie runzelte die Stirn. „Und ich kann nicht arbeiten, weil …“ Sie ließ den Rest ihrer Aussage ins Nichts laufen. Jo trank unbekümmert ihren Kaffee weiter. Plötzlich hellte sich Corinnas Gesicht auf. „Aber du hast ja Shuppet!“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan hob eine Augenbraue. „Soll es vielleicht kellnern?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Sie warf ihm einen genervten Blick zu. „Natürlich nicht. Aber hier gibt es sicher viele Trainer, gegen die ihr kämpfen könnt.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Willst du damit sagen, ich kann mit diesen Viechern Geld verdienen?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Das wusstest du nicht?“, fragte Corinna. „Ich dachte, du weißt alles, Mister-ich-bin-ein-Genie.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Natürlich weiß ich das“, erwiderte Ryan hitzig. „Ich dachte nur, die Summe beliefe sich mehr auf Taschengeldformat.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Na ja, wenn du einen Computer davon kaufen willst, musst du gut genug sein, um gegen hochkarätige Trainer zu gewinnen“, erklärte Corinna. „Von den Leuten hier in der Gegend bekommst du pro gewonnenen Kampf vermutlich zwischen zweitausend und siebentausend Pokédollar, aber du brauchst erst einen entsprechenden Gegenbetrag, für den Fall, dass du verlierst. Du musst also so oder so klein anfangen.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Was, wenn ich keine Zeit habe, erst noch Geld anzusparen?“, fragte Ryan.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Corinna beäugte ihn von der Seite. „Dann brauchst du ein echt gutes Team“, sagte sie und ein Grinsen stahl sich auf ihr Gesicht, „oder sehr schnelle Beine.“[/JUSTIFY]

Ryan – Akt 2, Szene 3

9 Jahre vor Team Shadows Gründung
 

[JUSTIFY]Weißt du ganz sicher, was du tust?“, fragte Corinna schweren Atems, während sie sich durchs Dickicht schlugen. Sie hatte Mühe, mit Ryan Schritt zu halten, der selbstbewusst voranstapfte und dem hellen Schein von Shuppets Irrlicht folgte. Der Pokéball in seiner Hosentasche fühlte sich schwer an, obwohl sein Pokémon—sein Pokémon—nicht darin war.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich erwarte sehnsüchtig den Tag“, sagte er, „da ich einmal nicht alles wiederholen muss, bevor auch der letzte Idiot mich verstanden hat. Wir gehen zum Pyroberg, ich trainiere dort und du fängst ein Pokémon. War das zu anspruchsvoll?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Aber warum so spät abends“, stöhnte Corinna und holte endlich zu ihm auf. Sie hielt sich die Seiten. „Wir hätten doch auch—au!“ Sie zupfte eine Dornenranke aus ihrer Haut. „Wir hätten doch auch frühmorgens losgehen können, dann würden wir wenigstens etwas sehen.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Und alle Trainer auf der Route sähen uns.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Stinkstiefel“, murrte sie. „Nur wegen der Plakate.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Die verdammten Plakate![/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan wünschte, sie hätte ihn nicht an dieses Fiasko erinnert. Als sie am Nachmittag losgegangen waren, um Shuppet noch einmal ins Einkaufszentrum zu schicken, hingen die Steckbriefe an jedem Laternenmast und jeder freien Hausmauer. Ryans Phantombild wies glücklicherweise kaum Ähnlichkeit mit seinem Gesicht auf, was auch daran liegen mochte, dass er keine sonderlich einprägsamen Züge hatte, aber Corinna war auf ihrem Bild gut zu erkennen. Nicht umsonst trug sie trotz der Uhrzeit Sonnenbrille und eine tiefgezogene Cappie, die sie in einem von Jos Gästezimmern gefunden hatte. Vielleicht war sie deshalb so missgelaunt. Ryan hätte auch keine große Lust, halbblind durch den Wald zu kraxeln, aber so hatte eben jeder sein Päckchen zu tragen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich möchte mir eigentlich kein neues Pokémon fangen“, sagte Corinna nach einer Weile. „Maggy ist meine beste Freundin. Es fühlt sich an, als würde ich sie ersetzen.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Andere Trainer besitzen sechs Pokémon und scheinen kein Problem damit zu haben“, erwiderte Ryan.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Andere Trainer fangen ihre Pokémon auch wahllos“, sagte Corinna. Ryan schielte zu Shuppet hinüber, das frohen Mutes einige Meter voranschwebte. „Na ja, die meisten“, lenkte sie ein, „aber Maggy ist bei mir, seit ich denken kann.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Also noch nicht sehr lange“, murmelte Ryan halblaut. Corinna warf ihm einen bösen Blick zu.[/JUSTIFY][JUSTIFY] [/JUSTIFY][JUSTIFY][/JUSTIFY][JUSTIFY]Gegen zwei Uhr morgens erreichten sie den Pyrosee, dessen Oberfläche nur leicht vom Wind gekräuselt wurde und sonst ein blanker schwarzer Spiegel war. Dünne Nebelschwaden hingen tief über dem Wasser und verliehen dem Pyroberg dahinter ein gebührend schauriges Aussehen. Der Steinkolloss war Hoenns größter Pokémonfriedhof. Dass er laut Jo auch ein beliebter Trainingsort war, fand Ryan reichlich makaber, aber die dort heimischen Geistpokémon waren die perfekten Gegner für Shuppet, zumindest laut dem fünfhundertseitigen Trainerratgeber, den der Geist aus dem Einkaufszentrum hatte mitgehen lassen und dessen Inhalt Ryan im Laufe des Tages widerwillig verschlungen hatte.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Konzepte wie genetische Veranlagung, erlernte Fähigkeiten und Attackeneffektivität waren ihm intuitiv verständlich gewesen, auch wenn er wenig Interesse an der Materie hatte. Trotzdem waren die besten Trainingsstrategien nun sicher schon synaptisch mit seinem Wissen aus den Biologielehrbüchern quervernetzt.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Am Ende des Stegs angekommen ließ Ryan sich an der Kante nieder, seine Füße über dem Wasser baumelnd, und starrte auf den See. Laut dem Ratgeber legten die Fischer hier am frühen Morgen ab und nahmen Trainer gegen ein kleines Entgelt mit zum Berg, wenn sie nett fragten.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ob das nett obligatorisch war, würde sich noch herausstellen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Neben ihm ließ sich Corinna im Schneidersitz auf das algengrüne Holz sinken und spielte mit ihren Schnürsenkeln. Ryan schielte zu ihr. Als hätte sein Blick ihr eine Entscheidung abgenommen, wippte Corinna ein letztes Mal heftig vor, ließ sich nach hinten fallen und schaute mit unter dem Kopf verschränkten Armen in den Himmel.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Sie ist tot“, sagte sie, Stimme kontrolliert und emotionslos. Ryan hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. „Meine Mutter“, fügte sie hinzu, als er nicht reagierte. „Sie ist … ich— ich habe sie umgebracht.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan spuckte das Wasser aus, das er gerade aus seiner Flasche getrunken hatte, hustete und schlug sich mit der Faust auf die Brust, bis er wieder atmen konnte. „Was?“, keuchte er und sah zu Corinna hinüber, die eine Hand in die Höhe gestreckt hielt und nachdenklich ihre Finger gegen den schwarzen Nachthimmel begutachtete.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Sie hat mir damals Maggy geschenkt, weil sie arbeiten musste und mich nicht alleine zu Hause lassen wollte. Sie war ein kleines Fiffyen, ein richtiger Winzling.“ Sie musste lächeln, aber es wirkte fern. „Nachts hat sie getrunken. Am Anfang war es nur ein Glas Wein zum Abschalten, aber mit der Zeit ist es schlimmer geworden. Ich glaube, sie war überfordert und hat meinen Vater vermisst. Manchmal war sie so betrunken, dass sie uns geschlagen hat. Morgens tat es ihr immer leid und sie hat geweint und sich entschuldigt. Dann war sie ein paar Tage nett und hat versucht, nüchtern zu bleiben, bis sie wieder abgerutscht ist. Das ging immer so weiter. Als ich zwölf war, ist sie einfach durchgedreht. Sie hat Maggy halb totgeprügelt, weil sie die letzte Weinflasche umgestoßen hat. Ich habe sie angeschrien und an ihr gezogen, aber sie hat nicht aufgehört.“ Corinnas Stimme brach und sie ballte die Hand über sich zur Faust, bevor sie sie kraftlos auf ihren Bauch sinken ließ. „Ich habe nur daran gedacht, Maggy zu beschützen, also habe ich den nächstbesten Gegenstand gepackt und damit auf sie eingeschlagen. Ich weiß nicht mehr, wo oder wie oft, aber sie hat aufgehört, Maggy zu schlagen. Erst als ich das Blut gesehen habe, ist mir klar geworden, was ich getan hatte. Ich dachte —“ Sie holte tief Luft und sah ihn an. „Ich dachte, man würde mich ins Gefängnis stecken. Ich war zu jung, das weiß ich jetzt, aber ich bin abgehauen. Habe mir Maggy geschnappt und bin verschwunden. Wir haben uns vierzehn Monate auf der Straße durchgeschlagen, bevor Freya mich gefunden und mitgenommen hat.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan hielt sich ganz still. Er war nicht sicher, warum sie ihm das erzählt hatte. Erwartete sie Mitleid? Nein, sie sah ihn nicht mal an.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Das ist alles sehr dramatisch und ich bin tief berührt“, sagte Ryan, bemüht um seine typische unbeeindruckte Art, „aber du brauchst trotzdem ein neues Pokémon.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Corinna seufzte. „Ich weiß. Alles, was ich damit sagen will ist, dass ich Maggy wiederbekommen werde, egal was es kostet, verstanden?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Solange du meine Pläne nicht mit spontanen Einfällen ruinierst.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Sie stöhnte und rollte sich auf den Bauch. „Warum habe ich dir das überhaupt erzählt? Was habe ich erwartet?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Das würde mich auch interessieren“, gestand Ryan mit einem schiefen Grinsen. Sie schielte zu ihm und streckte ihm die Zunge heraus. Dann hob sie abrupt den Kopf und deutete auf den See. Ryan drehte den Kopf und folgte ihrem Blick. Aus der Dunkelheit näherte sich ein gelbes Licht, das sich bald als Laterne auf einem Boot herausstellte. Erleichtert erhob Ryan sich und klopfte den Staub von seiner Hose.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Die Fischer waren da.[/JUSTIFY][JUSTIFY] [/JUSTIFY][JUSTIFY][/JUSTIFY][JUSTIFY]Nettigkeit war obligatorisch, wie Ryan bald feststellte. Es war nur Corinna und ihrem, wie sie es nannte, unwiderstehlichem Charme zu verdanken, dass der Fischer sie nicht sofort wieder aus seinem Boot warf. Der Mann hatte mehr Bart als Gesicht und da, wo seine Haut unter dem weißen Bewuchs hervorschaute, war sie so dick wie Leder.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Sie erreichten den Pyroberg kurz nach Sonnenaufgang. Während Corinna sich von dem Fischer verabschiedete, ging Ryan vor. Der Eingang in die Höhle schien ihm ein schwarzer Schlund, eigens erschaffen, um ihn zu bestrafen. Der wievielte Tag ohne Computer war es jetzt? Ryan hatte aufgehört zu zählen. Über eine Woche. Ob seine Eltern sich Sorgen machten? Dank seiner Obsession hatte er nie viel das Haus verlassen und seine Mutter es dementsprechend nie für nötig befunden, ihm ein Handy zu kaufen. Würde sie versuchen, ihn zu kontaktieren, oder vertraute sie darauf, dass ihr einziger Sohn alleine in der Welt klarkam?[/JUSTIFY][JUSTIFY]Mit dem Berg vor sich und Shuppet als kalter Präsenz an seiner Seite, fühlte Ryan sich ganz und gar nicht bereit, alleine klarzukommen, aber er würde sich im See ertränken, bevor Corinna etwas davon erfuhr. Er war Ryan Bittner und auch wenn das Schicksal und das Universum sich gegen ihn verschworen hatten, in die Knie zwingen würden sie ihn nicht.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Auf ins Pokémonabenteuer“, murmelte er sarkastisch, holte unauffällig Luft und trat in die Dunkelheit.[/JUSTIFY]

Ryan – Akt 2, Szene 4

9 Jahre vor Team Shadows Gründung
 

[JUSTIFY]Ryan bildete sich viel darauf ein, ein rational denkender, nicht abergläubischer und überdurchschnittlich intelligenter Mensch zu sein. Doch selbst er musste zugeben, dass der Pyroberg eine schaurige Ausstrahlung hatte, fast als waberten im dichten Nebel die Geister der verstorbenen Pokémon. Natürlich war das lächerlich. Er glaubte weder an Geister—Geistpokémon zählten nicht—noch an anderen übernatürlichen Humbug, Baumenergien, Voodoo und legendäre Gottheiten mit inbegriffen. Und trotzdem. Das Plateau, das sich stufenartig über ihm an die Spitze erstreckte, ließ die Härchen auf seinen Unterarmen aufrecht stehen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Hinter ihm kraxelte Corinna aus der Höhle und wischte sich den Schweiß von der Stirn.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich hoffe wirklich, für den Rückweg finden wir eine andere Mitfahrgelegenheit“, informierte sie ihn, während sie Staub von ihrer Hose klopfte und anschließend die in Stein gehauenen Treppenstufen in Angriff nahm, die fast senkrecht auf die erste Erhöhung zuführten. „Ich glaube nicht, dass er dein Gesicht nochmal sehen will. Oder sich einen halbstündigen Vortrag über die energetisch günstigste Ruderhaltung von einem Knirps anhören, der noch nie in seinem Leben in einem Boot saß.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich wollte mich lediglich revanchieren.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Sicher. Du bist so ein gutmütiger Junge. Aufgeschlossen, höflich, hilfsbereit …“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Vielleicht möchtest du dich daran erinnern, dass ich dich vor Team Aquagerettet habe“, sagte Ryan. Corinna schielte in seine Richtung und zuckte dann mit den Schultern. Zu arrogant, sein Recht einzugestehen? Das passte zu ihr.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„So wie ich dich kenne, hast du es nur gemacht, weil du mich für irgendetwas brauchst.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Wie geht es deiner Hand?“, fragte Ryan schneidend. Sie sah auf den Verband, der ihre Finger, die Handfläche und einen Teil des Handgelenks umwickelte. Jos grüne Heilsalbe schien unter dem weißen Mull hindurch.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Kann nicht klagen“, sagte sie achselzuckend und schloss zu ihm auf. „Wenn ich Erwin sehe, werde ich mich revanchieren.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Dein Wortschatz begeistert mich jedes Mal aufs Neue“, sagte Ryan. „Muss an dem guten Umgang liegen.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich glaube nicht, dass Shuppet besonders sprachbewandert ist.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Sie hörten erst auf, sich gegenseitig anzugiften, als Shuppet an ihnen vorbeischoss und im dichten Nebel über dem Pyroberg verschwand. Resigniert kämpfte Ryan sich die Stufen hinter Corinna empor, bis sie beide auf der ersten Ebene ankamen. Dichte Grasflächen bedeckten das kleine Plateau, an dessen anderen Ende eine Steiltreppe empor führte. Shuppet schwirrte unbeirrt darauf zu.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Hey!“, rief Ryan und lief los, obwohl er völlig außer Atem war und seine Kehle von der kalten Morgenluft brannte. „Hier ist Gras, Shuppet! Wir können hier trainieren!“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Toller Trainer bist du“, feixte Corinna gut gelaunt.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Immerhin habe ich noch mein Pokémon“, fauchte er zurück. „Shuppet! Komm zurück!“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Du hast auch einen Pokéball, weißt du?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryans Gesicht brannte, als ihm dieser kleine Fakt ebenfalls einfiel. Noch im Sprint kramte er nach dem rotweißen Ball, doch als er den Mechanismus betätigte, war der kleine Geist bereits außer Reichweite und verschwand tanzend im Nebel über ihnen. Ryan kam schweratmend zum Stehen. Einige Sekunden später schloss Corinna zu ihm auf.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ist es … abgehauen?“, fragte er hechelnd.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Keine Ahnung“, schnaufte Corinna und hielt sich die Seiten. „Aber es wird schon wieder auftauchen. Lass uns einfach hinterherrennen.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Wenn ich es von den anderen Shuppet unterscheiden kann“, murmelte Ryan.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Obwohl es kühl war, schwitzten sie schon bald aus allen Poren und der kalte Bergwind färbte ihre Wangen ein ungesundes rot. Trotz des Risikos zog Corinna ihre Sonnenbrille aus, weil ihr das zu schwere Gestell durchgängig von der Nase rutschte. Ryan war zu erschöpft, um sie zurechtzuweisen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Der Südhang war auf zahlreiche Ebenen verteilt, sodass sie geschlagene zwei Stunden brauchten, bis die ersten Gräber in Sicht kamen. Zu diesem Zeitpunkt waren sie bereits durch ein dutzend Wiesen gestiefelt und zahlreichen wilden Pokémon begegnet, gegen die Ryan nur zu gerne gekämpft hätte, wäre ihm nur nicht sein Pokémon abgehauen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich dachte“, sagte er und stützte sich auf seinen Knien ab, „dass Pokémon … gehorsam sind … und bei ihrem Trainer bleiben.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Corinna schüttelte nur den Kopf, sagte jedoch nichts. Wenn sie es nicht mal mehr schaffte, ihm eine Beleidung an den Kopf zu werfen, musste sie wirklich am Ende sein. Nicht, dass es Ryan anders ging.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Die Grabsteine waren einheitlich dunkelgrau, einige verwittert, andere sauber gehalten. Vor einigen hatten die ehemaligen Trainer Blumenbeete angelegt oder kleine Laternen aufgestellt. Auch Pokériegel oder Beeren lagen in Häufchen vor den Grabstätten. Es war nicht viel Betrieb, nur ein alter Mann kniete vor einem der Gräber auf der linken Seite, seinen Gehstock neben sich ins Gras gelegt, und sprach leise mit seinem verstorbenen Partner. Auf der anderen Seite des Plateaus kümmerte sich ein betagter Gärtner mit tiefhängender Hutkrempe um die Blumenbeete.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan würdigte ihn nur eines kurzen Blickes—er suchte nach Shuppet, das sie bislang auf keiner Ebene hatten finden können.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Corinna stapfte kurzerhand an ihm vorbei, ohne auf ihn zu warten. Ryan sah ihr hinterher. Statt sich nach Shuppet umzusehen, ging sie neben dem alten Mann in die Hocke und sagte etwas. Er drehte sich zu ihr um, nickte und rückte zur Seite, damit sie sich neben ihn knien konnte. Corinna zündete eine der Kerzen an und legte einen Arm um den Mann, der plötzlich in Tränen ausbrach.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Was tut sie denn?“, fragte Ryan halblaut und mehr als verwirrt. Warum gab sie sich mit diesem Wildfremden ab? Er wollte sich gerade abwenden, da flackerte ein graues Schemen über dem Grabstein auf. Ryan kniff die Augen zusammen und trat näher. Wieder flackerte es, und dieses Mal materialisierte sich ein Shuppet—sein Shuppet, wenn er sich nicht irrte.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Er trat zu den beiden heran, und plötzlich tauchten sie alle aus dem Nichts aus, Heerscharen von Shuppet, die zu dem Grabstein schwebten und mit gierigem Ausdruck zwischen Corinna, Ryan und dem Alten hin- und herschielten.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Uh, Corinna“, sagte Ryan, der stocksteif stehengeblieben war und nicht wagte, auch nur einen Muskel zu rühren. „Wir haben ein Problem.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ryan, kannst du nicht mal eine Sekunde —“ Sie verstummte, als zwei der Shuppet vor ihr auf den Grabstein herabsanken und zaghaft nach dem Alten griffen. „Tu was!“, zischte sie panisch.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Was denn bitte?“, zischte Ryan zurück und sah hilfesuchend zu seinem eigenen Shuppet, das ihn mit gierigem Blick musterte. „Wenn ich mich bewege, greifen sie womöglich an!“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Wer wollte denn trainieren?“, fragte Corinna, ohne den Mund zu bewegen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan schluckte. Er hatte trainieren wollen, aber in seiner Vorstellung war es immer ein sauberes Duell zwischen zwei Pokémon gewesen, nicht er allein gegen ein Rudel betrunkener Geister. Trotzdem musste er etwas tun, bevor es zu spät war. Zeit, das Wissen aus der Trainer-Broschüre auszutesten.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Shuppet“, sagte er langsam und wartete, bis der graue Geist ihm seine gesamte Aufmerksamkeit schenkte, „Kreideschrei.“ Das Pokémon sah ihn verwirrt an. „Nicht, okay“, murmelte er. „Dann … Irrlicht?“ Shuppet drehte sich einmal um die eigene Achse und im nächsten Moment erwachte die kleine Kerze vor dem Grab zischelnd zum Leben. Ryan schürzte die Lippen. „Zu viel verlangt, ich versteh schon“, sagte er.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Corinna entspannte sich, als sie merkte, dass keins der Geistpokémon sie angriff, und erhob sich in Zeitlupe. Ein fremdes Shuppet sank neben dem Alten herab und leckte eine seiner Tränen ab, dann huschte es davon und mit einem Schlag wurde der gesamte Schwarm unsichtbar. Nur Ryans Pokémon blieb, wo es war.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Der alte Trainer stand ächzend auf und wischte sich mit dem Handballen über die Augen. „Danke, kleine Lady“, sagte er an Corinna gewandt und lächelte. „Deine Worte bedeuten mir viel. Passt gut auf euch auf, ihr beide, und übertreibt es nicht mit dem Trainieren. Die Pokémon hier sind nicht menschenscheu und das sollte auch so bleiben, verstanden?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Leicht humpelnd entfernte er sich und verschwand auf den Treppenstufen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Wofür hält der sich?“, fragte Ryan, im selben Moment, da Corinna gerührt aufseufzte. Sie sahen sich beide an. „Egal“, lenkte Ryan, bevor er sich eine weitere von Corinnas schlechten Rechtfertigungen anhören musste und nickte zu der großen Wiesenfläche weiter rechts, die sich an die Plateaukante schmiegte. „Das sieht nach einem vielversprechenden Ort aus.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Gemeinsam mit Shuppet, das seit dem Verschwinden des Mannes wieder Ryan als negativsten Ankerpunkt gewählt hatte, stapften sie über den nebligen Friedhof.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Nur damit das klar ist, ich bin immer noch nicht davon begeistert, mir ein neues Pokémon zu fangen“, sagte Corinna, als sie das hohe Gras erreichten. „Ich will einfach nur Maggy zurück.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Wirklich?“, fragte Ryan langgezogen, dem in dem Moment etwas einfiel, dass er in dem Trainer-Ratgeber gelesen hatte. „Aber welches Team Magma Mitglied hat denn kein Feuerpokémon?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Es gibt hier Feuerpokémon?“, fragte sie unschuldig. Äußerlich ließ Corinna sich nichts anmerken, aber Ryan konnte genau spüren, wie sie innerlich die Ohren spitzte. Er hatte sie am Haken.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan grinste selbstgefällig. Er hatte es einfach drauf. „Leih dir ruhig solange Shuppet“, gähnte er, ließ sich auf den Boden sinken und verschränkte die Arme unter dem Kopf. „Ich hole etwas Schlaf nach.“ Er schloss die Augen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ein Grasbüschel traf ihn auf der Nase und er heulte entrüstet auf. „Was soll das?!“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Corinna hatte eine Hand in die Hüfte gestützt und warf mit der anderen eine weitere Faust voll Gras auf und ab. „Nichts da, Bummelz. Shuppet ist dein Pokémon und nimmt deine Befehle entgegen. Außerdem war es deine Idee, schon mitten in der Nacht loszustiefeln, also bleibst du jetzt schön wach.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan rieb sich das Gras aus dem Gesicht. „Worte können meine Abneigung dir gegenüber nicht ausdrücken“, sagte er und erhob sich. „Aber meinetwegen. Da du ohne mich ja offensichtlich aufgeschmissen bist, helfe ich dir.“ Er kniff die Augen gegen die Sonne zu und ließ seinen Blick über die Grasfläche gleiten. „Möge die Jagd beginnen.“[/JUSTIFY]

Ryan – Akt 2, Szene 5

9 Jahre vor Team Shadows Gründung
 

[JUSTIFY]Es dauerte nicht lange, bis Ryan einen roten Schatten am Rand der Wiese entdeckte. Er lenkte Corinnas Aufmerksamkeit auf sich und nickte in Richtung des kleinen Vulpix, das neben seinem Bau saß und seinen Pelz leckte. Corinnas Augen leuchteten auf, als sie das Feuerpokémon entdeckte. Sie zückte einen leeren Pokéball, den sie aus ihrem Rucksack fischte, und schlich vorsichtig heran. Ryan und Shuppet folgten.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Als sie nur noch wenige Meter entfernt waren, sah sie Ryan erwartungsvoll an. Jetzt musste er die ganze Arbeit machen, das war wieder typisch. Ryan sah zu Shuppet, dessen blaue Augen auf das Vulpix fixiert waren. Hoffentlich gehorchte es ihm dieses Mal besser. Wenn er etwas nicht wollte, dann sich vor Corinna zu blamieren. Da er noch immer nicht wusste, welche Attacken Shuppet konnte, riet er auf gut Glück. Zumindest Kreideschrei konnte er dank seines vorigen Kampfversuches ausschließen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Shuppet, setz Schattenstoß ein“, befahl er. Der kleine Geist wurde für einen kurzen Moment unsichtbar, tauchte dann direkt über dem wilden Vulpix auf und schoss als schwarzes Schemen auf den Feuerfuchs herab. Die beiden Pokémon rollten durchs Gras. „Jetzt Nachtnebel!“, rief Ryan. Shuppet schwebte empor und sah ihn verständnislos an.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Das war wohl nichts“, meinte Corinna grinsend und verschränkte die Arme.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan würdigte sie mit keiner Antwort und konzentrierte sich stattdessen auf den Kampf. Das Vulpix hatte sich aufgerappelt, wedelte mit dem gefächerten Schweif und gab einige schrille Töne von sich, die Shuppet zur Seite trudeln ließen. „Was ist das?“, fragte er panisch. Er hatte zwar ein gutes Sortiment an Attacken recherchiert, aber sie in Aktion zu sehen und richtig zuzuordnen war wesentlich schwieriger, als er gedacht hatte.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Das war Konfusstrahl“, erklärte Corinna schnell, während Shuppet von einer Seite zur anderen taumelte und flackernd unsichtbar wurde. „Shuppet ist verwirrt, du musst aufpassen!“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Auf was denn bitte?“ Die Frage beantwortete sich von selbst, als Shuppet eine schwungvolle Drehung Richtung Vulpix begann, zu weit flog und sich dabei versehentlich selbst verletzte. Das Bild kam ihm sehr bekannt vor und schlagartig erinnerte Ryan sich an Corinnas Magnayen, das von dem Golbat verwirrt worden war und danach versucht hatte, sich selbst zu beißen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ein Fiepen riss ihn aus seinen Gedanken. Vulpix hatte seine Strategiebesprechung anscheinend satt, denn es war blitzschnell auf Shuppet zugeschossen—und durch dessen Geisterkörper frontal in einen Grabstein gekracht. „Ruckzuckhieb wirkt nicht“, sagte Ryan erleichtert, doch Vulpix schüttelte den Schmerz ab, riss den Mund auf und feuerte eine Woge aus brennenden Funken auf Shuppet ab, das genau in dem Moment seine Fassung wiedererlangte.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Shuppet, nochmal Schattenstoß!“, befahl Ryan. Shuppet wurde unsichtbar und glitt entlang der Schatten unter dem Funkenflug hindurch auf Vulpix zu.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ausweichen, Vulpix!“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan fuhr erschrocken herum, sicher, versehentlich das Pokémon eines Trainers angegriffen zu haben, doch neben ihm stand nur Corinna, die beide Hände trichterförmig um ihren Mund geschlossen hatte und den kleinen Fuchs anfeuerte. Es half nichts. Vulpix wurde von dem Aufprall in die Luft geschleudert und landete einige Meter entfernt im taufeuchten Gras.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Komm schon, steh auf, Kleines!“, rief Corinna.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Hey“, sagte Ryan, „ich dachte, ich soll es für dich schwächen?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Natürlich sollst du, aber ich habe keine Lust, mir deine arroganten Sprüche anzuhören, wenn du es gleich beim ersten Versuch hinkriegst. Außerdem ist es süß. Na komm Vulpix, gib nicht auf!“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Zu Ryans großer Überraschung rappelte sich das Feuerpokémon bei dem Klang von Corinnas Stimme tatsächlich auf und schielte kurz zu ihr, so als warte es auf Anweisungen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Nutz deinen Funkenflug“, befahl Corinna ihm von weitem, während Ryan genervt einen dritten Schattenstoß verlangte. Wie in der Broschüre beschrieben traf die Prioriätsattacke zuerst und Vulpix sackte kraftlos in sich zusammen, während der Wind die Reste des Funkenflugs zerstob.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Corinna kämpfte sich durch das hohe Gras zu dem Vulpix und ging neben ihm auf die Knie. „Gut gekämpft“, sagte sie und strich dem Pokémon über den glänzend roten Pelz. Ryan trat näher heran, während Shuppet neben ihm sanft auf und ab schwebte.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Danke für die Hilfe, Ryan“, sagte er und mimte dabei Corinnas Stimme nach. „Wirklich nett von dir, dass du das Vulpix für mich geschwächt hast. Oh, kein Problem, Corinna. Ich wusste, dass du ohne mich aufgeschmissen wärst. Ryan, du bist mein Held, bitte —“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Urgh, halt den Mund, Ryan“, sagte Corinna und legte den Pokéball vor dem kleinen Vulpix ins Gras, das erschöpft die Augen öffnete und zu ihr empor sah. „Deine Stimme verschreckt es noch. Dreh dich am besten auch gleich um, falls dein Gesicht denselben Effekt hat.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan plusterte sich auf, doch er kam nicht dazu, etwas zu sagen, denn das Vulpix fiepte schwach, zog sich an den Vorderpfoten hoch und presste seine spitze Schnauze gegen den Pokéball. Ein roter Lichtstrahl fing es ein und im nächsten Moment war der Flecken Gras leer.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Gratulation“, sagte er. „ Ganz alleine, ich bin wirklich stolz auf dich. So unabhängig.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Corinna warf ihm einen bösen Blick zu. „Ohne meine Hilfe hättest du doch schon nach dem Konfusstrahl aufgegeben“, sagte sie und wog dabei liebevoll den Pokéball in ihren Händen, bevor sie das Vulpix befreite und es mit einem Trank aus ihrem Rucksack auffrischte. Das kleine Pokémon schlürfte geräuschvoll an der Flüssigkeit. „Ich glaube, ich nenne sie Foxy“, sagte Corinna glücklich.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Soweit zum Thema, ich will kein zweites Pokémon“, murmelte Ryan. Wenn Corinna ihn gehörte hatte, ignorierte sie seinen Kommentar.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Möchtest du Shuppet nicht auch einen Spitznamen geben?“, fragte sie. „Es würde sich bestimmt darüber freuen.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan schielte zu seinem Geiststarter hinüber, der ob seiner Genervtheit glückselig durch die Luft trudelte. „Nein danke, ich verzichte.“[/JUSTIFY][JUSTIFY] [/JUSTIFY][JUSTIFY] [/JUSTIFY][JUSTIFY]Nachdem Corinna auch Shuppet mit einem Trank versorgt hatte, begann Ryan das Training. Der Kampf gegen andere Geisttypen würde auf lange Sicht Shuppets Angriff stärken und die Supereffektivität der Attacken half ebenfalls. Es war allerdings nicht leicht, die unsichtbaren Geistpokémon ausfindig zu machen, zumal die Zwirrlicht das Sonnenlicht mieden und daher fast nur bei Nacht anzutreffen waren. Er fand jedoch bald heraus, dass es reichte, alle seine negativen Gedanken in den Vordergrund zu rücken, damit die kleinen Sadisten sich in seiner Nähe materialisierten.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Etwa zwei Stunden später hatte Ryan alle Tränke aufgebraucht, die Corinna ihm gegeben hatte und war sicher, Shuppet inzwischen genug trainiert zu haben. „Wie kann ich seinen Level überprüfen?“, fragte er Corinna, die an einem der überdimensionalen Sandwiches nagte, die Jo ihnen als Proviant mitgegeben hatte.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Du bist doch so schlau“, sagte sie und wischte einige Krümel von ihrer Hose. „Probier eine der Attacken aus, die es später erlernt und schau, ob Shuppet die schon kann.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Sobald mein Name reingewaschen ist, werde ich mir das Programm von einem Pokédex aus dem Netz ziehen“, murmelte Ryan und ging im Kopf die Attacken durch. „Was ist mit Nachspiel?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Shuppet sah ihn ausdruckslos an und Corinna brach in heiseres Lachen aus. „Nachspiel?“, keuchte sie, „das lernt es doch erst über Level 40!“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan strafte sie mit einem wütenden Blick und wandte sich dann wieder an Shuppet. „Tiefschlag.“ Nichts. „Spukball!“ Shuppet formte vor seinem Körper einen kleinen, violett pulsierenden Energieball, der jedoch sofort in sich zusammenfiel. Es sah ihn traurig an.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan massierte sich die Schläfen. Das war immerhin ein bisschen Fortschritt, aber wenn er davon ausging, dass Shuppet zu Beginn auf Level 28 gewesen war, hatten sie kaum mehr als einen Level geschafft. Wenn ihr Training in dem Tempo weiterging, und das würde es nicht, da es sich vermutlich von Level zu Level erschwerte, brauchte er Wochen, um ein formidabler Trainer zu werden. Dann musste er Trainer finden, die gegen ihn kämpften und ihm ihr Geld gaben. Und dann musste er die Bauteile für einen Computer organisieren. Und ihn zusammenbauen und sich mit Hacking auseinandersetzen und den Einbruch ins HQ planen und—[/JUSTIFY][JUSTIFY]Er seufzte schwer und ließ sich wo er war ins Gras sinken. „Wir brauchen Monate, um Aqua auszurauben“, sagte er. Obwohl er Corinna nicht ansah, konnte er sich ihren Blick vorstellen. Allein die Tatsache, dass ihre Häme ob seines Versagens ausblieb, zeigte, wie ernst die Lage war.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Und jetzt?“, fragte sie.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich weiß nicht“, sagte Ryan. „Weiter zu trainieren wird nicht schaden, aber wir brauchen einen anderen Plan. Ich kann nicht glauben, dass ich das einmal sagen würde, aber irgendetwas, das nicht auf dem Besitz eines Computers basiert.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Corinna rief Vulpix zurück, das bis dahin in ihrem Schoß geschlafen hatte und stand auf. Ihr Blick wanderte zu dem Gärtner, der inzwischen auf der anderen Seite des Plateaus die Hecken schnitt und sich mit einem alten Pärchen unterhielt, das vor ein paar Minuten aufgetaucht war.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich höre mich mal dort um“, sagte sie. „Vielleicht gibt es Neuigkeiten von Aqua, seit wir untergetaucht sind, und das Hauptquartier ist während einer Brandschutzübung unbesetzt oder so.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ja, weil Team Aqua auch so viel Angst vor einem Feuer haben muss“, konterte Ryan. „Lass lieber mich das machen, du solltest nicht von zu vielen Leuten gesehen werden. Du wirst gesucht, schon vergessen?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Corinna hob eine Augenbraue. „Ohne dir zu nahe treten zu wollen, aber überlass das Reden mit Fremden bitte mir.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Zieh wenigstens die Sonnenbrille wieder an!“, rief Ryan ihr hinterher, als sie sich in Bewegung setzt. Sie winkte ihr Verständnis zu, ließ sich mit der Verkleidung jedoch eine Menge Zeit. Genervt stand Ryan auf und pfiff Shuppet zu sich, das etwas abseits schwebte und vermutlich mit einer ganzen Horde unsichtbarer Geister kommunizierte. Gab es nicht irgendeine Art Brille, mit der man auch Geister sehen konnte? Er würde das erforschen, sobald er wieder Zeit hatte. Er sah nicht ein, sich für den Rest seiner hoffentlich kurzen Trainerkarriere mit Ratespielen abquälen zu müssen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Wir sollten die nächste Etage auskundschaften“, erklärte er Shuppet, während er die Stufen zum höher liegenden Plateau in Angriff nahm. „Vielleicht sind die Gegner dort stärker und du lernst doch noch Spukball, damit dieser Trip kein totaler Fehlschlag war.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Shuppet folgte ihm aufgeregt. Über ihm kamen nach und nach die neuen Gräber in Sicht, sowie eine Reihe weiterer Treppen, die zum Gipfel des Pyrobergs führten. Wenn er die Augen zusammenkniff, konnte er in der Ferne eine Art Podest ausmachen, auf dem eine rote und eine blaue Kugel ruhten. Er wollte gerade überprüfen, um was es sich dabei handelte, da erschien ein dunkler Schatten am Himmel. Ryan duckte sich instinktiv hinter einen Grabstein und schielte um die Ecke. Das Schemen vergrößerte sich, bis Ryan ein gewaltiges Schwalboss ausmachen konnte, das wie ein Pfeil auf den Gipfel zuschoss, kurz darüber abbremste und zu Boden flatterte. Von seinem Rücken stieg eine junge Frau. Ein blaues Bandana bedeckte ihren Kopf. Zwei geflochtene Zöpfe ragten an ihren Schläfen darunter hervor und umrahmten ihr Gesicht. Obwohl Ryan sie noch nie in seinem Leben gesehen hatte, erkannte er sie auf Anhieb.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Maike, amtierender Champion der Hoenn-Liga.[/JUSTIFY]

Ryan – Akt 2, Szene 6

9 Jahre vor Team Shadows Gründung
 

[JUSTIFY]Ryan schluckte. Maike war kein offizielles Mitglied von Team Aqua, arbeitete jedoch bekanntermaßen sehr eng mit ihnen zusammen und war bei vielen Einsätzen mit von der Partie. Warum war sie hier?[/JUSTIFY][JUSTIFY]Maike tätschelte dem Schwalboss das rote Brustgefieder und rief ihr Pokémon zurück. Ryan wollte gerade das Risiko eingehen, zum Grabstein einige Meter weiter vorne zu laufen, um sie besser sehen zu können, da erhob sich eine Gestalt aus dem Schatten des Podests und kam mit verschränkten Armen auf Maike zu.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Reichlich spät“, sagte er ernst, grinste jedoch im nächsten Moment und hielt der jungen Frau seine Hand hin. Sie ergriff seinen Unterarm.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Adrian. Es tut gut, dich wiederzusehen.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Danke, dass du dir die Zeit genommen hast“, sagte der Anführer von Team Aqua und lehnte sich an das Podest. „Ich weiß, dass du derzeit viel zu tun hast. Drei Herausforderer in einem Monat sind nicht ohne.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Maike ließ sich neben ihm in der Hocke niedersinken und legte den Kopf in den Nacken, um ihren Gesprächspartner ansehen zu können. „So leicht kommen diese Jungsporne nicht an mir vorbei“, sagte sie lachend. Ryan runzelte die Stirn. War sie nicht erst siebzehn gewesen, als sie letztes Jahr gegen Troy gewann? „Aber warum wolltest du dich hier treffen?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Er sah sich vielsagend um. „Ich wollte vermeiden, dass du inkognito anreisen musst. Dieser Ort ist so isoliert wie möglich. Außerdem erinnert er mich an den Grund für die Katastrophe vor einem halben Jahr und an die Wichtigkeit unserer Mission.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Geht es um die verstreuten Magmas?“, fragte Maike. Er nickte.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Wir dachten nicht, dass sie große Probleme bereiten würden, aber obwohl wir seit Monaten hinter ihnen her sind, schaffen wir es nicht, die letzten Mitglieder einzufangen. Erst vor kurzem ist meinen Leuten ein junges Mädchen entwischt, als sie von irgendeinem Jungen befreit wurde. Wir können nur vermuten, dass Magma im Verborgenen seine Rekrutierung wieder aufgenommen hat und versuchen wird, Hoenn erneut in eine Dürre zu stürzen. Ich denke darüber nach, hier oben Wachen zu postieren, um die Kugeln zu beschützen. Wir können nicht riskieren, dass es wieder so weit kommt und Groudon erwacht. Antonias Großeltern sind gute Leute, aber sie sind einem Angriff durch Team Magma nicht gewachsen.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryans Herz raste, als er dem Gespräch folgte. Nicht nur schaltete Adrian jetzt sogar Maike ein, um Corinna zu fangen, sie glaubten dank seiner Befreiungsaktion auch, dass Magma wieder rekrutierte und eine Bedrohung für ganz Hoenn darstellte. Bald würden sie nirgends mehr sicher sein.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Wer ist dieses Mädchen, das euch entkommen ist?“, fragte Maike. „Jemand, den ich kenne?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Nicht dass ich wüsste“, sagte Adrian. „Sie hat sich seit Magmas Auflösung in den Wäldern auf Route 121 versteckt. Einige ihrer Mitstreiter haben wir aufgabeln können, aber nicht sie. Das ist ein Steckbrief, den wir von ihr haben machen lassen. Erwin hatte sie kurzzeitig in Gefangenschaft, deshalb wissen wir, wie sie aussieht. Hier.“ Er reichte ihr eins der verfluchten Plakate. Maike nahm es stirnrunzelnd entgegen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Sie sieht jung aus.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Eine der jüngsten. Soweit wir herausfinden konnten, ist sie Team Magma erst kurz vor ihrem Coup beigetreten und war daher nicht an den Missionen beteiligt. Aber sie ist flink wie ein Wiesenior. Ich weiß nicht, was sie in den Wäldern plant, aber ohne Pokémon wird sie nicht weit kommen.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Maikes dunkelbraune Haarsträhnen wippten heftig, als sie überrascht den Kopf hoch. „Keine Pokémon?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Wir haben ihr Magnayen beschlagnahmt, bevor sie entkommen ist. Es ist derzeit in unserem Hauptquartier und wird dort bei den anderen Beweisstücken gelagert.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ein Pokémon ist kein Beweisstück, Adrian“, sagte Maike scharf. „Auch nicht die Pokémon von Verbrechern. Und sie ist ein Kind! Bist du sicher, dass du nicht überreagierst?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Glaub mir, ich wünschte, es wäre so“, seufzte Adrian. „Aber wenn nur ein Magma übrig bleibt, der das Vermächtnis von seinem Anführer fortführt, ist Hoenn in Gefahr. Vielleicht sogar die ganze Welt. Das verstehst du doch, oder? Du warst schließlich diejenige, die Groudon in der Urzeithöhle besiegen musste.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Maike schwieg. Ryan beobachtete sie genau. Von dem, was er aus der Unterhaltung heraushören konnte, war Maike möglicherweise das schwache Glied, das er ausnutzen konnte. Er musste Corinna unbedingt warnen, aber er konnte nicht zurück auf das niedrige Plateau, ohne über die Steilwände zu klettern und eine Geröllkaskade loszutreten. Er musste warten und hoffen, dass Adrian und Maike bald verschwanden.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Wir sollten das Mädchen finden“, gestand Maike. „Und sei es nur, um sie zu befragen. Du hast Recht, diese Aktion hat oberste Priorität. Lass uns bei dem Gärtner nachfragen, er arbeitet hier jeden Tag. Wenn sie wirklich keine Pokémon mehr hat, wird sie versuchen, eines zu fangen oder zu stehlen. Vielleicht hat er sie hier gesehen.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Kalter Schweiß brach auf Ryans ganzem Körper aus, als er beobachtete, wie Maike und Adrian sich auf den Weg zu der Treppe machten. Sie würden ihn sehen. Sobald sie an seinem Grabstein vorbeikamen, war er ihrem Blick schutzlos ausgeliefert. Sie würden wissen, dass er sie belauscht hatte und dann würden sie ihn befragen, vielleicht foltern, bis er ihnen Corinna auslieferte und dann—[/JUSTIFY][JUSTIFY]Er unterbrach die düstere Spirale seiner Gedanken, als Shuppet direkt vor seinem Gesicht auftauchte und ihn glücklich musterte. Kurz darauf waren es zwei. Dann drei, dann fünf. Sieben. Ein Dutzend. Eine ganze Horde Shuppet umschwärmte ihn und versteckte ihn, gerade rechtzeitig, denn in dem Moment kamen Maike und Adrian an ihm vorbei.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan hielt den Atem an. Er konnte durch die vielen Geister nichts erkennen außer dunkelgrau und blau, aber die Schritte verlangsamten sich.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Was ist denn hier los?“, fragte Adrian belustigt. Maike lachte.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Sicher sind sie von dir angezogen worden“, sagte sie. „Wenn die Falten auf deiner Stirn noch tiefer werden, hast du bald einen Canyon in deinem Gesicht.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Sehr witzig.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Die Schritte entfernten sich und endlich, endlich konnte Ryan wieder atmen. Die Shuppet schmiegten sich kurz an ihn, bevor sie wieder unsichtbar wurden. Nur sein eigenes blieb dicht bei ihm, sichtbar wie eh und je.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich muss Corinna warnen“, flüsterte Ryan, schlich zur Treppe und suchte auf dem darunterliegenden Plateau nach Corinna. Da war sie, gleich neben der Stelle, wo er zuvor trainiert hatte. Adrian und Maike hatten inzwischen den Gärtner auf der gegenüberliegenden Seite erreicht und unterhielten sich mit ihm. Maike reichte ihm das Plakat. Der Gärtner runzelte die Stirn und hob den Blick.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan hatte keine Zeit mehr. So unauffällig wie möglich rannte er die Treppen hinunter und zu Corinna hinüber. Sie hatten keine Chance. Der Gärtner hatte sie erkannt, da war er sich hundertprozentig sicher. Sie konnten sich nicht verstecken, und erst recht nicht fliehen, nicht solange Maike mit ihrem Schwalboss die Verfolgung aufnehmen konnte. Ryan durchlief in seinem Kopf alle Szenarien, verband sein Wissen über Corinna, Team Aqua und die Persönlichkeiten ihrer beiden Widersacher zu einem Flussdiagramm aus Entscheidungen und Möglichkeiten.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Er hatte keine Wahl.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Vertraust du mir?“, zischte er Corinna zu, die überrascht zu ihm aufblickte und dann misstrauisch die Augen zusammenkniff.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Nein, wieso?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„HILFE!“, schrie Ryan aus Leibeskräften und riss Corinna den Pokéball aus der Hand, in dem sich Vulpix befand. „HILFE! SIE WOLLTE MEIN POKÈMON STEHLEN!“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Was zur Hölle —“, begann Corinna, unterbrach sich jedoch selbst, als bei Ryans Schrei Maike und Adrian den Kopf herumrissen und zu ihnen sahen. Der Gärtner folgte ihrem Blick und deutete plötzlich auf Corinna.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Sie ist das! Auf dem Plakat, das ist das Mädchen!“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Maikes Hand flog zu einem der Pokébälle an ihrem Gürtel und im nächsten Moment materialisierte sich ein Raichu an ihrer Seite, dessen orangegelber Pelz elektrisch knisterte. „Donnerwelle!“, befahl sie mit ihrer Trainerstimme. Ihr Pokémon schoss vor und bevor Corinna auch nur einen Ton von sich geben konnte, traf die elektrische Ladung sie in die Brust und ließ sie paralysiert und spastisch zuckend zu Boden fallen. Das letzte, was Ryan sah, bevor ihr Kopf bewusstlos zur Seite sackte, war der fassungslose Blick, den sie ihm zuwarf. Sie glaubte, er habe sie verraten. Ryan schluckte. Er hatte alles auf eine Karte gesetzt. Jetzt musste er zeigen, dass er wirklich ein Genie war.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Alles okay?“, rief Maike, die auf ihn zulief und neben ihm und Corinna zum Stehen kam. Adrian folgte etwas langsamer, die Falten auf seiner Stirn nach wie vor unverändert.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ja“, sagte Ryan und bemühte sich um einen aufgewühlten Tonfall, was ihm unter den Umständen nicht schwer fiel. „Ich habe hier trainiert und plötzlich ist sie aufgetaucht und wollte mein Vulpix stehlen. Zum Glück habe ich es rechtzeitig gemerkt.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ja, zum Glück“, sagte Adrian mit monotoner Stimme.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Bingo. Ich wusste, dass wir sie hier irgendwo finden.“ Maike lächelte Ryan zu. „Diese Trainerin ist ein Mitglied von Team Magma“, sagte sie und lehnte sich dabei etwas auf ihre Knie, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein. Ryan unterdrückte das Bedürfnis, sie deswegen anzufahren. Er durfte jetzt keinen Fehler machen. „Sie flieht schon sehr lange vor dem Gesetz, aber dank deiner Hilfe konnten wir sie nun endlich gefangen nehmen. Adrian, haben wir Handschellen oder so etwas dabei?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ein Seil habe ich.“ Sein Lächeln wurde wölfisch. „Glaub mir, meinen Knoten entkommt sie nicht.“ Während Adrian sich daran machte, Corinna an Händen und Füßen zu fesseln, fuhr Maike mit ihrer Befragung fort.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Wie heißt du?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ryan. Ryan Bittner.“ Ryans Mund fühlte sich zu trocken an. Shuppet umschwirrte unterdessen Corinnas reglosen Körper, als könne es die Ereignisse nicht einordnen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Also Ryan, nochmal vielen Dank für deine Hilfe.“ Maikes Lächeln war so breit, dass Ryan schlecht wurde. „Wenn wir uns dir erkenntlich zeigen können, sag uns Bescheid. Vielleicht ein paar seltene Traineritems?“ Ihr Blick fiel nun doch auf Shuppet, das zu ihm flog und eng an seiner Seite blieb, sichtlich gespalten zwischen Verwirrung und Glücksrausch. „Ich weiß!“ Sie kramte in ihrem ausladenden Rucksack herum und förderte einen grauen Papierstreifen mit rotem Muster darauf zu Tage. „Ein Bannsticker für dein Shuppet“, sagte sie und heftete den Sticker auf Shuppets Brust. Das Pokémon schwoll mit violetter Energie an. „Er verstärkt Geistattacken. Ich habe ihn nie gebraucht, aber für dich ist er bestimmt nützlich.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Also“, begann Ryan, „ich hatte eigentlich darauf gehofft, dass …“ Jetzt, da er es aussprechen wollte, wurde ihm bewusst, wie irrsinnig seine Idee war. Alles hing von ihrer Antwort ab. Was, wenn sie ablehnte?[/JUSTIFY][JUSTIFY]Maike nickte ihm aufmunternd zu.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich hatte gehofft, Team Aqua beitreten zu können“, gab Ryan zu, leise, so als wäre er schüchtern. „Als Hoenn in Gefahr war, habe ich so viel von euch gehört und ich möchte auch etwas bewirken. Etwas Gutes.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Maikes Züge entgleisten und sie sah hilfesuchend zu Adrian, der mit den Schultern zuckte. „Wie alt bist du denn überhaupt?“, fragte sie Ryan. Er schluckte.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Vierzehn.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Du siehst eher aus wie elf“, gestand sie. Ryan plusterte sich auf.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Davon abgesehen, dass wir erst ab sechzehn rekrutieren“, sagte Adrian und erhob sich, „nehmen wir nicht jeden auf. Du musst dich bewerben und ein Verfahren durchlaufen. Nachdem einige Magmas versucht haben, uns zu infiltrieren, mussten wir Sicherheitsmaßnahmen einleiten.“ Er fixierte Ryan mit einem eisigen Blick. „Das verstehst du sicher.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Tut mir leid“, sagte Maike und richtete sich auf. „Ist nicht böse gemeint. Bewirb dich doch einfach in ein paar Jahren und dann schauen wir, was passiert. Adrian, können wir los?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Der Aqua-Boss nickte.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Hilflos musste Ryan mit ansehen, wie Maike ihr Schwalboss rief, die gefesselte Corinna bäuchlings über den Rücken des Vogelpokémons warf und sich dahinter setzte. Sie gab ein leises Pfeifen von sich und im nächsten Moment katapultierte sich Schwalboss in die Lüfte und verschwand am Horizont.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Adrian sah ihr hinterher. Schließlich drehte er sich um und sah Ryan an. „Ich kann nichts beweisen“, sagte er leise, „aber wenn es nach mir ginge, würdest du jetzt neben deiner kleinen Freundin liegen.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Mit diesen Worten wandte er sich ab und machte sich an den Abstieg. Ryan ließ er schweißnass und mit zitternden Händen zurück.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Als er verschwunden war, sackte Ryan in sich zusammen und vergrub das Gesicht in seinen Händen. „Ich habe gerade alles nur noch schlimmer gemacht, oder?“, fragte er heiser. Shuppet gab ein glückliches Gurren von sich und rieb seinen Kopf an Ryans Gesicht. „Ja“, sagte Ryan und fuhr sich durchs Haar, „habe ich mir schon gedacht.“[/JUSTIFY]

Ryan – Akt 3, Szene 1

9 Jahre vor Team Shadows Gründung
 

[JUSTIFY]Zum ersten Mal in seinem Leben verspürte Ryan so etwas wie Schuldgefühle. Nachdem Maike und Adrian mit Corinna im Schlepptau vom Pyroberg verschwunden waren, machte er sich schlurfend auf den Rückweg.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Er hatte einen Plan gehabt, hatte alles riskiert, und er war gescheitert. Maike war ihm mütterlich vorgekommen, freundlich. Er hatte geglaubt, sie würde ihn mit offenen Armen in Team Aqua aufnehmen, wenn er sie darum bat und ihr Corinna auslieferte, aber stattdessen hatte sie ihn abgewiesen, weil er zu jung war. Ausgerechnet ihre Fürsorge war ihm zum Verhängnis geworden. Ryan hatte sich noch nie wie ein Kind gefühlt. Ihm war entfallen, dass andere ihn durchaus als solches betrachten könnten. Und nun war Corinna gefangen und er alleine.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Nein. Nicht ganz alleine. Ryan blieb stehen und sah zu Shuppet, das in seiner Nähe schwebte und sich an seinen düsteren Gedanken ergötzte. Kleiner Sadist. Trotzdem. Shuppet konnte ihm helfen, alles wieder gerade zu biegen, genauso wie Corinnas Vulpix mit dem bedauernswerten Namen Foxy. Aber das reichte nicht. Er wollte es sich nicht eingestehen, aber wenn er auf altmodischem Weg ins Hauptquartier einbrechen wollte, brauchte er Hilfe. Es war Zeit, sich einen Schlachtplan zurechtzulegen.[/JUSTIFY][JUSTIFY] [/JUSTIFY][JUSTIFY] [/JUSTIFY][JUSTIFY]Es gelang Ryan mit etwas Mühe, einen der Fischer auf sich aufmerksam zu machen und ihn zu überreden, früher als gewöhnlich zurückzukehren. Trotzdem war es später Abend, als Ryan durchgefroren und erschöpft in Seegrasulb City ankam und sich zum Pokécenter schleppte. Ohne Corinna bestand kein allzu großes Risiko mehr, erkannt zu werden, und Shuppet musste sich von dem Training erholen, auch wenn es letztlich nicht viel gebracht hatte.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Während Ryan auf einer Couch darauf wartete, dass Foxy und Shuppet an die Reihe kamen, dachte er nach.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Als erstes musste er einen Weg finden, zum Hauptquartier zu kommen. Laut Corinna befand es sich in einer Meereshöhle östlich vom Strand. Er brauchte also ein Gefährt, mit dem er über das Wasser setzen konnte. Vielleicht ein Boot, dass er sich irgendwo leihen konnte? Er wollte ungern ein eigenes Wasserpokémon fangen, zumal ihm die VM Surfer fehlte. Verstärkung wäre ebenfalls angemessen. Ryan hielt viel auf sich und seine Fähigkeiten, aber auch er musste zugeben, dass es in Pokémonkämpfen nicht nur auf Qualität, sondern auch auf Quantität ankam, und derzeit hatte er von beidem wenig.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ryan Bittner!“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Beim Klang seines Namens zuckte Ryan erschrocken zusammen und hob den Kopf, nur um Schwester Joy zu entdecken, die ihn zu sich an die Theke winkte. Seine beiden Pokébälle lagen auf einem kleinen Tablett, das sie ihm zuschob. Er schnappte die Bälle und machte schnell kehrt, doch wie schon bei ihrem ersten Treffen ergriff sie seinen Arm.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Du siehst nicht gerade besser aus“, verkündete sie mit einem kritischen Blick. „Hast du Johanna nicht gefunden? Du bist regelrecht käsig.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Das liegt sicher an der Beleuchtung hier drinnen“, sagte Ryan und versuchte, sich loszumachen, doch der Griff der Schwester blieb eisern.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Nun, irgendetwas ist mit dir“, beharrte sie. „Hast du Sorgen? Wenn du Probleme hast, kannst du dich immer an die hiesigen Trainer wenden, oder an mich natürlich.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ja, mache ich, vielen Dank, auf Wiedersehen“, sagte Ryan, diesmal mit mehr Nachdruck und riss seinen Arm weg. Bevor Joy noch auf die Idee kam, ihn nach Corinna zu fragen, hastete er aus dem Pokécenter. Die salzige Nachtluft brannte sich durch seine Kehle, als er erleichtert durchatmete und sich schließlich entlang der Pokécenterfassade auf den Weg machte. Zuerst würde er zu Jo zurückgehen und hoffen, dass ihm in der Sicherheit ihrer vier Wände ein guter Einfall kam.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Etwas Hartes fiel von oben auf ihn herab.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Au!“ Ryan sprang erschrocken zurück und rieb sich den pochenden Hinterkopf. Vor ihm baumelte ein dickes Seil. Er sah nach oben. Aus dem Fenster im zweiten Stock direkt über ihm schwang sich ein Bein, dann noch eines, und im nächsten Moment kletterte ein junges Mädchen das Seil hinunter. Sie hatte noch nicht den Boden erreicht, als ein ohrenbetäubendes Knacken aus ihrem Zimmer drang und das Seil herausfiel, dicht gefolgt von einem abgebrochenen Stück Holz. Das Mädchen landete unsanft auf den Füßen und gab ein schmerzerfülltes Stöhnen von sich. Sie schüttelte den Kopf, entfernte das Holz, wickelte das Seil mit gekonnten Bewegungen um Hand und Ellenbogen und verstaute es in ihrem gewaltigen Rucksack. Erst jetzt drehte sie sich um und stieß einen spitzen Schrei aus, als sie Ryan entdeckte, der sie perplex beobachtete.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Was machst du hier?“, zischte sie durch ihre Atemmaske, sah sich angstvoll um und packte ihn am Handgelenk, um ihn in die nächste Straßenecke zu zerren. Ryan riss sich los, kaum dass sie die Straße hinter sich gelassen hatten.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Friedlich meines Weges gehen“, fauchte er zurück. „Was machst du hier?“ Er besah sich die Maske. „Bist du eine Diebin?“ Sie hustete, ihre Bronchien eindeutig belegt. „Oder krank?“ Sie hustete erneut, dieses Mal heftiger. „Definitiv krank“, schloss er.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Schlaumeier“, sagte sie und zog den Wollschal um ihren Hals fester. „Sehe ich wie eine Diebin aus?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan besah sich ihre dunkle Hose, die schwarzen Schuhe, das schwarze Oberteil und die Gesichtsmaske. „Ja“, gestand er. „Ziemlich.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Nun, ich bin keine Diebin.“ Sie hustete erneut und streckte ihm dann ihre Hand zur Begrüßung hin. Ryan verzog angewidert das Gesicht. „Ich heiße Ellie und breche aus der Quarantäne aus.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Du!“ Jetzt fiel es Ryan wie Schuppen von den Augen. „Du bist diese Trainerin, von der Joy erzählt hat. Die mit der Bronchitis.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Bronchitis, Erkältung, ist mir schnurz“, sagte Ellie und strich ihren schwarzen Zopf glatt. „Ich habe keine Zeit, noch eine ganze Woche in meinem Zimmer zu verrotten. Die Meere wollen erforscht werden und sie warten nicht!“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Wo gehen sie denn hin, die Meere?“, fragte Ryan hämisch grinsend.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Nimm nicht alles so wörtlich.“ Sie sah ihn böse an. „Wirst du dich nun auch vorstellen oder soll ich mir einen Namen für dich ausdenken?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ryan“, sagte er und rieb sich die Schläfen. Und er hatte gedacht, Corinna sei anstrengend.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Der Gedanke an Corinna versetzte ihm einen kurzen Stich. Inzwischen war sie sicher schon im Hauptquartier. Ob man sie dort verhörte? Ob Adrian sie folterte? Bevor er die Vorstellung weiterspinnen konnte, riss Ellie ihn aus seiner Starre.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„War nett mit dir geredet zu haben“, sagte sie, hustete und schulterte ihren Rucksack, „aber ich muss jetzt weiter. Heute Nacht wird es nichts mehr mit dem Schwimmen, aber ich will die Stadt verlassen, bevor Joy mitkriegt, dass ich getürmt bin.“ Sie runzelte die Stirn. „Wenn ich jetzt noch eine Bleibe hätte ... Na ja, muss ich halt eine Nacht draußen schlafen, es gibt schlimmeres. Bis dann.“ Sie gab ihm eine Art militärischen Gruß und hopste davon.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Einige Sekunden blieb Ryan bewegungslos stehen, zu überwältigt von der Begegnung, um irgendetwas zu tun. Erst als Ellies Zopf hinter einer Hausmauer verschwand, wurde ihm klar, was gerade geschehen war. Er fluchte und sprintete los.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan war nicht sehr sportlich, aber immerhin sportlicher als Ellie mit ihrer belegten Lunge, denn er holte das Mädchen nur zwei Straßen weiter ein. Er hätte sie schon früher auf sich aufmerksam machen können, wenn er gewagt hätte, nach ihr zu rufen, aber sie hatten die Stadt noch nicht verlassen und er wollte ungern die ganze Nachbarschaft aufwecken. Ellie musste den Klang seiner Schuhe auf dem Pflaster gehört haben. Sie drehte sich um, als er noch etwa zwanzig Meter entfernt war und wartete, bis er hechelnd neben ihr zum Stillstand kam.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Du schwimmst morgen … irgendwo hin?“, fragte er.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Sie nickte mit leuchtenden Augen. „Moorabbel und ich schwimmen nach Moosbach City“, erklärte sie. „Dort gibt es die Küstenhöhle. Ich will unbedingt ein Seemops fangen, die gibt es nur dort. Und auf dem Weg dorthin komme ich an einigen Tauchplätzen vorbei. Ein Perlu, oder sogar ein Relikanth wären —“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ist mir völlig egal“, unterbrach Ryan sie. „Verstehe ich das richtig, dass du morgen mit deinem Wasserpokémon, das Surfer beherrscht, über das Meer schwimmst?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Daaas ist richtig“, sagte sie langezogen, „aber was hat das mit dir zu tun, wo dir meine Wasserabenteuer doch völlig egal sind?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich habe einen Handel vorzuschlagen“, sagte Ryan und verschränkte die Arme. „Ich biete dir für heute Nacht einen Schlafplatz außerhalb der Stadt an, mit warmer Dusche, eigenem Zimmer, Abendessen und Frühstück.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Nett“, gestand Ellie.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Im Gegenzug —“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„War klar, dass die Nummer `nen Haken hat.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Im Gegenzug“, wiederholte Ryan lauter, „nimmst du mich morgen mit und setzt mich an einem bestimmten Ort ab.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Die Atemmaske um Ellies Mund spannte sich. Ryan konnte nur raten, was für einen Ausdruck sie darunter machte. „Muss ich dafür einen Umweg machen?“, fragte sie schließlich.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Höchstens minimal. Es liegt auf deiner Strecke.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Und du willst nicht wieder abgeholt werden? Ich muss nicht tagelang dort auf dich warten oder so? Keine versteckten Klauseln, Wortspiele, das übliche Kleingedruckte, das keiner liest?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan schüttelte den Kopf. Das wäre zwar noch idealer, aber er konnte sein Glück jetzt schon kaum fassen. Um die Rückkehr würde er sich Gedanken machen, wenn er Corinna und seinen USB-Stick wiederhatte.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Also schön.“ Ellie nickte entschlossen und reichte ihm ihre Hand. Dieses Mal ergriff Ryan sie, wenn auch wenig begeistert. „Und jetzt zeig mir den schnellsten Weg zu dieser warmen Dusche mit Abendessen und Frühstück.“[/JUSTIFY]

Ryan – Akt 3, Szene 2

9 Jahre vor Team Shadows Gründung
 

[JUSTIFY]„Nur um das klarzustellen“, begann Ryan, als sie vor Jos Tür darauf warteten, eingelassen zu werden, „du gehörst nicht zufällig zu Team Aqua, oder?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ellie hob die Augenbrauen. „Wie kommst du denn darauf?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ach …“ Ryan dachte an ihre halb ekstatische Beschreibung der Wasserpokémon, die sie bereits gefangen hatte und derer, die noch auf ihrer Liste standen, „Nur so.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]In dem Moment schwang die Tür auf und Jo begrüßte sie mit weit geöffneten Armen. Bei Ellies Anblick allerdings legte sich ihre Stirn in Falten. „Wenn meine alten Augen sich nicht täuschen, hat Corinna sich sehr verändert.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich bin Ellie“, stellte Ellie sich vor, hustete und schüttelte Jos Hand, bevor die nur einen Pieps sagen konnte. Wie ein Wiesel zwängte sie sich an der ehemaligen Schwester Joy vorbei ins Haus und verschwand in der Küche.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan rieb sich die Stirn. „Kann sie heute Nacht hier übernachten?“, fragte er. „Sie hat keine Bleibe und will morgen früh abreisen.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Sicher, sicher“, sagte Jo, ohne ihn anzusehen. Ihr Blick war ins Innere des Hauses gerichtet, zur Küche, aus der inzwischen das Klirren von Geschirr und freudiges Schmatzen zu hören waren. „Einen guten Appetit hat sie jedenfalls. Ich hätte euch auch etwas gekocht, wenn ich gewusst hätte, wann ihr zurück seid.“ Nun beäugte sie Ryan doch kritisch. „Zumindest einer von euch beiden. Wo ist Corinna?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Sie, äh, sie ist …“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ryan!“, unterbrach Ellies entzückter Ruf aus der Küche sein peinliches Gestammel, „hier ist ein himmlischer Pirsifbeerkuchen und ich biete dir nur ein Stück an, weil du mich hier schlafen lässt, aber wenn du nicht in zwei Sekunden da bist, esse ich ihn alleine!“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Warte, ich komme!“, schrie Ryan und hastete an Jo vorbei, deren viel zu wachsamer Blick ihm den ganzen Weg über folgte.[/JUSTIFY][JUSTIFY] [/JUSTIFY][JUSTIFY] [/JUSTIFY][JUSTIFY]Nach dem Abendessen verabschiedete Ellie sich unter die Dusche und Ryan ins Bett. Er hatte es irgendwie geschafft, Jo mit anderen Gesprächsthemen bei Laune zu halten und sie hatte sich nicht weiter nach Corinna erkundigt, aber diese Stille gefiel ihm noch weniger, um ehrlich zu sein. Sie gab ihm das Gefühl, nicht Herr der Lage zu sein. Als wüsste Jo mehr, als sie zugab.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Die ganze Nacht über machte er kaum ein Auge zu. Er hatte nun zwar einen Weg, um zum Hauptquartier zu kommen, aber er war furchtbar unvorbereitet. Wie sollte er einbrechen, ohne zu wissen, wie das HQ überhaupt gesichert war? Wie sollte er gegen Team Aqua bestehen, wenn es hart auf hart kam und er kämpfen musste? Wie sollte er seinen USB-Stick zurückklauen und Corinna samt Maggy unbemerkt aus der Aqua-Basis schleusen? Am liebsten hätte er Ellie gebeten, noch einige Tage zu warten, aber er wusste, dass sie ablehnen würde. Ihre Leidenschaft für die Meeresbewohner grenzte an ungesunde Obsession und von seinen Unterhaltungen mit Corinna über Team Magma wusste er, dass dagegen nicht anzukommen war. Wenn er nur wüsste, was ihn erwartete. Wenn er nur ein vollständig trainiertes Pokémon-Team hätte, dass es mit jedem Gegner aufnehmen konnte. Es war nervig, schwach zu sein.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Die Sonne war noch nicht vollständig aufgegangen, als Ryan es nicht mehr aushielt und förmlich aus dem Bett sprang. Er musste etwas tun. Etwas, dass er nicht unbedingt tun wollte, aber im Angesicht der Umstände sah er keine andere Möglichkeit. Hoffentlich würde Jo ihm verzeihen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Wenn er sie je wiedersah.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ohne Licht anzumachen, schlüpfte er aus dem Gästezimmer, tippelte den Flur entlang und blieb neben Jos Schlafzimmertür stehen. Er legte sein Ohr an das Holz und lauschte. Ihr lautes Schnarchen erfüllte ihn mit etwas Ruhe. Entschlossen schlich er die Treppe hinunter und ins Wohnzimmer.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Jos Paras döste wie immer auf der Fensterbank, die mondbeschienen Pilze auf dem Rücken schlaff herabhängend. Zuerst durchsuchte er den Schrank im Flur. Dann die Regale in der Küche. Die kleinen Fächer unter dem Wohnzimmertisch. Sogar im Toilettenschrank sah er nach, ohne Erfolg.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Er muss doch hier irgendwo sein!“, zischte Ryan frustriert, als er wieder im Wohnzimmer stand. Paras, das noch immer schlief, schien ihn mit seiner schieren Existenz zu verhöhnen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Suchst du den hier?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan fuhr herum, sein Herz so wild rasend wie zuletzt, als Adrian und Maike ihn fast auf dem Pyroberg beim Lauschen erwischt hatten. Am Fuß der Treppe stand, in ihr pinkes Nachthemd gekleidet und mit ebenfalls pinken Lockenwicklern im Haar, Jo. In der Hand hielt sie einen Pokéball. Sie lächelte traurig. „Du glaubst doch nicht, dass ich etwas so Wichtiges einfach rumliegen lasse. Vor allem, wenn ich Kinder beherberge, die mich anlügen und polizeilich gesucht werden.“ Ryan lief es eiskalt den Rücken runter. „Dachtest du, ich verlasse nie mein Haus?“, fuhr Jo fort. „Ich bin beim Einkaufen an einigen der Plakate vorbeigekommen. Sie haben Corinna wirklich gut getroffen. Und dann tauchst du alleine wieder hier auf, drückst dich um eine Antwort und versuchst anschließend, mein geliebtes Paras zu stehlen. Was soll ich davon halten?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich …“ Ryan fand sich nicht oft sprachlos zurück. Doch nachdem er zuerst Maike und nun auch Jo völlig falsch eingeschätzt hatte, fragte er sich allmählich, ob seine sozialen Kompetenzen nicht vielleicht doch so schlecht waren, wie Corinna ihm stets versicherte.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich möchte nur eines wissen“, sagte Jo, kam die letzte Stufe herunter und setzte sich auf das Sofa, „möchtest du abhauen oder sie retten?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan schluckte, sah dann jedoch ein, dass zu Lügen nun alles nur noch schlimmer machen würde. Jo hatte ihn entlarvt. Er hatte nichts mehr zu verlieren. „Team Aqua hat sie mitgenommen“, sagte er matt und ließ sich vor Jo im Schneidersitz auf den Boden sinken. „Ich will sie zurückholen.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Was folgte, war eine ausführliche und für Ryan abwechselnd schmerzhafte und peinliche Nacherzählung der Geschehnisse, seit er Corinna über den Weg gelaufen war. Jo hörte aufmerksam zu und warf nur hin und wieder eine Frage dazwischen. Je länger Ryan berichtete, desto finsterer wurde ihr Ausdruck.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich kenne Maike“, sagte sie nach einer Pause, in der sie beide nur stumm ihren Gedanken nachhingen. „Ich war noch im Dienst, als sie auf ihrer Trainerreise hier durchkam. Sie war kein Genie, aber sie hat immer hart gearbeitet und das Verhältnis zu ihren Pokémon war außergewöhnlich. Sie war mitfühlend und herzlich und stets hilfsbereit. Ich kann nicht glauben, dass sie nun mit solchen Menschen zusammenarbeitet und Kinder entführt.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Sie war dagegen“, sagte Ryan. „Selbst zum Schluss wollte sie Corinna nur Fragen stellen. Sie schien … mütterlich.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Jo lächelte, die Falten um ihre Augen traten stärker hervor. „Nett von dir, das zu sagen.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan stockte. Nett? Was hatte er gesagt? Er hatte Maike erwähnt, positiv, hatte Jo förmlich … aufgemuntert. Er stöhnte, verließ hastig den Raum und versteckte sich hinter einem Schrank. Die Schmach … Wie war es nur so weit gekommen?[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Was tust du da?“, rief Jo ihm besorgt hinterher.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan schloss die Augen. „Ich durchlebe eine Existenzkrise.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ein leises Lachen. „Nun, wenn du damit fertig bist, können wir vielleicht einen Plan aushecken.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan schielte hinter dem Schrank hervor. Jo lächelte noch immer. Etwas traurig vielleicht, aber sie lächelte. Vorsichtig kam er aus seinem Versteck hervor.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich kann dir Paras nicht ausleihen, das wirst du sicher verstehen. Er ist inzwischen alt und zum Kämpfen nicht mehr zu gebrauchen. Aber ich sammle seine Sporen für Tees und Salben.“ Ächzend erhob sie sich und verschwand in der Küche. „Hier irgendwo sollten sie sein … ah, das ist es.“ Als sie zurückkehrte, hielt sie zwei kleine Beutel in den Händen. „Der rote enthält Parasporen, der grüne Schlafpuder. Du solltest die Beutel nur öffnen, wenn du sie auch wirklich benutzen willst, die kleinen Dinger verteilen sich sonst sofort in der Luft. Ich fürchte allerdings, dass die Dosis nur für einen Gebrauch reicht.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Danke“, sagte Ryan und nahm die Beutel entgegen. Er wollte es schnippisches, cleveres sagen, etwas, das ihm das Gefühl gab, nicht völlig verweichlicht zu sein. Aber Ironie prallte an Jo ab wie Regen von Wachs und wenn er ehrlich war, konnte er sich nicht daran erinnern, das letzte Mal so freundlich und auf einer Augenebene behandelt worden zu sein. Selbst seine Mutter sprach zu ihm wie zu einem schwierigen Kind. Das musste wohl in der Familie der Joys liegen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Statt also zu keifen, nickte er zu Paras. „Warum haben sie ihn überhaupt?“, fragte er. „Und das Loturzel. Ich dachte, Joys besitzen nur Chaneira.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Das sind unsere Starter bei der Ausbildung“, stimmte Jo zu. „Aber es gibt genug Trainer, die Pokémon in der Nähe von Pokécentern aussetzen oder freilassen und manchmal formt sich zwischen Pokémon und Retter eine Beziehung, bevor das Pokémon ausgewildert werden kann.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Und ihr Chaneira?“, fragte Ryan, obwohl er, tief im inneren, die Antwort schon kannte.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Chino starb vor einem halben Jahr“, sagte Jo leise, erhob sich und sah mit dem Rücken zu ihm aus dem Fenster. „Ich habe sie unter den Blumenbeeten begraben, das hätte ihr gefallen. Wir haben den Pyroberg noch nie gemocht.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan leistete ihr Gesellschaft, bis die Sonne aufging und die letzten Schleier der Trauer aus dem Wohnzimmer vertrieb.[/JUSTIFY][JUSTIFY] [/JUSTIFY][JUSTIFY] [/JUSTIFY][JUSTIFY]Bevor Ellie wach wurde und auf sofortige Abreise drängen konnte, kratzte Ryan sein gesamtes Erspartes zusammen und deckte sich im Einkaufszentrum mit einer Fülle aus Supertränken ein. Als er an einem Regal mit angepriesenen Fluchtseilen vorbeikam, platzte ihm jedoch der Kragen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ein langes, festes Seil, das die sofortige Flucht aus Höhlen oder Ähnlichem ermöglicht. Was soll das denn bitte heißen?“, fragte er aufgebracht den nächstbesten Bediensteten, der gerade mit verrutschter Brille und einem Arm voller Kartons um die Ecke kam. „Teleportiert es des Nutzer etwa zum Ausgang? Das Seil ist nicht mal zwei Meter lang, das reicht ja kaum, um einen Abhang runterzuklettern, geschweige denn hoch!“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Das steht so in der Artikelbeschreibung, wie übernehmen die nur“, erwiderte der Angestellte, sichtlich unangenehm berührt. Gut so. Es war lange her, dass Ryan seinem gerechten Zorn hatte Luft machen können.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Das sofortig ist auch problematisch“, fuhr er fort. „Das sollte aus der Anzeige gestrichen werden.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Der Angestellte begann unter dem Gewicht seiner Kartons zu schwitzen. „Aber dann stände dort ja nur noch Ein festes Seil, das die Flucht aus Höhlen ermöglicht.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Wenn es das überhaupt tut“, stimmte Ryan zu. „Und was die Festigkeit angeht, wie wurde das getestet? Wie viel Zug hält es aus, bevor es reißt?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich … ich weiß nicht?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich soll also mein Leben, das Leben meiner Freunde und meiner Pokémon einem Produkt anvertrauen, das weder lang ist, noch sofortige Rettung verspricht, noch im Zweifelsfalls stark genug ist, um unser gemeinsames Gewicht zu tragen?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„V-vielleicht sollte ich den Geschäftsführer holen, damit Sie mit ihm sprechen können …“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Das“, sagte Ryan und atmete tief durch, „würde mich sehr befriedigen.“[/JUSTIFY][JUSTIFY] [/JUSTIFY][JUSTIFY] [/JUSTIFY][JUSTIFY]Eine halbe Stunde später verließ er das Einkaufszentrum mit einem Rucksack voller Tränke und Seile, die nun unter dem Verkaufsslogan Ein Seil verkauft wurden. Zufrieden mit sich und der Welt kehrte Ryan zu Jos Haus zurück, wo Ellie wie vermutet bereits ungeduldig auf ihn wartete.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Wo bist du gewesen?“, fragte sie wütend. Ihre Stimme hatte sich dank Jos Kräutertees etwas erholt, aber sie trug noch immer ihren Mundschutz. „Ich wollte schon vor einer Stunde aufbrechen!“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Jetzt bin ich soweit“, sagte Ryan, noch immer zu glücklich, um sich wegen ihres Tons zu ereifern. Ellie seufzte, schulterte ihren Rucksack und stapfte davon. Ryan folgte ihr. Bis zum Strand war es nur eine kurze Strecke zu Fuß. Wingulls kreischten in der Ferne und sanfte Wellen schäumten über den Sand, bevor sie sich wieder zurückzogen. Ellie zog einen Pokéball aus ihrer Hosentasche und rief ihr Pokémon, ein stämmiges Moorabbel, das sich seiner Trainerin um den Hals warf und aufgeregt mit dem Hinterteil wackelte. Als die beiden sich endlich voneinander lösten, sah Ellie zu ihm.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Also, wo soll es jetzt hingehen?“, fragte sie.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Zum Team Aqua Hauptquartier“, sagte Ryan. Er wartete auf ihre Reaktion. Zuerst schien sie verwirrt, dann hellten sich ihre Züge auf.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ach, deshalb wolltest du wissen, ob ich Mitglied bin. Du willst beitreten!“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ja, genau“, stimmte Ryan zu. „Du hast die Situation perfekt erkannt.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Wusste ich es doch.“ Die Freude über ihre Entdeckung wurde unterbrochen, als aus der Ferne eine schrille Stimme erklang.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ellie Merick, kommt sofort zurück! Ryan riss den Kopf herum, nur um Schwester Joy zu entdecken, die mit hochgerafftem Rock durch den Sand sprintete und auf sie zuhielt. „Du bist noch nicht wieder gesund!“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ellie blieb ihr Lachen im Halse stecken. „RENN! RENN UM DEIN LEBEN!“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ryan rannte. Nicht um sein Leben, aber bei dem Zorn, der von Joy zu ihnen herüberbrodelte, fühlte es sich fast so an.[/JUSTIFY]

Ryan – Akt 3, Szene 3

9 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

 

Ryan war nicht sicher, was er erwartet hatte. Dass Moorabbel auf magische Weise anwachsen und sie trocken durchs Meer transportieren würde, vielleicht. Oder das sich eine trockene Blase um sie bilden würde. Wie immer fand er sich auf grandiose Weise vom Universum verraten.

Mit Schwester Joys Geschrei im Hintergrund hatte Ellie sich blitzschnell ihrer Schuhe und Socken entledigt und Ryan beordert, dasselbe zu tun. Nun hingen sie beide mit einem Arm um Moorabbels Rumpf geklammert bis zur Brust im Wasser, die Rücksäcke zwischen sich im trockenen gelagert, und schwammen aufs offene Meer hinaus.

„Ich hasse mein Leben“, sagte Ryan, der schon lange nicht mehr zu dieser Erkenntnis gekommen war. „Ich hasse es mit der Macht von tausend Sonnen.“

Trotz Moorabbels geringer Größe und seiner beiden Anhängsel erwies sich der Wasserstarter als hervorragender Schwimmer. Bis Schwester Joy den Strand überquert hatte und zu den Knien im Wasser stand, hatten sie sich bereits gut hundert Meter von den Wellen davontragen lassen. Die Schwester war nur noch ein fuchtelnder Fleck in der Ferne.

Ellie lenkte Moorabbel zunächst aufs offene Meer hinaus, bevor es weiter nach Norden ging. Es dauerte nicht lange, bis sich eine gewaltige Meereshöhle vom Horizont abhob. Ryan kniff die Augen zusammen, um die dunklen Punkte in Fokus zu bringen, die das Hauptquartier in einem engen Radius umschwärmten. Er musste dringend seine Sehstärke testen lassen.

Je näher sie kamen, desto genauer konnte er die Formen erkennen. Es waren Kameradrohnen, vier Stück, die das Meer im Umkreis des Höhleneingangs filmten. Ryan zischte genervt. Es war ja nicht auch so schon schwer genug gewesen.

„Halt an“, befahl er. Ellie sah ihn überrascht an, gab Moorabbel aber einen leichten Klaps. Das Wasserpokémon wurde langsamer und kam schließlich zum Stillstand.

„Welches Bibor hat dir denn in den Allerwertesten gepiekst?“, fragte sie. „Wir sind noch nicht mal in der Nähe. Sag nicht, du willst das letzte Stück schwimmen? Dann hätten wir uns diesen Umweg nämlich sparen können.“

„Siehst du die Kameras?“, fragte Ryan und deutete unauffällig in die Richtung der Drohnen. Er wusste nicht, wie weit ihr Blickwinkel reichte, aber bislang gingen er und Ellie noch als normale Wassertrainer durch. „Wenn wir näher kommen, werden sie uns entdecken.“

„Und wo ist das Problem?“, erwiderte Ellie und hustete. „Ich meine, du willst doch beitreten. Vielleicht schmeißen sie eine Willkommensparty oder so.“

„Bezweifle ich“, presste Ryan zwischen den Zähnen hervor. Er hatte völlig verdrängt, dass Ellie dachte, er wolle Aqua beitreten. Wie sagte seine Mutter immer? Lügen haben kurze Beine. Er wünschte, sie hätte nicht ausgerechnet in diesem Punkt Recht.

„Ich habe mich das schon eine Weile gefragt“, fuhr Ellie unterdessen fort, „aber wie läuft so ein Beitritt eigentlich ab? Und warum hast du kein eigenes Wasserpokémon?“

„Wir bekommen unseren Wasserstarter vor Ort“, erklärte er ungeduldig. „Und es kann nicht einfach jeder reinspazieren, man muss beweisen, dass man geeignet ist.“

„Und wie?“

„Nun, zum Beispiel, indem man sich an diesen Überwachungskameras vorbeischleicht und sie in ihrem Hauptquartier überrascht.“

Ellie verzog das Gesicht. „Klingt fischig.“

„Fischig? Sagt die Jugend das heutzutage so?“

„Ich sage das so. Und was heißt hier die Jugend, du bist doch selbst erst —“

Ryan warf ihr einen strafenden Blick zu. „Was ist jetzt, hilfst du mir, da reinzukommen, oder nicht?“

Sie kratzte sich am Kopf. „Beweist das nicht eher meine Eignung? Solltest du nicht selbstständig dort reinkommen?“

„Denk … einfach nicht und tu, was ich dir sage.“

Ellie wirkte nicht sehr überzeugt, nickte jedoch. „Was soll ich tun?“

Ryan dachte kurz nach. Vermutlich waren innerhalb der Höhle Überwachungskameras angebracht und er wettete, dass die Türen elektrisch oder zumindest manuell verriegelt waren. Zuerst musste er sich Zugang zur Schaltzentrale verschaffen, ohne gesehen zu werden. Aber dafür musste er an den Drohnen vorbei. „Dein Moorabbel kann nicht zufällig Taucher, oder?“, fragte er hoffnungsvoll.

Ellie sah ihn verächtlich an. „Natürlich kann er das“, sagte sie. „Wie sonst soll ich wohl Perlu und Relikanth fangen?“

„Und Atemmasken?“

„Die wollte ich mir in Moosbach City kaufen.“ Ryan seufzte schwer. „Was denn?“, fauchte sie beleidigt. „Dort gibt es ein Spezialgeschäft! Aber ich kann bestimmt zwei Minuten die Luft anhalten“, fügte sie stolz hinzu.

„Ich dafür nur dreißig Sekunden“, sagte Ryan, rückte seine herabgerutschte Brille zurecht und versuchte, sich seine Enttäuschung nicht zu sehr anmerken zu lassen. Dreißig Sekunden. Vielleicht auch länger, er hatte seine Lunge schließlich nie wirklich auf die Probe gestellt. Trotzdem war es ein sehr knapp bemessener Zeitrahmen.

„Was ist jetzt?“, fragte Ellie. „Tauchen wir oder nicht?“

 

Ryan hatte wirklich keine Lust, aber was blieb ihm anderes übrig? Er überprüfte ein letztes Mal, dass die Puderbeutel, die Jo ihm mitgegeben hatte, sicher und wasserdicht in ihren Plastiktüten verpackt waren, dann nickte er. „Tauchen wir.“

Moorabbel ließ sich etwas tiefer sinken, bis Ryan das Wasser bis unter die Nase stand. Vorsichtig näherten sie sich der Höhle. Sie hatten nur eine Chance. Wenn sie zwischenzeitlich auftauchten, bevor sie ihr Ziel erreichten, war alles vorbei. Als sie so nah waren, dass die Drohnen eine echte Gefahr darstellten, gab Ellie das Zeichen, Ryan holte tief Luft und sie tauchten ab.

Obwohl das Salzwasser in seinen Augen stach, hielt Ryan sie zwanghaft geöffnet. Moorabbel tauchte nicht tief, gerade weit genug nach unten, dass die Drohnen sich durch den Wellengang nicht ausmachen konnten. Kurz schwebten sie im blauen Nichts. Plötzlich ging ein Ruck durch Ryan, der sich verzweifelt an Moorabbels Rumpf krallte, als der Wasserstarter mit den kräftigen Flossenbeinen Schwung holte und sie wie einen Torpedo durch das Meer katapultierte.

Sie konnten kaum zehn Sekunden unter Wasser gewesen sein, aber Ryan kam es bereits vor wie eine volle Minute. Moorabbels Spurt hatte ihn so erschrocken, dass ihm einige Luftblasen entwichen waren und nun brannte seine Lunge. In seinem Hinterkopf wusste er, dass die Aufregung und Panik sein Herz schneller schlagen ließen und seinen Sauerstoffverbrauch dadurch erhöhten, aber das ließ ihn nur noch stärker in Panik geraten und Ryan musste aktiv dagegen ankämpfen, Moorabbel loszulassen und zur rettenden Oberfläche zu schwimmen.

Noch zehn Sekunden. Oder zwanzig? Ryans Kehle kontrahierte. Er hatte keine Luft mehr, das Meer drückte von allen Seiten auf ihn ein. Vergiss Corinna, er musste hoch, sonst würde er kläglich ertrinken!

Er lockerte seinen Griff um Moorabbel, doch eine Hand schoss vor und packte sein Handgelenk. Panisch riss Ryan den Kopf herum, nur um verschwommen Ellie zu erkennen, die ihn eisern festhielt. Ryan öffnete den Mund, atmete sein letztes bisschen Luft aus, spürte, wie sein Körper den Auftrieb verlor und schwerer wurde, wie Moorabbel sie weiter mitzog und dann, als wäre alles nur ein böser Traum gewesen, aus den Tiefen auftauchte.

Seine erste Amtshandlung war, zu atmen. Ryan hätte nie gedacht, jemals so dankbar für frische Luft zu sein, aber in diesem Moment war es das köstlichste, was er je geschmeckt hatte. Seine zweite Amtshandlung war, sich panisch umzusehen.

Moorabbel hatte den Ort für ihr Auftauchen gut ausgewählt, absichtlich oder nicht. Sie befanden sich direkt neben der Steinwand, die über ihnen einen Tunnel bildete und gut fünfzig Meter tiefer in die Meereshöhle führte. An den Wänden hingen Kameras, aber sie waren weit auseinander und deckten erst ab dem eigentlichen Eingang am Ende des Tunnels den gesamten Bereich ab. Die Luft war nur erfüllt von dem echohaften Schwappen des Wassers und dem Wind, der sich am Eingang brach. Keine Warnsignale oder schrilles Piepen. Bislang waren sie unentdeckt geblieben.

Trotzdem machte sich seine Aufregung bemerkbar. Ryans Herz klopfte laut und heftig in seiner Brust und er schnappte noch immer nach Atem, obwohl sie schon eine gute Minute über Wasser waren.

Ellie sah sich begeistert um. Ryan hoffte inständig, sie begriff den Ernst der Lage und würde nicht anfangen, rumzuschreien (er traute ihrer Intelligenz nicht ganz über den Weg), aber sie machte keinen Mucks.

Als Ryan sicher war, dass sie vorerst nicht entdeckt werden würden, kramte er Shuppets Pokéball aus seiner Jackentasche und rief sein Pokémon. Kaum dass es sich materialisierte, raunte er ihm zu, unsichtbar zu werden. Der dunkle Geist gehorchte aufs Wort, auch wenn Ryan kalte Schauer über den Rücken liefen, da das Pokémon sich eng an ihn schmiegte. Seine Nervosität musste Shuppet ziemlich gefallen. Verdammter Sadist.

„Siehst du die Kameras am Ende des Tunnels?“, fragte er leise. Ein kaltes, feuchtes Etwas fuhr seine Wange entlang und Ryan stieß beinahe einen schrillen Schrei aus. Hatte … hatte Shuppet ihn gerade abgeleckt? Blaue Augen erschienen vor ihm, zusammengekniffen in eindeutiger Schadenfreude. Hatte Ryan wirklich auch nur für eine Sekunde geglaubt, er könnte sich mit diesem Freakmonster arrangieren? Hah! Sehr witzig, Ryan. Wirklich zum Totlachen.

„Sie machen es unmöglich, in das HQ einzubrechen“, fuhr er im Flüsterton fort. „Es gibt zwei Möglichkeiten, wie wir fortfahren. Wenn die Tür einen manuellen Schließmechanismus hat, musst du die Kameras so drehen, dass wir ungesehen reinkönnen und die Tür von innen öffnen. Wenn die Tür elektrisch verschlossen ist, müssen wir warten, bis jemand die Tür benutzt, dann kannst du ausspionieren, was der Code ist. Die Kameras können erst kurz vor unserem Einbruch verschoben werden, sonst merken die Aquas was. Verstanden?“

Shuppets Augen schlossen sich in einem zustimmenden Zwinkern. Es war so schnell verschwunden, dass Ryan nicht sicher war, wirklich mit ihm geredet zu haben.

„Ich will mich da ja nicht einmischen“, sagte Ellie langezogen, „aber bist du sicher, dass du so von Aqua aufgenommen wirst? Solltest du nicht, ich weiß nicht, anklopfen und nett fragen, ob du beitreten kannst?“

„Ich hab dir schon gesagt, dass man sich erst beweisen muss!“, fauchte Ryan, der zwar froh war, sich an Moorabbel klammern zu können, aber auf Ellies Gesellschaft gerne verzichtet hätte. „Wie schwer von Begriff bist du eigentlich?!“

Ellies Blick verfinsterte sich. „Tut mir leid, dass ich helfen wollte“, sagte sie leise, schob Ryans Rucksack von Moorabbels Rücken, sodass Ryan loslassen musste, um seine Tasche zu retten. „Wird nicht wieder vorkommen.“

Und mit diesen Worten holte sie tief Luft und verschwand mit ihrem Wasserstarter in den Tiefen. Ryan fand sich allein und mit einem stetig nasser werdenden Rucksack wieder, eingekesselt zwischen Überwachsungskameras und ohne Hilfe.

Warum konnte er nicht einmal in seinem Leben die Klappe halten?

Ryan – Akt 3, Szene 4

9 Jahre vor Team Shadows Gründung
 

[JUSTIFY]Da es nun ohnehin zu spät war, seinen Rucksack trocken zu halten, kämpfte Ryan mit den Trägern, bis die Tasche über seinen Schultern hing und paddelte verloren mit den Beinen. Ellie war keine fünf Minuten weg und schon spürte er die Anstrengung, die ihm das Schwimmen abverlangte. Negative Gedanken jagten durch seinen Kopf. Er war kein besonders ausdauernder Schwimmer. Bald würde er die Wahl treffen müssen, ob es besser war, zu ertrinken oder von Team Aqua erwischt zu werden, wenn er sich auf die Plattform hievte. Dazu kam es jedoch nicht.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Als hätte es seinen Pessimismus gerochen (was Ryan nicht ausschloss), tauchte kurze Zeit später Shuppet neben ihm auf. Zumindest seine Augen, denn der Geist hielt sich an Ryans Befehl, unsichtbar zu bleiben.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Wie sieht es aus?“, fragte Ryan. Shuppet wiegte verneinend den Kopf. Also war es eine elektrische Tür. Ryan seufzte. Was hatte er auch erwartet? Sein alter Plan war inzwischen nutzlos. Er konnte nicht auf gut Glück warten und hoffen, dass in den nächsten Minuten zufällig ein Aqua den Eingang benutzte. Seine Arme und Beine brannten. Er musste die Initiative ergreifen.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Shuppet“, begann er, „du musst raus zu den Drohnen fliegen und ihre Aufmerksamkeit wecken. Gib Aqua einen Grund, jemanden rauszuschicken, um nach dem Rechten zu sehen und sich von der Tür zu entfernen, damit er anschließend den Code eingeben musst. Komm danach zurück.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Shuppet blinzelte ihn an und verschwand. Ryan schwamm weiter und analysierte die Kamerawinkel. Er war nicht hundertprozentig sicher, aber wenn er von hier bis zur Plattform tauchte und sich in der Ecke nahe der Wand versteckte, sollte er sich in einem toten Winkel befinden.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Von außerhalb des Tunnels ertönte ein hohes Kreischen und das Quietschen von Metall, sowie panisches Flügelschlagen. Ryan verrenkte sich bei dem Versuch, nach draußen zu sehen, fast den Hals aus, entdeckte jedoch eine trudelnde Drohne und ein brennendes Wingull, das durch die Lüfte schoss und wehleidig schrie.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Gut gemacht, Shuppet, dachte er, bevor er sich davon abhalten konnte. Keine Minute später erschallte ein hohes Piepen aus Richtung der Eingangstür. Ryan wandte sich hastig um, holte tief Luft, und tauchte.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Er tauchte tiefer als zuvor mit Moorabbel, um nicht von dem Aqua entdeckt zu werden, und schwamm um sein Leben. Der Rucksack war unter Wasser leicht, aber er vergrößerte die Fläche, die Ryan dem Wasser als Widerstand bot und verlangsamte ihn. Über sich konnte Ryan rotes Licht erkennen und hörte wie durch Watte den Ruf eines Pokémon, das im nächsten Moment einige Meter entfernt im Wasser landete und sofort schneller wurde. Ryan tauchte noch etwas tiefer und entging den Flossen des großen Fisches nur um Haaresbreite. Dann mobilisierte er all seine Kräfte und schwamm weiter.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Im trüben Wasser fiel es ihm schwer, sein Ziel auszumachen und seine Lunge protestierte, aber nachdem er am eigenen Leib erfahren hatte, dass er notfalls auch über eine Minute aushielt, ohne ohnmächtig zu werden, kämpfte Ryan sich tapfer voran. Erst, als er den schummrigen Umriss der Plattform erkannte, schwenkte er nach rechts ab und tauchte wenige Sekunden später prustend auf, gerade weit genug, um atmen zu können. Mit zittrigen Armen klammerte er sich an dem stählernen Gerüst fest, das die Plattform aufrecht hielt, rieb sich Salzwasser aus den Augen und sah sich um.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Der Tumult außerhalb des Tunnels schien seinen Höhepunkt erreicht zu haben. Das Wingull musste in seiner Panik in einige Artgenossen geflogen sein, denn nicht weniger als drei brennende Möwen waren durch den Ausgang sichtbar und die ohrenbetäubenden Warnsignale des Hauptquartiers wurden nur durch die Befehle des Aquas unterbrochen, der mühsam versuchte, die Situation unter Kontrolle zu bringen und den Ursprung des entstandenen Chaos‘ auszumachen.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Viel Glück dabei, dachte Ryan grimmig. In genau diesem Moment stellten sich ihm alle Nackenhaare auf, und er drehte den Kopf in die ungefähre Richtung, in der er Shuppet vermutete. „Wenn du jetzt noch aufhören könntest, dich wie ein Spukgespenst zu verhalten, würde ich dich glatt loben“, sagte er. Shuppet nahm das Kompliment als das an, was es war und schleckte ihm liebevoll über die Wange. Ryan verzog angeekelt das Gesicht.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Gemeinsam warteten sie, bis der Aqua schweratmend und mit der kaputten Drohne unter dem Arm zurückkehrte. Ryan tauchte unter, bevor er entdeckt wurde, aber er hätte schwören können, dass es sich um niemand anderen als Erwin handelte. Unter Wasser grinste er. Da hatte es wenigstens den richtigen Deppen erwischt.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Er blieb untergetaucht, bis das Piepen eines vierstelligen Codes gedämpft an seine Ohren drang und die Tür schwer zufiel. Er spürte die Vibrationen durch das Metallgestell, an dem er sich festklammerte. Prustend tauchte er auf. Neben ihm erschienen Shuppets Augen.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]„Hast du dir den Code gemerkt?“, fragte er. Das Pokémon nickte. „Als nächstes musst du die Kameras ausschalten“, erklärte er. „Verschieb sie unauffällig, sodass der Eingangsbereich nicht gefilmt wird. Ich schleiche mich rein, du schiebst alles wieder in Ursprungsposition und folgst durch die Tür.“[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Wieder nickte Shuppet. Ryan seufzte innerlich. Er wollte es nicht zugeben, aber ohne sein nerviges Geisteranhängsel wäre er absolut verloren. Zumindest in dieser Mission.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Während Shuppet seinen Anweisungen folgte, überflog Ryan im Kopf sein weiteres Vorgehen. Schaltzentrale finden. Seinen USB, Corinna und Magnayen finden, am besten in dieser Reihenfolge. Irgendwie die Kameras lahmlegen und eine waghalsige und riskante Rettungsaktion starten. Sich nicht erwischen lassen. Fliehen.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Was konnte da schon schiefgehen?[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Als Shuppet mit einem leisen Fiepen das Signal gab, dass Ryan auf das Plateau konnte, war er unter der Wasserschicht auf seinem ganzen Körper schweißgebadet. Worauf hatte er sich hier eingelassen? Wie lebensmüde war er eigentlich? Vor zwei Wochen hätte er niemals etwas so unvorbereitetes und zum Scheitern verurteiltes getan![/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Außer unvorbereitet abzuhauen und sich alleine durch die Wildnis zu schlagen, versteht sich. Vielleicht hatte er sich doch weniger verändert als gedacht.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Ryan kletterte an der Metallleiter empor, die praktischerweise am Rand des Plateaus angebracht war und zog sich nach oben. Das Wasser tropfte unter ihm durch die Aussparungen im Stahl. Flüchtig überprüfte er die Kameras, die Shuppet so gedreht hatte, dass ihr Winkel den Eingangsbereich gerade nicht mehr erfasste.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Ryan verlor keine Zeit. Er zurrte den Rucksack fest auf seinen Rücken und lief zu dem Tastenfeld. Bevor er etwas sagen konnte, erschien direkt vor ihm ein winziges Irrlicht, das über der Eins schweben blieb. Ryan drückte. Als nächsten kamen Sechs, Acht und Fünf. Ein doppeltes Piepen. Die Tür klickte und Ryan drückte sich mit aller Kraft dagegen. Sie schwang auf und im nächsten Moment fand Ryan sich in einem spärlich beleuchteten Gang wieder. Felswände ragten zu beiden Seiten in die Höhe, genau wie in dem Tunnel, doch der Boden war gefliest und am Ende hing über einer weiteren Tür eine riesige, blaue Flagge, auf der das Aqua-Symbol prangte. Hinter ihm schoss Shuppet durch die geschlossene Tür und kam an seiner Seite zum Stillstand. Ryan atmete tief durch. Sie hatten es geschafft.[/JUSTIFY]

[JUSTIFY]Sie waren in Team Aquas Hauptquartier eingebrochen.[/JUSTIFY]

Ryan – Akt 3, Szene 5

9 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Ryan verplemperte keine Zeit damit, sich staunend umzusehen. Während er das unsichtbare Shuppet als Späher vorausschickte, rief er Vulpix aus seinem Pokéball und stapfte los. Aus den Augenwinkeln hielt er Ausschau nach Kameras, die er übersehen hatte und kramte in seinem Rucksack nach den Puderbeuteln und einem Seil, das er vorsichtshalber am Gürtel befestigte. Um aus der Basis zu fliehen, war es nicht geeignet, aber vielleicht wurde es trotzdem noch nützlich.

Foxy (Ryan schauderte bei dem Spitznamen) lief eng an seinen durchtränkten Hosenbeinen entlang und schnupperte die Luft. Der kleine Feuerfuchs reichte ihm bis zum Oberschenkel, machte sich in der unbekannten Umgebung jedoch klein. Sie war nicht die einzige, die Angst hatte. Ryans Mund war trocken vor Nervosität und er zuckte beim kleinsten Geräusch zusammen, und sei es nur das Scharren und Klackern von Foxys Krallen auf den Steinfliesen.

Ungesehen erreichten sie das andere Ende des Tunnels, wo er durch die große Türöffnung spähte. Der Tunnel mündete in drei Gänge, von denen der breiteste geradeaus weiterging und die beiden anderen jeweils nach links und rechts abzweigten. Wenn er nur Baupläne von dem Versteck hätte!

Egal. Er musste logisch denken. Der Gang geradeaus war der größte, dort erwartete Team Aqua, oder damals Team Magma, also den meisten Betrieb. Die Schaltzentrale sollte eher abseits davon liegen. Aber das ließ noch immer zwei Optionen offen. Rechts oder Links? Rechts oder Links?

"Shuppet", flüsterte Ryan, nicht sicher, wo sein Pokémon sich gerade aufhielt, aber überzeugt, dass es ihn zumindest hören konnte, "sieh dich etwas um. Wenn du jemanden überhörst, der die Schaltzentrale erwähnt, finde mich und bring mich dorthin."

Eine Gänsehaut bildete sich in seinem Nacken, dann war das unangenehme Gefühl verschwunden und Shuppet unterwegs. "Und du …", sagte Ryan mit Blick auf Vulpix, "… sei einfach weiterhin nutzlos, bis mir eine Aufgabe für dich einfällt."

Vulpix sah ihn pikiert an.

"Sei nicht eingeschnappt", murmelte Ryan und wandte sich nach rechts, da Shuppet im linken Gang verschwunden war. "Die meisten Menschen und Pokémon sind nutzlos, du befindest dich in guter Gesellschaft."

Sie schlichen einige Minuten durch die schwach beleuchteten Gänge. Die dunkelgrauen Fliesen hallten leise unter ihren Schritten. Hin und wieder entdeckte Ryan Kameras, doch die Verteilung war bei weitem nicht so durchdacht wie draußen im Meerestunnel und er schaffte es jedes Mal, mit etwas Verrenken durch die toten Winkel der Kameras zu huschen. Türen gab es nur wenige und die meisten waren nicht beschriftet, aber die Tatsache, dass er bislang niemandem begegnet war, bestätigte seine Vermutung, dass sie sich im organisatorischen Bereich des Aqua-Verstecks befanden. Sie hatten gerade eine weitere Abzweigung erreicht, da vernahm Ryan plötzlich Stimmen. Hastig presste er sich gegen die Betonwand und schielte um die Ecke. Zwei Aquas kamen den Gang entlang, den er gerade hatte nehmen wollen, der andere führte, wenn ihn sein innerer Kompass nicht täuschte, zurück Richtung Zentrum des Verstecks. Sie waren nur noch etwa zehn Meter entfernt und die letzte Tür hatte Ryan vor zwei Minuten passiert. Er hatte keine Möglichkeit, sich irgendwo zu verstecken.

"Verdammt!", fluchte er leise und schluckte das Herzklopfen hinunter. Was sollte er tun? Shuppet war nicht hier, und Vulpix als Feuerpokémon gegen zwei Wassertrainer klar im Nachteil, ganz zu schweigen davon, dass ein Kampf ihm bald das gesamte Quartier auf den Hals hetzen würde. Seine Finger streiften die Puderbeutel an seinem Gürtel. Nein, er musste klug vorgehen. Heimlich. Unerkannt.

"Du hast Glück", flüsterte er und wandte sich an Foxy, "du hast schon jetzt Gelegenheit, dich als nützlich zu erweisen. Verwirr die beiden Aquas mit deinem Konfusstrahl." Die kleine Füchsin nickte entschlossen, preschte um die Ecke, rutschte aus—

—und schlitterte quietschend in den nächsten Gang. Die aufgeregten Stimmen der Aquas wurden lauter.

"Hast du das gesehen?"

"War das … war das ein Vulpix?"

"Was macht ein Vulpix hier?"

"Ist das Team Magma? Hey, zeig dich!"

Ryan rieb sich dich Stirn und seufzte. Corinnas Pokémon war genauso unfähig wie seine Besitzerin. Er war wirklich nur von Idioten umzingelt.

"Wenn ich ein Magma wäre", sagte er und nahm Blickkontakt zu Foxy auf, die betreten wieder auf die Füße gekommen war, "würden meine Mitglieder nicht wie Einsiedler in irgendwelchen gottverlassenen Wäldern hausen und zur Abwechslung etwas auf die Reihe kriegen. Vulpix, jetzt!"

Foxy fauchte und preschte los. Ihre schrillen Schreie erfüllten die Luft und Ryan trat gerade rechtzeitig in den Gang um zu sehen, wie die beiden Aqua-Mitglieder von dem Konfusstrahl getroffen wurden. Ryan kniff, wenn nicht mitfühlend, zumindest sympathisierend, ein Auge zusammen, als der eine sich gegen die Wand stützte und geräuschvoll übergab, während sein Partner, eine junge Frau mit rotgefärbtem Haar, auf die Knie sank, die Augen zusammenpresste und sich stöhnen den Kopf hielt. Ryan lief auf die beiden zu und warf, bevor sie sich aufrappeln konnten, den geöffneten Schlafbeutel nach ihnen. Hastig hielt er eine Hand vor Mund und Nase und sprang zurück. Er wartete angespannt, während der grüne Puder seine Wirkung tat. Die Frau schnupperte einige Male die Luft, säuselte etwas Unzusammenhängendes und kippte bewusstlos zur Seite. Der andere, der sich übergeben hatte, gab nicht so leicht auf.

Ryan fluchte innerlich. Warum musste er gerade jetzt wieder kotzen, als er den Puder hatte einatmen sollen? Konnte er nicht wenigstens kooperieren, wenn er schon zu so einem ungünstigen Zeitpunkt auftauchte?

Der Aqua wischte sich den Mund ab und erhob sich langsam. Sein Blick war glasig und unfokussiert. Wenigstens hatte er etwas von dem Schlafpuder abbekommen.

"'er bis'n du?", fragte er, sichtlich neben der Spur.

"Diese, wie ich sicher bin, sehr geistreiche Unterhaltung wird noch etwas warten müssen, fürchte ich", sagte Ryan und zückte—lächelnd—sein Seil.

 

Wenige Minuten später waren beide Aquas geknebelt und verschnürt wie unförmige Pakete und Ryans Rucksack um die Hälfte seiner seiligen Last erleichtert. Die Frau schlief noch immer, der Mann hatte etwas seines Verstandes zurückerlangt und erdolchte Ryan förmlich mit seinen Blicken, aber er war an seine bewusstlose Kollegin gefesselt und die Pokébälle der beiden hatte Ryan vorsichtshalber ein gutes Stück entfernt in einem Erste-Hilfe-Kasten versteckt. Kurz hatte er mit dem Gedanken gespielt, die Pokémon darin für seine Zwecke zu nutzen, es dann aber gelassen. Wer wusste schon, wozu das sogenannte unzerstörbare Band der Freundschaft zwischen Pokémon und ihren Trainern fähig war? Er ging lieber kein Risiko ein.

Stattdessen hatte er sich der Ausweise der beiden Aquas ermächtigt, die unter anderem als Magnetkarte zu fungieren schienen und ihm sicher Zutritt zu einigen sehr interessanten Räumen bescheren würden. Bei der Frau handelte es sich um eine technische Assistentin, er war also nah dran. Nur Shuppet hatte er in all der Aufregung verloren, aber das würde warten müssen. Notfalls konnte er den Geist immer noch zurücklassen. Er ignorierte das leichte Ziehen in seiner Brust, das bei dem Gedanken auftrat, winkte Vulpix zu sich und lief weiter.

Der Zwischenfall hatte ihn daran erinnert, dass er sich in feindlichem Territorium befand. Er musste besser aufpassen, wenn er sein Ziel erreichen wollte. Und dann, als hätte er nicht seit einer halben Stunde verzweifelt danach gesucht, tauchte sie plötzlich vor ihm auf.

Die Tür mit der Beschriftung SCHALTZENTRALE.

Ryan war so erleichtert, dass er geradewegs in das Sichtfeld einer Kamera gelaufen wäre, wenn Vulpix ihm nicht in dem Moment ins Hosenbein gebissen und ihn zurückgezogen hätte. Ryans Erleichterung wich Panik und schließlich Schmach und Schande.

Von einem Idioten gerettet. So etwas konnte auch nur ihm passieren.

Vorsichtiger geworden, sah er sich um. Wie zu erwarten war der Bereich vor der Schaltzentrale sehr gut bewacht. Mit der ID-Karte der rothaarigen Frau würde er vermutlich reinkommen, aber er konnte schlecht an den Überwachungskameras vorbeilaufen, wenn diese direkt hinter der Tür überwacht wurden. Wo war Shuppet, wenn man es brauchte?

"Du kannst nicht zufällig Rauchwolke, oder?", fragte er Foxy. Der Fuchs fiepte kläglich. "Wäre auch zu schön gewesen", murmelte Ryan genervt. "Das Schicksal könnte ja einmal beweisen, dass es mich nicht benachteiligt. Dann halt anders."

Ryan schloss die Augen und durchforstete sein Gedächtnis. Er beschwor gedanklich den Trainer-Guide hervor, blätterte durch die Seiten, suchte nach dem Eintrag, fuhr mit einem imaginären Finger durch das Attackenverzeichnis … "Feuerwirbel?"

Vulpix nickte eifrig.

"Nicht ideal, aber etwas besseres haben wir nicht", sagte Ryan und ließ seine Fingerknöchel knacken. "Also gut, dann beeindrucke mich. Lenk deinen Feuerwirbel so, dass die Kameras für ein paar Sekunden geblendet sind. Ich hoffe nur, dass wir keinen Feueralarm auslösen."

Die Füchsin öffnete ihr Maul und sammelte einige Flammen darin, bevor sie einen Strom aus kleinen Flammen losließ, der wie von einer Windhose ergriffen aufgewirbelt und Richtung Kamera und Eingangstür geschleudert wurde.

Ryan hatte keine Zeit, sein Verfahren anzuzweifeln, er rannte los, zückte die ID, zog sie durch das Lesegerät und preschte in die Schaltzentrale, Vulpix nur eine Schwanzspitze hinter ihm.

Hektisch sah er sich um, den Stachelsporbeutel bereits in der Hand.

Niemand war da. Er war allein.

Und dort, neben einem der vielen sirrenden Rechner und Bildschirme voller Kamera-Feeds, lag sein geliebter USB-Stick.

Ryan – Akt 3, Szene 6

9 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Ryan wollte losstürzen und den geliebten Informationsträger an sich reißen, überprüfen, ob auch kein Erwachsener an seinen Dateien herumgepfuscht hatte, doch in letzter Sekunde ermahnte er sich zur Vorsicht.

Der Raum war leer. Sein USB lag sehr sichtbar und offensichtlich auf dem Tisch. Ryan hatte sich damit abgefunden, die gesamte Zentrale auf den Kopf stellen zu müssen, um das kleine Gerät zu finden. Alles an der Situation schrie Falle.

Und doch.

Er atmete tief durch und sah sich genau um. Die Bildschirme zeigten, was sie zeigen sollten, in vier geteilte Videos von Kameraaufnahmen aus dem gesamten Hauptquartier. Einige der Feeds waren auf das Meer gerichtet, einer von ihnen komplett schwarz. Das musste die Drohne sein, die Shuppet zerstört hatte.

Vulpix schlich grummelnd um seine Beine und Ryan sank neben dem Pokémon in die Hocke. "Hier stimmt doch etwas nicht", murmelte er. Seit dem Betreten der Zentrale hatte er nicht gewagt, auch nur einen weiteren Schritt zu tun. Aber er konnte keine offensichtlichen Fallen entdecken, keine scharfen Bewegungsmelder, keine versteckte Überwachungskamera (nur eine sichtbare), kein Lektroball, dass mit dem Befehl Explosion an der Decke klebte. Er war sicher, dass er in eine Falle tappen würde, sobald er sich vorwagte, aber er wusste nicht, worin diese bestand!

Vulpix nahm ihm schließlich die Entscheidung ab. Fünf Minuten Reglosigkeit später gähnte es ausgiebig, lief los und hopste auf einen Drehstuhl. Ryan öffnete den Mund zu einem Schrei—

Nichts geschah.

Vulpix kletterte unbeholfen auf den Schreibtisch, stupste den USB mit der Nase an und begann dann, über die Tastaturen zu tapsen.

"Weg da!", fauchte Ryan und lief nun selbst zu den Pulten, wo er die Füchsin unsanft aufhob und nach kurzem Zögern in ihren Pokéball verbannte. Misstrauisch sah er zurück zur Tür, und als auch nach einer Minute kein Trupp bis zu den Zähnen bewaffneter Aquas in den Raum stürzte, fand Ryan sich damit ab, dass er wohl einfach Glück gehabt hatte, schnappte den USB und steckte ihn in einen der Rechner.

Er überflog den gesamten Inhalt, konnte jedoch nicht erkennen, dass irgendetwas gelöscht worden war. Seine Lehrbücher hatte man ignoriert, einige seiner Viren waren jedoch vor kurzem angesehen worden. Ryan schürzte die Lippen und ging die Dateien genauer durch. Keine Änderungen. Vielleicht war Aqua nur neugierig gewesen.

Aber wenn er einen USB-Stick mit Viren finden würde …

Seiner Intuition folgend ließ Ryan sich auf dem Drehstuhl nieder, knackte die Knöchel und verlor sich in den Tiefen des Computers. Es dauerte nicht lange, bis er fand, wonach er suchte. Wie erwartet hatte jemand Kopien von einigen seiner Dateien gemacht.

Was wollte Aqua damit? Er hatte noch nicht viel Erfahrung mit dem Schreiben von Viren, auch wenn ihn das Gebiet sehr interessierte und er es zusammen mit dem Thema Hacking weiter verfolgen wollte, sobald er wieder Zugang zu einem ordentlichen Computer hatte. Er wusste, dass er ein Genie war und schätzte seine Fähigkeiten hoch ein, aber das änderte nichts daran, dass der Virus nichts besonderes war. Ryan hatte sich lediglich an einem System orientiert, dessen Eigenschaften ihm dank seiner Mutter sehr bekannt waren.

Wusste Team Aqua davon? Wussten sie, wer er war, wo er herkam, wo seine Mutter arbeitete?

Ryan lehnte sich in dem Stuhl zurück und biss sich auf die Lippen. Schließlich kam er zu einem Entschluss. Er löschte alle Kopien, die auf dem Computer vorhanden waren und durchforstete dann die anderen Rechner, wo er gleichermaßen vorging. Das reichte nicht, das wusste er. Aqua war seit vielen Tagen in Besitz seiner Informationen. Wenn sie die Dateien behalten wollten, hatten sie sicher irgendwo auf einem externen Drive Sicherungskopien gemacht, die Ryan erst suchen musste.

Wütend sah er sich in der Schaltzentrale um, aber außer einem offenen Stahlschrank, der mit leeren Datenträgern und Ersatztastaturen und -mäusen gefüllt war, konnte er nichts finden. Er würde das Hauptquartier nach einem Archiv oder Lagerraum durchforsten müssen, aber wie lange konnte er unentdeckt bleiben? Er musste schließlich noch Corinna befreien.

Seufzend fuhr Ryan sich durchs Haar und rückte seine verschmierte Brille zurecht. Seine Mission war eindeutig. Seine Dateien zurückbekommen und Corinna mitsamt ihrem Pokémon befreien. Alles andere war Beiwerk und musste verschoben werden. Vorsichtshalber klemmte Ryan einen der beiden Stühle vor die Tür. Ihm fehlte die Zeit, um sich in das System von Aqua einzufinden und die ID-Erkennung abzuändern. Als er sicher war, dass die Tür sich nicht ohne Vorwarnung öffnen würde, kletterte er zurück auf den Drehstuhl und machte sich an den Kamera-Feeds zu schaffen.

Zuerst löschte er alle Aufnahmen, die von ihm gemacht worden waren, so gründlich er das auf die Schnelle konnte. Einer genaueren Untersuchung von Aqua würde diese Vorkehrung nicht standhalten, aber sie würde ihm zumindest etwas Zeit verschaffen, falls er bislang tatsächlich noch unentdeckt geblieben war. Anschließend begab er sich auf die Suche nach Corinna. Er klickte sich durch alle Kameraaufnahmen, ohne Erfolg. Corinna war nirgends zu entdecken, dafür einige Aquas in Büros oder auf Patrouille auf den Gängen. Er kannte den Grundriss des Hauptquartiers nicht, was ihm die Arbeit nicht gerade erleichterte.

Es dauerte einige Minuten, bevor er dank einiger Aquas ausmachte, welche Kameras dieselben Gänge überwachten und wie alles zusammenhing. Als das erledigt war, durchforstete er die Kameraarchive nach Aufnahmen der letzten vierundzwanzig Stunden, insbesondere den Zeitraum, in dem Corinna vermutlich hier angekommen war. Das dauerte fast zehn Minuten, aber dann wurde er fündig. Er entdeckte Adrian, der mit Maike und der gefesselten Corinna im Schlepptau durch den Haupteingang trat. Die Bilder waren unscharf, aber Ryan konnte trotzdem erkennen, wie Corinna sich wehrte. Die Paralyse musste abgeklungen sein.

Er verfolgte das Trio durch verschiedene Kameras, bis sie in einem nicht überwachten Raum verschwanden. Dort blieben sie den gesamten Abend bis etwa 22:00 Uhr, bis Maike und Adrian den Raum wieder verließen. Zwei Wachen postierten sich vor der verschlossenen Tür. Ryan hielt die Aufnahme an und zoomte an das kleine Schild heran, das neben der Tür angebracht war. Die Schrift war zu klein, aber dank seiner neu dazugewonnen Orientierung und den Kamerabildern, die Adrian und Maike nach Verlassen des Ganges zeigten, wusste er nun genau, wo Corinna sich befand. Von der Schaltzentrale aus war es einige Abbiegungen entfernt, tiefer im Zentrum des Hauptquartiers.

Zufrieden mit seiner Arbeit überprüfte Ryan die betreffende Kamera im Live-Feed. Er fluchte leise. Die Wachposten waren ausgetauscht worden, aber das änderte nichts daran, dass zwei Aquas vor der Tür standen und dafür sorgen würden, dass Ryan dort nicht reinkam.

Zumindest nicht einfach so.

Eine der anderen Kameras lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich und Ryan rollte schwungvoll zu dem betreffenden Bildschirm. Ein Aquamitglied durchlief einen Gang und steuerte geradewegs auf die Schaltzentrale zu.

"Jetzt oder nie", murmelte Ryan, sprang vom Stuhl und zerrte den zweiten von der Tür weg. Mit pochendem Herzen stellte er sich so, dass die aufschwingende Tür ihn verbergen würde, sobald jemand eintrat.

Dann wartete er.

Keine zehn Sekunden später erklang ein gedämpftes Piepen von draußen, die Tür öffnete sich und der Aqua trat ein. Er war kaum zwei Schritte in den Raum gekommen, da pfiff Ryan. Der junge Mann drehte sich erschrocken um und Ryan schleuderte ihm den Stachelsporbeutel mitten ins Gesicht. Der Aqua kniff die Augen zusammen, hustete—und sackte zuckend in sich zusammen. Bevor er wieder die Kontrolle über seine Gliedmaßen erlangen konnte, stopfte Ryan ihm kurzerhand den leeren Beutel in den Mund und machte sich daran, ihn auszuziehen. Als der Aqua nur noch in Unterhose vor ihm saß, stürzte Ryan zu dem Schrank, holte Kabel und Isolierband und machte sich daran, den Mann zu fesseln. Als er schwer atmend fertig war, zerrte er den fluchenden Aqua hinter die Tür.

"Glaub mir, ich habe auch kein Interesse, dich in Unterhose zu sehen", sagte Ryan, der bereits damit beschäftigt war, die Uniform des Aquas gegen seine eigenen, nassen Klamotten auszutauschen. "Wir müssen heute alle Opfer bringen." Er band sein Haar mit dem dunkelblauen Bandana zurück und befestigte die ID des Mannes an seinem Gürtel, das einzige Kleidungsstück, dass er behielt. Die Habseligkeiten aus seinem Rucksack stopfte er, soweit möglich, in seine Hosentaschen, allen voran den USB und den Inhalt seiner Geldbörse. Er nutzte die übrigen Seile, um den Aqua noch etwas fester zu verschnüren (nur zur Sicherheit) und band die letzten beiden um seine Hüfte, in der Hoffnung, dass sie nicht allzu sehr auffallen würden. Auf die Tränke wollte er ungern verzichten, dann wiederum war er ohnehin aufgeschmissen, wenn es zu einem echten Kampf kam, also konnte er sich diesen Ballast gleich sparen. Den Rucksack trat er unter den Schreibtisch und zog noch einen Mülleimer davor.

Ein letzter Blick auf die Kamera-Feeds zeigte, dass der Weg zu Corinna frei war und sie sich noch immer in dem Raum befand, in dem man sie gestern untergebracht hatte, dann holte er tief Luft und verließ die Schaltzentrale.

Es war an der Zeit, den Helden zu spielen. Und dabei hoffentlich nicht draufzugehen.

Ryan – Akt 3, Szene 7

9 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Ryan fühlte sich nackt, als er sich seinen Weg durch das Labyrinth aus Gängen bahnte, Kopf leicht gesenkt, damit vorbeigehende Aquas sein Gesicht nicht erkennen konnten, aber mit zielstrebigen Schritten. In Aquauniform durch das Quartier zu schleichen war die sicherste Methode, sofort aufzufliegen. Es dauerte nur wenige Minuten, bis die Wachen vor Corinnas Gefängnis in Ryans Sichtfeld kamen. Mit klopfendem Herzen kam er näher.

„Ich muss zu der Gefangenen“, sagte er mit tiefgestellter Stimme. Gegen seine geringe Körpergröße konnte er nicht viel unternehmen, er hoffte nur, dass die Aquas sich untereinander nicht alle beim Namen kannten. „Adrian will, dass ich die Sicherheitsvorkehrungen verbessere.“ Er deutete zu den Seilen, die von seinem Gürtel baumelten.

„Bist du neu?“, fragte der linke, dessen schlaksiger Körperbau Ryan an einen zu dünn geratenen Baum erinnerte. Er kratzte sich an der Nase. „Hab dich hier noch nie gesehen.“

„Ich dich auch nicht“, erwiderte Ryan genervt. „Bist du neu?“

Der Aqua grunzte, ließ den Punkt aber auf sich beruhen. Sein Nachbar, ein Hüne mit rotem Bart und buschigen Augenbrauen schnaubte belustigt, während er Ryan musterte. „Ist Adrian mit unserer Arbeit unzufrieden?“

„Er will nur sicher gehen, vermute ich“, sagte Ryan, dem unter dem Bandana der Schweiß ausbrach. Er war so nah dran. „Einmal ist sie ja angeblich schon entkommen.“

„Hm“, grunzte der Rothaarige. Sein Blick schweifte kurz über die ID an Ryans Gürtel, dann zu den Seilen und dem Pokéball, in dem sich Vulpix befand. „Gut, aber beeil dich da drin“, sagte er und trat grinsend zur Seite. „Die Kantine macht gleich auf und ich will nicht der letzte in der Schlange sein, verstanden?“

„Geht klar“, sagte Ryan und ging zwischen den beiden hindurch zur Tür. Der Schlaksige zog einen Schlüssel hervor, den er an einer Kette um den Hals trug. Ryan schluckte schwer, als er damit die Tür aufschloss. Soviel Adrenalin konnte nicht gesund sein. Sobald er wieder in Sicherheit war, würde er seinen Kopf auf weiße Haare untersuchen.

Die Tür schwang nach innen auf. Ryan trat vorsichtig ein und sah sich um. Bis auf zwei nummerierte Fliesen vor der gegenüberliegenden Wand unterschied sich der Raum kaum von dem Flur, aus dem Ryan gerade gekommen war. Wäre da nicht der Stuhl in der Mitte, auf dem geknebelt und mit Handschellen gefesselt Corinna saß. Verdutzt sah Ryan auf die Seile an seinem Gürtel. Wenn sie mit Handschellen festgemacht war, was sollten Seile dann noch für einen Effekt haben? Sicher hätten die Wachen ihn nicht reingelassen, wenn sie das wussten. Und warum riss Corinna bei seinem Anblick den Kopf hin und her und schrie unverständliche Worte in den Knebel?

Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss.

Sofort wurde Ryan alles klar. Das Grinsen des Rotbärtigen. Der fehlende Widerstand, kaum dass er in die Schaltzentrale eingebrochen war. Er war wie ein Volltrottel geradewegs in Adrians Falle getappt.

Zwei dicht aufeinander folgende Lichtblitze blendeten Ryan und lenkten seine Aufmerksamkeit von der gefesselten und strampelten Corinna zu den merkwürdigen Fliesen, die er eben nur am Rande wahrgenommen hatte. Sie waren nicht mehr unbesetzt. Auf einer von ihnen standen Adrian und Maike. Beide hielten die Hand eines kleinen Abras.

„Teleport“, stöhnte Ryan. Kein Wunder, dass er Adrian das Gefängnis nicht mehr hatte betreten sehen. Wer brauchte Türen, wenn er ein Abra besaß? Er griff nach Foxys Pokéball, doch bevor er das Plastik auch nur berühren konnte, schnellte Maikes Arm vor. Ein roter Lichtblitz schoss aus ihrem Pokéball und Raichu sprang durch die Luft auf ihn zu, kleine Fäustchen geballt, und schoss eine Donnerwelle auf ihn ab.

Die Elektrizität durchfuhr seinen Körper und er spürte, wie ihm der Atem stockte, wie seine Gliedmaßen ihm die Kontrolle versagten und er wie ein Sack Kartoffeln zu Boden stürzte. Sein Mund war leicht geöffnet, sein Kiefer erstarrt, während sein Körper zuckte und sich krümmte. Es waren keine Schmerzen, eher das Gefühl, als wäre sein Körper von Kopf bis Fuß eingeschlafen.

Aus den Augenwinkeln konnte er Corinna ausmachen, der Tränen über die Wangen liefen und von ihrem Knebel aufgefangen wurden. Einige Sekunden später traten Adrian und Maike in sein Sichtfeld. Adrian lächelte grimmig. Er muss auf diesen Moment hingefiebert haben, dachte Ryan. Maike hingegen sah ihn mit traurig zusammengezogenen Augenbrauen an.

„War es wirklich nötig, ihn zu paralysieren?“, fragte sie. „Er ist noch ein Kind.“

„Dieses Kind hat uns belogen, unser Hauptquartier infiltriert und mehrere unserer Mitglieder ausgeschaltet. Ich werde kein Risiko mehr eingehen. Und jetzt hilf mir.“

Ryan konnte nur willenlos zulassen, wie Maike den Pokéball mit Vulpix von seinem Gürtel entfernte, während Adrian den Wachen vor der Tür Befehle erteilte. Keine zwei Minuten später saß Ryan, mit seinen eigenen Seilen gefesselt, neben Corinna auf einem Stuhl und tat sein Bestes, um Adrian mit seinen Blicken aufzuspießen.

"So sieht man sich wieder", sagte Adrian lächelnd, der vor ihm Stellung bezogen hatte, doch es erreichte nicht seine Augen. Ryan schluckte schwer. Wieso war er nicht misstrauisch geworden, als alles so glatt lief? War er am Ende genauso dumm wie der restliche Pöbel?

 Sein Blick huschte zu Maike, die missmutig an der Wand hinter Adrian lehnte, eine Hand im orangefarbenen Fell ihres Raichus vergraben, das neben ihr stand und Ryan seinerseits wachsam beobachtete. Zumindest schien er die amtierende Ligameisterin nicht falsch eingeschätzt zu haben. Ihr gefiel die Situation offensichtlich keineswegs.

"Mich würde interessieren", fuhr Adrian fort, als Ryan keine Anstalten machte, auf seine Worte einzugehen, "wie ein Kind wie du an Team Magma gerät."

"Ich gehöre keinem Team an", entgegnete Ryan irritiert. "Im Gegensatz zu euch habe ich kein Interesse daran, mich einer weniger intelligenten Person unterzuordnen, um irgendwelche vagen Ziele zu verfolgen und nebenbei Kinder zu misshandeln."

Adrians Wangen färbten sich tiefrot und er machte einen Schritt vor, doch bevor er den Mund öffnen konnte, mischte sich Maike an. "Was meinst du damit, Ryan?", fragte sie. "Wer wurde misshandelt?"

"Diese Paralyse zählt wohl kaum ", sagte Adrian fahrig. "Ihr seid Kriminelle, irgendwie mussten wir euch gefangen nehmen."

"Was ist mit dem Giftzahn, den euer Golbat eingesetzt hat? Oder Corinnas Hand?", fragte Ryan bissig und nickte zu besagter Gliedmaße. "War das auch notwendig, um sie festzunehmen oder fällt das unter Folter, um Informationen aus ihr herauszuquetschen?"

"Das ist doch lächerlich —"

"Adrian", sagte Maike eisig und stieß sich schwungvoll von der Wand ab, "zeig mir ihre Hand."

Adrian zischte, so als wolle er widersprechen, aber ein einziges Knistern aus Raichus Richtung ließ ihn nicken und Maike um Corinna herumführen, damit sie die verbundene Hand in Augenschein nehmen konnte. Einige Sekunden lang herrschte außer Corinnas leisem Weinen Stille. Dann, als Ryan schon befürchtete, die Wunde wäre zu gut verheilt, stieß Maike einen undefinierbaren Laut aus.

"Wie alt ist die Verletzung?", fragte sie tonlos. Adrian schwieg. "Wie alt?!"

"Etwa eine Woche", bot Ryan hilfreich an. "Euer Kumpel Erwin hat sie geschlagen, getreten und mit seinem Stiefel fast ihre Hand zerquetscht, als er sie auf Route 121 in Gewahrsam hatte. Ich habe sie nur befreit, weil sie vor Schmerzen geschrien hat und ich nicht wusste, weshalb man sie festhielt."

"Ist das wahr?", fragte Maike, die hinter Corinna hervortrat. Ryan erschrak bei dem Gewitter, das in ihren Augen tobte. Adrian kratzte sich unangenehm berührt am Kinn.

"Erwin schlägt manchmal über die Stränge, aber —"

"Sie ist gerade einmal fünfzehn!", schrie Maike und deutete mit zitterndem Finger Richtung Corinna, die  aufgehört hatte zu weinen und nun hoffnungsvoll zu ihrer Beschützerin aufsah. "Sie hier festzuhalten ist eine Sache, aber Minderjährige so zu behandeln geht entschieden zu weit, Adrian! Diese Methoden werde ich nicht durchgehen lassen, und das sage ich dir nicht als alte Freundin, sondern als derzeitiges Oberhaupt der Liga von Hoenn. Wenn ich noch einmal auch nur ein Gerücht darüber höre, das Team Aqua sich weiterhin solcher Mittel bedient, dann begrabe ich die ganze Organisation unter Schutt und Asche, ist das klar?"

Adrian starrte sie an. Einige Sekunden lang schien er mit sich zu ringen. Dann, als wäre er nicht gerade von der kopfkleineren Frau zusammengestaucht worden, nickte er. "Verstanden."

"Und Erwin zeige ich gleich morgen wegen Machtmissbrauch und Körperverletzung an, darauf kannst du dich verlassen."

"Wie du willst", stimmte Adrian zu, nun aber durch zusammengepresste Zähne.

"Gut, wenn das geklärt ist", fuhr Maike fort und nahm Corinna vorsichtig den Knebel ab, "höre ich mir jetzt die Version der Kinder an." Sie warf Adrian einen bitterbösen Blick zu. "Deiner Aussage kann ich ja anscheinend nicht trauen."

"Fein", zischte er und deutete im nächsten Moment auf Ryan, "aber denk daran, dass das Mädchen ein Mitglied der Terrororganisation ist, die fast ganz Hoenn ausgelöscht hätte und dass der Junge da ihr bei der Flucht geholfen hat und nebenbei einen USB-Stick voller gefährlicher Viren mit sich rumschleppt. Sie sind vielleicht Kinder, Maike, aber das macht sie nicht automatisch unschuldig."

"Du kannst jetzt gehen, Adrian."

Ryan konnte die Hitze förmlich spüren, die während des Wortgefechts zwischen den beiden aufflammte, doch letztlich war Maike immer noch die stärkste Trainerin in Hoenn. Adrian verließ zähneknirschend den Raum.

Maike seufzte, wischte Corinna einige der Tränen weg und ließ sich vor ihr im Schneidersitz auf den Boden sinken. "Es tut mir ehrlich leid ihr beiden", sagte sie, "aber Adrian hat Recht. So sehr ich möchte, ich kann ihn nicht zwingen, euch freizulassen. Mitglied von Team Magma zu sein ist seit ihrem Coup illegal und aus welchen Gründen du ihr auch geholfen hast, Ryan, spätestens bei unserem Treffen auf dem Pyroberg wusstest du von ihrer Identität. Du bist also zumindest für Behinderung der Polizeiarbeit oder als Komplize für Team Magma dran, auch wenn es natürlich mildernde Umstände für dich gibt, unter anderem dein Alter. Aber ich verspreche, dass euch nichts mehr geschehen wird, solange ihr hier seid."

Corinna nickte tapfer. "Es war nur eine Frage der Zeit, bis ich erwischt werde", sagte sie leise. "Mir tut nur leid, dass ich Ryan mit in die Sache hineingezogen habe."

"Ach, jetzt plötzlich", murmelte Ryan, doch es war kein Biss hinter seinen Worten. Er fühlte sich … hilflos. All seine Pläne waren zunichte. Weder er noch Corinna hatten ihre Pokémon und sie hatten ohnehin keine Chance zu entkommen, wenn jemand wie Maike im Quartier stationiert war.

"Und jetzt möchte ich gerne die ganze Geschichte hören."

Ryan sah zu Maike. Ihr Raichu war im Laufe ihres Gespräches näher gekommen und hatte es sich jetzt auf ihrem Schoß bequem gemacht, wo es leise schnarchend döste. Ryan bezweifelte nicht, dass es im Falle von Gefahr in Sekundenschnelle agieren würde. Er warf einen kurzen Blick zu Corinna, die ihre Augen verdrehte und nickte. "Tob dich aus."

Ein selbstgefälliges Grinsen breitete sich auf Ryans Gesicht auf und obwohl er gefesselt war, genoss er den Moment, als Maikes Aufmerksam sich vollends auf ihn richtete. Er würde jedes bisschen Sympathie aus ihr herausquetschen, das sie besaß. Und er würde mit dem schlimmsten Geschehnis beginnen, das einem Menschen seiner Meinung nach passieren konnte.

"Es fing damit an, dass ich in einen Baum ohne Computer ziehen musste ..."

 

 

Ryan ließ nichts aus. Er berichtete Maike davon, wie er Corinna enttarnt hatte und von ihr mitgeschleppt wurde, als Team Aqua sie entdeckte und verbrachte sehr viel Zeit damit, die Schmerzen seiner Vergiftung durch das Golbat auszuschmücken und wie er sich tagelang alleine durch den Wald schlagen musste. Als er bei der Erzählung von Corinnas Rettung angelangte, übernahm Corinna für einige Minuten und Ryan genoss Maikes fassungslosen Blick, als sie von dem Verhör berichtete. Das einzige, was Ryan nicht erwähnte, war Shuppet. Bislang wusste keiner im Aqua HQ von dem Geistpokémon, das hoffentlich noch immer unsichtbar durch die Gänge wuselte und Ryan hatte kein Interesse daran, sie mit der Nase darauf zu stoßen. Stattdessen verbrachte er viel Zeit damit, Corinnas schlimme Kindheit anzudeuten. Corinna warf ihm zuerst einen wütenden Blick zu, sah jedoch schnell ein, dass es nicht schaden konnte, Maike weiter auf ihre Seite zu ziehen.

"Sie waren alles, was ich hatte", gestand sie kleinlaut und sah auf ihre Knie, um Maike nicht in die Augen sehen zu müssen. "Sie waren meine Familie. Ich habe ihnen vertraut, ich dachte wirklich, dass wir das richtige tun. Und dann sind alle nacheinander festgenommen worden und ich war wieder allein und ich —" Sie brach ab.

"Das tut mir so leid, Corinna", flüsterte Maike und legte eine Hand auf ihr Knie. "Wir mussten sie aufhalten, das verstehst du jetzt, oder?"

"Ja", sagte Corinna. "Aber das ändert nichts daran, dass ich sie liebe."

Maike nickte schwach. Ryan endete schließlich damit, dass er Corinna und ihr Pokémon hatte retten wollen und dass der USB-Stick ihm ohnehin gehörte und es damit kein Diebstahl war, ihn wieder mitzunehmen. Als das Gespräch vorbei war, knurrte bereits sein Magen. Maike grinste und erhob sich mit steifen Beinen, die sie ausschüttelte. "Ich lasse euch etwas zu essen und zwei Matratzen bringen, damit ihr heute Nacht nicht im Sitzen schlafen müsst." Ein Schatten des Bedauerns huschte über ihre Züge. "Morgen wird die Polizei hier sein. Ich würde euch wirklich gerne mehr helfen, aber meine Hände sind gebunden."

"Keine Sorge", sagte Ryan und ließ den Kopf in den Nacken fallen, "unsere auch."

Als Maike den Raum verlassen und sie allein gelassen hatte, wandte er sich an Corinna. "Das ist semi-optimal gelaufen", stellte er fest.

"Wenn meine Beine frei wären, würde ich dir so was von gegen das Schienbein treten", fauchte Corinna. "Ist mich zu enttarnen der beste Plan gewesen, den dein Superhirn sich ausdenken konnte?"

"Du hast mir nicht viele Optionen gelassen", entgegnete Ryan gereizt. "Erst lässt du deine Verkleidung sausen, weil sie dir zu warm ist, dann freundest du dich mit irgendwelchen Gärtnern an, anstatt unauffällig zu bleiben. Du solltest nur ein Pokémon fangen und nicht mal das hast du ohne meine Hilfe geschafft."

"Du bist ein arrogantes Arschloch, Ryan, weißt du das?"

"Ich gebe mein Bestes."

"Urgh." Corinna schielte in seine Richtung. "Ich weiß wirklich nicht, warum ich mir deine Gesellschaft antue. Aber … danke, dass du zurückgekommen bist." Sie runzelte die Stirn. "Auch wenn du zuerst deinen verflixten USB geholt hast."

"Hey, was ist wohl unauffälliger? Ein kleines elektronisches Gerät in meiner Hosentasche oder ein idiotisches Mädchen in knallrotem Pulli?"

"Touché."

Sie sahen sich an und plötzlich musste Ryan lachen. "Wir sollten unseren Ausbruch planen und nicht miteinander streiten", stellte er fest, "auch wenn Streiten wesentlich mehr Spaß macht."

"Was willst du da planen?", fragte Corinna matt. "Wir haben unsere Pokémon nicht mehr, wir sind gefesselt und in einem Raum eingesperrt, dessen Schlüssel wir nicht besitzen. Und auf den Gängen wimmelt es sicher nur so von Wachen. Ganz zu schweigen davon, dass wir in einer Meereshöhle feststecken und kein Wasserpokémon dabei haben, mit dem wir fliehen könnten, selbst wenn wir es hier rausschaffen. Das war´s." Sie sah zu Boden. "Wenigstens werde ich Freya und Arvid bald wiedersehen."

Ryan schwieg. Als Maike mit zwei Portionen Eintopf und Brot zurückkam und ihnen kurzzeitig die Fesseln, beziehungsweise in Corinnas Fall die Handschellen abnahm, damit sie essen konnten, bemühte er sich um einen verzweifelten und hoffnungslosen Gesichtsausdruck. Maike fesselte schließlich seine Hände vor seinem Bauch, damit er auf dem Rücken schlafen konnte und tat dasselbe bei Corinna, deren Handgelenke von den zu engen Handschellen wund waren. Wenig später kamen die Matratzen an. Corinna fiel erschöpft auf die weiche Unterlage und schlief fast augenblicklich ein.

Ryan tat es ihr nach, doch er schloss nur seine Augen. Er schlief nicht. Stattdessen beschwor er jedes Horrorszenario in seinem Kopf hervor, das ihm einfallen wollte. Niemals mehr Internet. Leben zu Jos Zeiten, als Computer noch nicht einmal existierten. Übernachten in Wäldern. Das Gefühl seiner brennenden Lungen unter Wasser, die Oberfläche zu weit entfernt.

Zunächst merkte er kaum, dass es kälter wurde. Dann, als würde ein sechster Sinn in seinem Inneren Alarm schlagen, schlug er die Augen auf.

Über ihm schwebte, halb unsichtbar, Shuppet.

Ryan – Akt 3, Szene 8

9 Jahre vor Team Shadows Gründung
 

Ryan grinste. „Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal sagen würde“, begann er, „aber ich bin froh, dich zu sehen. Du kleiner Sadist.“ Shuppet legte den Kopf schief, sah jedoch äußerst zufrieden mit sich aus. „Hast du dich gut umgesehen?“, flüsterte Ryan, damit Corinna nicht aufwachte. Sie würde jede Minute Schlaf brauchen. „Weißt du, wie wir hier wieder rauskommen?“

Die tropfenförmigen Augen des Geists leuchteten verschmitzt auf. Ryan nickte zufrieden. Zumindest auf sein eigenes Pokémon war Verlass. Seine Intelligenz musste auf seinen nervtötenden Partner abgefärbt haben. „Was ist mit dem Lager für Beweisstücke, in dem sie Maggy festhalten?“, hakte Ryan weiter nach. „Irgendeine Spur?“

Das kleine Pokémon wiegte den Kopf in einer Geste, die Ryan mit viel Kreativität als Vielleicht interpretierte. Um seine Unsicherheit zu unterstreichen, beschwor Shuppet ein schwach leuchtendes Irrlicht herauf, das es träge hin und her fliegen ließ. Corinna winselte im Schlaf und öffnete ein Auge.

„Shuppet?“, nuschelte sie und setzte sich mit einem Ruck auf. Vorwurfsvoll sah sie zu Ryan. „Ich dachte, sie hätten es dir weggenommen!“

„Das war Foxy, von Shuppet hatte ich mich gleich zu Beginn getrennt“, erklärte Ryan und bedeutete ihr mit einem warnenden Blick zur Tür, dass sie leiser sprechen sollte. „Es ist unsere einzige Chance, hier rauszukommen. Der Schlitz unter der Tür ist gerade groß genug, dass ein Schlüssel darunter durchpasst, aber zuerst müssen wir ihn stehlen.“

„Ihn stehlen?“, flüsterte Corinna energisch zurück. „Er hängt immer einer der Wachen um den Hals!“

„Shuppet schafft das schon“, sagte Ryan. „Ich kenne drei seiner Attacken, eine steht noch aus. Gib mir einen Moment.“ Ryan schloss die Augen und beschwor vor seinem geistigen Auge den Trainerratgeber hervor. Spukball konnte Shuppet im Ansatz, aber es hatte vermutlich noch nicht den benötigten Level erreicht. Es war ein Meister in Sachen Irrlicht, sein Schattenstoß hatte gut im Kampf gegen Vulpix funktioniert und wenn er sich nicht irrte, war die dritte Attacke, mit der es im Wald Erwin außer Gefecht gesetzt hatte, Groll. Was konnte ein Shuppet sonst noch erlernen? Mental ging er die Liste durch.

„Bürde?“, fragte er. Shuppet schüttelte sich. „Fluch? Finte?“ Wieder verneinte der Geist. Frustriert dachte Ryan nach. Finte hätte funktionieren können. Was war besonders an Shuppet? Es konnte durch Wände schweben, Pokébälle mitgehen lassen … Er hielte inne.

„Ryan, du siehst immer ein bisschen gruselig aus, wenn du lächelst, aber dein jetziges Grinsen grenzt an manisch“, informierte ihn Corinna.

„Shuppet kann Abschlag“, verkündete Ryan, dem die Erkenntnis wie Schuppen von den Augen fiel. „Die meisten Shuppet verlernen die Attacke schnell wieder, weil sie ihnen in der Wildnis nicht viel nützt, aber Shuppet hier ist nicht nur ein geborener Einbrecher, sondern anscheinend auch ein Meisterdieb.“

Corinna betrachtete zuerst ihn, dann sein Pokémon kritisch. „Könnte klappen“, gestand sie nach einer Weile. „Aber was dann? Wenn wir nicht aus der Höhle rauskommen, sammeln sie uns nur in ein paar Stunden wieder ein.“

„Es ist besser als gar nichts. Den Rest plane ich spontan.“

„Ist das nicht genau die gegenteilige Definition von Plan?“

„Und wieder diese großen Wörter“, höhnte Ryan und gab Shuppet mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass es sein Irrlicht benutzen sollte, um ihre Fesseln anzusengen. „Übernimm dich nicht, Magma-Mädchen.“

Das kleine blaue Feuer brannte nur langsam durch die Fesseln, worüber Ryan insgeheim dankbar war. Er hatte kein Interesse daran, sich ernsthafte Verbrennungen zuzuziehen. Als seine Hände frei waren und Shuppet sich Corinna zuwendete, erhob er sich vorsichtig und schlich zur Tür. Er presste ein Ohr gegen das Metall und wartete, bis er von draußen gedämpft Stimmen wahrnehmen konnte.

Plötzlich erschien Shuppet neben ihm. „Bereit?“, flüsterte er und der kleine Geist nickte enthusiastisch. „Dann los, du kennst den Plan. Lass dich nicht erwischen, lenk sie am besten weiter unten im Gang ab. Dir fällt schon etwas ein.“

 „Und jetzt warten wir?“, fragte Corinna, die sich ihre aufgerissenen Handgelenke rieb, während Ryan dabei zusah, wie Shuppet durch die Türe schwebte und dabei unsichtbar wurde.

„Jetzt warten wir.“

Es dauerte nicht lange, bis von draußen Stimmen laut wurden. Er konnte nicht verstehen, was gesagt wurde, aber er vermutete, dass Shuppet mit dem Ablenkungsmanöver begonnen hatte. Eine Der Wachen war sicher schon unterwegs, um die Ursache des blauen Irrlichts auszukundschaften, das Shuppet am Ende des Ganges heraufbeschworen hatte. Im nächsten Moment rutschte ein Schlüssel samt Lederband unter der Tür hindurch.

Ryan schnappte zuerst den Schlüssel, dann die durchgesengten Fesseln und winkte Corinna zu sich, bevor er das kleine Gerät in das Schloss steckte und umdrehte. „Bereit?“

„Wird wohl nicht besser“, murmelte Corinna, aber aus den Augenwinkeln konnte Ryan das verhaltene Grinsen in ihrem Gesicht sehen. Sie mochte vielleicht so tun, als wäre sie gegen seinen Plan, aber genau wie er wollte sie nichts unversucht lassen, um zu entkommen. Ryan riss die Tür nach innen auf.

Die Wache war gerade dabei, panisch nach der Kette zu suchen, die Shuppet so gekonnt abgeschlagen hatte, als Ryan ihr mit der Energie eines Verzweifelten auf den Rücken sprang und den Rest des Seils um seinen Hals festzog. Er wagte nicht, zu heftig zu ziehen, aus Angst dem Mann ernsthaften Schaden zuzufügen, aber es reichte, um dem Aqua die Luft abzuschnüren, der nun mit zu Krallen verbogenen Fingern an dem Seil zerrte.

Corinna sprintete unterdessen den Gang entlang, geradewegs auf die zweite Wache, der geplagt von Shuppets Groll am Boden kauerte und die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hatte. Corinna nutzte seine kurzzeitige Hilflosigkeit und fesselte seine Füße, bevor sie wegsprang und seiner Hand auswich, mit der er wütend brüllend nach ihr griff.

„Renn!“, rief Ryan, der sich vom Rücken des bewusstlosen Aquas löste und Shuppets Blick suchte. Der kleine Geist verstand sofort und schoss in Richtung des Lagers davon.

Der Boden schien sich durch seine Fersen in sein Rückgrat zu bohren, so heftig schlugen Ryans Füße auf den steinernen Fliesen auf, als er davon preschte, Corinna dicht hinter ihm. Sicher hatte man sie bereits durch die Sicherheitskameras entdeckt. Wenn sie auch nur den Hauch einer Chance haben wollten, mussten sie sich beeilen.

Ryan konnte nicht abschätzen, wie lange er und Corinna durch das Hauptquartier rannten und um Ecken schlitterten, aber als Shuppet schließlich vor einer hohen Metalltür zum Stillstand kam, wollte Ryan sich vor Erschöpfung am liebsten übergeben. Hände auf die Knie gestützt und vorübergebeugt holte er röchelnd Luft und versuchte, das Ziehen in seinem ganzen Körper zu ignorieren, das wie ein Feuer durch seine Muskeln wanderte. Er war so mit Atmen beschäftigt, dass er zu spät die Stiefel bemerkte, die am Rande seines Sichtfelds standen. Erschrocken hob er den Kopf.

An die Wand neben der Lagertür gelehnt stand, mit verschränkten Armen und schadenfrohem Grinsen, Erwin. „Wusste ich doch, dass ihr hier aufkreuzen würdet, Magmabälger“, sagte er und drückte sich von der Wand ab. Seine große Hand wanderte zu dem Pokéball an seinem Gürtel und Ryans Schulter pochte in Erinnerung an die Giftzahn-Attacke, die er sich im Wald zugezogen hatte. „Ihr seid wegen dem Magnayen hier, oder? Armes Ding, es hat bestimmt schon die Hoffnung aufgegeben, je wieder mit seiner Trainerin vereint zu werden.“ Er bleckte die Zähne. „Und zu Recht.“

„Corinna, wir müssen fliehen“, flüsterte Ryan, der die Situation sofort erfasste. „Selbst wenn er nicht hier wäre, die Tür hat keinen Spalt, durch den ein Pokéball passt und uns fehlt die Zeit, sie aufzubrechen. Wir können Maggy nicht retten.“

„Ich weiß“, sagte Corinna und Ryan sah zu ihr. Tränen liefen ungehemmt über ihre Wangen, doch ihr Blick war eisern und auf Erwin fixiert. „Ich weiß.“ Und bevor Ryan sie aufhalten konnte, warf sie sich schreiend dem Aqua entgegen, der einen kurzen Moment verblüfft innehielt, bevor er Golbat aus seinem Pokéball befreite und Corinna auf den Hals hetzte. Doch er war nicht schnell genug.

Wie von Sinnen wich Corinna zur Seite aus, rollte sich über den Boden ab und kam direkt vor Erwin zum Stillstand, der erschrocken einen Schritt zurückmachte, während sie sich gegen seinen Oberkörper warf und ihr Knie mit voller Wucht in seine Weichteile stieß.

Ryan zuckte bei dem Anblick zusammen, Erwins Augen weiteten sich und ein sanftes Oh entwich ihm, bevor er auf die Knie sank, Hände gegen die getroffene Stelle gepresst und sich stöhnend vornüber beugte.

„Das ist für Maggy!“, fauchte Corinna, drehte sich um, und fand sich Auge in Auge mit Golbat wieder, das ganz und gar nicht glücklich über den Zustand seines Trainers aussah.

„Shuppet, Spukball!“, rief Ryan, bevor ihm einfiel, dass er genau die Attacke genannt hatte, die Shuppet noch nicht beherrschte. Nur dass der kleine Geist unberührt einen schwarzvioletten Energieball aus seinem Horn heraufbeschwor und auf die Fledermaus abfeuerte. Die Attacke traf und lenkte Golbats Aufmerksamkeit auf seinen neuen Gegner, schien dem Giftpokémon jedoch keinen nennenswerten Schaden zugefügt zu haben.

Corinna nutzte die Gelegenheit, um Erwin, der sich langsam von den Schmerzen erholte, mit voller Wucht gegen den Kopf zu treten. Es war in diesem Moment, da Ryan einfiel, dass Corinna schon einmal getötet hatte. In Selbstverteidigung zwar, aber plötzlich machte das keinen so großen Unterschied mehr. Sie trat ein zweites Mal zu, Augen blind vor Tränen.

Sie würde Erwin umbringen.

Ryan sprang vor, vorbei an dem sehr verwirrten Golbat, das mit weit aufgerissenem Maul das Geschehen beobachtete und nicht sicher schien, ob es nun das Pokémon oder die beiden Menschen angreifen sollte, packte sie am Oberarm und riss sie mit sich. „Verschaff uns etwas Zeit!“, rief Ryan Shuppet zu.

Für etwa eine Minute rannten sie blindlinks die nächstbesten Gänge entlang und machten kehrt, wenn sie Aquas entdeckten, die aufgeregt miteinander tuschelten oder über Headsets mit jemandem kommunizierten. Ryan wusste, dass sie nur mit Shuppets Hilfe den Ausgang finden würden, aber seine Gedanken waren ohnehin so panisch, dass er keine Zweifel daran hatte, von dem kleinen Geist gefunden zu werden. Er spürte zuerst die Kälte in seinem Nacken, dann machte Corinna ein angewidertes Geräusch und im nächsten Moment tauchte Shuppet direkt neben ihr auf, Zunge noch immer nach ihren tränennassen Wangen ausgestreckt.

„Wo lang?“, presste Ryan atemlos hervor. Shuppet schwenkte um eine Ecke und wenige Abzweigungen später fanden sie sich in Gängen wieder, die Ryan bekannt vorkamen. Sie mussten es irgendwie geschafft haben, doch in die richtige Richtung zu fliehen. Vor ihnen lag nun der lange Tunnel zum Höhlenausgang, der mit Flaggen behangen war und Ryan beim ersten Anblick so beeindruckt hatte. Nun konnte er sich nur auf die Tür am anderen Ende konzentrieren.

Es war die schönste Tür seines Lebens.

„Da sind sie!“

Corinna und Ryan drehten gleichzeitig den Kopf. Hinter ihnen kam eine Traube aus Aqua-Mitgliedern angerannt, angeführt von Adrian und Maike. Adrians Gesicht war wutverzerrt, Maikes ungläubig.

„Ich sage das nicht gerne“, murmelte Corinna, „aber es war ganz okay, dich gekannt zu haben.“

„Es war furchtbar, dich gekannt zu haben“, entgegnete Ryan.

„Habe ich das nicht gesagt?“

„Nicht wirklich.“

„Aber gemeint.“

Sie wichen langsam vor der Gruppe zurück.

„Stellen wir uns?“, fragte Ryan.

„Vergiss es.“ Corinnas Augen fanden in den hinteren Reihen Erwin und ihr Blick verdüsterte sich. „Ich sterbe lieber, als mich denen nochmal auszuliefern.“

„Dem kann ich nicht unbedingt zustimmen …“, begann Ryan, aber als Corinna lossprintete und auf den Ausgang zuhielt, schluckte er den Rest hinunter und folgte ihr.

Hinter ihnen ertönten Rufe, polternde Schritte wurden laut, rotes Licht erfüllte den Höhlenabschnitt und dann erschallte Maikes Stimme, die das Chaos mühelos mit der Autorität des Champions von Hoenn durchbrach.

„Ich fange sie ein! Sie haben keine Fluchtmöglichkeit, sobald sie auf dem Meer sind.“

Da hatte sie leider Recht.

Kaum dass Corinna und Ryan die schwere Metalltür von innen aufgestoßen hatten, standen sie auf der Plattform und sahen sich dem Meer gegenüber. Es war nicht unmöglich, die Strecke bis nach Seegrasulb City zu schwimmen. Nur unmöglich für jemanden wie Ryan. Sie sahen sich kurz an.

„Bis zum bitteren Ende?“, fragte Corinna. Ryan nickte ergeben. Sie holten tief Luft und sprangen gleichzeitig ins eisige Meer.

Sie schwammen um ihr Leben. Als die Tür zum HQ sich ein weiteres Mal öffnete und Maike hindurchtrat, hatten sie bereits die Meereshöhle hinter sich gelassen und kämpften sich nun durch die träge dahinschwappenden Wellen.

„Da lang“, keuchte Ryan zwischen zwei Schlucken Salzwasser. „Die Drone … noch kaputt.“ Es war ein sinnloses Detail. Man würde sie nicht durch die Dronen überwachen können, während sie davonschwammen, aber Maike flog bereits auf Schwalboss hinter ihnen her. Sie hatten nur noch wenige Sekunden, bevor sie eingeholt wurden.

Wie auf Kommando tauchten sie unter. Ryan hielt die Luft an, so lange er konnte, strampelte mit den Beinen und schwamm so schnell es seine erschöpften Gliedmaßen hergaben, während Corinna leicht an ihm vorbeizog. Doch es reichte nicht. Nach kaum dreißig Sekunden brannte seine Lunge wie Lava und Ryan kämpfte sich seinen Weg an die Oberfläche, wo er spuckend und prustend Luft holte.

Einen Moment später tauchte Corinna zwei Meter vor ihm aus den Tiefen auf. Und über ihnen kreiste, mit undurchschaubarer Miene, Maike.

„Wollt ihr nochmal tauchen gehen oder kann ich euch jetzt einsammeln?“, fragte sie. Ryan schwieg. Verloren mochte er haben, doch das würde er ihr nicht zugestehen. Niemals.

Trotzdem ließ er sich von ihr auf das Vogelpokémon ziehen, ein Unterfangen, dass ihr keinerlei Mühe zu machen schien, obwohl Ryan sicherlich 40 Kilogramm wog. Corinna weigerte sich zunächst, nahm jedoch letztlich auch Maikes Hand und keine Minute später saßen sie alle im Dunkeln auf dem Schwalboss.

Maike gab ihrem Pokémon ein geflüstertes Signal, dann schossen sie durch die Lüfte.

„Was geschieht jetzt mit uns?“, fragte Ryan. Der Wind toste um seine Ohren und er musste laut sprechen, um gehört zu werden. „Irgendwelche zusätzlichen Delikte, die uns angehängt werden? Flucht vor der Autorität zum Beispiel?“

„Das bezweifle ich“, sagte Maike, die nun gut gelaunt vor sich hinpfiff. Es war in diesem Moment, da Ryan bemerkte, dass sie in die falsche Richtung flogen. Die Basis von Team Aqua wurde hinter ihnen immer kleiner.

„Was geht hier vor?“, fragte er. Corinna hob ebenfalls den Blick und sah sich erschrocken zu Maike um, als am Horizont die ersten Lichter von Seegrasulb City erstrahlten.

„Sagen wir es so“, sagte Maike. „Wenn ich morgen zum Hauptquartier zurückkehre, werde ich Adrian mitteilen müssen, dass ihr entweder ertrunken seid, oder andernfalls einen Fluchtplan zurechtgelegt hattet, den selbst ich nicht ausfindig machen konnte. Ihr seid weder in Seegrasulb City, noch in Moosbach City aufzufinden und wie vom Erdboden verschwunden.“ Sie zwinkerte Ryan zu. „Ich konnte euch natürlich nicht unter Adrians Nase befreien, das hätte man selbst mir nicht durchgehen lassen, aber da ihr beiden euch so gekonnt selbst geholfen habt, sehe ich kein Problem damit, euch auf den letzten Metern ein wenig unter die Arme zu greifen.“

Ryan starrte sie fassungslos an. Corinna fand als erste ihre Worte wieder. „Aber … warum? Wir sind Kriminelle!“

„Ihr seid Kinder“, entgegnete Maike. „Adrian mag da keine Unterschiede sehen, aber du bist der Organisation nicht beigetreten, um Hoenn in den Untergang zu stürzen, sondern weil du dich nach einer Familie gesehnt hast und Ryan hat dich beschützt, weil Aquas Mitglieder dich misshandelt und ihm seinen Besitz gestohlen haben. Meiner Meinung nach habt ihr euch keine Schuld zukommen lassen, die es verdient, von der Polizei geahndet zu werden.“ Sie sah zu Corinna hinüber und schlug sich plötzlich gegen die Stirn. „Fast hätte ich es vergessen!“ Sie kramte drei Pokébälle aus ihrer Jackentasche und reichte einen davon Ryan und die anderen beiden Corinna. „Die gehören euch, glaube ich.“

Corinna starrte die Bälle in ihren Händen an. „Sind das …“

„Ich würde dir raten, sie nicht hier zu öffnen, sonst wird es doch etwas eng, aber es sind deine beiden Pokémon. Foxy habe ich Ryan persönlich abgenommen, als er gefangen wurde, und dein Magnayen habe ich aus dem Beweislager gerettet.“ Ihr Blick verdunkelte sich. „Adrian hätte es dort wohl verrotten lassen, wenn ich nicht ein Machtwort gesprochen hätte. Ich muss etwas wegen seiner Einstellung tun, sonst tanzt er mir weiterhin auf der Nase herum.“

Corinna schien gar nicht zuzuhören. Sie starrte nur weiter auf die beiden Pokébälle. Ihre Augen leuchteten mit so viel Dankbarkeit, dass Ryan wegsehen musste, um nicht geblendet zu werden. Er selbst wusste nicht, wie er sich fühlte. Shuppet schwebte direkt an seiner Schulter und hielt sich gegen den Wind an ihm fest, bevor er ihm den Gefallen tat und es in seinen Pokéball zurückrief. Erleichterung war da, sicher. Aber er fühlte sich auch irgendwie … beschwert. Er stand nun in Maikes Schuld und er war dieses Gefühl nicht gewohnt. Wie sollte er damit umgehen?

„Wenn wir nicht nach Seegrasulb City können, wohin fliegen wir dann?“, fragte er stattdessen.

Maike zuckte die Schultern. „Ihr habt die Wahl. Solange es nicht in einer anderen Region ist, fliege ich euch gerne zu jeder beliebigen Stadt. Gibt es einen Ort, an dem ihr unterkommen könntet, ohne von Aqua gefunden zu werden, solange sie noch nach euch suchen?“

Corinna schüttelte den Kopf. „Ich bin seit Monaten in Wäldern unterwegs, ich habe keine Ahnung, wo ich jetzt hin soll.“

Kurz dachte Ryan an sein Elternhaus in Baumhausen City, aber er verwarf den Gedanken sofort wieder. Adrian hatte Zugang zu seinem USB gehabt, sie kannten seinen vollen Namen und von da war es sicher nicht schwer, seine Familie ausfindig zu machen. Blieb nur noch eine Möglichkeit.

„Ich hätte da eine Idee …“

 

 

Etwa fünf endlose Stunden später setzte Maike einen steifbeinigen Ryan und eine noch immer glückselige Corinna in Laubwechselfeld ab. Sie wechselten einige kurze Worte des Danks, bevor die Ligameisterin sich ächzend wieder auf Schwalboss´ Rücken schwang und wesentlich schneller als zuvor den Rückflug antrat.

Ryan sah sich um. Die Asche hing als feiner Nebel in der Luft und jeder seiner Schritte Richtung Stadtinneres wirbelte Staub von dem trockenen Erdboden auf. Corinna konnte die Augen nicht weit genug aufreißen. Sie war noch nie hier gewesen und Ryan fühlte sich merkwürdig stolz darüber, dass sie seine Heimatstadt so spannend fand. Die Sonne ging gerade auf und ihr Licht warf die ersten warmen Strahlen des Tages auf das ungleiche Trainerpaar.

Grinsend steuerte Ryan auf ein orange-gelb gedecktes Häuschen einige Straßen vom Pokécenter entfernt zu. Mit selbstbewussten Schritten trat er an die Haustür und klingelte. Corinna folgte ihm, sichtlich verunsichert.

Einige Sekunden der Stille vergingen, in denen Ryan leichte Panik überkam. Doch dann öffnete sich die Tür weit und vor ihm stand, mit pinken Zöpfen und für die Schicht im Pokécenter in pinker Uniform gekleidet, Hanna, seine Schwester Joy. Ihre Überraschung, als sie ihn erkannte, war das ultimative Glücksgefühl. „Ryan?“, fragte sie fassungslos. „Was machst du denn hier?“

„Nicht so wichtig. Sind sie inzwischen verheiratet?“, fragte Ryan ohne mit der Wimper zu zucken.

Sie stutzte. „Nein, das bin ich nicht.“

Grinsend schob Ryan sich an ihr vorbei ins Haus und zog Corinna mit sich. „Ausgezeichnet“, sagte er und warf sich auf die Couch. „Dann ziehen wir ein.“

Jayden – Akt 1, Szene 1

8 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Sie war größer als er, hatte auch im Winter Sommersprossen und stutzte ihren kurzen Fransenpony jede Woche mit einer gigantischen Küchenschere.

Chris war das Nachbarsmädchen von nebenan und Jayden wurde nicht aus ihr schlau. Auch heute saß sie wieder auf ihrem Bett, Spiegel zwischen die schmalen Knie geklemmt und verfolgte mit konzentrierter Miene die Schere in ihren Händen, zwischen deren Stahlklingen Strähne um Strähne in ihren Schoß fiel.

Jayden sah fieberhaft durch das offene Fenster in ihr Zimmer. Ihre Häuser waren für Alabastia-Verhältnisse nah beieinander gebaut und so hatte er die Eigenheiten seiner Altersgenossin jederzeit aus der Nähe beobachten können.

Die letzte Ponysträhne fiel zu Boden und Chris ließ zufrieden ihre Schere sinken. Sie kletterte vom Bett, verstaute Schere und Spiegel außerhalb von Jaydens Sichtfeld und lief aus ihrem Zimmer.

Nur eine Minute später erklang das Knallen einer Haustür.

Ohne nachzudenken sprang er auf und verließ fluchtartig sein Zimmer. Außer der ein oder anderen Begegnung im Supermarkt, wenn er mit seiner Mutter einkaufen war und zu einem gemurmelten Hallo gezwungen wurde, hatte er Chris nie richtig kennengelernt, und dass, obwohl sie seit ihrer Geburt nur durch zwanzig Meter Wiese und zwei Hauswände getrennt waren.

Chris war anders als die anderen Kinder und irgendwie mochte er sie nicht, aber sie zu beobachten war stets sein liebster Zeitvertreib.

Auf der Wendeltreppe im Flur stolperte er fast über seine eigenen Füße, kam aber gerade rechtzeitig zum Stehen, um nicht in den Schuhschrank zu poltern. Während er hastig in seine Turnschuhe schlüpfte, tauchte seine Mutter mit einem Korb Wäsche aus dem Keller auf und strubbelte ihm durch sein orangeblondes Haar.

„Sei zum Abendessen wieder da“, ermahnte sie ihn.

„Ja, Mama“, murmelte er genervt und lief durch die Haustür hinaus in die brütende Hitze.

Der Boden war trocken und staubte unter seinen Sohlen. Jaydens Familie wohnte weitab vom Stadtzentrum und selbst mit dem Fahrrad waren es gute dreißig Minuten, bis die verstreuten Wohnhäuser von den ersten Läden unterbrochen wurden und die Straße mehr war, als nur ein Streifen plattgelaufener Erde.

Die Hitze drückte von allen Seiten auf ihn herab, aber davon ließ er sich nicht beirren. Er kratzte sich unbeholfen am Rücken, wo die ersten Schweißtropfen zwischen seinen Schulterblättern herabrannen und umrundete das Haus.

Den Wiesen war das Sommerwetter nicht gut bekommen. Das inzwischen braune Gras hing lasch zu Boden und die Luft roch unangenehm süßlich nach den Stellen, an denen es schon faulte. Jayden lief weiter, bis er weit entfernt im Norden die dichten Wälder und den Durchgang zu Route 1 entdeckte. Er verlangsamte seine Schritte und stapfte andächtig durch das vertrocknete Gras. Seine Mutter war nicht kleinlich und ließ ihn mit seinen elf Jahren ohne Wimpernzucken durch ganz Alabastia stromern, aber Route 1 und alles Dahinterliegende waren absolute Tabu-Zone.

Bis du ein eigenes Pokémon hast, mit dem du dich verteidigen kannst, wirst du dich von dort fernhalten“, pflegte sie zu sagen. Jayden fieberte diesem Ereignis entgegen, seit er wusste, dass sein Vater ein Assistent in Professor Eichs Labor war und er deshalb eins der Laborpokémon erhalten würde, sobald er zwölf war. Noch drei Wochen, dachte Jayden und unterdrückte den Impuls, umzukehren, zum Labor zu sprinten und sein Pokémon sofort einzufordern.

Er schüttelte den Kopf und sah sich um. Chris stand etwas abseits und schaute in den Himmel,  während eine schwüle Brise das lange Haar um ihren Kopf blies. Kurzentschlossen sprintete Jayden los und kam einige Meter hinter dem Mädchen zum Stehen.

„Lass uns kämpfen!“, befahl er und tat so, als würde er einen Pokéball von seinem Gürtel nehmen. „Los, Glurak! Flammenwurf!“

Chris drehte sich zu ihm um. Sie machte keine Anstalten, ihr eigenes Fantasie-Pokémon zu rufen und das irritierte und ärgerte Jayden ungemein. Sie sollte sich freuen, dass er ihr gefolgt war, um zusammen zu spielen, schließlich hatte sie keine Freunde in Alabastia.

„Du hast kein Pokémon“, stellte sie ernst fest. „Und wenn doch, dann wäre es kein Glurak.“

„Ja, aber wir können ja so tun“, erwiderte Jayden genervt und wedelte mit seiner leeren Hand durch die Luft. „Ich hab’ ein Glurak und du ein anderes Pokémon und dann kämpfen wir mit ihnen.“

Sie runzelte die Stirn, was unter ihrem kurzen Pony leicht zu sehen war. „Aber wie kämpfen wir, wenn es sie nicht gibt?“ Sie sah ehrlich verwirrt aus.

Jayden seufzte. „Glurak, zurück.“ Er stemmte die Hände in die Hüften und sah Chris durchdringend an. „Weißt du, was ein Glurak ist?“

„Natürlich. Red hat ein Glurak.“

„Jetzt stell dir vor, es steht neben uns.“

Sie kniff die Augen zusammen und sah sich um, schüttele jedoch den Kopf. „Ich sehe es nicht.“

„Argh!“ Wütend stampfte Jayden auf. „Man kann überhaupt nicht mit dir spielen, deshalb bist du immer alleine.“ Er machte auf dem Absatz kehrt und stapfte zurück zu seinem Haus. Blöde Chris und ihr blöder Pony. War es so schwer, sich einen gespielten Kampf mit ihm zu liefern?

Hinter ihm hörte er ein leises Geräusch. Zuerst ignorierte er es, aber schließlich wurde die Neugier zu groß und er drehte den Kopf. Chris hockte im Gras, Knie umschlungen und sah schniefend auf ihre Füße.

Einen kurzen Moment zögerte Jayden, dann lief er weiter. Sollte sie doch weinen. War ihm doch egal. Mädchen waren doof, das war ihm schon immer klar gewesen. Chris war ein tolles Beispiel dafür, wie wenig Spaß man mit Mädchen haben konnte.

Eine leise Stimme in seinem Hinterkopf sagte, dass es an Chris lag, nicht daran, dass sie ein Mädchen war, aber Jayden mochte die Stimme nicht. Immer, wenn er auf sie hörte, fühlte er sich gleich schlechter. Sie zu ignorieren, war das Beste.

„Schon zurück?“, fragte seine Mutter, als er bockig die Turnschuhe von seinen Füßen trat und die Treppe hinauf stürmte. „Der Lehrkanal fängt gleich an!“, rief sie ihm hinterher.

Jayden grummelte etwas Unverständliches, lief in sein Zimmer und setzte sich auf seine Fensterbank, von wo aus er Chris beobachtete, die unverändert auf der Wiese hockte. Jayden beobachtete sie noch einige Minuten, doch schließlich ging er ins Wohnzimmer. Castor wartete schließlich nicht.

Die heutige Folge konnte er jedoch nicht genießen. Immer wieder schweiften seine Gedanken zu Chris zurück, die so traurig ausgesehen hatte. Als wüsste sie nicht, was sie falsch gemacht hatte.

Trotzdem gestand Jayden sich keine Schuld ein. Chris war langweilig und er hatte keine Lust, sich mit ihr anzufreunden, wenn er nicht einmal mit ihr spielen konnte. Außerdem würde er ohnehin bald Alabastia verlassen. Der Gedanke an sein erstes eigenes Pokémon hob seine Stimmung augenblicklich und als er an diesem Abend schwitzend und bei offenem Fenster im Bett lag und wegen der Hitze nicht schlafen konnte, malte er sich in den wildesten Farben aus, wie sein zukünftiger Partner und er die Welt unsicher machen würden.

 

 

Jayden begegnete Chris nur zwei weitere Male während der nächsten drei Wochen, einmal vor ihrem Haus, als sie auf Zehenspitzen den Briefkasten entleerte und ihn allem Anschein nach ignorierte und ein anderes Mal auf dem Spielplatz der Dorfschule, wo sie alleine an den Zaun gelehnt stand und in den Himmel starrte.

Beide Male dachte er darüber nach, sie anzusprechen, aber sie schien so fern von allem zu sein, dass er es bleiben ließ, auch wenn Castor aus dem Lehrkanal in einer der neusten Folgen dazu aufrief, mit einsamen Kindern zu reden, damit sie nicht mehr alleine waren.

Das soll er mal bei Chris probieren, dachte Jayden bockig. An ihr würde sich selbst sein größtes Idol die Zähne ausbeißen, da war er sicher.

Die Zeit bis zu Jayden Geburtstag verging zäh wie Honig, aber als Jayden am 22. Juli trotz drückender Hitze aus dem Bett sprang und seinen am Tag zuvor gepackten Rucksack samt Schlafsack auf den Rücken schnellte, war alles Warten vergessen. Er stolperte die Treppe hinunter, zog seine Schuhe an und lief zur Tür.

Es war soweit. Er war offiziell zwölf, und nichts und niemand würde ihn davon abhalten, augenblicklich ins Labor von Professor Eich zu stürmen und sich sein erstes Pokémon abzuholen.

Seine Mutter sah um die Ecke. „Jay, ich habe dir einen Kuchen gebacken und—was machst du denn da?“

Jayden hielt mit beiden Händen auf dem Türknauf inne und drehte sich in Zeitlupe zu ihr um. „Zum Labor gehen?“

Sie zog eine Augenbraue hoch. „Dein Vater bringt dich doch gleich hin, wenn er zur Arbeit geht. Sag bloß, du wärst ohne ein Wort abgehauen? Wer weiß, wann wir uns das nächste Mal wiedersehen.“ Jayden zögerte. Er konnte es nicht abwarten, endlich ein Trainer zu sein und sein Abenteuer zu beginnen. Andererseits gab es Kuchen.

Er entschied, dass sein Abenteuer noch ein paar Minuten warten konnte.

Als er das Esszimmer betrat, musste er schlucken. Er war gestern Abend zuletzt hier gewesen, um seinen Eltern Gute Nacht zu sagen, doch jetzt hingen von den Gardinenstangen Schnüre voller Luftballons und Papierschlangen. Ein großer Schokokuchen mit zwölf Kerzen stand in der Mitte des Tisches und zwei bunt verpackte Geschenke lagen auf dem Teller am Kopfende, dessen Stuhlrückenlehne Jaydens Name schmückte. Seine Mutter stand neben seinem Vater und wischte sich einige Tränen weg.

„Alles Gute zum Geburtstag, Jay“, sagte sie und nahm ihn in den Arm.

„Alles Gute, mein Sohn“, sagte sein Vater und umarmte sie beide. Jayden drückte fest die Augen zu. Er freute sich auf seine Reise. Er wollte unbedingt los.

Warum also tat jetzt sein Herz so komisch weh?

Jayden – Akt 1, Szene 2

8 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Der Kuchen war köstlich. Auf dem Gepäckträger des Fahrrads seines Vaters sitzend, sah Jayden dabei zu, wie sein Elternhaus in der Ferne immer kleiner wurde. Der tragbare Lehrkanal und der Gürtel mit fünf leeren Pokébällen, die er kurz zuvor euphorisch von Geschenkpapier befreit hatte, beschwerten seinen Rucksack auf wundervolle Weise.

Trotz der frühen Stunde brannte die Sonne unbarmherzig auf sie nieder. Sie brauchten eine knappe halbe Stunde zum Stadtzentrum und von dort noch einige Minuten, bis der große Laborkomplex in Sicht kam, in dem Professor Eich seit Jahren seine Pokémonforschung vorantrieb. Am Empfang erhielt Jayden einen Besucherausweis, den er sich stolz um den Hals hängte und wurde anschließend von einer jungen Laborantin, die sich als Nicole vorstellte und deren runde Brillengläser ihr das Aussehen eines Bluzuk verliehen, durch eine gesicherte Tür geschleust.

Sie reichte ihm einen Laborkittel, der Jayden einige Zentimeter über die Fingerspitzen hing, und eine Laborbrille, die er sich ungelenk auf die Nase setzte.

„Hier entlang“, sagte sie lächelnd und führte ihn durch einen langen, weiß gefliesten Gang. In den Räumen links und rechts erspähte Jayden Wissenschaftler, die Pokémon auf Metalltischen untersuchten, mit Reagenzgläsern und großen braunen Glasflaschen hantierten oder dutzende Pokébälle auf Tabletts von einer Maschine zur nächsten trugen.

So aufregend hatte er sich den Ausflug ins Labor nicht vorgestellt. Seit zwei Jahren gab Professor Eichs Labor nicht mehr an jeden Trainer Pokémon ab, da die Nachfrage auf Reds Verschwinden hin stark angestiegen war. Jayden war so in Gedanken, dass er geradewegs in die Laborantin hineinlief, als diese vor einer Tür stehenblieb.

„Professor Eich ist gerade beschäftigt, aber sein Assistent wird dir weiterhelfen können“, sagte sie mit einem verschmitzten Grinsen, als Jaydens Ohren wegen seines Missgeschicks rot anliefen. Sie stieß die Tür auf und steckte den Kopf hinein. „Thomas, Johns Sohn ist wegen seinem Starter hier. Ich schick ihn dir einfach rein und … Blue? Was machst du denn noch hier?“

Nun konnte Jayden sich wirklich nicht mehr zurückhalten. Er spähte in das Labor. Zwei große Messgeräte mit Computer und einem Schreibtisch, sowie einer Arbeitsfläche aus Metall, auf der einige Pokébälle in runden Tabletts standen, füllten den Raum zum Bersten. Vor den Pokébällen stand ein Mann mit Halbglatze und unrasiertem Kinn, der Jayden und Nicole einen genervten Blick zuwarf. An dem Schreibtisch weiter hinten saß, mit offenem Kittel und hellbraunem Haar, das zu einem kleinen Zopf nach hinten gebunden war, Blue.

Reds bester Freund, ewiger Rivale und Enkel von Professor Eich. Bei Nicoles Stimme drehte er sich mitsamt Stuhl zu ihnen um. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, lächelte aber, als er Nicole entdeckte. Die Laborantin fing sich wieder. „Ich dachte, du wärst schon wieder in der Arena“, sagte sie.

„Sollte ich sein“, stimmte Blue zu und fuhr sich mit einer fahrigen Hand durchs Haar. „Ich wollte nur meinen Bericht zu Ende schreiben, aber dann sind mir noch einige Parameter eingefallen, dich ich testen wollte und jetzt bin ich eh´ zu spät, also was soll´s.“

„Hast du die ganze Nacht durchgemacht?“, fragte Nicole schockiert. Er zuckte mit den Achseln, aber die Schatten unter seinen Augen sprachen Bände. „Du weißt, wie ungesund das ist, Blue.“ Sie sah nun ehrlich besorgt aus. „Ich weiß nicht, was mit dir los ist. Seit einigen Wochen vergräbst du dich unter Bergen von Arbeit. Lange macht dein Körper das nicht mehr mit.“

Für einen kurzen Moment sah Blue so aus, als wolle er sie anfahren, stattdessen seufzte er nur und rieb sich die Augen. „Du hast ja Recht. Ich mache den Rest später.“ Er warf ihr einen hoffnungsvollen Blick zu. „Begleitest du mich noch nach draußen?“

Nicole sah hin- und hergerissen zwischen Jayden und Blue hin und her. „Ich soll eigentlich mit Jayden seinen Starter aussuchen …“, begann sie, doch Jayden schüttelte den Kopf.

„Geh ruhig mit ihm“, sagte er und fühlte sich dabei unglaublich nobel. Er sah doch, dass sie mit ihm gehen wollte! „Ich finde mich schon zurecht.“

„Wenn du meinst …“, sagte Nicole, sichtlich erleichtert. Blue erhob sich, zwinkerte Jayden dankbar zu und verschwand mit Nicole auf dem Gang.

Jayden sah den beiden verträumt hinterher. Er hatte das Gefühl, eine gute Tat vollbracht zu haben. Eine, auf die Castor stolz gewesen wäre. Aus der Richtung des Assistenten ertönte ein herablassendes Schnauben.

„Grässlich mit anzusehen, wie die beiden um einander herumscharwenzeln“, sagte er und winkte Jayden zu sich. „Du bist also Johns Sohn.“ Er besah sich Jayden mit kritisch zusammengekniffenen Augen. „Solange du hier bist, fasst du nichts an, du tust, was ich dir sage und du widersprichst nicht, verstanden?“

„Aber —“

„Ah!“ Er gab Jayden einen Klaps auf den Hinterkopf. „Was hab ich gesagt? Keine Widerworte!“

„Au.“ Jayden rieb sich den Kopf.

„Wie die Tradition es will, verschenken wir weiterhin Pokémon der Spezies Bisasam, Schiggy und Glumanda, wenn sich die Situation ergibt.“ Er deutete auf drei getrennte Tabletts, von denen zwei gut gefüllt waren, während in dem dritten nur ein einziger Pokéball lag. „Also, welches hättest du gerne?“

Endlich, die Frage, auf die Jayden seit Jahren wartete. „Ein Glumanda!“

„So wie Red, hm?“ Thomas seufzte. „Welch Überraschung.“ Er deutete auf das fast leere Tablett. „Wie du siehst, sind Glumanda sehr begehrt. Leider sind sie gerade alle weg. Du wirst auf die nächste Zucht warten müssen. Die Eier werden noch ausgebrütet, das dauert etwa drei Monate. Wenn du sofort ein Pokémon haben willst, wirst du eins der anderen nehmen müssen.“

Jayden starrte ihn an. „Aber, da ist doch noch ein Pokéball!“ Thomas schielte zu dem Ball.

„Ja, nun“, sagte er. „Dieser ist besonders. Der genetische Code dieses Glumandas ist anders als die der anderen. Ich habe große Hoffnung in dieses Exemplar. Meine Forschung könnte vor dem Durchbruch stehen. Wenn ich die Auswirkung der genetischen Anomalie auf den Phänotyp untersuche, werde ich vielleicht endlich berühmt.“

Jayden hatte kein Wort verstanden, außer dass man ihm ein Glumanda vorenthalten wollte, obwohl es sein Traum war und direkt vor ihm lag. Wütend stampfte er mit dem Fuß auf. „Aber ich will —“

„Ah!“ Thomas schlug ihm wieder gegen den Hinterkopf. „Mein Labor, meine Regeln. Und jetzt tu mir einen Gefallen, nimm dir ein Schiggy oder Bisasam oder komm in ein paar Monaten wieder und lass mich in Ruhe weiterarbeiten.“

Jayden schnaubte. Er konnte Thomas jetzt schon nicht leiden. Niemand hatte ihm gesagt, dass er vielleicht kein Glumanda bekommen würde! Kurz dachte er darüber nach, wie es mit einem der anderen Starter sein würde, aber er konnte sich einfach mit keinem Pokémon außer Glumanda vorstellen. Es musste die Feuerechse sein.

Um Zeit zu schinden, folgte Jayden Thomas zu einem der freien Computer, an dem der Wissenschaftler nun ein Programm öffnete, das den Bildschirm in ein undurchschaubares Meer aus Buchstaben verwandelte. „Darf ich zugucken?“, fragte Jayden, obwohl er sich nichts Langweiligeres vorstellen konnte. Thomas drehte sich skeptisch zu ihm um.

„Warum?“

„Weil … mein Papa auch hier arbeitet und ich gerne mehr darüber wissen möchte?“

„Dann frag deinen Vater, nicht mich. Wir arbeiten an unterschiedlichen Projekten, das lässt sich wirklich nicht vergleichen, außerdem bist du gerade einmal zwölf Jahre alt, da würdest du nichts von dem verstehen, was ich dir erkläre.“

„Stimmt gar nicht!“, fauchte Jayden gekränkt. „Ich bin gut in der Schule.“

Thomas seufzte. „Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.“

„Ich will es trotzdem wissen.“

„Ich hasse Kinder …“, murmelte Thomas, wandte sich jedoch wieder seinem Computer zu. „Also schön. Das sind DNA-Sequenzen des Glumandas, das ich untersuche. Wir nennen es hier Nummer G301. Ich vergleiche die Basensequenzen mit denen der Parentalgeneration und anderen Glumandas, deren Genome sequenziert wurden und markiere die Anomalien und Abweichungen, die ich später in einer Datenbank abfrage, um herauszufinden …“

Jayden hörte längst nicht mehr hin. Wann immer am Esstisch die Aufmerksamkeit auf etwas gelenkt wurde, dass er nicht oder schlecht gemacht hatte, reichte es, seinen Vater nach der Arbeit zu fragen. Sobald John Williams begann, über seine Experimente zu reden, sah seine Mutter ihn mit verträumten Augen an und Jayden konnte schnell zu Ende essen und nach oben abhauen.

Kaum dass er Thomas also dazu gebracht hatte, über sein Lieblingsthema zu sprechen, schlich er sich rückwärts von dem Schreibtisch weg, schnappte den Pokéball des letzten Glumandas und legte einen der anderen Pokébälle an seine Stelle. Er wollte sich schon aus dem Staub machen, da viel ihm der Code auf, der auf der roten Seite des Pokéballs klebte. Hastig knibbelte er den Sticker ab und klebte ihn über den Code des anderen Pokéballs. Er verstaute das Glumanda tief in den Taschen seines geliehenen Laborkittels und stellte sich wieder dicht hinter Thomas, der noch immer in seiner Erklärung steckte.

„… es den Phänotyp tatsächlich beeinflusst, wie ich derzeit vermute, dann könnte das bahnbrechende Folgen haben. Designer-Pokémon für die Reichen, verbesserte Zuchtchancen von seltenen Arten, ich wäre ein gemachter Mann!“ Thomas drehte sich mit strahlendem Gesicht um, das sich bei Jaydens Anblick gleich wieder in eine Grimasse verwandelte. „Du hast kein Wort verstanden, oder?“, fragte er.

Jayden grinste verlegen und kratzte sich an der Nase. „Ne, nicht wirklich.“

Thomas seufzte. „Habe ich ja gesagt.“ Er machte eine scheuchende Handbewegung. „Und jetzt raus mit dir, ich habe noch zu tun.“

Erleichtert drehte Jayden sich um und öffnete die Tür.

„Moment.“

Er erstarrte und drehte sich in Zeitlupe zu Thomas um. „Was denn?“

„Hast du jetzt ein Pokémon mitgenommen?“, fragte der Wissenschaftler und zückte ein Klemmbrett. „Ich muss die Nummer notieren.“

„Ehh …“ Jayden begann zu schwitzen. Wie war der Code des Pokémons gewesen, den er überklebt hatte? Verdammt, verdammt, verdammt! „Nummer …“ Was war es gewesen?

„Wenn du dich nicht erinnerst, kannst du mir einfach den Ball zeigen, ich schreib sie ab“, sagte Thomas ungeduldig.

„Nein, nein, es war Nummer … Nummer B256.“

Thomas nickte. „Bisasam also. Gute Wahl, ich weiß ohnehin nicht, was die Kinder alle mit den Glumandas wollen. Die ersten zwei Arenen machen euch danach nur Ärger. Mit Bisasam ist der Start viel leichter. Guter Starter, Bisasam. Wäre auch meine Wahl.“ Er schrieb die Nummer auf und setzte sich ohne ein weiteres Wort zurück an seinen Computer. Jayden rannte förmlich aus dem Raum.

Er hatte kaum Kittel und Schutzbrille zurückgegeben, da kam Nicole um die Ecke. Ihre Wangen waren gerötet und ihr Zopf an den Seiten leicht aufgelöst. Draußen musste es wirklich furchtbar heiß sein.

„Du gehst schon?“, fragte sie munter. Jayden nickte. „Manchmal wünschte ich, dass ich auch in deinem Alter losgezogen wäre, einfach um etwas Erfahrung in der Welt zu sammeln, aber letztlich war ich doch eher ein Bücherwurmpel.“ Sie kicherte. „Viel Erfolg auf deiner Reise. Wenn du etwas Ungewöhnliches findest, melde dich.“

„Mache ich“, sagte Jayden, den gestohlenen Pokéball wie eine heiße Kohle in seiner Hosentasche.

Er atmete erst ruhig auf, als er auf seinem Weg nach Route 1 mehrere Kilometer zwischen sich und das Labor gebracht hatte.

Chris – Akt 1, Szene 1

8 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Die Sonne brannte gnadenlos vom Himmel als Chris Alabastia hinter sich ließ. Das trockene Gras kitzelte ihre Waden und der breite Strohhut, das einzige, was Chris als Hilfestellung von ihren Eltern akzeptiert hatte, kratzte auf ihrer Kopfhaut.

In der Ferne konnte sie bereits Route 1 erkennen, der schmale Pfad umgeben von zwei bewaldeten Hügelkuppen, der tiefer in den dahinterliegenden Wald führte und dessen Weg sich laut allen Karten, die Chris gesehen hatte, bis zu der ersten Stadt auf ihrer Reise entlangwand.

Statt sich durch Alabastias Innenstadt zu kämpfen, stapfte Chris durch die ausgetrocknete Wiese hinter dem Grundstück ihrer Eltern. Sie war diesen Sommer nicht oft hier gewesen, und meistens alleine.

Bis auf den einen Tag.

Chris` Mund wurde trocken. Bei dem Gedanken an die Worte des Nachbarsjungen hob Chris trotzig das Kinn und zurrte ihren Rucksack zurecht, der einen warmen Schweißfleck auf ihren Rücken hinterließ. Darin befanden sich einige Flaschen Wasser und Energieriegel, ihre Schere und ihr gesamtes Angespartes in einer abgewetzten Geldbörse. Sie war nicht sicher, ob der Proviant bis nach Vertania City reichen würde, aber es war das, was sie selbst gekauft hatte und wenn es nicht reichte, war das okay. Sie hatte keine Pokébälle. Keine Tränke. Nur eine Karte von Kanto und den kaputten Pokédex ihres Vaters. Sie war noch nicht sicher, was sie damit machen würde.

Das Gesicht des Jungen erschien wieder in ihrer Erinnerung, unscharf, mehr ein Gefühl als ein Bild. Woran sie sich jedoch genau erinnerte, war sein befehlshaberischer Tonfall, seine Irritation. Verletzter Stolz ließ ihre Wangen und Ohren heiß werden. Sie war nicht langweilig. Er war einfach nur ein Idiot. Aber das traf auf das ganze Dorf zu. Sie alle logen sich gegenseitig an, doch niemanden kümmerte es. Sie redeten in einer privaten Sprache, die jeder zu verstehen schien.

Nur sie nicht.

Als sie eine Stunde später auf die nördliche Straße nach Route 1 traf, entdeckte sie am Wegesrand einen Jungen. Sie glaubte, sein Gesicht schon einmal gesehen zu haben, konnte sich jedoch an keinen Namen erinnern. Der Junge, pausbäckig und mit verschwitztem Gesicht, winkte sie zu sich.

„Du startest heute deine Reise, oder?“, fragte er aufgeregt. „Wie Red, genau vor sechs Jahren. Du musst sein Fan sein.“ Verlegen sah er sie an. „Ich würde gerne mitkommen, aber ich bin nicht so mutig wie du und meine Eltern haben auch etwas dagegen, dass ich losziehe, deshalb —“

„Wer bist du?“

Der Junge zuckte unter ihrem Blick zusammen. Er sah verletzt aus, auch wenn Chris nicht verstand, weshalb. „Ich heiße Max. Wir gehen seit vier Jahren in dieselbe Klasse. Du hast mich nie viel beachtet, aber ich dachte, dass du zumindest …“

„Ich kann mir keine Namen merken“, sagte Chris, ohne dass es ihr groß leidtat. Auch nachdem er seinen Namen genannt hatte, konnte sie ihn nicht einordnen.

„Muss spannend sein, so eine Reise“, sagte Mark steif. „Du trittst in Reds Fußstapfen, was? Frau Krüger hat schon immer gesagt, dass du echt gut bist.“

Chris, die damit beschäftigt war, unter ihren Füßen nach Reds Fußspuren Ausschau zu halten, hob überrascht den Kopf. „Hat sie das wirklich gesagt?“, fragte sie und hoffte, dass Mark ihre glühenden Ohren nicht bemerkte.

„Ausdrücklich“, bestätigte er. „Aber hey, ich muss wieder zurück, meine Mutter beim Putzen helfen, sonst schimpft sie. Ich bin nur hergekommen, um dir Tschüss zu sagen, also … komm einfach vorbei, wenn du mal wieder in der Gegend bist.“ Er errötete leicht. „Also, nur wenn du willst. Aber ich würde mich freuen, wenn du …“ Sich schüttelnd wandte er sich ab. „Ach, egal. Hals- und Beinbruch, Chris.“

Hastig drehte er sich um und verschwand im Laufschritt die Straße hinunter. Chris starrte ihm schockiert hinterher. Dass sie seinen Namen vergessen hatte, mochte nicht besonders nett gewesen sein, aber ihr so zu drohen … das ging zu weit.

Erst als sie sicher war, dass er nicht zurückkehren würde, ging sie weiter.

Sie erreichte Route 1 wenige Minuten später. Chris zog die Krempe ihres Strohhuts gegen die hochstehende Sonne tiefer ins Gesicht und begutachtete den schmalen Pfad, dessen hohes Gras lasch und braun zu Boden hing. Die Baumkronen auf den Hügelkuppen hingen schwer mit tiefgrünen Buchenblättern, lagen ansonsten jedoch still da. Kein Wind war zu spüren und die Hitze drückte von allen Seiten auf sie herab. Ihr Top war getränkt mit Schweiß. Sie spürte, wie ihr Puls sich beschleunigte und die Feuchtigkeit ihrer Hände, die sich um die Träger ihres Rucksacks klammerten. Sie war nicht nervös. Sie war aufgeregt, euphorisch. Mit einem unkenntlichen Lächeln trat sie vor, spürte das Gras, das ihre Oberschenkel streifte—

„WARTE!“

Erschrocken drehte Chris sich um und machte fast einen Luftsprung, als ein Junge schreiend und Arme wedelnd auf sie zu rannte.

Orangeblondes Haar klebte an seinen Schläfen und sein schwarzes T-Shirt wies einen Schweißfleck auf seiner Brust auf. Sie hatte das Gefühl, ihn zu kennen. Erst als er schweratmend neben ihr zum Stillstand kam, eine Hand mahnend erhoben und die andere auf sein Knie gestützt, fiel ihr sein Gesicht wieder ein.

„Du bist der Junge, der dachte, er hätte ein Glurak“, sagte Chris, fasziniert. Jaylo oder so ähnlich war sein Name. Ihr fiel nun auch wieder ein, dass sie wegen ihm geweint hatte und ihre Miene wurde sofort ernster. Sie hasste die Tatsache, dass er sie so verletzlich gesehen hatte, aber daran konnte sie nun nichts mehr ändern. An manchen Tagen fiel es ihr schwer, in einer Welt zu leben, in der die eine Lüge akzeptabel war und die andere nicht. Als fehlte ihr ein Sinnesorgan, ein zweites Paar Augen, das die Wahrheit hinter der Wahrheit erkannte.

Jaylo kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Ja … das tut mir echt leid.“ Chris glaubte ihm nicht. Dann veränderte sich sein Blick. „Bist du eigentlich wahnsinnig?“, fragte er. „Du kannst nicht ohne Pokémon auf die Reise gehen. Es ist gefährlich dort draußen. Du solltest zu Professor Eich gehen oder einen der anderen Trainer fragen, dir beim Fangen eines Pokémon zu helfen. Und warum hat Max geweint, als er mir entgegen kam?“ Er sah sie kritisch an. „Hast du da etwas mit zu tun?“

„Ich bin nicht auf andere angewiesen“, sagte Chris würdevoll und trat an Jaylo vorbei tiefer ins Gras. „Und ich weiß nicht, wovon du redest. Mark hat mir gedroht. Er hat nicht geweint, als er weggegangen ist.“

Der Junge folgte ihr unbeirrt. „Mark?“

„Der Junge.“

„Aus unserer Klasse?“ Jaylo lachte. „Er heißt Max. M. A. X.“

Genervt drehte Chris sich zu ihm um. „Warum folgst du mir?“

„Ich muss auch hier lang“, entgegnete Jaylo und wies auf den Pfad, der nur in eine Richtung führte. Die Schatten verschluckten das Gras weiter vorne, wo es wieder grüner wurde. „Mein Vater arbeitet bei Professor Eich“, fuhr er ihre Unterhaltung unbeirrt fort. „Ich kann ihn fragen, ob du auch eins bekommst. Außer den Glumanda, die sind alle weg“, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu. Sie ignorierte ihn und ging weiter. „Hör mir doch zu“, fauchte Jaylo und packte sie am Handgelenk. „Die Pokémon dort draußen sind gefährlich!“

Chris schielte von der gebräunten Hand um ihren Unterarm zu einem kleinen Rattfratz, das einige Meter entfernt auf einem Stein lag, seinen Bauch der Sonne entgegenstreckte und leise schnarchte. „Sie sehen ziemlich harmlos aus“, sagte sie, auch wenn ihre Mutter vermutlich etwas anderes gesagt hätte. Blutrünstige kleine Biester, vermutlich. Eine Lüge, um das Gegenteil von dem zu meinen, was sie sagte. Bestimmt riss sie sich von Jaylo los.

„Ich brauche keine Hilfe und niemanden, der mich beschützt. Warum interessiert es dich überhaupt, was mit mir passiert?“ Sie konnte sich den nächsten Kommentar nicht verkneifen. „Ich dachte, ich bin langweilig.“ Jaylo wurde rot.

„Dafür habe ich mich doch schon entschuldigt“, sagte er.

„Ich habe nicht angenommen“, konterte Chris. Sie funkelten sich an.

Schließlich seufzte Jaylo. „Ich will es wieder gutmachen“, sagte er. „Dass ich gemein zu dir war. Sich zu entschuldigen ist eine Sache, aber es bedeutet nichts, wenn ich Worten nicht auch Taten folgen lasse.“

Chris stutzte. Irgendwo hatte sie diesen Satz schon einmal gehört. „Hast du gerade den Lehrkanal zitiert?“, fragte sie unsicher.

Jaylo nickte heftig. Chris runzelte die Stirn. „Jeder Mensch hat eine zweite Chance verdient, wenn er sich darum bemüht“, sagte sie versuchsweise.

Jaylos Grinsen wurde noch breiter. „Staffel 2, Folge 13.“ Er reichte ihr seine Hand. „Sind wir Freunde?“, fragte er hoffnungsvoll.

Um sie herum schwoll der stickige Spätsommerwind an und blies ihr Haar in alle Richtungen. Jetzt fiel ihr auch wieder sein Name ein. Jayden Williams. Chris zögerte. Ihr ging das alles viel zu schnell. Erst vor kurzem hatte er sie noch als langweilig beschimpft, und jetzt wollte er schon ihr Freund sein? Chris hatte noch nie einen Freund gehabt. Bei dem Gedanken daran, wie es wäre, nicht mehr immer alleine zu sein, rührte sich etwas in ihrer Brust, ein warmes Gefühl, das sie nicht beschreiben konnte. Aber ihr Misstrauen überwog. Es saß zu tief in ihr drin und es machte ihr Angst, aber es fühlte sich auch gut an. Sicher. Menschen meinten nie, was sie sagten. Sie musste vorsichtig sein, sonst machten sie sich über sie lustig. Zögerlich nahm sie seine Hand. „Ich bin Chris Rowland“, stellte sie sich mit hochgerecktem Kinn vor. „Aber das heißt nicht, dass wir Freunde sind. Und deine Hilfe brauche ich auch nicht.“

Chris – Akt 1, Szene 2

8 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

„Also, wie hast du Max zum Weinen gebracht?“, fragte Jayden mit hinter dem Kopf verschränkten Händen. Chris stapfte unermüdlich vorwärts. Sie waren seit einigen Stunden unterwegs und trotzdem schaffte sie es partout nicht, Jayden abzuschütteln. Es war zwar angenehm, Gesellschaft zu haben, aber Chris traute Jayden nicht über den Weg. Jedes seiner Worte könnte eine Lüge sein, das Gegenteil von dem, was er eigentlich sagte. Er würde sich über sie lustig machen, genau wie alle anderen.

„Er wollte sich verabschieden, dann hat er mich bedroht und ist gegangen“, antwortete Chris. Sie verstand das seltsame Verhalten ihres Klassenkameraden immer noch nicht. Jayden warf ihr einen ungläubigen Blick zu.

„Da musst du was missverstanden haben. Was genau hat er gesagt?“

Chris, die die Unterhaltung schon wieder verdrängt hatte, versuchte, sich an den genauen Wortlaut zu erinnern. „Er wollte, dass ich mir die Arme und Beine breche“, sagte sie, erneut geschockt über die Brutalität. „Habe ich ihm irgendetwas getan?“

Jayden schwieg, während er nachdachte.

Chris konzentrierte sich auf die Welt um sie herum. Die Bäume standen hier weniger dicht und selbst das hohe Gras hatte sich an die Ränder zurückgezogen. Der ausgetretene Weg staubte bei jedem ihrer Schritte. Trotz Jaydens Warnung vor den wilden Pokémon war ihnen noch kein kampflustiges über den Weg gelaufen. Die meisten schienen im Schatten der Bäume auf den kühleren Abend zu warten oder liefen desinteressiert an ihnen vorbei. Chris wusste nicht, wie Jayden die Sonne ohne einen Hut ertrug. Selbst mit der tiefgezogenen Krempe brannten ihre Augen. Die Hitze machte den ganzen Wald schläfrig.

Jaydens plötzliches Lachen riss sie aus ihren Gedanken.

„Er hat dich nicht bedroht“, presste Jayden mühevoll hervor, „das ist eine Redewendung. Hals- und Beinbruch. Es bedeutet Viel Glück.“

„Warum?“, fragte Chris, nun völlig verloren. „Das macht überhaupt keinen Sinn.“

Jayden dachte kurz nach. „Du hast Recht“, stimmte er zu und runzelte die Stirn. „Habe ich noch nie drüber nachgedacht.“

Chris schluckte ihre Frustration mit der Sprache herunter und ging stattdessen schneller. Ihre Wangen glühten. Warum konnten Menschen nicht einfach sagen, was sie meinten? Dann würde sie sich nicht so oft vor Fremden blamieren. Welche anderen Redewendungen hatte sie während ihres Gesprächs mit Mark—nein, Max—noch falsch interpretiert? Ihre Kehle machte zu und ihre Gedanken bewegten sich in Knoten vorwärts. Sie konzentrierte sich auf die Schritte, die sie machte. Eins, zwei, eins, zwei …

„Was hast du jetzt vor?“, fragte Jayden. Chris empfand die Frage als zu allgemein und wartete schweigend, bis er neu ansetzte. „Willst du deinen Starter alleine fangen und dann die Liga herausfordern? Welches Pokémon möchtest du haben?“

Chris zuckte mit den Achseln. Sie wusste genau, was sie vorhatte, aber sie wollte nicht darüber reden, schon gar nicht mit Jayden. „Warum interessiert es dich?“, fragte sie und stopfte die Hände in ihre Hosentaschen. „Sobald wir Vertania City erreichen, trennen wir uns doch.“

„Ich seh‘ schon, das wird ein sehr gesprächiger Trip“, murmelte Jayden halblaut. Vielleicht glaubte er, Chris würde ihn nicht hören. Aber die Hitze hatte eine ungewöhnliche Ruhe mit sich gebracht und Chris verstand jedes Wort und ihr Gehirn drehte sich noch immer wegen ihres Gespräches mit Max im Kreis. Er sagte gesprächig, aber was Chris hörte war etwas Negatives. Sie presste ihre Lippen aufeinander und ging noch ein bisschen schneller, bis sie plötzlich rannte.

Sie hatte es gewusst. Jayden war genau wie alle anderen. Sie musste von ihm weg.

„Hey, hey warte!“

Doch Chris wartete nicht. Ihre Füße pochten in ihren viel zu heißen Wanderschuhen, ihr Hut flog halb von ihrem Kopf und—

Sie stolperte über einen Vorsprung, der unter Gras begraben war und schrammte beim Sturz ihre Knie auf. Ohne auf den Schmerz zu achten, rappelte sie sich auf und rannte weiter, bis Jaydens Stimme und der Klang seiner Schritte hinter ihr leiser und leiser wurden und schließlich verstummten.

Sie hörte erst auf zu laufen, als sie sich umdrehte und ihn nicht mehr entdeckte.

Tief durchatmend verließ sie den Pfad und umrundete eine breite Buche, an deren Stamm sie sich herabsinken ließ. Sie zog ihren Strohhut tief ins Gesicht, bis er ihre Augen abschirmte und zog ihre Knie an. Sie war knapp an einem nervösen Zusammenbruch vorbeigeschrammt. Ruhe. Sie brauchte Ruhe und Distanz.

Chris konnte nicht einschätzen, wie viel Zeit vergangen war, als sie das Knirschen kleiner Steinchen unter festen Schuhen vernahm. Vorsichtig öffnete sie die Augen und drehte den Kopf.

"Chris?", ertönte Jaydens Stimme. Er rief nach ihr. "Chris, es tut mir leid! Chris!"

Wenn es ihm leid tat, warum hatte er es dann überhaupt gesagt? Warum entschuldigte er sich dauernd, anstatt einfach sofort das richtige zu tun? Chris zog an ihrer Hutkrempe, um sich zu beruhigen, das Stroh unangenehm und piksend und vertraut unter ihren Fingerkuppen. Es half ihr, zu sich zurückzufinden. Jayden war egal. Sie musste ihm nicht antworten, auch wenn er nach ihr rief.

Sie konnte einfach hier sitzen und warten, bis sie bereit war, weiter zu gehen.

"Chris, bitte!" Er klang flehend. Chris blendete seine Stimme aus.

Nach einer Weile gab er auf. Oder er war außer Hörweite. Sie atmete erleichtert durch und zog ihren Rucksack aus. Sie wusste, was darin war, trotzdem überprüfte sie noch einmal den Inhalt.

Ihre Schere, die zerkratzte Geldbörse, die zweifach gefaltete Karte, der Pokédex ihres Vaters, dessen Batterien nicht mehr funktionierten, ihre Wasserflaschen, die Energieriegel.

Sie aß einen Riegel und trank einige Schlucke Wasser. Sie sah sich die Route auf ihrer Karte an. Sie zählte das Geld in ihrer Börse.

Alles noch da. Erleichtert atmete sie durch. Alles war gut. Jayden war weg und sie hatte alles unter Kontrolle.

Es dämmerte, als sie sich endlich bereit fühlte, weiter zu gehen. Ihr Hut erschwerte ihr die Sicht, aber sie wollte seinen emotionalen Halt noch nicht aufgeben, deshalb behielt sie ihn auf. Jetzt wo es dunkler war, erwachten allmählich die Pokémon, die den Nachmittag verschlafen hatten. Mondlicht reflektierende Augen blitzten im dunklen Gebüsch auf und Chris fühlte sich, als starrten alle Pokémon des Waldes sie an. Ihr Herz klopfte unangenehm gegen ihre Rippen, aber sie stapfte unbeirrt weiter.

Plötzlich spürte sie ein Ziepen in ihren Haaren, unter dem Hut. Krallen? Sie hob die Hände, um zu verscheuchen, was auch immer sich auf ihrem Kopf niedergelassen hatte, als das Gewicht sich löste und ihr Strohhut mitsamt einigen Haarsträhnen gewaltsam von ihrem Kopf gerissen wurde. Ein dickes Taubsi flatterte in ihr Sichtfeld, sichtlich mit dem großen Hut in seinen Krallen kämpfend, und hielt auf den Himmel zu.

"STOP!"

Chris rannte hinterher und packte die Krempe des Huts, gerade rechtzeitig, bevor das Vogelpokémon ihn außer Reichweite tragen konnte. Es krächzte und zog fester. Chris zog nun mit beiden Händen und warf ihr gesamtes zwölfjähriges Gewicht gegen den Vogel, Fersen in den harten Erdboden gestemmt. Das Taubsi zog einige Sekunden lang, dann ließ es abrupt los.

Chris fiel rückwärts und schlug hart auf dem Waldboden auf. Die Luft blieb ihr weg und sie rang nach Atem. Sie zog und zog und mit einem Ruck kam alle Luft zu ihr zurück und sie sog sie gierig ein. Vorsichtig setzte sie sich auf. Ihre Knie brannten von ihrem Sturz einige Stunden zuvor, ihr Rücken tat weh, ihre Ellenbogen waren aufgerissen.

Sie fühlte sich elend. Aber sie musste Zeit wettmachen. Mit Jayden zu reisen, gefiel ihr nicht, aber sie verspürte auch das dringende Bedürfnis, nicht nach ihm in der Stadt anzukommen. Und so erhob sie sich wankend, zurrte ihren Rucksack und ihren Strohhut zurecht und stapfte vorwärts. Sie hatte ein Ziel und sie würde sich weder von Jayden, noch von wilden Pokémon davon abhalten lassen.

Sie erreichte Jaydens Schlafstätte gegen Mitternacht. Er hatte ein kleines Lagerfeuer am Wegesrand angezündet, das bis auf die Kohlen heruntergebrannt war und schlief in einem Schlafsack daneben. Sein Mund war geöffnet und er schnarchte leise.

Chris ging einige Meter neben ihm in die Hocke und beobachtete ihn. Wenn er schlief, war er harmlos. Keine Lügen, kein Lachen. Sie könnte weitergehen, ihn überholen, aber ihr ganzer Körper pochte und schmerzte und ihre Füße brannten und sie war so müde …

Leise umrundete sie das Lagerfeuer, wischte die gröbsten Steine und Stöckchen vom Boden und knüllte ihren Rucksack als Kissen zusammen. Es war unbequem, aber sie hatte selbst entschieden, keinen Schlafsack mitzunehmen, deshalb war es okay. Sie schlief innerhalb von Minuten ein.

Jayden – Akt 1, Szene 3

8 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Jayden erwachte gähnend und mit eklig schmeckender Zunge. Angewidert schälte er sich aus seinem Schlafsack, spülte seinen Mund mit einigen Schlucken Wasser und rieb sich den Sand aus den Augen. Er hätte eine Zahnbürste mitnehmen sollen. Sein Blick glitt über das herunter gebrannte Lagerfeuer und zu dem Häufchen dahinter.

Es war Chris.

Sie lag auf der anderen Seite des Lagers auf dem nackten Waldboden und schlief tief und fest. Ihr Strohhut lag neben ihr, beschwert mit einem Stein. Jayden starrte sie an. Seit er sie gestern mit seinem Kommentar verjagt hatte, war er stundenlang durch den Wald gerannt, um sie zu finden. Sein Gehirn hatte ein Horrorszenario nach dem anderen ausgespuckt. Chris, die einen Hang herabstürzte, Chris, die von einer Horde wilder Pokémon attackiert wurde, Chris, die tot war, weil er etwas Falsches zu ihr gesagt hatte.

Schon wieder.

Während Jayden dabei zusah, wie sie friedlich schlief, schwor er sich, in ihrer Anwesenheit nie wieder die Unwahrheit zu sagen. Er wusste nicht, was genau ihr Problem damit war, Ironie und Redewendungen zu verstehen, aber es schien schlimmer zu sein, als er gedacht hatte. Er wollte nicht, dass sie wegen ihm noch einmal so heftig reagierte.

Eigentlich hatte er vorgehabt, gleich nach dem Aufstehen weiterzuwandern, aber Chris alleine zurücklassen, noch dazu schlafend, wenn wer weiß was für Gefahren hinter dem Dickicht der Bäume lauerten? Castor wäre entsetzt.

Stattdessen setzte Jayden sich etwas abseits im Schneidersitz auf einen umgefallenen Baumstamm und zog seinen Pokéball heraus.

Die meisten Trainer riefen ihr Pokémon gleich am ersten Tag, vielleicht sogar sofort, nachdem sie es erhielten, aber zwischen der überstürzten Flucht aus Alabastia und seiner Unterhaltung mit Chris hatte er keine ruhige Minute gehabt, um den Moment wirklich auszukosten.

Die nervige Stimme in seinem Hinterkopf erinnerte ihn daran, dass es genügend Gelegenheiten gegeben hatte, wenn er wirklich gewollt hätte, aber die Stimme war doof und Jayden tat sein Bestes, sie zu ignorieren.

Und wenn schon, dann war er eben nervös. Konnte man ihm das verübeln? Es war sein erstes Pokémon!

Er unterdrückte seine restlichen Zweifel und betätigte mit zittrigen Fingern den Öffnungsmechanismus. Rotes Licht flutete sein Sichtfeld und als er die Augen wieder schmerzlos öffnen konnte, saß vor ihm ein gelbgoldenes Glumanda, das ihn aus halbgeschlossenen Augen musterte. Jayden lehnte sich vorsichtig vor, um seinen neuen Partner genauer zu betrachten. Die Krallen an seinen kleinen Pranken waren gestutzt und stumpf und um die Schnauze hatte ihm jemand—Thomas vermutlich—einen stabilen Maulkorb angelegt, der nur zwei kleine Öffnungen für die Nasenlöcher besaß. Das Glumanda beobachtete Jayden aus schwarzen Knopfaugen, drehte den Kopf nach links, drehte den Kopf nach rechts und ließ sich schließlich seufzend auf den Po sinken.

Jayden wartete.

Glumanda rührte sich nicht.

Jayden streckte eine Hand aus.

Glumanda sah ihn ausdruckslos an.

Jayden berührte zaghaft die Stirn seines neuen Partners. Nichts geschah.

„Hi“, sagte er leise. Glumanda blinzelte ihn an. Es machte keine Anzeichen, ihn gehört zu haben, oder sich über seinen neuen Trainer zu wundern. „Hi“, wiederholte Jayden. Keine Reaktion.

Frustriert biss sich Jayden auf die Lippen. Er wollte den Maulkorb entfernen, aber der vordere Teil bestand aus Metall und der zweiteilige Riemen, der den Korb am Hinterkopf des Glumandas befestigte, war aus dickem Leder. Er versuchte, die Lederriemen abzuziehen, aber als Glumanda ein leises Winseln von sich gab und den Kopf zurückzog, ließ er von dem Pokémon ab.

Was sollte er machen? Er hatte nichts zum Schneiden dabei. Vielleicht konnte er einen scharfkantigen Stein suchen und damit versuchen, das Leder zu durchtrennen, aber das würde ewig dauern.

Das Rascheln von Klamotten lenkte seine Aufmerksamkeit auf Chris, die sich langsam neben ihrem zerknautschten Rucksack aufsetzte und die Augen rieb. Jayden hatte sie in seiner Aufregung völlig vergessen.

„Guten Morgen“, begrüßte er sie, unsicher, wie sie auf seine Stimme reagieren würde.

Chris  warf ihm einen kurzen Blick zu, erhob sich und zog ihren Rucksack an.

„Warte …“ Jayden brach ab. Er hatte kein Recht, sie zurückzubeordern. Trotzdem drehte Chris sich zu ihm um.

Jayden dachte fieberhaft nach. Ein Grund, weshalb er sie zurückrufen konnte. Irgendetwas Wahres. Sein Blick fiel auf den Maulkorb. „Hast du etwas Scharfes dabei?“, fragte er. „Deine Schere oder so?“

„Woher weißt du von meiner Schere?“

„Ich kann dich durch dein Fenster sehen, wenn du dir die Haare schneidest.“ Jayden wollte sich ohrfeigen, als ihm dieser Teil herausrutschte. Sicher glaubte sie jetzt, er wäre ein Stalker, aber Chris akzeptierte die Antwort ohne mit der Wimper zu zucken und kramte besagtes Utensil aus ihrem Rucksack. Sie streckte es ihm zögerlich entgegen.

„Wofür brauchst du sie?“

Jayden rutschte zur Seite und gab den Blick auf Glumanda frei, das wieder seine undurchschaubare Miene aufgesetzt hatte. Es erinnerte ihn an Chris, irgendwie.

Sie kam näher, Schere in der Hand. „Ist das dein Pokémon?“, fragte sie. Er nickte. „Warum trägt es einen Maulkorb?“

„Ich weiß nicht.“ Jayden runzelte die Stirn. „Es kommt aus dem Labor. Vielleicht hatte Thomas Angst, dass es ihn beißt?“

„Wer ist Thomas?“

„Der Wissenschaftler dem es … der es mir gegeben hat.“ Dem es gehört hat. Jayden schüttelte den unliebsamen Gedanken ab. Es war sein Glumanda, er hatte sich ein Pokémon aussuchen dürfen und es war dieses geworden. Es gab keinen Grund, sich deswegen schlecht zu fühlen.

Chris neigte den Kopf und ging vor dem Pokémon in die Hocke. Jayden glaubte, sie erfolgreich von dem Thema abgewimmelt zu haben, aber sie ließ sich nicht so leicht täuschen, wie er dachte.

„Du hast es gestohlen“, stellte sie fest.

Stehlen ist ein sehr starkes Wort.“

„Wie kann ein Wort stark sein?“

Jayden seufzte und atmete tief durch. „Ich meine damit: Ich habe es nicht gestohlen. Nicht so richtig, zumindest.“

Nun sah Chris doch zu ihm, Stirn gerunzelt. „Entweder du hast es gestohlen oder nicht“, sagte sie. „Nur eins davon kann stimmen.“

Jayden verschränkte die Arme. „Kann ich einfach deine Schere haben?“

Chris sah auf die Schere, dann zu dem Glumanda. Sie reichte sie ihm und er nahm sie erleichtert an. Mit Chris zu reden, fühlte sich ein bisschen so an, als würde seine Mutter ihn in die Mangel nehmen, nachdem er etwas Böses gemacht hatte. Immerhin schrie Chris ihn nicht an.

Vorsichtig griff Jayden nach dem Lederriemen des Maulkorbs und setzte die Schere an. Glumanda, das bis dahin völlig unbeteiligt dagesessen hatte, sprang mit einem Mal auf und fauchte ihn an. Das Geräusch klang gedämpft durch das Metall vor seinem Maul. Jayden erschrak so sehr, dass er die Schere fallen ließ und zurückrutschte.

„Es hat Angst“, sagte Chris.

„Ja“, stimmte Jayden mit pochendem Herz zu. „Sieht ganz so aus.“

„Hat dein vorheriger Besitzer dir wehgetan?“, fragte Chris. Jayden erstarrte. Auf den Gedanken war er noch gar nicht gekommen. Thomas war ruppig und unhöflich, aber er hatte ihn nicht für jemanden gehalten, der Pokémon schlecht behandelte. Glumanda besah ihn und Chris mit wachen, aber gelangweilten Augen und machte keine Anstalten, auf die Frage zu antworten.

„Wir wollen nur den Maulkorb entfernen“, sagte Jayden. „Du willst das Ding doch sicher nicht anbehalten, oder?“ Glumanda gab ein leises Schnauben von sich. Rauch quoll aus den Nasenlöchern des Metallstücks. „Ich lasse auch deine Krallen nachwachsen“, fuhr Jayden fort. „Ich will ein starker Trainer werden und mit dir gegen andere Pokémon kämpfen. Aber dafür muss ich den Maulkorb entfernen. Also halt still, ja?“

Die schwarzen Augen des Feuerpokémons blitzten für einen kurzen Moment auf und sein Kopf neigte sich fast unmerklich in Jaydens Richtung. Er grinste und setzte erneut mit der Schere an. Der Riemen lag eng an den Schuppen auf und es fiel ihm schwer, durch das dicke Leder zu schneiden, aber nach einigen Versuchen fiel der Maulkorb mit einem Klackern zu Boden. Glumanda kräuselte die Nase und nieste.

Lächelnd ließ Jayden sich auf den Hosenboden sinken und sah seinem neuen Pokémon dabei zu, wie es an ihm vorbeitapste und zu der Feuerstelle lief. Sein Partner fürs Leben. Sein neuer bester Freund und treuster Gefährte.

Es war in diesem Moment, da Glumanda entschied, Jaydens Schlafsack in Brand zu setzen.

Chris – Akt 1, Szene 3

8 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Chris musste zwei ihrer Wasserflaschen opfern, um das Feuer zu löschen, doch als der dicke weiße Rauch sie nicht mehr umhüllte und sie wieder frei atmen konnten, war Jaydens Schlafsack ein schwarz verkohlter Haufen geschmolzenes Polyesters. Jayden seufzte und ging neben den Überresten auf die Knie. Chris beobachtete unterdessen Glumanda, das nun das Lagerfeuer neu entfachte und anschließend einen interessierten Blick auf ihren Rucksack warf. Sie machte einen Schritt zurück.

„Vielleicht wollte es nicht entführt werden“, sagte sie.

„Das hat damit nichts zu tun!“, entgegnete Jayden heftig. Chris entging nicht, dass er dieses Mal keinen Widerspruch gegen die Entführungstheorie machte. „Und warum kann es überhaupt schon Glut? Das lernen Glumanda doch erst auf Level 7.“

„Dann ist es mindestens Level 7.“

„Aber Starterpokémon sollten —“

„Es war kein Starterpokémon“, erinnerte ihn Chris erneut. Wieso sah er seinen Fehler nicht sofort ein? „Es gehörte einem Wissenschaftler und du hast es gestohlen.“

Jayden ließ den Kopf hängen. Chris warf einen letzten Blick auf das Glumanda, das ihr heller vorkam als normal—aber vielleicht war es das fleckige Licht des Waldes—und machte sich auf den Weg nach Vertania City.

Ihre Hoffnung, Jayden auf diese Weise abzuhängen, erwies sich schnell als fehlgeleitet. Er brauchte einige Minuten, um ihren Vorsprung aufzuholen, doch dann ging er neben ihr her. Den zerstörten Schlafsack hatte er zurückgelassen und Glumanda war sicher in seinem Pokéball verstaut.

Chris ließ sich ihre Enttäuschung nicht anmerken, während sie gemeinsam und schweigend durch den Wald stapften, aber nach einigen Stunden gesellte sich noch ein anderes Gefühl dazu, das sie nicht ganz einordnen konnte. Es ließ ihre Brust warm werden und zog an ihren Mundwinkeln, bis sie lächelte.

 

 

Sie waren noch drei Tage unterwegs. Nachts erlaubte Jayden Glumanda, das Lagerfeuer anzuzünden und rief es danach sofort in seinen Pokéball zurück. In der ersten Nacht beschwerte er sich über den harten Untergrund und die Wurzel, die ihn in die Schulter pikste, egal wie er sich drehte, aber Chris ignorierte ihn und als ihm auffiel, dass sie ebenfalls keinen Schlafsack besaß, ließen seine Beschwerden nach.

Am Nachmittag des dritten Tages lichtete sich der Wald genug, um den Blick auf Vertania City freizugeben, die erste Stadt auf ihrer Reise. Es war der erste markierte Punkt auf ihrer Karte, aber nicht wegen der Stadt selbst, sondern wegen den Orten, zu denen sie führte.

Umgeben von Bergen im Westen und dichtem Laubwald in allen anderen Himmelsrichtungen, erschien Chris die Stadt wie eine wahre Metropole, so eng waren die Häuser aneinander gebaut. Es gab keine Wiesen und Felder, keine abgenutzten Pfade, die irgendwie herhalten mussten, sondern fest angelegte Straßen, kleine vertrocknete Vorgärten und die rot flackernden Neonleuchten des hiesigen Pokécenters. Ohne den Schutz der Bäume war die angestaute Hitze fast unerträglich. Chris` Arme fühlten sich heiß und wund an und trotz des Strohhuts brannte ihr Hinterkopf.

„Ein See!“, rief Jayden plötzlich und rannte an ihr vorbei. Chris sah ihm hinterher, wie er den Rucksack abwarf, sich bis auf die Unterhose auszog und in den See sprang, der dank des langen Sommers leicht eingetrocknet war. Das Schilfgras am Ufer hing lasch.

Chris kräuselte die Nase und stapfte weiter Richtung Stadt, Jayden hinter sich lassend, der lachend und prustend auftauchte und durch das Wasser tollte. Wenn er weiter mit ihr reisen wollte, würde er sie schon finden.

Ihren ersten Zwischenstopp legte Chris im Pokémarkt ein. Sie brauchte dringend neue Wasserflaschen und Energieriegel. Sie kaufte außerdem drei Pokébälle, wonach sich ihre Geldbörse zu leicht anfühlte, aber damit musste sie sich abfinden. Als der Verkäufer, ein älterer Mann mit lichtem Haar sie fragte, was er sonst noch für sie tun könne, kramte sie den kaputten Pokédex ihres Vaters aus der Tasche und legte ihn auf die Anrichte.

„Können Sie den reparieren?“, fragte sie. Der Mann beugte sich tief über das klobige, rote Gerät und schob seine runde Brille zurecht.

„Sieht ganz schön mitgenommen aus. Ich denke, wir sollten Ersatzbatterien hier im Haus haben, aber ich weiß nicht, ob er danach einwandfrei funktioniert. Ich hole sie mal, einen Moment.“ Mit diesen Worten verschwand er in einem kleinen Durchgang hinter der Theke. Chris sah sich unterdessen im Laden um. Es war ihr erster Besuch in einem Pokémarkt. Der Laden war kleiner als reguläre Supermärkte, in denen sie mit ihrer Mutter einkaufen ging, und verkaufte offenkundig nur Dinge, die für Trainer interessant waren. Regale voller Tränke, verschiedener Bälle, Seile und Sprühflaschen, sowie Zelte, Schlafsäcke, Rucksäcke, Reisenahrung und diverse Getränkekanister füllten das quadratische Gebäude und türmten sich bis an die Decke. Die einzige freistehende Wand war die neben der Tür. Als sie hereingekommen war, hatte Chris es nicht bemerkt, aber sie hing voller Plakate und sogar einiger Postkarten. Neugierig geworden trat sie näher. Ein leicht zerfleddertes Plakat verkündete die Öffnungszeiten der hiesigen Arena, sowie eine Notiz, dass der Arenaleiter Blue aufgrund seiner Arbeit im Labor nicht alle Werktage im Monat hier sein konnte. Laut Plan würde die Arena bis Samstag in zwei Tagen offen haben und dann eine Woche aussetzen.

Chris las flüchtig über einige Anzeigen von Trainern, die Gegenstände verloren hatten und Finderlöhne versprachen oder ihre Telefonnummern auf kleinen abreißbaren Papierschnipseln ausgehangen hatten, wenn jemand an einem Trainingskampf mit ihnen interessiert war.

Am interessantesten fand Chris jedoch das frisch gedruckte Poster, das halb über den restlichen Anzeigen klebte. Es war ein Bild von einem gelb-goldenen Glumanda mit Maulkorb, das auf einer Wiese saß und den Kopf leicht zur Seite neigte. Darüber prangte in Großbuchstaben VERMISST. Unter dem Bild stand ein kurzer Text.

„Am 22. Juli wurde aus dem Labor in Alabastia ein Forschungspokémon (Glumanda, männlich, ungewöhnlich helle Farbe, s. Bild oben) gestohlen. Bei dem Dieb handelt es sich vermutlich um einen Jungen mit braunem Haar und blauen Augen (Jayden Williams, zwölf Jahre, ursprünglich aus Alabastia). Wenn Sie ihn oder das vermisste Pokémon gesehen haben oder andere Hinweise geben können, melden Sie sich bitte unverzüglich bei Thomas Meyer, Pokémongenetiker.“

Darunter waren eine Telefonnummer, sowie eine Geldsumme für Hinweise angegeben, die zur Erfassung des Täters oder der Findung des Pokémon führten.

Chris runzelte die Stirn. Jayden hatte ein ernstes Problem.

„Ah, junge Dame, interessiert dich das Plakat?“, fragte der Verkäufer plötzlich. Chris kehrte zu ihm an den Tresen zurück. Er steckte zwei frische Batterien in den Pokédex und schaltete ihn an, was dem Gerät ein lautes Brummen entlockte. „Es ist mir gestern zugefaxt worden. Im Pokécenter und an einigen Laternenmasten vor der Arena hängt es auch schon, aber bisher hat sich wohl niemand bei dem Labor gemeldet.“

Chris nahm den Pokédex entgegen. Der Verkäufer drückte ihr eine Packung Batterien in die Hand und verstaute die Bezahlung in der Kasse. „Hast du diesen Trainer gekannt?“, fragte der Mann. „Du kommst doch auch aus Alabastia, nehme ich an.“

„Wir waren in derselben Klasse“, gestand sie.

„Ah, ich verstehe. Kinder in dem Alter denken ja selten an die Konsequenzen. Aber was weiß ich alter Mann schon, vielleicht hatte er einen guten Grund, das Pokémon mitzunehmen. Ich tue nur meine Pflicht und hänge die Plakate auf, was danach geschieht, liegt nicht in meiner Hand.“

Chris hielt den Pokédex umklammert. Ihr Kopf lag in Chaos. Was sollte sie tun? Sie wusste nun ohne Zweifel, dass Jayden das Pokémon gestohlen hatte und dass er in diesem Moment im See von Vertania City plantschte. Sollte sie ihn verraten?

Der Verkäufer sah sie genauer an. „Wenn du diesen Jungen kanntest, weißt du vielleicht, wo er ist? Oder das Pokémon?“

Chris Gedanken drehten sich. Sie fand es nicht gut, dass Jayden ein Pokémon gestohlen hatte. Es war gegen das Gesetz. Sie wusste nicht, was seine Absicht gewesen war. Sie wusste nur, dass Jayden versessen auf ein Glurak war, und obwohl es vielleicht nicht die richtige Lösung war, konnte sie respektieren, dass er seinen Traum so hartnäckig verfolgte. Genau wie sie hatte er ein Ziel, von dem ihn nichts abbringen würde.

Ihre Entscheidung war gefallen.

„Nein“, sagte sie und steckte den Pokédex weg. „Ich habe ihn seit meiner Abreise nicht mehr gesehen.“

Der Mann nickte lächelnd und verabschiedete sich von ihr. Während Chris den Laden verließ, konnte sie den Gedanken nicht abschütteln, dass er ihre Lüge durchschaut hatte.

Chris – Akt 1, Szene 4

8 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Blinzelnd schob Chris ihren Strohhut zur Seite, um sich zu vergewissern, dass noch einige Stunden Sonnenlicht übrig waren. Sie wollte Vertania City so schnell wie möglich verlassen. Seit ihrer Lüge im Pokémarkt hatte sich tief in ihrem Bauch ein unangenehmes Ziehen breitgemacht, das nicht aufhören wollte. Ihre Entscheidung war getroffen, daran würde sich nichts mehr ändern, aber sie mochte den Gedanken trotzdem nicht, nun genau wie der Rest der Welt zu denjenigen zu gehören, die nicht das sagten, was sie meinten. Vielleicht gab es einen Unterschied zwischen Redewendungen und Lügen, den sie einfach noch nicht verstand.

Schlecht gelaunt stapfte sie Richtung Westen. Die nächste Stadt war Marmoria City im Norden, hinter dem Vertania Wald, aber bevor sie dort hinkonnte, musste sie noch einen Zwischenstopp einlegen. Sie hatte etwas in Erfahrung zu bringen.

Je weiter sie sich dem Stadtrand näherte, umso lichter standen die Häuser und desto größer wurden die Vorgärten. Einige ältere Paare und ihre Enkelkinder arbeiteten im Garten mit ihren Pokémon. Chris entdeckte Quapsel, die Blumen und Büsche mit ihrer Aquaknarre gossen, Myrapla, die durch das Gras tänzelten und hier und da einige Taubsi, die auf den Schultern ihrer Trainer gurrten oder an ihrem Haar zupften. Unwillkürlich griff Chris nach ihrem eigenen Haar, fuhr mit den Fingern ihren Pony nach. Bald würde sie ihn wieder schneiden müssen. Jetzt, wo sie daran dachte, kratzten die Haare auf ihrer Stirn sie ungemein, aber es war noch keine Woche vergangen. Sie durfte nicht ihren Rhythmus verlieren.

Sie war bereits auf halben Weg zu Route 22, als ihr ein alter Greis geradewegs vor die Füße fiel. Erschrocken sprang sie zurück. Der Mann stützte sich stöhnend auf seinen runzligen Händen ab und tastete nach der Kaffeetasse, die ihm bei seinem Sturz aus der Hand gefallen war. Er kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Chris entdeckte seine Brille, die einige Meter entfernt im Gras eines Gartens lag. Schnell hob sie die Brille auf und hockte sich vor den Alten.

„Hier“, sagte sie und reichte ihm das leicht verbogene Gestell. Der Mann keckerte. Jetzt, da Chris so nah war, roch sie nicht nur das bittere Aroma des Kaffees, sondern auch den scharfen Geruch von Alkohol, der den Greis umhüllte. Angewidert zog sie die Nase kraus, half ihm jedoch auf die Füße, als er ächzend eine Hand emporstreckte, damit sie ihn hochzog.

Kaum dass er die Brille wieder auf der Nase sitzen hatte, begutachtete er sie kritisch. „Wer bist du denn? Hab dich hier noch nie gesehen.“

„Ich bin Chris.“

„Bist du ein Junge?“ Er reckte den Kopf vor, bis er einem zerknautschten Schiggy ähnelte.

„Nein.“

„Also heißt du nicht Chris, sondern Christina. Ist Chris dein Spitzname?“

Bei dem Namen stellten sich Chris´ Haare auf. Obwohl ihr Vater nicht hier war, konnte sie dennoch seine wütende Stimme im Treppenhaus hallen hören. CHRISTINA! Die Erinnerung schüttelte sie und sie machte einen Schritt zurück, weg von dem Alten und seinen trübblauen Augen. „Nur Chris.“

„Die Jugend heutzutage …“ Er hickste und wedelte mit der Tasse in seiner Hand. „Kaffee?“

„Ich trinke keinen Kaffee.“

„Kein Kaffee?“ Schockiert musterte er sie. „Aber wie?“

„Ich bin zwölf.“

„Aber … kein Kaffee?“

„Kein Kaffee.“

„Da soll mich doch … was willst du noch hier, husch, geh weiter.“ Chris war seiner Forderung gerade nachgekommen, da rief er sie wieder zurück. „Halt!“

Genervt drehte sie sich um. „Ich will wirklich keinen Kaffee.“

„Ja, ja, ist schon Recht.“ Er winkte ab.„Aber wo läufst du denn so spät abends noch hin? In die Richtung ist bald nur noch Wiese und dann kommt schon Route 22.“ Wieder beäugte er sie durch seine dicken Brillengläser. „Da lang geht´s zur Pokéliga und der Siegesstraße.“

„Da  will ich hin.“

„Bist du überhaupt Trainer?“, fragte er.

„Noch nicht.“

„Was willst du dann in der Siegesstraße, Mädchen? Da bist du noch fünf Jahre zu früh.“

„Ich muss etwas wissen.“

„Ja, das ist schon löblich, aber was kann jemand wie du wissen wollen, das nur die Wärter in der Siegesstraße beantworten können?“

Chris biss sich auf die Lippen und befingerte ihren Strohhut. Sie mochte es nicht, mit Fremden über ihre Ziele zu reden. Selbst Jayden hatte sie nicht gesagt, was sie vorhatte, sobald sie Vertania City erreichten. Andererseits war der Mann alt und Bewohner der Stadt. Vielleicht konnte er ihr wirklich helfen.

„Ich will wissen, was ich tun muss, um gegen Red anzutreten.“

„Red!“ Der Greis fiel fast um, so heftig lachte er. Hitze schoss in Chris` Wangen und Ohren. Sie hätte nichts sagen sollen. Abrupt drehte sie sich um. „Halt, warte doch! Tut mir leid, tut mir leid. Komm her, ich sage dir, was du wissen musst.“

Misstrauisch sah Chris sich um.

„Schau nicht so, Mädchen, ich weiß, wovon ich rede.“ Er winkte sie zu einer nahen Bank, die vor einer Reihe gestutzter Hecken stand und ließ sich darauf nieder. Seufzend massierte er seinen Rücken, bis Chris neben ihm Platz genommen hatte. „Nicht viele wissen es, aber ich habe Red damals beigebracht, wie man Pokémon fängt. Ja, das habe ich. Nur dank mir ist er zu der Legende geworden, die er heute ist. Aber was rede ich von alten Zeiten. Wo Red jetzt ist, willst du wissen.“

„Ich will wissen, was ich tun muss, um gegen ihn zu kämpfen“, korrigierte Chris.

„Einerlei. Nun, du hast es sicher mitbekommen, aber Red hat nach seinem Sieg in der Liga und nachdem niemand ihm das Wasser dort reichen konnte, das Plateau verlassen.“

„Warum hätte er Diener haben sollen, die ihm sein Wasser reichen?“

„Was für Diener? Wovon redest du?“

„Wovon redest du?“

Verwirrt schüttelte der Alte den Kopf, winkte jedoch ab, als Chris erneut die Stimme erhob. „Ist auch egal. Jedenfalls gab es wohl vor drei Jahren irgendeinen Kampf gegen diesen Jungspund Gold aus Johto, aber seitdem hat niemand mehr etwas von ihm gehört. Von Gold in letzter Zeit übrigens auch nicht.“ Er sah in die Ferne. Chris hatte das Gefühl, als säße er nur noch zum Teil neben ihr, obwohl sie nicht wusste, wie das sein konnte.

„Wenn du wirklich wissen willst, wo Red jetzt ist, oder wie du ihn herausfordern kannst, dann musst du mit jemandem reden, der ihn besser kannte als ich.“

„Und mit wem?“

Seine Augen fanden ihre. „Mit dem Arenaleiter von Vertania City natürlich! Blue Eich, Reds einstiger Rivale. Wenn jemand weiß, wohin es den jungen Red verschlagen hat, dann er.“

„Also sollte ich nicht zur Siegesstraße, sondern zur Arena gehen?“, fragte Chris und stand auf. Der Alte nickte.

„Die Wärter dort werden dir nichts anderes sagen, wahrscheinlich sogar weniger. Willst du wirklich keinen Kaffee?“

Chris beäugte die halbvolle Tasse. „Doch“, stimmte sie nach kurzer Überlegung zu. Grinsend reichte der Mann ihr den Kaffee und sie nahm einen zaghaften Schluck. Er schmeckte bitter und würzig. Angewidert verzog sie das Gesicht.

„Na los, nimm noch einen.“

Sie trank etwas mehr. Die dunkle Flüssigkeit brannte auf ihrer Zunge, aber der zweite Schluck war nicht so schlimm wie der erste. Vielleicht konnte sie sich an den Geschmack gewöhnen, aber warum sollte sie das tun?

„Danke für die Hilfe“, sagte sie und reichte ihm den Kaffee zurück. „Es schmeckt nicht so grässlich, wie ich dachte.“

Lachend erhob sich der Mann ebenfalls. „Wenn du das schon mit zwölf sagst“, sagte er und ging an ihr vorbei zurück zu seinem Haus, „wirst du mal genauso darauf versessen sein wie ich.“

 

Chris – Akt 1, Szene 5

8 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Chris erreichte die Vertania City Arena am frühen Nachmittag. Das klobige Gebäude stand weit am Stadtrand, halb in einem Stück Wald verborgen, das sich hartnäckig der prallen Sonne entgegen stemmte. Die Fassade aus langen Holzplanken war verwittert und aussah, als hätte sie jemand wieder und wieder übermalen müssen, um den Verfall zu verstecken. Während Chris das Gebäude umrundete, entdeckte sie mehrere Anbauten, die wesentlich moderner und gepflegter wirkten. Trotz der Hitze war keins der großen Fenster geöffnet und vor einigen hingen Jalousien, die den Blick ins Innere verdeckten.

Es war die erste Arena, die Chris in ihrem Leben zu Gesicht bekam, gleichzeitig jedoch die letzte auf der Reise der meisten Trainer. Chris wusste, dass Blue nach seiner Niederlage gegen Red in der Pokèliga die leerstehende Arena übernommen hatte. Was aus dem alten Arenaleiter geworden war, hatte sie nie erfahren. Wie war noch sein Name gewesen? Geronimo oder so ähnlich. Ein zwielichtiger Mann, wenn sie den Zeitungsartikeln Glauben schenkte.

Vorsichtig näherte sie sich dem Eingang. An der hohen Holztür hing eine Kopie des Plakats aus dem Pokémarkt, auf dem die unregelmäßigen Öffnungszeiten der Arena vermerkt waren. Darunter prangte ein kleineres Schild mit der Aufschrift: Bitte Klingeln! Ein Pfeil zeigt auf besagte Klingel, die auf Augenhöhe an der Wand hing. Chris drückte den Knopf durch und ein schrilles Läuten erklang aus dem Inneren.

Wenige Sekunden später schwang die Tür auf. Eine junge Frau mit pink gesträhntem Haar und einer blitzenden Zahnspange stand im Türrahmen. An ihrer Hüfte hingen drei Pokébälle. Ihr Blick wanderte zunächst über Chris hinweg, bevor sie den Kopf senkte. Ihre Augen weiteten sich überrascht. „Ach, da bist du! Hab dich fast nicht gesehen.“ Sie runzelte die Stirn. „Willst du die Arena herausfordern? Wir machen gleich zu …“

„Ich möchte mit Blue sprechen.“

Schnaubend verschränkte das Mädchen die Arme. „Wer will das nicht? Wenn du ein Fan bist, verschwinde, er hat zu tun.“

„Ich bin kein Fan.“

„Sicher.“

Chris kniff die Augen zusammen. „Lass mich durch. Ich muss mit Blue reden.“

„Jetzt pass mal auf, du halbe Portion —“

„Larissa!“

Larissas Gesichtszüge erstarrten. Langsam drehte sie sich zu der Gestalt um, die mit verschränkten Armen an den Türrahmen zu ihrer Rechten gelehnt stand. Chris schielte an ihr vorbei zu ihm. Er war klein, kaum größer als Chris selbst, mit strubbligem Haar und einer Stupsnase. "Lass sie schon durch", sagte er grinsend.

"Wie oft muss ich es noch sagen?", zischte Larissa. "Nenn mich nicht so. Ich heiße Rissa."

"Stell dich nicht so an, Larissa."

"Urgh!" Wütend warf sie die Hände hoch und widmete sich wieder Chris. "Siehst du, womit ich mich täglich herumschlagen muss? Und dann kommt noch ein Knirps wie du daher und will mit dem Arenaleiter ein Pläuschchen halten, wenn er mit seiner Arbeit beschäftigt ist." Seufzend fuhr sie sich durch ihr pink-blondes Haar.

"Ich mag meinen Namen auch nicht", sagte Chris, die sich Rissa auf Anhieb verbunden fühlte. Wenn sie nur an ihren gegebenen Namen dachte, kribbelten ihre Hände und ihr Kopf unangenehm. "Darf ich jetzt reinkommen oder muss ich durch ein Fenster klettern?"

Rissa blinzelte, bevor sie in schallendes Lachen ausbrach. Chris versteifte sich. Hatte sie wieder etwas nicht verstanden? Doch Rissa wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und sah zu dem Jungen zurück. "Hast du das gehört, Harry? Ist die Kleine nicht super? Vielleicht adoptiere ich sie."

"Du kannst mich nicht adoptieren", informierte Chris sie.

Rissa nickte ernst. "Schade auch. Also dann, komm halt rein. Es ist eh gleich Feierabend, da kann Blue auch ein bisschen früher Schluss machen.“

Chris ließ sich von dem Mädchen in die Arena führen. Was sie auf den ersten Blick für einen düsteren Flur gehalten hatte, erwies sich als Gang, der links um die Ecke in einen großen Raum mündete, in dessen Holzboden zahllose drehbare Platten eingelassen waren, die in unregelmäßigen Intervallen ihre Drehrichtung und Geschwindigkeit änderten. Versetzt standen erhöhte Plattformen am Rand des rotierenden Labyrinths, die wie kleine Kampfplätze aussahen, zum jetzigen Zeitpunkt jedoch unbesetzt waren. Ganz am Ende des Raums entdeckte Chris eine weitere hohe Holztür, an der ein Schild hing, dessen Aufschrift sie aus der Entfernung nicht lesen konnte.

„Wir Vortrainer kämpfen auf den kleinen Plateaus“, informierte Rissa sie, während sie ein Passwort auf einer kleinen Schalttafel eingab und wartete, bis die Scheiben im Boden aufhörten, sich zu drehen. „Früher haben wir die gesamte Schicht darauf gestanden und auf Herausforderer gewartet, aber als achte Arena kommen hier fast keine unangekündigten Trainer vorbei, deswegen warten wir meistens im Pausenraum, bis jemand klingelt.“

Sie folgte Rissa über den stillstehenden Boden. Obwohl sie nicht an der Arena interessiert war, konnte sie sich an dem Raum selbst nicht sattsehen. Sie versuchte, die Bewegungsmuster der Scheiben anhand ihres Aussehens zu erraten und hätte Rissa am liebsten darum gebeten, den Mechanismus wieder anzumachen, doch sie hatte wichtigeres zu tun. „Wo ist Blue?“, fragte Chris.

„Er wartet gewöhnlich hinten im Kampfsaal“, erklärte Rissa und deutete auf die Tür am Ende der Arena. „Wenn nichts los ist, ist er natürlich in seinem Labor und arbeitet. Zum Glück sind beide Gebäudekomplexe miteinander verbunden, sonst würde er nie mehr hier auftauchen.“

„Ist Harry auch ein Vortrainer?“

„Vortrainer auf Probe“, korrigierte Rissa sie mit einem gefährlichen Grinsen. „Ich soll entscheiden, ob er gut genug ist, dem Team beizutreten. Meistens kämpfen wir den ganzen Tag gegeneinander, aber es ist gutes Training für die Herausforderer, wenn sie denn mal erscheinen. So, da wären wir.“

Sie klopfte dreimal an das alte Holz der Tür. Es dauerte einige Minuten, in denen Chris vor Aufregung kaum die Hände stillhalten konnte. Dann öffnete sich die Tür.

Blue sah anders aus, als Chris ihn sich vorgestellt hatte. Auch anders, als in den Interviews, die sie manchmal mit ihrer Mutter im Fernsehen gesehen hatte. Das Weiß in seinen Augen war von aufgeplatzten Adern durchwachsen und dunkle Ringe untermalten die fahle Hautfarbe. Sein hellbraunes Haar hing ihm strähnig aus seinem kleinen Nackenzopf ins Gesicht. Nur der weiße Laborkittel, den er offen trug, schien gepflegt. Sein Blick huschte zu ihr hinunter, dann zurück zu Rissa.

„Wen bringst du mir denn hier?“, fragte er.

„Das ist Chris“, verkündete Rissa breit grinsend und schob Chris vorwärts. „Sie muss scheinbar ganz dringend mit dir reden. Und sie ist kein Fan, also schieb keine Panik.“

Tatsächlich sackten Blues Schultern erleichtert herab. „Hallo Chris“, sagte er und lächelte. Es sah sehr gezwungen aus. „Komm rein. Willst du einen Kakao oder Tee?“

„Kaffee“, sagte Chris abwesend und trat ihm hinterher in den Kampfsaal. Der Raum war halb so groß wie der, den sie soeben verlassen hatten, aber er enthielt nur eine einzige Kampffläche, die innerhalb der weißen Begrenzungslinien nach unten zu sacken schien. Chris kniff die Augen zusammen und trat an den Rand. Mit der Hand fuhr sie über den Boden. Ihre Finger streiften geradewegs hindurch. Statt aus Holz bestand der Grund hier aus weicher Erde.

„Die Idee meines Vorgängers“, erklärte Blue, der hinter ihr stand. Er winkte sie zu sich und führte sie durch einen Vorhang in eine kleine Küche, die gleich neben dem Kampfsaal stationiert war, wo er sich an einem Kaffeekocher zu schaffen machte. „Für einen Bodentyp-Trainer sicher passend, aber ich bevorzuge balancierte Pokémonteams. Ich bin die letzte Barriere zwischen Trainern und der Liga. Wie sollen sie lernen, mit unerwarteten Situationen umzugehen, wenn sie sich vor jeder Arena anhand des Typs eine Strategie zurechtlegen können?“

„Gar nicht“, antwortete Chris und sah zu ihm auf. „Ich möchte gegen Red antreten. Was muss ich dafür tun?“

Blue erstarrte in der Bewegung. „Red?“, fragte er heiser.

„Der alte Mann sagte, du würdest es wissen“, sagte Chris und ließ sich auf einem der Stühle an der Sitzecke nieder. „Ihr seid Freunde, oder?“

Blue lehnte sich über die Anrichte, Hände flach auf die Arbeitsplatte gepresst. Der Kaffeekocher brodelte vergessen vor sich hin. Es dauerte einige Sekunden, bevor Chris begriff, dass Blue zitterte.

„Warum … warum möchtest du gegen ihn kämpfen?“, fragte er schließlich, ohne sie anzusehen. Chris zögerte. Es war eine gute Frage. Sie war nur nicht sicher, was ihre Antwort war. Oder ob sie Blue davon erzählen sollte. Würde er sie auslachen?

„Ich will zeigen, dass ich besser sein kann“, sagte sie schließlich. „Ich will beweisen, dass ich stark bin, stärker als jeder andere Trainer.“

„Und da Red derzeit diese Position innehat, willst du ihn herausfordern“, schlussfolgerte Blue tonlos. „Ich nehme an, es hat keinen Zweck, dich an die Liga zu verweisen?“

„Wenn Red dort nicht mehr kämpft, hat es keinen Sinn, sie herauszufordern.“

Er schnaubte und wandte sich nun endlich zu ihr um. Seine Augen glänzten.

„Vielleicht hast du Recht. Aber wem willst du zeigen, dass du die Stärkste sein kannst?“

„Mir selbst.“

„Warum?“

„Weil …“ Sie zögerte. Weil ich nicht weiß, ob ich gut genug bin. Weil ich mir selbst beweisen muss, dass ich etwas gut kann. „Weil ich es eben will.“

Blues Blick sagte, dass er ihre Lüge durchschaute. Lüge. Hatte sie gerade gelogen? Nein, nicht ganz. Aber sie hatte auch nicht die volle Wahrheit gesagt.

„Kaffee“, sagte sie leise. Blue goss ihr eine Tasse ein und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch, Kinn auf die Hände gestützt.

„Um wen geht es wirklich?“, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. CHRISTINA! Ein Schaudern überkam sie, ihre Ohren rangen laut. Ihre Finger wanderten zu ihrem Rucksack, erfühlten durch den rauen Stoff die Gegenstände darin. Pokédex, Wasserflasche, die zerknitterte Karte, … alles noch da. Erleichtert atmete sie aus.

Blue schwieg, bis sie wieder ruhiger atmete. Dann ließ er den Kopf in den Nacken sacken. „Bei mir war es mein Großvater“, sagte er. „Er war Professor, mein Vorbild. Ich wollte so werden wie er. Furchtloser und erfolgreicher Trainer in meiner Jugend, und Wissenschaftler, wenn ich älter wurde. Aber nachdem ich ihn zum ersten Mal kämpfen sah … nachdem ich Red zum ersten Mal dabei beobachtete, wie das Kampffieber in packte, da wollte ich ihn übertrumpfen. Ich wollte ihn besiegen. Ich wollte von ihm wahrgenommen, anerkannt werden.“

Chris sah ihn an. Sie wollte es nicht aussprechen, aber sie wusste, dass sie musste. Sie fühlte, dass Blue sie verstehen würde. Vielleicht war er der einzige.

„Mein Vater“, sagte sie leise. „Er denkt— er sagt immer, dass ich unfähig bin. Nutzlos. Behindert. Er glaubt nicht, dass ich es jemals zu etwas bringen könnte. Ich will ihm zeigen, dass ich die Beste in etwas sein kann.“

Sie schwiegen lange. Chris wusste nicht, weshalb, aber die Luft fühlte sich voll an, schwer. Als wäre es keine Luft, sondern all die Wahrheiten, die sie gesagt hatten, und die jetzt auf sie niederdrückten.

„Ich würde dir gerne helfen“, sagte Blue schließlich. „Aber ich weiß nicht, wo Red ist. Er ist verschwunden. Bis vor kurzem war er noch auf dem Silberberg in seiner Höhle, wo Gold und ich ihn regelmäßig besucht haben. Aber als ich vor fünf Wochen dort war, gab es von ihm keine Spur. Er ist gegangen. Und er hat mir nicht gesagt, wohin. Ich weiß nicht, ob ich ihn jemals —“ Seine Stimme brach ab und er rieb sich energisch über die Augen. „Er ist mein bester Freund“, flüsterte er, so leise, dass Chris ihn fast nicht verstanden hätte. Aber nur fast.

Sie wusste nicht, warum, aber sie streckte eine Hand aus und tätschelte leicht seinen Arm. Blue ließ die Hand sinken und starrte auf ihre Finger. Ein Lächeln huschte über seine Lippen und er erhob sich.

„Komm“, sagte er und wartete geduldig, bis sie die letzten Schlucke Kaffee ausgetrunken hatte. „Es ist schon spät. Ich bringe dich ins Pokècenter.“

Jayden – Akt 1, Szene 4

8 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Das Wasser war herrlich erfrischend. Jayden war getaucht, bis ihm schwindelig wurde; nun trieb er schläfrig am Rand des Ufers, wo der See gerade tief genug war, dass seine Zehenspitzen nicht den weichen Morast berührten. Bei seiner Unterwassererkundung waren ihm einige kleine Fischpokémon entgegen geschwommen, Goldini, Karpador, sogar ein Tentacha, dessen schwarzen Tentakeln Jayden rasch ausgewichen war, bevor sie seine Fußgelenke berührten.

„Komm auch rein, Chris!“, rief er in die ungefähre Richtung, in der er seine unfreiwillige Reisegenossin vermutete. Konnte sie vielleicht nicht schwimmen? Nicht alle Alabastia-Kinder waren mit ihren Eltern auf Route 21 schwimmen gewesen. Leicht schwindelnd paddelte er zum Ufer und stieg aus dem Wasser. Er schwankte. Die Sonne brannte auf seine nackte Haut herab.

Die Augen reibend sah er sich um. Sein Rucksack lag noch genau da, wo er ihn abgeworfen hatte, neben dem Kleiderhaufen, in dem sein Pokéball versteckt lag. Von Chris war weit und breit keine Spur zu sehen.

War sie ihm hinterhergesprungen und im See ertrunken? Panik legte sich auf seine Brust wie ein Backstein, aber er schüttelte den Gedanken schnell wieder ab. Er hätte es gehört, wenn sie ihm hinterhergekommen war, und der See war nicht groß genug, als dass er sie nicht auf seinen Tauchgängen bemerkt hätte. Hastig zog er Hose und T-Shirt an und schnallte sich den Rucksack auf den Rücken.

Nein. Viel wahrscheinlicher war es, dass sie ihn links liegen gelassen hatte, wie sie es von Anfang an gewollt hatte. Enttäuschung füllte sein Herz mit Nadeln. In den drei Tagen, die sie zusammen gereist waren, hatte Jayden gedacht, Chris und er wären Freunde geworden.

Anscheinend hatte er sich getäuscht.

Die gute Laune, die er nach dem Schwimmen gehabt hatte, war verflogen. Mit schweren Schritten schleppte Jayden sich Richtung Stadt. Alles war so hell, und sein Mund fühlte sich trocken an. Als erstes musste er in das Pokécenter, um seine Trainer-ID zu beantragen und hoffentlich ein Zimmer für die Nacht zu reservieren. So sehr er versucht hatte, Chris nichts merken zu lassen, so schlecht hatte er die letzten Nächte im Freien geschlafen. Er wollte ein weiches Bett und ein Dach über dem Kopf.

Vielleicht konnte er auch Glumanda untersuchen lassen, nur um sicherzugehen, dass es gesund war. Schaden konnte es nicht. Das junge Pokémon aus seinem Pokéball zu lassen, war Jayden in dieser brütenden Hitze jedoch zu riskant. All die trockenen Gärten … Es wäre schön blöd, wenn er gleich auf dem ersten Abschnitt seiner Reise einen Brand in der Stadt verursachte.

Vertania City fühlte sich zu groß an. Er brauchte über eine Stunde, um das Pokécenter in all den verschachtelten Straßen zu finden, obwohl er sich immer an dem roten Neon-Schild orientierte. Sein Kopf pochte schmerzlich. Als er endlich vor dem großen, rot-weißen Gebäude stand, stieß er erleichtert die Glastür auf und trat in den kühl temperierten Empfangsraum dahinter. Fröstelnd sah er sich um. Einige Sitzbänke standen an die Wand gerückt, auf denen zwei jugendliche Mädchen miteinander Karten spielten, während sie auf ihre Pokémon warteten, die gerade bei Schwester Joy in Behandlung waren. Neben der Theke mit der Heilmaschine hing eine große Karte von Kanto.

Und hinter der Theke, die gerade nicht besetzt war, hing ein Plakat.

Ein Plakat mit dem Bild eines Glumandas.

Seines Glumandas.

Jayden schluckte, während er benommen den Text überflog. Glumanda war als gestohlen gemeldet. Jayden selbst wurde als der Dieb beschrieben. Sie hatten kein Bild von ihm, aber sein Name … sein Name stand auf der Trainer-ID, die er abholen wollte.

Das Pochen in seinem Kopf wurde stärker, drängender. Ihm war schwindelig und die Welt in seinem Sichtfeld verlor an Farbe.

Jayden machte einen zittrigen Schritt zurück, und übergab sich prompt auf die weißen Fliesen.

„Was ist los? Geht es dir gut?“ Aus den Augenblicken entdeckte Jayden, dass eines der Mädchen aufgesprungen war und nun hastig neben ihm auf die Knie ging.

Jayden wollte Ja sagen, aber der Anblick und saure Geruch seines Erbrochenen ließen ihn gleich erneut würgen. Irgendjemand rief nach Schwester Joy. Hände berührten seinen Kopf und Nacken, strichen beruhigend über seinen Rücken. „Sie kommt gleich“, beruhigte ihn das Mädchen und strich ihm das verschwitzte Haar aus dem Gesicht. „Alles ist okay.“ Jayden würgte erneut, aber er hatte heute noch nicht viel gegessen und heraus kam nur noch bitter schmeckende Galle. Seine Augen tränten.

„Was ist passiert?“

Die autoritäre Stimme der Schwester Joy donnerte durch den Raum.

Jayden spuckte aus. Mit Anstrengung sah er zu der pinken Gestalt auf, die sich bei dem Aufruhr genähert hatte—und fiel vor Schreck fast hintenüber.

Die hünenhafte Frau, die einem Baumstamm gleich dastand und sich vor ihm hinkniete, sah kaum wie eine Frau aus, geschweige denn wie eine Schwester Joy. Zugegeben, Jayden war in seinem Leben noch keiner einzigen Joy begegnet, aber er wusste aus Castors Lehrkanalfolgen, wie die zierlichen Frauen mit ihren pinken Brezelfrisuren und dem unbeirrbaren Lächeln auszusehen hatten. Diese Joy war riesig, mit breitem, herben Gesicht und Armen, deren Muskeln den Stoff ihrer pinken Uniform zum Reißen spannten.

Als sie eine verschwielte Hand nach ihm ausstreckte, zuckte Jayden zurück, musste im nächsten Moment jedoch die Augen zusammenkneifen. Ihm war so schwindelig! Alles drehte sich.

„Er wird bewusstlos“, sagte Joy und hob ihn ohne Probleme vom Boden auf. „Vermutlich ein Sonnenstich, so rot wie er aussieht. Ich bringe ihn nach hinten in den Behandlungsraum.“ Jayden öffnete ein Auge und sah an der festen Schulter der Schwester Joy vorbei die Wände, die sich immer enger zu ziehen schienen. Das besorgte Gesicht eines ungewöhnlich muskulösen Chaneiras, das an einem Shake schlürfte und mit der freien Hand eine Hantel stemmte, war das letzte, was er sah, bevor ihm endgültig schwarz vor Augen wurde.

 

 

Als Jayden erwachte, wusste er für einen kurzen Moment weder, wo er war, noch ob er überhaupt seine Augen geöffnet hatte oder noch immer bewusstlos war, so dunkel war es. Sein Schädel dröhnte und er fühlte sich schlapp und ausgewrungen wie ein nasser Waschlappen. Entgegen seines besseren Wissens stemmte er sich vorsichtig auf und sah sich um. Langsam gewöhnten sich seine Augen an das fehlende Licht. Er lag auf einer grünen Liege, die mit weißen Papierbahnen ausgelegt war. Der kleine Behandlungsraum wurde durch schwere Vorhänge vor dem einzigen Fenster abgedunkelt. Die Tür war geschlossen.

Er war allein.

Vorsichtig tapste Jayden über die kühlen Fliesen. Jemand hatte ihm seine Schuhe ausgezogen. Sie standen unter einem Stuhl neben der Tür, zusammen mit seinem Rucksack. Panisch griff Jayden nach seinem Gürtel, doch Glumandas Pokéball war noch da.

Von draußen konnte er Stimmen hören. Er legte ein Ohr an das Holz, aber die Tür war zu dick. Er konnte zwei verschiedene Stimmen ausmachen, eine von ihnen Schwester Joys tiefer Klang. Die andere war eine Frau, da war er sicher. Sie kam ihm bekannt vor, aber er wusste nicht, woher …

Vorsichtig, sodass sie nicht knarzte, drückte er die Klinke hinunter und zog die Tür einen Spalt auf. Augenblicklich wurde das Gespräch verständlich.

„Ich muss mit ihm reden“, sagte die ihm unbekannte Stimme. Nur dass sie jetzt nicht mehr unbekannt klang. Ein schneller Blick um die Ecke bestätigte seine Vermutung.

Es war Blues Freundin, die Laborantin aus Eichs Labor.

Nicole.

Jayden – Akt 1, Szene 5

8 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Hastig riss Jayden den Kopf zurück. Was machte Nicole hier, in Vertania City? Sollte sie nicht in Alabastia sein?

„Er schläft“, antwortete Joy ruhig. Ihre Stimme war so tief, dass Jayden die Vibration in seiner Brust zu spüren glaubte. „Kommen Sie doch später wieder.“

„Es ist dringend!“, entgegnete Nicole. „Wir vermuten, dass er ein Laborpokémon gestohlen hat, ein wichtiges Forschungsobjekt. Ich muss sofort mit ihm reden.“

„Der Junge war zu lange in der Sonne und hat sich einen Sonnenstich zugezogen“, sagte Joy geduldig und doch mit Härte in ihren Worten. „Er hat sich übergeben, ist fiebrig und wird vermutlich mit höllischen Kopf- und Muskelschmerzen aufwachen. Jetzt schläft er und es ist mir egal, ob er ein Pokémon gestohlen oder jemanden mit einem Messer bedroht hat, Sie werden ihn gefälligst in Ruhe lassen, bis er von alleine aufwacht.“ Jayden nickte still mit. Verdammt richtig. Sein Schädel pochte und sein Nacken war steif wie ein Bündel Stahlseile. Wenigstens war ihm nicht mehr schwindelig. Wie lange hatte er überhaupt geschlafen? Einige Stunden vielleicht. Joy musste sich um ihn gekümmert haben.

Nicole holte Luft, um zu widersprechen, überlegte es sich jedoch im nächsten Moment anders. „In Ordnung. Darf ich ihn wenigstens sehen? Ich will sichergehen, dass er noch hier ist und schläft.“

„Folgen Sie mir.“

Jayden fluchte, schloss die Tür blitzschnell hinter sich und sprang zurück auf die Liege. Er lag kaum wieder, da öffnete sich sachte die Tür. Er wagte es nicht, die Augen auch nur einen Spalt zu öffnen, aus Angst, Nicole könnte es bemerken. Stattdessen atmete er ruhig und ebenmäßig.

„Wenn Sie wollen, können Sie sich ein Zimmer für die Nacht mieten und gleich morgen früh mit ihm reden“, flüsterte Joy.

Nicole musste genickt haben, denn im nächsten Moment schloss die Tür sich erneut und Jayden blieb allein und mit wild pochendem Herzen auf der Liege zurück.

Er musste weg. Sofort.

Als er draußen keine Schritte mehr vernehmen konnte, sprang er auf und schlich zur Tür. Er zog seine Schuhe an, schulterte den Rucksack und ging zum Fenster. Es war ungewöhnlich weit oben angebracht, aber wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte er hinausklettern. Und notfalls gab es schließlich noch den Stuhl. Vorsichtig zog er die Vorhänge zur Seite. Draußen war es noch nicht ganz dunkel. Die Sonne war bereits hinter dem Horizont verschwunden und außer dem einen oder anderen Passanten waren die Straßen leer.

Jayden nickte zufrieden. Wenn er den richtigen Moment abpasste, würde ihn niemand beobachten und bis Nicole morgen früh bemerkte, dass er getürmt war, wäre er schon über alle Berge.

Er streckte sich, packte den Griff und drehte—

—der Griff hing fest. Jayden versuchte es erneut, fester dieses Mal, aber nichts geschah. Erst jetzt bemerkte er das kleine Schlüsselloch im Griff. Sein Fluchtplan verpuffte ins Nichts. Das Fenster war natürlich gegen Einbrecher (und vielleicht unwillige Patienten) gesichert.

Erneut sah er sich im Raum um. Es gab nichts, womit er das Fenster gewaltsam öffnen könnte. Er musste entweder das Pokécenter nach etwas schwerem durchsuchen, oder aber einen anderen Ausgang finden, eine Hintertür vielleicht. So oder so hatte er keine Wahl. Er musste sein sicheres Versteck verlassen.

Auf Zehenspitzen tapste er zur Tür und schob sie sanft auf. Der Flur lag dunkel und still da. Aus dem Hauptraum drangen das Klackern einer Tastatur und ein geräuschvolles Schlürfen. Das Brummen der Klimaanlage und das Piepen der Heilmaschine füllten seine Ohren.

Mit wild pochendem Herzen trat Jayden hinaus auf den Gang und wandte sich nach links, tiefer ins Gebäude hinein. Alles war verlassen. Zum Glück, dachte Jayden. Er hatte keine Ahnung, wie er sein Rumschleichen erklären sollte. Selbst wenn Joy ihn erwischte und er nicht erkennen ließ, dass er von Nicole erfahren hatte, gab es sicher Vorschriften, dass Patienten nicht spätabends alleine durch Pokécenter wandeln durften.

Die erste Tür, die er überprüfte, führte in eine Besenkammer mit allerlei Putzutensilien, deren stechender Geruch Jayden in der Nase brannte. Er sah sich kurz um, aber ohne Licht war es schwer, schwere Gegenstände auszumachen und als er über einen Wischmopp stolperte und beinahe das ganze Regal zum Einsturz gebracht hätte, schloss er die Tür und machte sich auf die Suche nach einer besseren Option.

Am Ende des Flurs entdeckte er zwei weitere Durchgänge. Der eine war mit einem großen, rotumrandeten Schild markiert, auf dem in fetten Buchstaben ZUTRITT FÜR UNBEFUGTE VERBOTEN stand. Die zweite war mit einem kleineren, weniger intensiven Privat-Aufkleber markiert. Jayden beschloss, es zuerst hier zu versuchen.

Er befürchtete schon, die Tür könnte ebenfalls verschlossen sein, aber er hatte Glück. Sie schwang problemlos auf. Drinnen machte er das Licht an, denn es war stockduster und er konnte nichts erkennen. Als die Glühbirne flimmernd zum Leben erwachte, blieb Jayden abrupt stehen. Er war nicht sicher, was er genau erwartet hatte, aber jedenfalls nicht das.

Dann wiederum war die Schwester Joy in Vertania City sehr ungewöhnlich.

Der Fliesenboden war mit weichen Matten ausgelegt, die unter Jayden Schritten federten. An die Wände reihten sich Gestellte voller verschiedener Gewichte, Hanteln und riesige Kugeln, die aussahen wie aus einem Piratenfilm. Diverse andere Sportgeräte standen in den Zwischenräumen, stationäre Fahrräder, Laufbänder und Maschinen, die so verworren aussahen, dass Jayden nicht mal annähernd wusste, wie sie überhaupt zu bedienen waren. Er war so fasziniert von dem Anblick dieses kleinen Fitnessstudios im lokalen Pokécenter, dass er das Pokémon am an anderen Ende des Raums erst bemerkte, als es neugierig auf ihn zukam.

Das Maschock hielt in der einen Hand eine überdimensional große Hantel, die laut Aufschrift 100 kg wog, in der anderen einen grellgrünen Sportdrink. Offenbar überrascht über den unerwarteten Besuch grunzte es Jayden an.

Der wich einen Schritt zurück. Sein Fluchtplan war die eine Sache, aber wenn es drauf ankam, nahm er es lieber mit der zierlichen Nicole als mit einem superstarken, durchtrainierten Maschock auf. Doch das Pokémon ging nicht zum Angriff über. Es schlürfte an seinem Drink und beobachtete Jayden eingehend. Plötzlich reckte es ihm die Hantel entgegen.

„Was?“, quietschte Jayden und hob abwehrend die Hände. „Nein, eh, danke. Das ist echt nett von dir, aber ich glaube nicht, dass ich die heben kann.“ Maschock zog den Arm zurück und sah sich im Raum um. Mit einem undefinierbaren Geräusch deutete es auf die zahlreichen Hanteln, die an der gegenüberliegenden Wand aufgereiht waren. Jayden schluckte, sah jedoch seine Chance gekommen. Wenn Maschock nicht wusste, dass er auf der Flucht war, sondern lediglich ein Workout mit ihm machen wollte, kam er vielleicht doch noch lebendig hier raus.

Keine zehn Minuten später schwitzte Jayden aus jeder Pore. Sein Shirt war durchtränkt und seine Arme und Beine zitterten. Maschock hatte ihm nach reichlich Überlegung und betasten seiner Muskeln zwei fünf-Kilo-Hanteln in die Hände gedrückt und ihn zu Kniebeugen mit ausgestreckten Armen und anderen Bewegungen animiert, die jede seiner Fasern brennen ließen.

Jayden wischte sich mit dem Handrücken Schweiß von Stirn und Mund und sog gierig Luft ein. Er musste abhauen, bevor Maschock ihn in den Tod trieb. Der Sonnenstich forderte immer noch seinen Tribut und ihm war schwindelig und schummrig zumute.

Als Maschock eine auffordernde Geste machte, hob Jayden abwehrend die Arme. „Es reicht, ich kann nicht mehr. Danke für das Training, aber ich muss jetzt wirklich gehen.“ Das Pokémon kniff misstrauisch die Augen zusammen und stemmte die Hände in die Hüften. „Ich will mich nicht drücken, wirklich!“, versuchte Jayden es erneut. „Schau, ich nehme sogar diese Hanteln mit. Ich werde alleine weitertrainieren, versprochen! Und morgen machen wir weiter. Okay?“

Das Kampfpokémon grunzte unzufrieden, nickte aber. Erleichterung überschwemmte Jayden, so intensiv, dass er weinen wollte. Er hatte schon halb befürchtet, den Rest seines Lebens mit Krafttraining verbringen zu müssen, weil Maschock ihn nicht gehen ließ.

Ohne weitere Zeit zu verlieren, schnappte er die Hanteln und verließ das Fitnessstudio. Der Gang war genauso dunkel wie vorher. Es war daher kein Wunder, dass er geradewegs über das Chaneira stolperte, das in diesem Moment vor der Tür auftauchte, um seine eigene Hantel zurückzubringen.

Jayden wusste sofort, dass er aufgeflogen war. Maschock mochte ihn nicht erkannt haben, aber Chaneira wusste, wer er war und würde Joy sicher sofort Bericht erstatten, wo ihr Patient sich mitten in der Nacht herumtrieb. Jayden rannte los.

Obwohl er so erschöpft war, zwang er sich, nicht langsamer zu werden, bis er sein Zimmer erreicht hatte. Er schleifte den Stuhl vor das Fenster, nun nicht mehr darauf bedacht, leise zu sein. Von draußen hörte er bereits Chaneiras wilde Rufe und schließlich Joys schwere Schritte. Er holte Schwung, und schleuderte die erste Hantel geradewegs gegen die Fensterscheibe. Sie erzitterte. Einige Sprünge bildeten sich im Glas. Die Hantel krachte polternd zu Boden. Die Schritte wurden schneller.

„Jayden?“, rief Joys tiefe Stimme. Jayden schwitzte und warf die zweite Hantel. Sie traf etwas zu weit oben. Die Risse im Glas vervielfältigten sich, aber das Fenster hielt stand. Fluchend schnappte sich Jayden die Hanteln vom Boden und machte einen letzten, verzweifelten Versuch.

Diesmal zersprang das Fenster und es regnete Glasscherben. Der Radau hatte inzwischen das gesamte Pokécenter aufgeschreckt. Die Tür, die Jayden hinter sich verrammelt hatte, wurde mit einem wuchtigen Schulterstoß aufgerissen, doch da war er bereits auf dem Stuhl und durchs Fenster, von wo er einen guten Meter in die Tiefe fiel und sich zähneknirschend den Rücken rieb.

„Jayden?“

Bei der bekannten, neutralen Stimme sah Jayden erschrocken auf, aber er hatte sich nicht geirrt. Chris stand keine zwei Meter entfernt, neben einem älteren Trainer in Jogginghose, den Jayden erst auf den zweiten Blick als Blue aus dem Labor in Alabastia identifizierte.

„Was machst du da?“, fuhr Chris fort und sah von Jayden zu dem zerbrochenen Fenster, durch das er gefallen war und in dem nun auch Schwester Joys Gestalt sichtbar wurde.

Ohne zu antworten, rappelte Jayden sich auf, packte Chris am Handgelenk und zog sie hinter sich her und die Straße hinunter. Hinter sich konnte er noch Blues empörten Ruf hören, dicht gefolgt von Nicoles Stimme, die in der Ferne hallte, zu weit entfernt, um die Wörter auszumachen.

„Wo willst du hin?“, schrie Chris neben ihm. Jayden war erleichtert, als er bemerkte, dass sie auch ohne sein Zutun mit ihm Schritt hielt. Sie blieb bei ihm, obwohl sie ihn heute Nachmittag zurückgelassen hatte.

„Wald“, keuchte Jayden und nickte in Richtung Norden. „Suchen nach mir. Müssen uns verstecken.“

Als Chris darauf nicht antwortete, sondern stumm weiterrannte, fragte Jayden sich unvermittelt, ob sein Steckbrief auch noch in anderen Gebäuden gehangen hatte. Sicher wusste Chris bereits Bescheid. Unerwartet überkam ihn Scham.

Sie hatte Recht gehabt. Er war ein Dieb und nun war er auf der Flucht, ein Gesetzloser, ein Verbrecher. Aber er konnte und wollte sich nicht von Glumanda trennen. Sie hatten vielleicht noch nicht viel zusammen erlebt, aber es war sein erstes Pokémon und er hatte über die letzten Tage bereits eine Bindung zu dem kleinen Pyromanen aufgebaut. Egal was kommen würde, er durfte Glumanda nicht verlieren. Und wenn er dazu bis ans Ende der Welt fliehen musste.

Als sie die ersten Kreuzungen hinter sich gelassen hatten, wurden sie langsamer. Jayden hatte pochende Seitenstiche und konnte kaum noch atmen, und auch Chris keuchte und schnappte nach Luft. Einige Minuten lang gingen sie nur, dann beschleunigten sie wieder ihre Schritte und trabten durch die Nacht, bis die Lichter der umstehenden Häuser allmählich verblassten und sie auf unbefestigter Straße liefen.

„Warum haben sie uns noch nicht eingeholt?“, fragte Jayden erschöpft, als sie in einem der am Rand stehenden Büsche Zuflucht gesucht hatten, um sich zu erholen. Er konnte keinen Schritt mehr tun, und wenn ein tollwütiges Onix hinter ihm her wäre.

„Blue hatte seine Pokémon nicht dabei“, erklärte Chris, die durch eine Lücke im dichten Laub auf die Straße spähte. „Er musste sie erst holen, deswegen haben sie uns verloren. Aber wenn er ein fliegendes Pokémon hat, holen sie die Distanz schnell auf.“

„Wir sollten hier bleiben“, murmelte Jayden. Obwohl er erst vor kurzem mehrere Stunden geschlafen hatte, konnte er kaum noch die Augen offen halten. „Warten, bis sie an uns vorbei sind.“

Er erwartete, dass sie ihm widersprach, doch sie legte sich nur neben ihn.

Schließlich hielt Jayden es nicht mehr aus. „Ich dachte, du wolltest ohne mich weiterreisen“, flüsterte er nach einigen Minuten der Stille, in der nur das Rascheln der Blätter im Wind und das Zirpen von Insektenpokémon in der Ferne zu hören waren. Chris antwortete so lange nicht, dass er glaubte, sie würde bereits schlafen, da erklang ihre Stimme.

„Ich habe lange nachgedacht“, sagte sie leise, ohne ihn anzusehen, „und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich lieber mit dir reise, als ohne dich.“

Jayden verkniff sich ein Lächeln und drehte sich auf die Seite, die Anstrengung des vergangenen Tags vergessen. Es war das netteste, was sie je zu ihm gesagt hatte.

„Freunde?“, flüsterte er in die Nacht hinein.

„... Vielleicht.“

Chris – Akt 2, Szene 1

8 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

„Sie werden uns irgendwann einholen“, informierte Chris Jayden, während sie beide eng nebeneinander auf einem fetten Ast im Vertania Wald hockten und von oben Ausschau nach Gegnern hielten, die hier regelmäßig ihre Runden machten.

„Das weiß ich selbst“, grummelte Jayden und zog die Schultern hoch. „Wolltest du nicht ein Pokémon fangen?“

Chris nickte ernst. Nach einer sehr durchwachsenen Nacht unter der Hecke waren sie früh am nächsten Morgen von einem Versteck zum nächsten gehuscht, bis zwei Tage später endlich die hohen Baumkronen des Vertania Walds über ihnen aufragten. Obwohl es schon so lange zurück lag, konnte Chris sich noch genau an das Hämmern ihres Herzes erinnern, die nasskalte Angst, als plötzlich der Schatten eines Tauboss den Mond verdeckte und bis zum Morgen seine Kreise zog, bis es schließlich nach Norden abdriftete.

Jayden hatte ihr erklärt, dass Blue von einer jungen Laborantin namens Nikola begleitet wurde, die wiederum Jayden suchte, weil er das Glumanda gestohlen hatte. Es sah nicht so aus, als würden sie die beiden Verfolger so schnell loswerden. Chris war nicht glücklich darüber, von Jayden in diese Sache hineingezogen worden zu sein, aber die Tage, die sie mit ihm verbracht hatte, hinterließen ein glückliches Gefühl in ihrer Brust. Sie wollte noch nicht darauf verzichten. Und solange es ihre Entscheidung war, mit ihm zu reisen, war alles andere nebensächlich.

Chris rutschte auf dem Ast vor und lugte hinunter ins hohe Gras. Der Vertania Wald war für zwei Dinge berüchtigt: die Käferpokémon und  ihre Sammler, die sich hier gleichermaßen dicht tummelten und keine Gelegenheit zum Kampf ausließen, und eine sehr menschenscheue Pokémonart, die nur mit Glück oder sehr viel Ausdauer gefangen werden konnte.

Und Chris hatte es nicht auf die Käfer abgesehen.

Neben ihr wand sich Jayden auf seinem Sitzplatz hin und her. „Mich piekst so ein Knubbel“, informierte er sie genervt. Chris ignorierte die Beschwerde und sprang von ihrem Ast, kaum dass der kleine Junge unter ihnen hinter einer Gruppe Bäume verschwunden war. Jayden folgte nur wenige Sekunden später. Geduckt schlichen sie durch das hohe Gras. Chris trat fast auf ein Hornliu, das noch dort lag, wo es von dem Trainer besiegt worden war und sich langsam aufrappelte. Jayden befingerte zum wiederholten Mal seinen Pokéball.

„Wir dürfen nicht herausgefordert werden“, sagte er und beschleunigte seine Schritte, um mit Chris mitzuhalten. „Ich kann hier nicht kämpfen.“

„Warum nicht?“

„Mein Glumanda würde den ganzen Wald abfackeln! Hast du meinen Schlafsack vergessen?“

„Andere Trainer schaffen es auch, mit Feuerpokémon in Wäldern zu kämpfen“, entgegnete Chris, die nur mit halbem Ohr bei der Unterhaltung war. Sie hielt Ausschau nach Büschen, von denen ungewöhnlich viele Beeren fehlten, nach kleinen Fußspuren im weichen Boden zwischen dem Gras.

„Vielleicht haben andere Trainer weniger feurerfreudige Glumanda.“

„Vielleicht bist du einfach kein guter Trainer.“

„Sag das nochmal!“

„Vielleicht bist du einfach kein—“

„Du sollst es nicht wirklich … ach, ist schon okay.“

Sie liefen weiter. Versteckten sich—wieder—in einer Hecke, als Trainer in Sichtweite kamen. Verharrten reglos, bis sie vorbei waren. Suchten weiter.

Es war später Abend, als Chris endlich einen gelben Schatten hinter einem Baum verschwinden sah. Aufgeregt packte sie Jaydens Hand und zerrte ihn mit sich, aber das Pokémon war schon geflohen. Einige Minuten lang verfolgten sie die Spur, aber es war vergebens. Das Pokémon war weg.

„Lass uns schlafen“, keuchte Jayden neben ihr. Kleine Äste steckten in seinem braunen Haar und ein blutiger Kratzer verlief über seine Wange. „Wir haben die letzten Nächte fast kein Auge zugetan. Ich kippe gleich um.“

Sehnsüchtig sah Chris in die dunklen Blätter, in denen ihr zukünftiger Starter verschwunden war, aber Jayden hatte Recht. Es wurde zu dunkel, um gut sehen zu können, und ihre Knie fühlten sich wacklig und weich an. Sie war genauso müde wie er.

„Morgen suchen wir weiter“, ermahnte sie ihn. Er stöhnte erleichtert auf und ließ sich unter dem nächstbesten Busch nieder.

„Ja doch. Jetzt leg dich hin. Die Erde ist hier nicht so hart und wurzelig.”

„Wurzelig? Ist das ein Wort?“

“Jetzt schon. Nun komm schon.”

Chris sank neben ihm auf die weiche Erde. Es roch nach Harz, dem süßlichen Geruch der Beeren an den Sträuchern und ihrem gemeinsamen Schweiß. Das Laub raschelte über ihnen im seichten Wind. Kokuna klackerten mit ihren Mundwerkzeugen.

Es war ein sehr einschläferndes Geräusch, wie Chris bald feststellte. Sie hatte kaum die Augen geschlossen, da schlief sie schon. Das letzte, was sie hörte, war Jaydens Schnarchen.

 

 

Früh am nächsten Morgen begann ihre Suche von neuem. Sie aßen einen Teil ihres Proviants, tranken gierig aus den mitgebrachten Wasserflaschen und hielten stetig nach Gegnern Ausschau, die es zu umgehen gab. Aber auch an diesem Tag hatten sie kein Glück. Jayden wurde ungeduldig, das spürte Chris. Er lief langsamer, grummelte mehr und benahm sich insgesamt unerträglich. Am vierten Tag ihrer Suche war sie bereit, ihn einfach zurückzulassen und alleine weiterzumachen, als sie plötzlich ein Fiepen wahrnahm.

Jayden lag abseits mit dem Rücken zu ihr; es war ein furchtbar heißer Tag und der Schweiß tropfte Chris das Kinn herunter. Sie hatten frühzeitig abgebrochen und wollten am Abend, wenn es kühler war, weitersuchen. Doch jetzt setzte Chris sich auf. Sie war nicht sicher, ob sie sich das Geräusch nur eingebildet hatte, aber sie würde nicht schlafen können, wenn sie es nicht überprüfte. Jayden grummelte etwas undeutliches, als sie sich erhob, aber sie ließ ihn liegen.

Fahles Mondlicht fiel zwischen einigen Löchern in den Baumkronen auf das plattgetretene Gras. Chris atmete kaum, als sie der Quelle des Fiepens folgte. Es erklang ein zweites Mal, kaum dass sie zwischen zwei Baumstämme getreten war, lauter dieses Mal. Sie war ganz nah dran.

Der Wald lichtete sich. Chris fand sich einem Baum gegenüber, der breiter war als alle umstehenden. In den dicken Ästen hingen große, grüne Kokons. Nein, keine Kokons.

Safcon. Dutzende von Safcon. Und inmitten davon, in ein Wirrwarr aus klebrigen Fäden gewickelt, strampelte ein kleines Pikachu. Es fiepte kläglich und ruckte in seinem Gefängnis hin und her, doch alles, was es damit bewirkte, war eine träge Drehung. Kraftlos ließ es ab und sah zu Chris hinüber.

Sie trat näher heran. Ihre Hand lag bereits auf ihrem leeren Pokéball, aber sie zögerte. Hier war das Pokémon, nach dem sie seit Tagen suchte, ohne das sie ihre Reise nicht weiterführen konnte, aber es war wehrlos, gefangen. Es hatte keine Wahl. Es hier und jetzt zu fangen, ohne Mühe ihrerseits, kam ihr falsch vor.

Stattdessen zog sie die Schere aus ihrem Rucksack, mit dem sie immer ihr Haar schnitt, und ging auf den Baum zu.

Ein Zischen ließ sie innehalten. Raupy krabbelten aus den Schatten auf sie zu, Köpfchen bedrohlich erhoben und mit den kleinen Zähnen klackernd. Chris hob die Schere, blieb jedoch stehen. „Ich will nur das Pikachu befreien“, sagte sie. Die Raupy wurden immer mehr, so als kämen sie aus allen Winkeln des Waldes, um sie zu verjagen. „Lasst mich durch“, verlangte Chris.

„Ich glaube kaum.“

Chris zuckte zusammen und drehte sich um. Die Stimme stammte von einem kleinen Mann mit dichtem, weißen Bart, der mit Blättern und Ästchen gespickt war. Er stützte sich auf einen knorrigen Stock, der über seinen Kopf ragte. An seiner Seite schwebte ein blassviolettes Smettbo, dessen weiße Schmetterlingsflügel im Mondlicht glitzerten. Blutrote Augen schauten sie durchdringend an.

„Warum nicht?“, fragte Chris. „Das Pikachu ist gefangen. Ich will es befreien. Was ist daran falsch?“

„Dieses Pikachu ist verantwortlich dafür, dass die Safcon dieses Waldes seit Monaten keine Entwicklung zustande bringen. Dass wir es nun endlich unschädlich gemacht haben, ist ein Segen. Befreien willst du es? Nur über meine Leiche.“

„Wer bist du überhaupt?“

„Ich bin Nick, der Wächter der Käferpokémon in diesem Wald“, erklärte der Alte. Er machte einen Schritt auf sie zu. „Früher war ich ein Käfersammler wie die Kinder, die heutzutage den Wald durchqueren, aber das ist lange her. Ich habe mich den Raupy, Hornliu und all ihren Entwicklungen verschrieben. Und du bist ein Eindringling, der das Gleichgewicht in dem Vertania Wald stören will.“

„Ich will nur das Pikachu.“

„Du willst es freilassen. Für ein, zwei Tage wird uns vielleicht in Ruhe lassen und seine Wunden lecken, aber dann wird es sein bösartiges Spiel weitertreiben. Es wird die Beerenvorräte plündern, die von den Raupy so mühsam für ihre Freunde angelegt wurden, es wird die Kokons stören, die Fäden zerbeißen, die sie an dem Baum befestigen, es wird mich tagsüber verfolgen und mir keine Ruhe mit seinen Streichen lassen. Es ist ein Unruhestifter, ein Störenfried und ich will es nicht frei in meinem Wald herumlaufen sehen!“

Das Smettbo schlug zustimmend mit den breiten Flügeln, die Raupy, die Chris inzwischen von allen Seiten umringt hatten, wiegten die Köpfe. Ein übelriechender Gestank ging von ihnen aus. Chris hielt sich die Nase zu.

„Nun geh, bevor wir dich zu dem Racker an den Baum hängen“, forderte der Wächter und trat bedrohlich vor, als eine Gestalt durch das Unterholz brach, durch die Luft flog und ihn mit sich zu Boden riss.

Sie erkannte das hellbraune Haar sofort. Jayden musste ihr gefolgt sein. Chris konnte nicht anders. Sie kicherte bei dem Anblick, den die beiden so ineinander verknotet auf dem Boden boten. Jayden stöhnte, doch bei dem Geräusch schoss sein Blick zu ihr. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er bemerkte erst, worauf er gelandet war, als Nick ihn mit seinem Gehstock auf den Kopf haute und sich unter ihm befreite.

„Ein hinterhältiger Angriff auf einen alten Mann“, spuckte er und rieb sich den Rücken. „Zu meiner Zeit —“

„Was ist hier los?“, fragte Jayden und sah sich angewidert um. „Warum sind hier so viele Raupy? Warum hängen da Safcon? Warte, ist das nicht …“

„Lasst mich einfach zu dem Pikachu durch“, wiederholte Chris. „Es wird euch nicht mehr belästigen, das verspreche ich.“

„Warum sollte ich dir trauen?“, fauchte der Alte. „Safron, greif an! Schlafpuder und Windstoß, schnell!“

“Einen Moment!”, schrie Jayden gedehnt und hob seinen Pokéball.

Das Smettbo, das bereits die Flügel Richtung Chris erhoben hatte, hielt inne. „Hat sie denn kein eigenes Pokémon?“, fragte der Wächter verwirrt.

„Nein, hat sie nicht. Aber ich wollte eigentlich sagen, dass ihr wirklich nicht gegen uns kämpfen solltet.“

„Warum nicht?“ Der Alte schlug mit dem Stock auf den Boden auf. „Ihr seid uns haushoch unterlegen! Seht ihr nicht die Raupy hier? Mein eigenes Smettbo, das stärker ist als alle Pokémon der Trainer, die hier durchkommen?“

Chris stutzte. „Was hat das mit Häusern zu tun?“

„Das ist schon wahr“, sagte Jayden, ohne auf sie zu achten. „Aber ich habe hier ein sehr feuerfreudiges Glumanda, und sobald ich es aus seinem Ball lasse, wird es hier alles und jeden abfackeln, der ihm vor die rote Schnauze kommt. Wenn dann noch der Windstoß von dem Smettbo dazukommt … Ich glaube nicht, dass ich den Kampf gewinnen würde, aber ich bin besorgt, dass der Wald so ein Feuer nicht überleben wird. Zumal wir seit Wochen keinen Regen mehr hatten.“

Smettbo legte den Kopf schief. Die Raupy hielten inne. Der Wächter runzelte die faltendurchfurchte Stirn. „Da ist was dran“, gestand er. Sein Blick huschte zu den Safcon, die sanft in der Brise baumelten und völlig ungeschützt waren. Er sah wieder zu ihr. „Dieses Pikachu“, sagte er gedehnt. „Was willst du damit?“

„Es fangen”, sagte Chris. “Aber ich möchte es mir verdienen.“

„Verdienen sagst du … Dann schneid es vom Baum und fang es. Im Gegenzug helft ihr zwei mir morgen, die Beerenvorräte wieder aufzubauen und die Safcon zu beschützen. Aber danach verlasst ihr den Wald. Und ich will, dass dieses Teufelspokémon nie mehr auch nur eine Pfote in meinen Wald setzt, verstanden? Sonst hetzte ich euch die gesamte Käferschaft auf den Hals, Waldbrand hin oder her.“

Chris nickte. „Einverstanden.“

Die Raupy huschten zur Seite und machten den Weg für sie frei. Am Baum angekommen zückte sie ihre Schere. Die angsterfüllten Augen des Pikachus entspannten sich, als es von dem Ast herabgeschnitten wurde. Chris hob den Pokéball. Sie war nicht zufrieden mit der Art, wie sie an ihren Starter kommen würde. In ihrem Kopf hatte sie es sich immer schwierig vorgestellt, eine wochenlange Jagd, an deren Ende sie verschwitzt und mit den Kräften am Ende ihr Pokémon in die Enge gedrängt hatte und es endlich fing.

Aber sie dachte an all die anderen Trainer, denen die Starterpokémon einfach in die Hand gedrückt wurden, jene, die das nächstbeste Pokémon fingen, ohne dafür arbeiten zu müssen. Vielleicht hatte sie es sich verdient, dieses Pikachu zu fangen.

Der Pokéball sprang auf und rotes Licht umfing die Elektromaus. Der Ball ruckte. Einmal. Zweimal. Dreimal.

Klick.

Chris lächelte ihr breitestes Lächeln. Ihre Pokémonreise konnte endlich beginnen.

Warte nur Red, dachte sie und sah hinauf in den Sternenhimmel. Ich hole dich ein. Und ich werde gewinnen.

Jayden – Akt 2, Szene 1

8 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Stöhnend ließ Jayden sich in das trockene Gras fallen und breitete die schmerzenden Arme aus. Sein Rücken und seine Waden brannten von der Tortur, durch die der alte Knacker sie im Wald gezwungen hatte. Von Sonnenaufgang bis tief in die Nacht hatten er und sein Smettbo Chris und Jayden auf der Suche nach Beeren von einem dornigen Strauch in den nächsten gejagt. Jaydens Arme waren bis zu den Schultern zerkratzt und mit blutigen Krusten bedeckt. Chris sah nicht besser aus, aber statt wie er erschöpft zu Boden zu sinken, stand sie im brauen Gras wie eine Eroberin und sah Richtung Norden.

Auf ihrer Schulter saß das Pikachu aus dem Vertania Wald.

Nach einigen anfänglichen Streichen, einem gestohlenen Strohhut und einer Verfolgungsjagd, die in der Baumkrone einer uralten Eiche endete, hatten die beiden erschöpft einen Waffenstillstand geschlossen und schienen seitdem ein Herz und eine Seele.

Neidisch drehte Jayden den Kopf und folgte Chris‘ Blick. Marmoria City erhob sich hinter der Wildwiese, eingebettet zwischen Bergmassiven und dichten Laubwäldern. Die Steingraue Stadt machte ihrem Titel alle Ehre, aber selbst aus dieser Entfernung konnte er vereinzelt kleine Blumenbeete und verstreute Parkanlagen erkennen.

Chris starrte noch immer in die Ferne, während Pikachu gedankenverloren mit ihren Haaren spielte. Jayden zupfte sie an ihrer Hose. „Alles okay?“, fragte er.

„Ich habe ein Pokémon“, sagte sie. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen und ihre Hand strich sanft über den schmutzig gelben Pelz ihres Partners. Jayden schluckte. Wie sie so da stand, mit dem vom Wind gepeitschten, dunkelbraunen Haar und diesem stolzen Ausdruck im Gesicht, wirkte sie plötzlich ganz anders. Nicht mehr unnahbar und kühl, wie er sie kennengelernt hatte, sondern selbstbewusst und abenteuerlustig.

Jayden hatte nicht erwartet, dass ihr Anblick so einen Effekt auf ihn haben würde. Schnell sprang er auf und wischte sich den Dreck von seiner Hose. „Wollen wir weiter?“, fragte er. Sie ließ von der Streicheleinheit ab und bedachte ihn mit einem enthusiastischen Nicken.

„Gehen wir.“

Obwohl die Stadt schon zum Greifen nahe schien, brauchten sie bis zum Abend, bevor die rote Neonbeleuchtung des hiesigen Pokécenters sie willkommen hieß, was nicht zuletzt daran lag, dass Chris darauf bestand, gegen jedes wilde Rattfratz und Taubsi zu kämpfen, das über ihren Weg stolperte.

Jayden verzichtete. Glumandas Pokéball hing weiterhin unangetastet an seinem Gürtel, und obwohl er sicher war, dass er es sich nur einbildete, fühlte sich der Ball heißer an als gewöhnlich.

„Willst du es nicht trainieren?“, fragte Chris, die allmählich die Geduld mit ihm verlor. „So wird es nie stärker und du kein Trainer.“ Pikachu nickte und stemmte die kleinen Pfoten in die Hüfte, während es zu jedem Wort seiner Trainerin nickte. Jayden verschränkte die Arme und sah zur Seite. „Das Gras ist viel zu trocken!“, protestierte er. „Wenn Glumanda seine Glut einsetzt, geht hier alles in Flammen auf.“

„Du kannst es nicht für immer von brennbarem Material fernhalten“, entgegnete Chris. Jayden antwortete nicht. Er wusste es ja selbst. Aber die Wahrheit war, dass er Angst hatte. Nicht nur davor, dass Glumanda einen Waldbrand verursachen, sondern davor, dass es von jemandem als gestohlen erkannt werden könnte. Sicher hingen in Marmoria City ebenfalls Plakate mit dem Bild des Pokémons, und obwohl seine Färbung an sich nicht allzu offensichtlich war, konnte man es doch deutlich von jedem anderen Glumanda unterscheiden. Es war eine Leuchtfackel, die sein Verbrechen allen signalisierte, die hinguckten, und das machte Jayden nervös. Er wollte nicht wieder von Nicole gejagt werden, oder noch schlimmer, sich seinen Eltern stellen müssen. Wie würden sie reagieren, wenn sie erfuhren, dass er gleich am ersten Tag seiner Pokémonreise zu einem Dieb geworden war? Je weiter sie sich von Alabastia entfernten, umso schlechter fühlte er sich deswegen.

Aber der Gedanke, sich freiwillig zu stellen und sein Pokémon abzugeben, war noch unerträglicher.

Und so sah er nur mürrisch dabei zu, wie Chris` Pikachu einen Donnerschock nach dem anderen abfeuerte, bis seiner Trainerin die elektrisierten Haare zu Berge standen und eine Schneise aus besiegten Nagetieren das hohe Gras hinter ihnen bedeckte.

Als das Pokécenter endlich vor ihnen auftauchte, zog Chris ihren Hut tiefer ins Gesicht und rief Pikachu in seinen Ball zurück. „Ich werde nachsehen, ob drinnen Steckbriefe aufgehängt sind“, informierte sie ihn. „Warte hier.“

Jayden ließ sich im Schatten eines Baumes einige hundert Meter entfernt auf einer Bank nieder. Es war früh genug, dass die Sonne noch unerbittlich schien und Schweiß bedeckte seine Oberlippe und Stirn. Er fühlte sich klebrig und schnüffelte alle paar Minuten unter seinen Achseln, um sicherzugehen, dass er nicht allzu sehr stank.

Er hatte einen guten Ort gewählt. Neben ihm erhob sich eine erhöhte Parkanlage, sodass niemand ihn unter dem Baum entdecken konnte, der dort oben trainierte. Die Handvoll älterer Trainer, die er beim Vorbeigehen gesehen hatte, waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt und Jayden vertraute darauf, dass die alte Dame mit Krückstock und geblümten Sommerkleid auf der gegenüberliegenden Bank zu vertieft in ihr Buch war, um ihn wahrzunehmen.

Der Pokéball an seiner Hüfte brannte inzwischen regelrecht und Jayden hatte eine böse Vermutung, weshalb. Mit spitzen Fingern betätigte er den Öffnungsmechanismus und blinzelte gegen den roten Lichtblitz, der das Erscheinen seines Glumandas begleitete.

Die orangegelbe Feuerechse schüttelte die Ärmchen aus, kaum dass sie sich materialisiert hatte, spuckte einige Feuerringe auf das Pflaster und sah Jayden vorwurfsvoll an.

„Es tut mir leid!“, sagte Jayden eindringlich und ging vor seinem Pokémon auf die Knie. „Ich wollte dich rauslassen, aber es gab einfach keine gute Gelegenheit.“ Er streckte eine Hand aus, doch Gluamnda schnappte nach seinen Fingern und er riss die Gliedmaße schnell zurück. „Du musst mir glauben. Die Wissenschaftler, denen du vorher gehört hast, suchen dich. Sie jagen uns. Wir müssen vorsichtig sein.“ Glumanda blies einen trotzigen Rauchring aus seinen Nüstern und machte eine Bewegung mit dem Kopf Richtung Süden.

Und was war mit all den anderen Gelegenheiten? Es war, als könnte Jayden die Anschuldigung seines Glumandas wirklich hören. Er wand sich. „Ich hatte Angst, dass du alles abfackelst“, murmelte er schließlich. Er wusste sofort, dass es die falsche Antwort gewesen war. Glumanda bleckte die Zähne, wandte sich um und sprang auf allen Vieren die Straße hinab. „Warte!“, schrie Jayden und hob den Ball, doch da war Glumanda schon die Treppen zum Park hinaufgerannt und der Lichtblitz traf ins Leere. Fluchend nahm Jayden die Verfolgung auf.

Ich hätte wissen müssen, dass es so reagiert, dachte er wütend. Mit hämmerndem Herzen lief er die Treppen hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend. Ich habe sein Vertrauen gewonnen, indem ich ihm den Maulkorb abgenommen habe, aber statt es zu akzeptieren, wie es ist, habe ich es stattdessen im Ball festgehalten. Immerhin hat es im Labor Auslauf bekommen. Ich bin so ein Idiot!

Oben angekommen, stützte er sich schweratmend auf seinen Knien ab und sah sich um. Groß angelegte Blumenbeete färbten den Park in pink, gelb und weiß, auch wenn die Blütenköpfe dank der Hitze welk herabhingen. Verstreut stehende Birken spendeten Schatten und einige freie Grasflächen dienten den Trainern als Kampfplatz. In einer dieser Gruppen machte Jayden Glumanda aus. Es kam schlitternd vor einem Haufen Rucksäcke und Taschen zum Stehen, die den vier Jugendlichen gehören mussten, die hier ihre Pokémon trainierten. Ein Mädchen mit zwei pinken Flechtzöpfen und einer mit Ansteckern bedeckten Cappie rief gerade ihrem Georok Befehle zu, das das Bibor eines schlaksigen Jungen mit Steinen bewarf. Zwei anderen Jungen kauten Kaugummi auf der beistehenden Bank und hielten Händchen, ein Nidorina und ein Nidorino vor ihren Füßen.

All das nahm Jayden in der Zeit wahr, die Glumanda brauchte, um Luft zu ziehen und eine gigantische Glutattacke auf die Rucksäcke abzufeuern.

„Was machst du da?“, schrie Jayden und sprintete auf die Gruppe zu, doch Glumanda ließ nicht von seinem Angriff ab. Es spie eine zweite Feuersbrunst aus, die diesmal die Schlafsäcke erfasste. Mit Horror sah Jayden dabei zu, wie die Taschen verkokelten, während der Kunststoff der Schlafsäcke in sich zusammenschmolz.

Erst jetzt bemerkte die Gruppe, was vor sich ging. Zuerst die Pinkhaarige, die in der Bewegung innehielt und mit offenem Mund die verbrannten Überreste ihres Reisegepäcks ansah.

„Was zur Hölle?!“, schrie sie und zog damit die Aufmerksamkeit ihrer drei Freunde auf sich. Das Pärchen auf der Bank sprang auf, der Junge mit dem Bibor kam bedrohlich auf Glumanda und Jayden zu.

„Was soll das, hä?“, fauchte er und packte Jayden am Kragen. Er war zwei Köpfe größer und hob ihn mühelos hoch, sodass nur noch seine Zehenspitzen den Boden berührten. „Was ist dein Problem? Willst du einen Kampf? Willst du Streit?”

Das Mädchen ging neben einem der Rucksäcke auf die Knie und durchsuchte den Inhalt, zumindest das, was davon noch übrig war, denn plötzlich stieß sie einen Wutschrei aus. „Du hast mein Geld verbrannt, du Wichser!“

Das brachte auch Bewegung in das Pärchen. Kreidebleich durchsuchten sie ihre eigenen Taschen, während der Schlaksige Jayden weiterhin am Schlawittchen festhielt. Glumanda fand sich unterdessen von allen vier Pokémon der Jugendlichen umkreist. Seine Glutattacke prallte wirkungslos an dem Steinkörper des Georoks ab und ein Doppelkick des Nidorinas schleuderte es zu Boden.

„Gib mir einen Grund, warum wir dich nicht kaltmachen sollen“, fauchte der Junge, der ihn festhielt.

„E-es war nicht mit Absicht.“

„He, guck dir mal das Glumanda an“, sagte plötzlich der Junge mit dem Nidorino, dessen dunkles Haar bis über seine Schultern hing und unter dessen ärmellosen Tank-Top einige Tätowierungen herauslugten. „Das ist eins von diesen Speziellen. Mit dem Gendefekt.“

„Warte, du hast Recht.“ Die Pinkhaarige ging neben Jayden Glumanda in die Hocke. „Die sind mega selten. Und weißt du, was das heißt?“

„Dass wir es mitnehmen?“

„Nein.“ Sie erhob sich und sah Jayden abschätzig an. „Es heißt, dass die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, dass wir hier den Glumandadieb aus Alabastia vor uns haben. Stimmt doch, oder?“

„Bitte“, flüsterte Jayden, dem die Tränen in den Augen standen. Wie war alles so schnell schiefgegangen? Er hatte doch nur auf Chris warten und sich mit Glumanda versöhnen wollen! „Ich wollte das nicht. Es war ein Versehen.“

„Was genau? Dass du ein Pokémon gestohlen hast, oder dass besagtes Pokémon unsere gesamte Reiseausrüstung gegrillt hat?“

„Was willst du machen, Chloe?“, fragte der Schlaksige und zog Jayden noch ein Stück näher, sodass er die Sommersprossen auf dessen schmaler Nase zählen konnte. „Sollen wir ihn ausliefern?“

Chloe zögerte. Sie knetete einen ihrer Zöpfe und sah zwischen Glumanda und Jayden hin und her, dem die Tränen inzwischen über die Wangen liefen. „Nein. Mir ist egal, was er gemacht hat, bevor er hier aufgetaucht ist. Boyd, nimm ihm sein Geld ab. Vielleicht haben wir Glück und der Kleine hat reiche Eltern. Wenn nicht, erteilen wir ihm eine Lektion, die er nicht so schnell vergisst.“

Jayden kniff die Augen zusammen, während Boyd ihm den Rucksack von den Schultern riss und darin nach seiner Geldbörse wühlte. Jayden wusste, dass er nichts finden würde, zumindest nicht genug, um vier Ruck- und Schlafsäcke zu ersetzen.

„Zweitausend Pokédollar“, stöhnte Boyd. „Das reicht nicht mal für einen.“

Jayden hörte das Rascheln der Scheine, als er das Geld Chloe zeigte. Sie schnalzte mit der Zunge und zog einen schwarzen Lederhandschuh über ihre Finger, während sie auf ihn zukam. „Pech gehabt, Kleiner. Du hattest deine Chance.”

Chris – Akt 2, Szene 2

8 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Die kalte Luft der Klimaanlage des Pokécenters blies um ihren schweißnassen Körper und ließ sie frösteln. Sie ging auf die Empfangstheke zu, hinter der Schwester Joy mit einem Schraubenzieher bewaffnet an der Heilmaschine werkelte.

„Ist sie kaputt?“, fragte Chris. Die Joy stieß einen erstickten Schrei aus und griff nach ihrer Brust, als sie Chris entdeckte.

„Gütiger Gott im Himmel“, stöhnte sie und lehnte sich über die Theke. „Erschreck mich doch nicht so, junge Dame, da bleibt mir ja das Herz stehen!“ Sie wischte eine gelöste, pinke Haarsträhne aus ihrer Stirn. „Womit kann ich dir helfen? Die Maschine ist derzeit nicht betriebsbereit, aber wenn du deine Pokémon heilen lassen willst, haben wir hinten noch ein altes Modell stehen. Die Behandlung wird allerdings etwas länger dauern als gewöhnlich. Sie ist lange nicht mehr benutzt worden.“

Chris legte Joy Pikachus Pokéball hin und sah dabei zu, wie die Schwester hinter einer Tür mit der Aufschrift Zugang nur für Personal verschwand. Da sie nichts Besseres zu tun hatte, sah sie sich um. Das Pokécenter war genauso aufgebaut, wie sie es aus Castors Lehrkanal in Erinnerung hatte. Eine kleine Mensa, Treppen, die nach oben zu den Zimmern führten, diverse Bänke zum Warten mit Lesematerial, eine mit WC ausgeschilderte Schwingtür.

Und natürlich Glumandas Vermisstenanzeigen, die in dreifacher Ausführung an einem Korkbrett an der Wand hingen. Chris seufzte. Sie würden wohl wieder die Nacht draußen verbringen müssen. Jayden konnte hier unmöglich ein Zimmer mieten.

„Es sollte etwa zehn Minuten dauern, bis dein Pokémon bereit ist“, informierte Schwester Joy Chris, als sie zurückkehrte. „Es scheint keine ernsthaften Verletzungen von seinen Kämpfen davongetragen zu haben. Oh, dich interessiert wohl das Plakat?“

„Hat man den Dieb schon gefangen?“, fragte Chris.

„Nein, leider nicht. So eine Sauerei. Pokémondiebstahl ist eine der unethischsten Handlungen, die es unter Trainern gibt, gleich hinter Pokémonmisshandlung. Das Pokémon stammt vielleicht aus einem Labor, aber es wurde sicher gut von seinem Forscher behandelt. Wo kommen wir denn hin, wenn junge Leute einfach so die Pokémon anderer stehlen?“

Chris nickte nachdenklich. Sie stimmte Joy in allen Punkten zu, bis auf einen. Sie hatte nicht das Gefühl, dass Glumanda zu seinem Trainer im Labor zurückkehren wollte. Aber das ging sie nichts an. Es war Jaydens Entscheidung gewesen. Sie reiste nur mit ihm.

„Kann ich die Toilette benutzen, während ich warte?“, fragte Chris, der die Blase schon einige Zeit drückte.

„Sicher, sie ist gleich hinten durch, Liebes.”

Die Damentoilette bestand aus einem kleinen Waschraum, einigen Waschmaschinen und fünf Kabinen. Bis auf eine waren alle frei. Chris nahm die hinterste und schloss gerade ab, als sie aus der besetzen Toilette eine Stimme hörte.

„Wenn ich es dir doch sage“, sagte die Frau in einer genervten Tonlage. „Wir werden die beiden finden. Jayden ist zwölf, er kann nicht einfach davongeflogen sein. Überholt haben sie uns auch nicht. Wahrscheinlich haben sie sich im Wald versteckt und warten darauf, dass die Luft rein ist. Aber früher oder später werden sie in Marmoria ankommen. Ja. Ja, ich weiß, dass die Zeit drängt, aber was soll ich denn sonst machen? Wir halten hier die Stellung, so kann Blue zumindest etwas ausspannen. Hast du ihn in letzter Zeit nicht gesehen? Er braucht dringend Urlaub. Die Sache mit Red hat ihn ziemlich mitgenommen. Ja, ich verstehe. Okay, bis dann. Ich halte dich auf dem Laufenden.”

Ein Klicken beendete den Anruf. Chris wagte kaum, zu atmen. Das musste diese Nicole sein, die Jayden erwähnt hatte, die Frau, die ihn bis ins Pokécenter in Vertania City gejagt hatte. Wenn sie und Blue hier waren, konnte das nur Ärger bedeuten. Sie musste Jayden so schnell wie möglich warnen und mit ihm die Stadt verlassen. Aus irgendeinem Grund war ihr Ankommen unbemerkt geblieben. Vielleicht war Blue gerade bei Rocko und tauschte sich mit dem Arenaleiter aus, oder er war auf Toilette, so wie Nicole. So oder so, sie konnten nicht riskieren, hier zu bleiben. Sie mussten weiter.

Chris wartete, bis Nicole abgespült und ihre Kabine verlassen hatte, wartete dann noch einige Minuten, nur zur Sicherheit, und kehrte schließlich mit pochendem Herzen in den Empfangsraum zurück, wo Joy bereits auf sie wartete. Chris sah sich hektisch um, doch sie hatte Glück. Bis auf zwei junge Trainer, die wohl von ihrem Training zurückgekommen waren und nun ihr Abendessen verschlangen, waren sie allein.

„Da bist du ja wieder“, sagte Joy lächelnd und reichte Chris ihren Pokéball. „Möchtest du heute hier übernachten? Mit einer Trainer-ID bekommst du Rabatt auf die Zimmer.“

„Nein, danke“, sagte Chris und steckte den Pokéball in ihren Gürtel. Ihre Finger juckten. Die Trainer-ID! Die hatte sie völlig vergessen. Ursprünglich hatte sie eine in Vertania City beantragen wollen, aber dieser Plan war nicht aufgegangen, und genauso wenig hatte sie Zeit, sich hier um eine zu kümmern. Sie konnte nur hoffen, dass sie ihre Verfolger bis Azuria City abschütteln würden.

Draußen brannte die späte Nachmittagssonne auf sie herab. Sie zog den Strohhut zurecht, den sie im Pokécenter abgelegt hatte und machte sich auf die Suche nach Jayden. Am Pokécenter war er nicht, vielleicht hatte er sich etwas weiter entfernt versteckt. Prüfend sah Chris sich um. Jayden entdeckte sie nicht, dafür Blue und Nicole, die Hand in Hand auf der anderen Seite der Straße standen und küssten.

Angewidert sah Chris weg und lief in die andere Richtung. Die Hitze formte Schlieren in der Luft, die über dem Steinpflaster flimmerten. Links von ihr erhob sich eine erhöhte Parkanlage, aus der dumpfe Rufe und Kampfgeräusche schallten. Trainer vermutlich, die einen Übungskampf austrugen. Chris lief zu einer alten Dame, die auf einer Bank saß und in einem dicken Wälzer las. Ihr graues Haar war hochgesteckt und trotz der Hitze lag ein roter Strickschal um ihre Schultern. Als Chris sich näherte, sah sie auf.

„Haben sie einen Jungen gesehen?“, fragte Chris. „Er ist so groß wie ich, mit hellbraunem Haar. Er trägt ein rotes T-Shirt.“

„Hm?“ Erst jetzt bemerkte Chris die Sonnenbrille, die sie trug. Zwei kugelrunde, schwarze Brillengläser verdeckten ihren Blick. „Tut mir leid, so jemanden habe ich nicht gesehen.“ Ihre Fingerkuppen fuhren über die Seiten ihres Buches. Chris blickte hinab. Statt Buchstaben konnte sie nur kleine, runde Erhebungen auf dem Papier entdecken. „Aber hier ist eben ein schreiender Junge seinem Pokémon hinterhergerannt und in den Park gelaufen. Sie müssen sich gestritten haben. Vielleicht meinst du ihn?“

„Ganz bestimmt“, nickte Chris, bedankte sich und lief los. Je näher sie dem Lärm kam, umso unruhiger wurde sie. Das waren keine normalen Kampfgeräusche. Und die Rufe klangen aus der Nähe ebenfalls weniger wie Attackenbefehle und mehr wie ... Hilfeschreie.

Sie preschte auf den Rasenplatz, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Jayden strampelnd im Griff eines großen Jungen hing und von einem Mädchen mit pinken Zöpfen wieder und wieder in den Bauch geboxt wurde. Zwei andere Jungen standen lachend daneben, und Glumanda, das Chris nur dank seiner hellen Farbe im Gras entdeckte, hatte die Ärmchen über dem Kopf zusammengeschlagen, um sich vor den Steingeschossen eines Georoks zu schützen.

Mit einem Mal sah Chris nicht mehr Jayden, sondern sich selbst, wie sie als kleines Mädchen in einer Ecke kauerte und flehend die Hände ausstreckte, bevor der Gürtel ihres Vaters auf sie herabsauste.

Schlag.

Willst du mich blamieren?

Schlag.

Hätte deine Mutter doch nur einen Jungen geboren, statt dir.

Schlag—Was—schlag—kannst—schlag—du—schlag—eigentlich—

„AUFHÖREN!“ Chris stürzte sich auf das Mädchen, sprang ihr von hinten auf den Rücken und umklammerte ihren Hals. „Lass meinen Freund in Ruhe!“

Das Mädchen ruckte unter ihr und plötzlich war oben unten und Chris schlug mit dem Rücken flach auf dem trockenen Gras auf. Der Aufprall presste ihr die Luft aus den Lungen und sie schnappte nach Atem.

„Wer ist das denn?“, fragte das Mädchen und schüttelte die behandschuhten Hände aus. Mit dem Unterarm wischte sie sich über den Mund. „Deine kleine Freundin?“

„Ch-chris?“

Chris sah zu Jayden auf. Seine Nase war blutig, sein linkes Auge zugeschwollen und Tränenschlieren klebten auf seinen Wangen. Heißer Zorn machte sich in ihr breit. Mit einem langgezogenen Schrei rappelte sie sich auf und warf sich erneut der Pinkhaarigen entgegen, die jedoch nur zur Seite sprang und ihr mit einem Schlag gegen die Schulter das Gleichgewicht nahm.

Chris spuckte Gras aus, das ihr beim Fallen in den Mund geraten war und starrte zu dem Mädchen hinauf, das sie mit verschränkten Armen begutachtete.

„Chloe, meinst du, sie hat mehr Geld als der Kleine hier?“, fragte einer der beiden Jungen, die bisher nur belustigt dem Schauspiel beigewohnt hatten. Chris packte ihren Pokéball. Sie war noch nicht geschlagen. Niemand würde ihr Geld wegnehmen.

Chloe wiegte den Kopf. „Durchsucht sie.“ Chris machte einen Schritt zurück und hob ihren Ball.

„Ich fordere dich heraus“, fauchte sie. „Wenn ihr verliert, lasst ihr uns in Ruhe und gebt uns das Geld zurück, das ihr gestohlen habt.“

„Oho.“ Chloe grinste und winkte ihr Pokémon, das Georok, zu sich. „Dann lass mal sehen, was jemand wie du so drauf hat.“ Mit einer Hand fischte sie ein kleines Stoffetui aus ihrer Hosentasche und ließ es aufklappen. Drei Orden blitzten Chris daraus entgegen. „Sicher, dass du immer noch kämpfen willst?“

Mit einem Wutschrei entließ Chris ihr Pikachu, das sie den gesamten Morgen über trainiert hatte. Ohne es mit den Pokédex zu überprüfen, wusste sie nicht, wie stark es inzwischen war, aber sie würde nicht kampflos aufgeben.

„Pikachu, Rutenschlag!“

„Steinpolitur, Dude“, rief Chloe ihrem Pokémon unbekümmert zu. Chris‘ Pikachu, das sich in einem roten Lichtstrahl materialisiert hatte, sah sich einen Moment lang desorientiert um, bevor es vor schoss und mit seinem blitzförmigen Schweif auf das Georok einhieb. Das Gesteinpokémon schüttelte die Attacke mit einem Schulterzucken ab. Es rollte sich zusammen und rotierte, so schnell, dass Chris glaubte, es würde jeden Moment davonschießen. Als es endlich zur Ruhe kam, glänzte der zuvor matte Steinmantel wie frisch geölt, die scharfkantigen Ecken bedrohlich blitzend.

„Donnerschock!“, befahl Chris. Chloe lachte schallend.

„Eine Elektroattacke gegen einen Bodentyp? Anfängerfehler! Dude, beende es mit Steinwurf.“

Chris’ Lippen bebten, als sie mit ansah, wie Pikachus Donnerschock wirkungslos an dem Steinkörper des Georoks abprallte. Sein Gegner stieß beide Pranken tief in den Erdboden und zerrte einen Steinbrocken in Größe eines Fußballs an die Oberfläche, mit dem es einarmig ausholte.

„Weich aus!“, schrie Chris, aber Pikachu stand regungslos, die Augen in Panik weit aufgerissen.

„G-glut!“

Ein orangegelbes Geschoss traf das Georok von hinten, klammerte sich an seinem runden Rücken fest und spie eine heißglühende Flamme von oben in sein Gesicht. Georok ließ den Brocken fallen und griff stattdessen nach Glumanda, das sich auf Jaydens Befehl hin zurück in den Kampf gestürzt hatte.

Schweiß tropfte Chris‘ Nasenspitze hinab. Pikachu hatte sich wieder gefangen, aber es war nutzlos gegen einen Bodentyp. Was sollte sie machen? Was sollte sie nur machen?

„Zwei auf einmal?“, fragte Chloe und wies den großen Jungen an, Jayden runterzulassen. „Also gut. Zeigt mal her, was ihr drauf habt!“

Chris stieg Hitze in die Wangen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so gedemütigt gefühlt. Aber sie wusste, was sie tun musste. Glumanda war ihre einzige Chance. Also musste Pikachu es unterstützen, koste es, was es wolle.

„Bedräng es mit Rutenschlag!“, befahl sie ihrem Partner, der einen kurzen Moment zögerte, sich dann jedoch zurück ins Gefecht warf.

„Nochmal Glut, lass dich nicht abschütteln!“

Jayden kniete am Boden, sein rechtes Auge inzwischen vollständig zugeschwollen. Selbst aus einigen Metern Entfernung konnte Chris erkennen, dass seine Hände zitterten. Sein Rucksack lag aufgerissen neben ihm.

Eine weitere Feuersalve traf Georok, das gleichzeitig von Pikachus stetigem Rutenschlag aus dem Gleichgewicht gebracht wurde. Chris hielt den Atem an. Sie hatten es fast geschafft. Sie würden gewinnen!

Georok warf sich mit voller Wucht auf den Rücken und begrub Glumanda unter sich, sprang auf und packte den Felsen, den es eben zu Boden hatte fallen lassen. Es holte aus. Pikachu, das gerade im Sprung war, konnte nicht ausweichen, und der Steinwurf traf es genau auf die Brust. Der gelbe Körper wurde von der Wucht der Attacke zurückgeschleudert. Chris sprang zur Seite und fing die kleine Elektromaus auf, bevor sie unter dem Stein zerquetscht wurde.

Von einem Moment auf den anderen war der Kampf vorbei.

„Nehmt ihnen ihre Sachen ab“, sagte Chloe, offensichtlich unbeeindruckt von ihrem schnellen Sieg. Chris lag noch immer wie in Trance am Boden, ihren besiegten Starter an die Brust gepresst, als plötzlich Hände an ihrem Rucksack zerrten. Schreiend trat sie um sich, packte einen Knöchel, der neben ihr ihr auftauchte, und verbiss sich darin.

„AU!“ Der Fuß riss sich los und trat nach ihrem Gesicht, traf sie an der Wange. Schmerz explodierte in ihrem Gesicht und sie rollte winselnd zur Seite.

„Das wird euch eine Lehre sein“, sagte Chloe und trat über Chris in ihr Sichtfeld. „Was können zwei blutige Anfänger schon gegen jemanden ausrichten, der Major Bob in die Knie gezwungen hat?“

„Mit deinem Georok dürfte das keine allzu große Herausforderung gewesen sein, schätze ich“, ertönte plötzlich eine kühle Stimme. Durch verschmierte Augen sah Chris zu der gebückten Gestalt auf, die sich ihnen näherte, einen Stock vor sich her schlagend wie ein Pendel. Die runden Brillengläser blitzten, als die alte Frau von der Bank sich zu ihrer vollen Größe aufrichtete. „Wenn deine Mutter dich so sehen könnte …“, sagte sie und schüttelte traurig den Kopf. „Was ist nur in dich gefahren?“

„Roberta“, zischte Chloe. Unruhe kam über die Gruppe. Die Pokémon sprangen an die Seite ihrer Trainer, die Jungen flankierten Chloe von beiden Seiten. „Wolltest du dich nicht in Zukunft aus Konflikten raushalten?“

„Das war mein Plan“, gestand die Frau namens Roberta. „Aber wenn die Enkelin meiner besten Freundin sich aufführt wie ein Rocket Rüpel, dann kann auch ich nicht mehr still daneben stehen. Drei Orden hast du also schon? Mal sehen, wie du dich gegen jemanden schlägst, der damals die Top Vier herausgefordert hat.“

„Das war vor fünfzig Jahren“, sagte Chloe, aber Chris hörte ein Zittern in ihrer Stimme. „Deine Zeit ist lange vorbei.“

„Wir werden sehen.“ Roberta zog einen Pokéball unter ihrem Schal hervor. An ihrer Seite erschien ein ernst dreinschauendes Nockchan, das die behandschuhten Fäuste spielerisch kreisen ließ. „Himmelhieb“, befahl sie, und bevor Chloe auch nur reagieren konnte, überbrückte das Kampfpokémon mit einem einzigen Satz die vier Meter, die es von dem Georok trennten, und schlug mit der rechten Faust von unten gegen dessen Gesicht.

Die Wucht der Attacke riss Georok von den Füßen und schleuderte es mehrere Meter durch die Luft,  bevor es zu Boden krachte und bewusstlos liegen blieb. Nockchan tänzelte in Boxerhaltung auf der Stelle.

„Möchte noch jemand sein Glück versuchen?“, fragte Roberta freundlich. „Du vielleicht, Boyd? Erik? Oleg? Nein? Wie schade.“ Sie rief ihr Pokémon zurück. „Dann wäre ich euch jetzt sehr verbunden, wenn ihr den beiden Trainern ihre Sachen und ihr Geld zurückgebt. Schön hurtig.“

Chloe zischte, warf Chris jedoch ihren Rucksack zu. Einer der Jungen schleuderte Jayden eine Geldbörse und lose Scheine in den Schoß. Die Pokémon wurden zurückgerufen, und so schnell der Kampf begonnen hatte, so schnell waren sie mit Roberta alleine.

Sie tastete sich mit ihrem Stock vor, bis sie Chris erreichte und half ihr auf die Füße. „Es tut mir leid, dass ich nicht früher gekommen bin“, sagte sie mit bitterer Stimme. „Chloe fordert oft Trainer heraus. Es hat eine Weile gedauert, bis ich gemerkt habe, dass sie dieses Mal nicht fair spielt. Hat sie euch wehgetan?“

Chris schüttelte den Kopf, bemerkte erneut die Brille der Frau, und verneinte stattdessen. „Aber mein Freund ist verletzt“, sagte sie und lief zu ihm hin. Jayden war inzwischen zu Glumanda gekrochen, das schwer atmend im Gras lag und mit den Augenlidern zuckte. Er nahm es behutsam in die Arme. Sein Gesicht sah fürchterlich aus.

„Er braucht einen Arzt“, stellte Chris fest und half ihm auf die Füße, kaum dass er Glumanda zurückgerufen hatte.

„Ich begleite euch ins Pokécenter“, sagte Roberta grimmig. „Es gibt dort ohnehin jemanden, mit dem ich reden muss.“

Jayden – Akt 2, Szene 2

8 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Jayden fühlte sich wie von einem Rihorn überrannt. Chris hatte seinen Arm um ihre Schulter geschlungen und half ihm, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Er hing gekrümmt über ihr, sein Bauch ein einziger, schmerzender Fleck und sein Auge tränte unentwegt. Getrocknetes Blut klebte an seiner Lippe und seinem Kinn.

Die alte Frau namens Roberta ging voran. Inzwischen war Jayden klar geworden, dass sie blind war, aber er hatte erschreckend lange für diese Erkenntnis gebraucht. Seine Gedanken hingen in einem Sumpf aus zähflüssigem Schlamm fest.

Er wollte nicht in das Pokécenter, nicht nachdem Chris ihn flüsternd vor den Postern gewarnt hatte, die dort hingen, aber was konnte er tun? Er konnte kaum noch aufrecht stehen, und Glumanda brauchte dringend eine Heilung, genau wie Chris‘ Pikachu. Das Georok war stark genug gewesen, um mühelos gegen zwei Pokémon zu gewinnen. Es kämpfte in einer ganz anderen Liga.

Und trotzdem hat Nockchan es mit einer einzigen Attacke weggefegt.

Jayden schluckte. So dankbar er Roberta war, so sehr flößte die alte Dame ihm Angst und Respekt ein. Vorerst war sie noch auf ihrer Seite. Was würde sie tun, wenn sie erfuhr, dass Jayden ebenfalls nicht besser als ein gewöhnlicher Rocket war?

Die Scham und Schuldgefühle schmeckten bitter. Jayden presste das gesunde Auge zusammen, um die Tränen zu vertreiben. Er wollte Glumanda nicht aufgeben. Egal wie viele Scherereien es ihm machte, als es so verletzt dagelegen hatte, war ihm bewusst geworden, wie sehr ihm das kleine Pokémon bereits am Herzen lag. Es abzugeben, war keine Option mehr. Er musste mit seiner Entscheidung leben und weitermachen.

Das Sirren der Türen riss Jayden aus seinen Gedanken und er hob mühsam den Blick. Das Pokécenter war leer, nur eine Joy stand hinter der Theke und trat fluchend gegen die Heilmaschine.

„Blödes Miststück!“

„Begrüßt man so eine alte Freundin?“, fragte Roberta schmunzelnd. Joy riss den Kopf herum, nahm die Gruppe in Augenschein und seufzte laut auf.

„Was machst du denn hier?“, fragte sie und kam hinter dem Tresen hervor. „Und was ist mit dem Jungen passiert? Liebe Güte, bring ihn hier rüber.“

Zum zweiten Mal in einer Woche fand Jayden sich in dem Behandlungsraum eines Pokécenters wieder. Die hier arbeitende Joy war ihm jedoch tausendmal lieber als der Muskelprotz aus Vertania City.

Während Joy sein Nasenbluten mit kleinen Wattebäuschen stopfte und einen Verbandskasten mit Desinfektionsmitteln und Verbänden hervorkramte, streckte Roberta eine Hand aus. „Gebt mir eure Pokébälle, ich kümmere mich um die beiden.“

Joy sah auf. „Weißt du noch, wie die Maschine funktioniert?“

„Dieser neumodige Schnickschnack am Eingang? Nein. Aber die alte Dame im Lager kenne ich noch gut.“

Jayden reichte ihr seinen Pokéball. Chris tat es ihm gleich. Die beiden tauschten einen vielsagenden Blick. Wenn die blinde Frau die Heilung übernahm, kamen sie vielleicht doch noch unentdeckt hier raus.

Als Roberta zurückkehrte, war Joy bereits mit den größten Wunden fertig. Sie tupfte gerade die Platzwunde an seiner Schläfe ab, als das Klacken ihres Stocks ihr Kommen ankündigte.

„Möchtest du mir jetzt erzählen, was passiert ist?“, fragte Joy ruhig. „Wer hat den Jungen so zugerichtet? Das war kein normaler Fall oder Pokémonangriff im Gras.“

„Ihr Name war Chloe“, sagte Chris. Jayden sah zu, wie die Züge der Joy entgleisten. „Sie hat Jaydens Geld gestohlen und ihn dann verprügelt.“

„Ich muss dazusagen, dass mein Pokémon zuerst ihre Rücksäcke abgefackelt hat“, gab Jayden fairerweise zu. „Sie hat also nicht ganz grundlos angegriffen.“

Joy starrte ihn immer noch an. Ihr Blick wanderte über sein zugerichtetes Gesicht, so als sähe sie zum ersten Mal wirklich den Schaden, der angerichtet worden war.

„Das kann nicht sein“, sagte sie nach einer Weile. „Meine Tochter … sie mag kein einfaches Mädchen sein und sie hat gerade eine rebellische Phase, aber das würde … das würde sie nicht tun.“

„Ich fürchte, die Kinder haben Recht“, sagte Roberta und tastete nach Joys Schulter, um sie zu drücken. „Chloe ist auf Abwege gekommen. Sie ist wütend auf jeden, am allermeisten auf sich selbst, und sie zögert nicht, in ihrer Wut blind um sich zu schlagen.“

„Als sie nicht in meine Fußstapfen treten wollte, habe ich versucht, sie zu verstehen“, flüsterte Joy. „Seit vier Generationen heilt meine Familie Pokémon, und Chloe wollte mit dieser Tradition brechen. Aber ich habe sie ziehen lassen. Und das ist, was auf ihren Reisen aus ihr geworden ist? Oh, dieses Mädchen, wenn ich sie in die Finger kriege!“

„Ich werde ihr weiter folgen“, versicherte Roberta. „Wer weiß, vielleicht dringe ich noch zu ihr durch.“

Joys Augen wanderten zu der blinden Frau. „Ich danke dir, Roberta. Ich weiß, dass du lieber deine Zeit zuhause genießen würdest, als ihr hinterherzujagen. Das sehe ich nicht als selbstverständlich an. Und Kora würde das auch nicht tun.“

Das Lächeln der Alten wurde brüchig. „Das weiß ich. Danke für deine Worte, Teresia.“

„Teresia?“, murmelte Jayden. „Heißen Sie nicht Joy?“

„Natürlich nicht“, lachte Joy und machte sich wieder an die Arbeit, ihren Koffer einzupacken. „Hast du geglaubt, jede Person, die Schwester Joy wird, heißt auch so? Das ist ein Titel, den wir übernehmen, um weitreisenden Trainern in jedem Pokécenter einen bekannten Zufluchtsort zu gewähren. Eine fremde Stadt ist gleich viel weniger angsteinflößend, wenn man weiß, wie die Frau hinter der Theke heißt, die sich um die verletzten Pokémon kümmert. Es fördert das Vertrauen. Aber mein richtiger Name ist Teresia.“

„Dann danke, Teresia“, sagte Jayden und betastete den Verband über seinem Auge.

Sie schmunzelte ihn an, ein Hauch von Trauer in ihren Augen. „Gern geschehen. Auch wenn ich wünschte, dass es nicht nötig gewesen wäre.“

 

 

Sie verließen das Pokécenter unter viel Aufhebens von Joy, die ihnen unbedingt ein Zimmer anbieten wollte, aber da Jaydens Trainer-ID seinen Namen verriet und Chris noch keine besaß, wimmelten sie Chloes Mutter mit Ausreden von Freunden, bei denen sie übernachten wollten, ab und flohen förmlich nach draußen.

Jayden ging schnellen Schrittes los, doch Chris packte ihn am Arm und zog ihn zurück in den Schatten des Pokécenters. „Was denn?“, murrte er und riss sich los.

„Guck mal nach oben.“

Jayden hob den Kopf. Sein Herz machte einen Purzelbaum, als er das Tauboss entdeckte, das gerade über der Stadt seine Kreise zog. Auf seinem Rücken konnte er zwei Gestalten ausmachen.

„Blue und Nicole“ stöhnte er und presste sich gegen die Hauswand. „Wir sind geliefert!“

„Sind wir nicht. Siehst du den Berg dort hinten?“ Chris deutete nach Süden, wo sich auf Höhe der Wildwiesen eine kleine Felskuppe emporhob. „Ich habe Roberta gefragt, wo wir ungestört von Chloe trainieren können, und sie sagte, wir können den Digdatunnel benutzen. Er führt direkt nach Orania City und wir können unsere Schwächen gegen Boden- und Gesteinpokémon ausmerzen.“

„Wollen wir nicht abhauen?“, fragte Jayden. „Blue ist hier. Früher oder später werden sie uns auf dem Weg zum Pokécenter entdecken.“

Chris warf ihm einen abfälligen Blick zu. „Ich gehe nicht, bevor ich Chloe nicht besiegt habe. Sie hat uns gedemütigt. Wir werden es ihr heimzahlen.“

Jayden sah seine eigentümliche Freundin an. Er hatte sie noch nie so leidenschaftlich gesehen. Und er musste zugeben, dass ihr Vorschlag unglaublich gut klang. Chloe und ihren Speichelleckern eins auswischen? Das war das Risiko der Entdeckung wert. „Machen wir es“, stimmte er Chris zu und hielt ihr seine Faust hin. Sie starrte die Hand verwundert an. „Du musst mit deiner Faust dagegen schlagen“, erklärte er.

Chris hob zaghaft ihre Hand. „Warum?“

„Keine Ahnung“, sagte Jayden stirnrunzelnd. „Aber das macht man so, wenn man cool ist und sich auf etwas einigt. Oder so. Ich hab da noch nie so genau drüber nachgedacht.“

„Vielleicht solltest du das mal“, sagte Chris und schlug mit voller Wucht gegen seine Faust.

„AU!“

Jayden – Akt 2, Szene 3

8 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Bevor sie sich auf den Weg zur Höhle machten, nutzte Chris die Gelegenheit, sich im Pokémarkt mit zahllosen Tränken einzudecken. Dafür nutzte sie Jaydens letztes Geld, aber sie wussten beide, dass sie keine weiteren Trips zum Pokécenter riskieren konnten, solange Blue und Nicole noch die Stadt patrouillierten und bei jeder Heilung die Gefahr bestand, dass Jayden von Schwester Joy als der Glumandadieb entlarvt wurde.

Eine halbe Stunde später waren sie jedoch wieder unterwegs und verließen die Stadt so unauffällig wie möglich Richtung Süden, immer mit dem Blick Richtung Himmel, nach Blues Tauboss Ausschau haltend. Als sie endlich an ihrem Ziel ankamen, seufzte Jayden erleichtert auf. Er reckte den Kopf und betrachtete kritisch den Berg, von dem Chris gesprochen hatte. Es war eher eine Ansammlung aus zahllosen Felsen, die zu einem Hügel aufgetürmt waren. Es gab außerdem keinen Eingang. Sie waren von der Höhle durch dichte Hecken und Bäume abgeschnitten.

„Und jetzt?“ fragte er. „Wie kommen wir dort rein?“

Chris schob ihren Strohhut zurück, der inzwischen einige Dellen und Risse aufwies und folgte seinem Blick. „Ich weiß nicht“, gestand sie nach einigen Sekunden. „Roberta hat davon nichts gesagt.“

Jayden schlug sich gegen die Stirn. „Natürlich nicht … Sie hat in der Liga gekämpft, und Chloe hat schon drei Orden. Wahrscheinlich kommen sie mit ihrem Pokémon ganz einfach hinein. Wir aber eben nicht!“

„Es muss einen Weg reingeben“, entgegnete Chris und begann sofort, die Hecken und Bäume abzugehen. Dazu rief sie Pikachu, das nach einer kurzen Erklärung ihrerseits die Suche ebenfalls aufnahm und als kleiner gelber Blitz durchs Gras flitzte.

Jayden sah ihr missmutig nach. Wie konnte es sein, dass Chris und ihr Pokémon zu schnell eine so gute Bindung aufgebaut hatten?

Weil sie ihr Pikachu so akzeptiert, wie es ist, kam sofort der unliebsame Gedanke, als er dabei zusah, wie Pikachu auf Chris‘ Rücken sprang, ihr den Hut klaute und mit aufgeregten Fiepen davonzischte. Chris machte sofort kehrt und lief ihrem Starter hinterher, aber es war ein Grinsen in ihrem Gesicht, während sie das tat. Egal welchen Schabernack es treibt, sie würde es deswegen nicht bestrafen. Genauso wenig wie du sie dafür bestrafst, keine Wortwitze zu verstehen.

Jayden schluckte, doch dann fasste er einen Entschluss. Mit dem Keckern des Pikachu und Chris‘ Schreien im Hintergrund, setzte er sich auf den Boden und rief sein Glumanda. Es materialisierte sich in gekrümmter Haltung, Kopf beschämt zu Boden hängend. Jaydens Augen füllten sich bei dem Anblick mit Tränen. „Komm her“, schniefte er und öffnete seine Arme.

Glumanda hob den Kopf, so als könnte es seine Worte nicht ganz glauben, dann hopste es an seine Brust und presste sich eng gegen ihn.

„Es tut mir leid, dass ich dich so lange ignoriert habe“, flüsterte Jayden und hielt den kleinen Echsenkörper fest umklammert. „Ich hatte Angst, dass ich dich nicht kontrollieren kann und in deinem Training Fehler mache, aber dich in deinem Ball festzuhalten, war noch viel schlimmer. Ab jetzt arbeiten wir zusammen, okay? Komme was wolle.“

Glumanda grummelte glücklich und schwenkte den feurigen Schwanz aufgeregt, dessen Flamme bei Jaydens Worten aufgelodert war und nun drohte, seine Hände zu versengen. Aber Jayden kümmerte sich nicht darum. Er hatte mit seinem Pokémon Frieden geschlossen. Zumindest vorerst, und dass ironischer Weise gerade weil es Chloes Besitztümer verbrannt hatte.

„Hier!“, ertönte plötzlich Chris‘ Ruf. Jayden rappelte sich mit Glumanda im Arm auf und lief zu seiner Freundin hinüber, die mit Pikachu auf der Schulter vornübergebeugt zwischen den Hecken stand. Vor ihr erhob sich ein dürrer, in sich gewundener Baum, der den einzigen Durchgang in den sonst so dichten Sträuchern versperrte. „Da müssen wir durch“, verkündete sie und richtete sich auf.

Jayden besah sich das Bäumchen kritisch. Es war dünner als andere Bäume, das stimmte schon, aber es sah nicht so als, als könnten sie es ohne Werkzeug aus dem Weg schaffen. Chris war unterdessen bereits damit beschäftigt, ihren Rucksack zu durchsuchen und förderte einige Sekunden später eine große Schere zu Tage.

„Ist das nicht deine Haarschere?“, fragte Jayden.

Chris sah ihn durchdringend an. „Ja. Woher weißt du das?“

Jayden öffnete den Mund und lief knallrot an. „Nur geraten …“, murmelte er und kratzte sich am Hinterkopf. Schweiß und Dreck klebten an seinem Nacken. Angewidert zog er die Hand weg. Obwohl inzwischen Abend war, schien die Sonne weiterhin gnadenlos auf sie herab. Jayden beneidete Chris um ihren Hut. „Aber was hast du damit vor?“

„Den Baum zerschneiden.“

Jayden lachte, bis im klar wurde, dass sie es todernst meinte. „Ich bin nicht sicher, ob du das mit einer normalen Schere hinkriegst“, sagte er und nickte Richtung Äste, die sich mit den Hecken verschlungen hatten und nicht gerade dünn waren. Glumanda, das noch immer in seinen Armen saß, wand sich aus seinem Griff und sprang zu Boden. Pikachu tat es ihm gleich. Die beiden beschnupperten und betasteten den dürren Baum.

„Irgendetwas müssen wir versuchen“, entgegnete Chris unbeirrt. Während sie sich mit ihrer Schere an einigen der weniger dicken Äste zu schaffen machte, begutachtete Jayden den Baum von allen Seiten. Das musste eine dieser Pflanzen sein, die von Trainern gerne mit der Attacke Zerschneider zerstört wurde, um Abkürzungen auf ihrer Reise zu schaffen. Aber es musste auch andere Attacken geben, mit denen man einen Baum aus dem Weg schaffen konnte—

Glumanda öffnete den Mund und spie eine kleine Flammenzunge auf den Baum. „Glumanda!“, schrie Jayden sofort in Panik und packte schon seine Wasserflasche, um den Brand im Keim zu ersticken, doch da sah er, dass die Glutattacke nur ein dünner Strahl war, den Glumanda gekonnt auf den Ansatz eines der dickeren Äste gezielt hatte. Das Feuer kokelte das Holz zunächst nur an, doch nach einigen Sekunden begann es zu qualmen und fing schließlich an zu brennen. Als die Flammen drohten, auf die Hecken überzugreifen, kippte Jayden rasch einen Schwall aus seiner Wasserflasche darauf. Chris hob einen Fuß und trat mit Schwung gegen die verbrannte Stelle. Der Ast brach knackend ab und fiel zu Boden.

Pikachu quietsche begeistert und sprang seiner Trainerin auf den Kopf, wo er sich im Strohhut festkrallte und mit den Pfoten das weitere Vorgehen dirigierte. Chris schwitzte, aber als sie Jayden ansah, glühten ihre Augen.

Jayden seufzte, erwiderte ihren Blick aber mit einem Grinsen. „Okay, Glumanda“, befahl er, „das gleiche noch mal mit dem Ast da. Glut, los!“

 

 

„Uff …“, stöhnte Jayden, als er sich einige Stunden später völlig ausgelaugt auf den rauen Erdboden am Eingang der Höhle fallen ließ. Alles um sie herum, von den lehmigen Wänden und dem festgetretenen Boden bis hin zu der niedrigen Decke, war von kleinen Löchern durchsetzt, deren Ursprung wohl die Namensgeber der Digda-Höhle waren. Inzwischen war es schon später Abend. Er wollte sich nur zusammenrollen und schlafen, ganz gleich, ob ihn kleine Steine in den Rücken piksten.

„Was machst du da?“, wollte Chris von über ihm wissen. Sie hatte den Hut abgenommen und an einer Kordel um ihren Hals hängen, sodass er auf ihrem Rucksack ruhte. Sie deutete auf eine morsch aussehende Leiter, die in der Mitte des Höhleneingangs durch ein Loch tiefer ins Innere des Erdreichs führte. „Wir müssen weiter.“

„Können wir unser Lager nicht hier oben aufschlagen?“, murrte Jayden und setzte sich widerwillig auf. „Ich glaube nicht, dass wir verfolgt wurden. Hier oben werden wir genauso wenig gefunden werden wie weiter unten.“

Nun war es an Chris, ihn verdutzt anzusehen. „Lager?“, fragte sie. „Wir schlagen unser Lager nicht auf. Wir müssen trainieren.“

„Jetzt?!“

„Ja, jetzt. Es bleibt keine Zeit zu verlieren. Wir werden nicht ruhen, bis wir bereit sind, Chloe herauszufordern und unsere Ehre zurückzuerlangen.“

„Du machst mich fertig …“, stöhnte Jayden, stand aber gehorsam auf. „Was sagst du, Glumanda? Hast du noch genug Energie für eine Trainingseinheit?“

Die gelb-goldene Feuerechse sah ihn erschöpft an, aber genau wie Chris schien die Niederlage seinen Starter sehr gekränkt zu haben. Die Schwanzflamme loderte kräftiger auf und Glumanda nickte heftig.

So machten sie sich also aller Müdigkeit zum Trotz auf den Weg nach unten. Das Holz der Leiter war glitschig mit kalter Erde, die von anderen Reisenden darauf verschmiert worden war, aber zum Glück dauerte ihr Abstieg nicht lange. Als sie unten ankamen, kniff Jayden die Augen zusammen. Bis auf den schwachen Lichtstrahl, der von oben herabfiel, war es stockduster. Er konnte den lehmigen und feuchten Geruch überall um sie riechen, und hörte das Grummeln in der Erde, durch die vermutlich zahllose Digda ihre Tunnel buddelten.

„Eine Taschenlampe hast du vermutlich nicht?“, schlussfolgerte Jayden. Chris schüttelte unbeirrt den Kopf. „Na gut. Dann musst du wohl herhalten, Glumanda. Kannst du uns mit deinem Feuer den Weg zeigen?”

Glumanda nickte stolz und hob den Schwanz etwas höher, damit das Feuer die Wände erhellte. Nun entdeckte Jayden auch die Krallenspuren und größeren Löcher überall, die wohl von Pokémonkämpfen stammten. Er sah zu Pikachu, das noch immer auf Chris‘ Schulter saß, sich aber eindeutig unwohl fühlte. Es knetete die kleinen Pfötchen und sah sich mit gerümpfter Nase um.

Jayden wurde in dem Moment klar, dass sowohl Glumanda, als auch Pikachu enorme Schwächen gegenüber die Bodentypen in dieser Höhle hatten. „Ist es eine gute Idee, ausgerechnet hier zu trainieren?“, fragte er, obwohl er wusste, dass es für einen anderen Plan bereits zu spät war. Er hätte sich nicht die Mühe machen müssen, zu fragen. Chris sah ihn herausfordernd an.

„Chloe kämpft mit einem Georok. Je schneller wir lernen, trotz Nachteil zu gewinnen, umso besser.”

In dem Moment gab Pikachu ein lautes Zischen von sich. Jayden folgte dem Blick der Elektromaus und entdeckte am äußersten Rand von Glumandas Flammenschein einen brauen, runden Hubbel, der sich gegen den Erdboden abhob. „Da!“

Chris wirbelte herum und entdeckte das Digda. „Pikachu, Rutenschlag!“

Pikachu sprang vorwärts und schoss auf das Digda zu, das sich ihnen verblüfft zuwandte. Bevor Pikachu es erreichte, spie Digda ihm eine Woge aus Lehm und Erde entgegen, die Pikachu streifte und mit ihrer Wucht zu Boden riss.

„Hilf ihm, Glumanda“, befahl Jayden, der schon das Ende ihrer Trainingseinheit kommen sah. „Kratzer, los!“ Glumanda rannte auf Digda zu, das sich nun zwei Gegnern gegenüber sah und die Situation sichtlich nicht mochte. Es wirbelte eine feine Erdschicht auf, die ihre Sicht blockte, aber Pikachu hatte sich inzwischen aufgerappelt und traf mit seinem Schweif trotzdem das Ziel. Kurz danach war Glumanda zur Stelle und nutzte die geschwächte Verteidigung des Digdas, um mit ausgefahrenen Klauen einige tiefe Striemen in Digdas Seite zu hinterlassen.

„Sehr gut!“, jubelte Jayden, aber verstummte, als die Erde zu vibrieren begann. Ein zweites Digda tauchte neben dem ersten auf, größer und mit bösem Blick.

„Schnell, setz Heuler ein“, rief Chris ihrem Pikachu zu, das sich Haken schlagend in Sicherheit vor einer weiteren Lehmschelle brachte und mit einem ohrenbetäubenden Kreischen beide Digda in ihren Attacken unterbrach, sodass die Intensität des zweiten Digdas als seichtes Beben an ihnen vorüberging. Jayden schluckte und wischte sich den Schweiß von der Stirn, obwohl es in der Höhle selbst sehr kühl war. Wenn sie so weitermachten, hatten sie bald alle Höhlenbewohner an der Backe.

„Glut!“ Glumanda nickte entschlossen und preschte vorwärts, wo es einen Feuerstrahl auf das erste Digda abschoss, das von der vorigen Attacke bereits geschwächt war. „Und noch mal Kratzer!“

Glumanda holte aus, wurde jedoch von dem zweiten Digda abgelenkt, das mit solcher Geschwindigkeit seinen eigenen Kratzer ausführte, dass Jayden nicht mal sah, womit es das getan hatte. Digda hatten schließlich keine Arme. Oder doch? Das war mal ein beängstigender Gedanke.

„Lass dich nicht unterkriegen!“, feuerte er sein Pokémon an. Glumanda warf ihm einen dankbaren Blick zu, rappelte sich auf und preschte von neuem auf seine Gegner zu. Pikachu tanzte inzwischen von einer Seite zur anderen und alternierte zwischen Rutenschlag und Heuler, um die Verteidigung der Digda zu schwächen.

Glumandas Kratzer traf zum dritten Mal und das kleinere der Digda sackte bewusstlos zur Seite. Sein Partner kniff vor Wut die Augen zusammen. Erneut bebte der Boden unter ihnen, und kleine Steine und Erdbrocken lösten sich in Kaskaden von den Wänden und der Decke und regneten auf sie herab. Jayden wischte sich den Dreck aus den Augen.

„Weicht der Intensität aus!“, befahl Chris unbeirrt. Ihre Augen leuchteten wie Glumandas Feuer und der rote Schein seiner Glutattacken ließ flackernde rote Lichtreflexe über ihr Gesicht tanzen. Sie sah wild aus.

Jayden riss sich von dem Anblick los und widmete sich wieder dem Kampf. Glumanda spie eine Feuerwoge auf das Digda, das sich in den Flammen wand und ungeschützt gegen Pikachus Heuler blieb. Das schrille Kreischen hallte in Jaydens Ohren. So müde er eben gewesen war, so sehr pochte nun sein Herz und er spürte, dass sich ein Grinsen auf sein Gesicht geschlichen hatte.

„Rutenschlag!“

„Kratzer!“

„Heuler!“

„Glut!“

Gegen zwei Gegner war das Digda nicht gewappnet. Pikachus stetige Statusattacken hatten es zu sehr geschwächt, um noch Schaden mit seinen Attacken anzurichten, oder sich selbst gegen die feindlichen Angriffe zu schützen. Nach einer besonders heißen Glut sackte auch ihr zweiter Gegner in sein gebuddeltes Loch zurück. Jayden sprang jubelnd auf und fiel Chris um den Hals, die seine Umarmung unbeholfen mit einem Arm erwiderte, seine Euphorie jedoch sichtlich teilte. Auch ihre Pokémon waren begeistert von dem hart erkämpften Sieg. Pikachu und Glumanda sprangen einander in die Arme und tanzten im Kreis herum.

Ein Zittern des Erdreichs unter ihren Füßen unterbrach sie. Jayden und Chris fanden sich auf einmal drei Digda gegenüberstehend, die drohend näherkamen und aus frisch gegrabenen Erdhügeln herausguckten.

„Bereit für die zweite Runde?“, fragte Chris. Sie zückte ihre Tränke, die sie im Pokémarkt gekauft hatte und frischte ihre Pokémon auf. Jayden nickte. Seine Müdigkeit war endgültig verflogen.

Wer brauchte schon Schlaf, wenn er kämpfen konnte?

Chris – Akt 2, Szene 3

8 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Glumanda entwickelte sich einige Stunden, nachdem sie die Höhle betreten hatten. Vielleicht war es auch der nächste Tag. Jayden kniete vor seinem Pokémon auf dem Boden und krallte die Finger in die Erde, so aufgeregt war er. Sein Starter glühte silbern auf, wuchs an, bis er gut einen Meter maß. Als das Licht erlosch, blieb ein golden geschupptes Glutexo zurück, das seinen hellen Bauch kratzte und geräuschvoll Rauchringe durch die Nasenlöcher blies.

 

Trainer und Pokémon sahen einander stumm an. Dann begann Jayden zu weinen und umarmte seinen Starter innig, der den Gefühlsausbruch geduldig über sich ergehen ließ. Chris verstand nicht ganz, weshalb Jayden weinte, denn er lachte gleichzeitig, aber sie vermutete, dass es so ähnlich sein musste, wie wenn sie Zwiebeln schnitt.

 

Nach diesem Ereignis verlor Chris jegliches Zeitgefühl. Die Tage flossen ineinander, ein Rausch aus Kämpfen und kurzen Ruhepausen, unterbrochen von dem Beben der Erde und dem Echo ihres Atems. Sie quetschten Essen und Trinken zwischen ihre Trainingsschichten und versuchten, hier und da einige Stunden Schlaf an die kühlen Wände gelehnt zu finden.

Ihre Pokémon begannen, als Einheit zu kämpfen. Chris und Jayden taten das ebenfalls. Als sie zum ersten Mal einen Kampf dirigierten, ohne einander anschauen zu müssen, während sie ihre Befehle riefen, spürte Chris eine tiefe Verbindung, die sie und Jayden verband. Sie begann vorherzusagen, was er sagen würde, was er dachte, wie er sich bewegte. Gleichermaßen fing Jayden sie auf, bevor sie stolperte, wachte neben ihr auf, wenn ihre Atmung sich änderte und ein Blick zwischen ihnen reichte, um ihre Absichten zu kommunizieren.

In diesen Tagen in der Digda-Höhle wurden sie eins.

Und dann, ganz schleichend, waren sie stark genug, um sich zu langweilen.

 

 

Chris rieb sich die brennenden Augen. Sie wusste nicht, wann sie zuletzt geschlafen hatte, aber ihr Körper erinnerte sie daran, dass es lange her war. Ihre Knie waren weich und sie musste immerzu blinzeln.

Jayden ging es nicht besser. Obwohl ihr Freund eingerollt mit Glutexo im Arm hinter einem leicht hervorstehenden Felsen lag, schlief er nicht gut. Seine Lider zuckten immerzu und er trat nach unsichtbaren Gegnern. Plötzlich riss er die Augen auf und sah sich um. Sein Blick fand ihren und er beruhigte sich sofort. Mit einem Ruck setzte er sich auf. Glutexo schnaubte entrüstet, als es von der Bewegung erwachte und rollte sich nur noch fester zusammen, aber Jayden schüttelte es an der Schulter.

„Weiter geht’s, Kumpel“, verkündete er und gesellte sich zu Chris, die sich nun wieder Pikachus Training widmete. Ihr Pokémon wich geschickt einer Intensität aus, indem es so schnell von einer Stelle zur nächsten sprang, dass es Abbilder hinter sich zurückließ, und schleuderte seinen kleinen Körper mit ungeheurer Wucht dem Digda entgegen, das verdutzt nach dem echten Pikachu suchte.

Der Slam traf und Digda fiel hintenüber in den Staub. Pikachu verschränkte keckernd die Arme.

„Wie lange sind wir schon hier unten?“, fragte Jayden. Glutexo rieb sich verschlafen die Augen, stürzte sich dann aber mit Pikachu ins Gefecht. Das nächste Digda ließ nicht lange warten, und Glutexo schoss mit glühenden Zähnen auf seinen Gegner zu, Pikachu gleich dahinter.

„Ein paar Tage“, schätzte Chris. Sie sah sehnsüchtig Richtung Leiter. Von oben fiel etwas Licht herein, aber da der Eingang der Digda-Höhle von Bäumen umstanden war, konnte sie nie entscheiden, ob die Sonne schien oder Vollmond war.

Jayden nickte zustimmend. Gemeinsam beobachten sie ihre Pokémon, die bereits das dritte Digda attackierten. Dunkler Rauch verdeckte die Sicht, aber dahinter konnte Chris das Glühen von Glutexos Flammen entdecken, und Pikachus Doppelteam zerriss an einigen Stellen die grauschwarzen Schwaden. „Ich glaube, wir sind bereit“, sagte Jayden mit einem Grinsen. „Chloe wird nicht wissen, wir ihr geschieht.“

Chris sagte nichts. Sie wusste, dass Jayden Recht hatte, und Jayden wusste, dass sie es wusste. Chris hob ihren Pokéball und rief Pikachu zurück. Jayden tat das gleiche. Gemeinsam wandten sie den Digda den Rücken zu und kletterten die Leiter hinauf. Hinter ihnen ertönte erleichtertes Stöhnen aus allen Richtungen.

 

 

Sie verließen die Digda-Höhle an einem wolkenlosen Morgen, der einen weiteren unerträglich heißen Nachmittag versprach. Chris trug ihren Strohhut so tief ins Gesicht gezogen, dass ihr halbes Sichtfeld verdeckt war, aber sie folgte ohnehin Jayden, der voranging und nach Chloe und ihren Kumpanen Ausschau hielt. Sie schnüffelte unter ihren Achseln und verzog das Gesicht. Sie müffelte nach Schweiß und Erde.

Obwohl es schon mehrere Tage her sein musste, hatte die Scham über ihre Niederlage gegen Chloe kein bisschen nachgelassen. Roberta mochte dem Mädchen eine Lektion erteilt haben, aber das war nur noch schlimmer. Kein Moment verging, in dem Chris sich nicht bewusst war, dass ohne Roberta ihre gesamten Habseligkeiten nun weg wären. Sie hasste das Gefühl, der alten Frau etwas schuldig oder gar auf sie angewiesen gewesen zu sein. Unwillkürlich klammerte sie sich fester an ihren Rucksack und ging mental ihre Besitztümer durch, um sich zu beruhigen. Ihre Schere, die zerkratzte Geldbörse, die zweifach gefaltete Karte, der reparierte Pokédex ihres Vaters. Einige Wasserflaschen und zerknautschte Energieriegel waren noch da, obwohl ihr gemeinsamer Vorrat sich stark reduziert hatte.

„Vorsicht.“ Jaydens Hand packte ihren Oberarm und zog sie in den Schatten eines Hauses mit überdachter Veranda. Er nickte Richtung Himmel. Chris verstand sofort. Nicole und Blue mussten wieder auf Tauboss unterwegs sein und von oben nach ihnen Ausschau halten. Sie hatte gehofft, dass die beiden inzwischen nach Azuria City weitergezogen waren, aber vermutlich behielten sie Route 3 im Blick, um sie dort abzufangen.

„Wo könnte Chloe um diese Zeit sein?“, dachte Jayden laut nach. Chris lehnte sich gegen die Hausfassade und kämpfte gegen ihre zufallenden Augen an. Sie hatten in der letzten Woche nur wenige Stunden pro Nacht geschlafen, und das zahlte sich jetzt heim. Gegessen und getrunken hatten sie auch kaum, gerade genug, um bei Kräften zu bleiben. Chris‘ Magen grummelte seit Tagen und ihre Kehle war furchtbar trocken. Sie waren so lange in der angenehmen Kühle des Digda-Tunnels gewesen, dass die angestaute Hitze an der Oberfläche sich jetzt umso unerträglicher anfühlte. Trotzdem, bevor sie Chloe nicht gefunden hatten, würde sie keine Pause machen!

„Lass uns im Park nachsehen“, schlug sie vor.

Jayden nickte gedankenverloren. „Einen Versuch ist es wert. Vielleicht haben wir ja Glück.“

Natürlich hatten sie kein Glück.

Der Park war gut besucht, Trainer in ihrem Alter und einige ältere Jugendliche und Erwachsene lieferten sich freundschaftliche Duelle oder entspannten im Schatten der hochgewachsenen Eichen mit ihren Pokémon. Von Chloe und Gelage war jedoch keine Spur. Vermutlich war deshalb auch die Stimmung so ausgelassen.

Jayden wurde unruhig, je näher sie den anderen Trainern kamen. Obwohl Glutexo in seinem Pokéball war und die Steckbriefe nie sein Gesicht gezeigt hatten, schielte er alle paar Sekunden über die Schulter und hielt den Kopf gesenkt. Chris hingegen genoss die frische Luft und den Anblick der Blumen. Eine Handvoll schwitzende Gärtner, mit Gießkannen und Wasserpokémon bewaffnet, streiften durch die ausgetrockneten Beete und taten ihr Bestes, um die Pflanzen wieder aufzupäppeln.

„Keine Spur von Chloe“, sagte Jayden nach wenigen Minuten, die sie durch den Park spazierten. „Lass uns abhauen, bevor uns jemand erkennt. Nicole und Blue sind bestimmt auch bald wieder hier.“

Chris ignorierte ihn und schälte sich von ihm weg. Sie ging geradewegs auf eine Gruppe Trainerinnen zu, die zu dritt auf einer Picknickdecke saßen und Karten spielten.

„Kennt ihr Chloe?“, fragte sie. „Habt ihr sie heute gesehen?“

Eins der Mädchen, mit pechschwarzem Haar und einem Rattfratz im Schoß, schüttelte den Kopf, ohne aufzusehen. „Nie von gehört“, verkündete sie.

„Ich schon, das ist die Tochter von Joy, oder? Die immer Ärger macht?“, warf eins der anderen Mädchen ein. „Aber gesehen hab ich sie nicht. Ist auch besser so. Wenn sie hier im Park ist, kann man nie entspannen, weil sie jeden herausfordert.“

Hinter ihr tauchte plötzlich Jayden auf, der bei den Gesprächsfetzen seine Angst kurz vergessen zu haben schien. „Wo treibt sie sich denn rum, wenn sie nicht hier ist?“

„Keine Ahnung“, erwiderte die Schwarzhaarige genervt. „Sehen wir so aus, als hätten wir etwas mit dieser Chloe zu tun?“

„Nein, natürlich nicht, ich dachte nur …“ Jaydens verhaspelte Entschuldigung brach ab, als ein Junge im Vorbeigehen in Richtung Westen deutete.

„Sie campt die Arena“, sagte er. „Heute gibt es einen Trainer, der sein Glück versucht, das hat sie Spitz gekriegt. Wenn sie nach dem Arenakampf geschwächt sind, fordert sie sie heraus und nimmt ihnen ihr Gewinngeld ab. Macht sie schon eine Weile so, es ist echt nervig.“

Chris nickte und machte auf dem Absatz kehrt. Auf zur Arena.

„Danke für eure Hilfe!“, rief Jayden hinter ihr und fiel dann in ihren Schritt ein. Chris lief mehrere Minuten neben ihm her, in denen er kein Wort sagte, was sehr ungewöhnlich war. Normalerweise musste sie sein Geschwätz ausblenden. Sie sah zu ihm hinüber.

Jaydens Gesicht war vor Wut angespannt, die Hände hatte er zu Fäusten geballt. Als er ihren Blick bemerkte, nickte er ihr knapp zu. „Ich dachte, sie hätte mich nur so fertig gemacht, weil Glutexo ihre Taschen verbrannt hat. Aber hilflose Trainer aufzugreifen scheint ihre Masche zu sein. So eine hinterhältige, feige …“ Er rang nach Worten und sah Chris schließlich mit wildem Blick an.

Chris wusste nicht, was Stricken mit all dem zu tun hatte, aber dem Rest von Jayden Ansprache konnte sie nur zustimmen. Sie drückte seine Hand. „Machen wir sie fertig.“

Jayden – Akt 2, Szene 4

8 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Jaydens Kiefer war steif vom Zähneknirschen, bis sie die Arena im nordwestlichen Teil von Marmoria City erreichten. Er konnte vor Wut kaum an sich halten, aber er sagte die gesamte Strecke über kein Wort. Seine rechte Hand rieb Glutexos Pokéball, ein stummes Versprechen, dass sie es Chloe heimzahlen würden.

Er war bereits vorher motiviert gewesen, Chloe zu besiegen. Sie und ihre Freunde hatten ihn und Glutexo übel zugerichtet, aber er war bei weitem nicht so besessen von Rache gewesen wie Chris, die tief in ihrer Ehre verletzt schien. Aber als die anderen Trainer erwähnt hatten, dass Chloe mit ihren drei Orden lieber in ihre Heimatstadt zurückkehrte um schwächere Trainer zu bekämpfen und zu demütigen, als weiterzuziehen und zu trainieren, das trieb seinen Zorn auf eine ganz andere Ebene. Wie konnte sie es wagen, so etwas Unfaires und Hinterlistiges zu tun, wie feige musste sie sein—

„Da sind sie“, riss Chris ihn mit ihrer Entdeckung aus seiner düsteren Gedankenspirale. Die Arena war von der südlichen und östlichen Richtung mit einen hohen Metallgitter und eng stehenden Bäumen vom Zugang abgeschnitten, daher waren sie außen herum gegangen und näherten sich dem Eingang nun von Norden. Jayden kniff die Augen zusammen und erspähte Chloe und den Jungen namens Boyd, die einem viel kleineren Jungen den Weg versperrten.

„Aber ich muss zum Pokécenter!“, protestierte dieser gerade mit flehendem Blick. „Ich habe nur knapp gegen Rocko gewonnen, ich kann jetzt nicht kämpfen.“

„Wenn du nicht kämpfen kannst, rück deinen Gewinn raus“, schnaufte Chloe verächtlich. Sie und Boyd hatten bereits ihre Pokémon gerufen, ihr Georok und sein Bibor hielten bedrohlich neben ihnen die Stellung.

Der Junge war eindeutig den Tränen nahe. Er sah zwischen den beiden gegnerischen Pokémon und seinem eigenen Pokémongürtel hin und her und griff schließlich mit zittrigen Händen nach seiner Geldbörse.

„Nicht so schnell!“, schrie Jayden und rannte los, Chris direkt hinter ihm. Obwohl er seit einer Woche kaum geschlafen hatte, fühlte er sich so energiegeladen wie noch nie.

Chloe und Kumpane drehten sich überrascht um. Wahrscheinlich waren sie es gewohnt, dass niemand sich ihnen entgegenstellte, und wie auch. Alle Trainer, die Rocko besiegten, reisten danach nach Azuria City weiter. In Marmoria City waren nur die schwächsten und jüngsten Trainer versammelt, und scheinbar ließen diese Chloes Gang lieber gewähren als selbst zur Zielscheibe zu werden. Jayden kam einige Meter von den beiden zum Stehen. Das würde sich heute ändern.

„Ach, wenn das mal nicht der Pokémondieb ist“, sagte Chloe verächtlich und warf ihre pinken Zöpfe zurück. „Bist du mit Wundenlecken fertig? Brauchst du noch eine Abreibung, bevor du deine Lektion lernst? Diesmal ist keine blinde Oma da, um euch zu retten.“

„Wir werden dich besiegen“, sagte Chris mit gefährlich ruhiger Stimme. Nach außen hin zeigte sie kaum Emotion, aber Jayden wusste seit ihrer Zeit in der Digda-Höhle genau, wie viel Leidenschaft und Siegeswille in seiner Freundin schlummerte. Boyd begann laut zu lachen.

„Ihr wollt Chloe besiegen? Sie hat drei Orden, ihr keinen einzigen. Vor einer Woche seid ihr noch in den Boden gestampft worden!“

„Da wir zu zweit sind, ist es nur gerecht, einen Doppelkampf zu machen“, fuhr Chris fort, ohne auf Boyd einzugehen. Sie war voll auf Chloe fokussiert. „Zwei gegen Zwei, jeder mit einem Pokémon.“

„Ha, ihr meint es wirklich ernst, oder?“, lachte Chloe und zog ihr Cappi nach hinten. „Meinetwegen, dann zeigt mal, was ihr draufhabt. Georok, los!“

„Hilf ihm, Bibi“, fügte Boyd hinzu. Der schlaksige Junge vorschränkte die Arme vor der Brust. Er schien nicht im Mindesten besorgt.

Jayden schluckte. Jetzt galt es. Sie hatten so hart trainiert, waren gemeinsam an ihre Grenzen gegangen und stärker geworden. Wenn Chloe dachte, sie wären noch dieselben Trainer wie bei ihrer letzten Begegnung, würde sie ihr blaues Wunder erleben. Trotzdem. Würde es reichen, sie zu besiegen? Der Typvorteil war weiterhin auf ihrer Seite, aber …

Chris verzichtete auf ihre Ansprache, ihr Pikachu materialisierte sich ohne Ankündigung in einem Blitz aus rotem Licht und hopste mit erhobenen Ärmchen wie ein Boxer von einem Bein aufs andere. Jayden sah nur kurz in ihre Richtung. Der Strohhut war ihr beim Sprint auf den Rücken gerutscht, ihr braunes Haar klebte in schwitzigen Strähnen an ihren Wangen und dunkle Augenringe untermalten ihr Gesicht.

Das Glühen von Glutexos Pokéball riss ihn aus seiner Starre und er rief seinen Starter in den Kampf. Bei dem Anblick des Glutexos hob Chloe anerkennend eine Augenbraue. „Er hat sich entwickelt? Nicht schlecht, aber Level 16 reicht nicht, um mich zu besiegen. Georok, Steinpolitur, dann Intensität!“

„Level 16 haben wir lange hinter uns gelassen“, murmelte Jayden, dann befahl er lauter. „Glutexo, Rauchwolke, lass dich nicht treffen!“ Glutexo blies dichte Rauchringe aus seinen Nüstern und schon wenige Sekunden später war das Kampffeld in graue Schwaden gehüllt.

Chris gab Pikachu kein Kommando. Die beiden hatten in ihrem Training eine mentale Einheit gebildet, wie Jayden sie niemals für möglich gehalten hätte, und nach einem kurzen Blickaustausch und kaum sichtbaren Nicken seiner Trainerin schoss Pikachu in alle Richtungen davon und hinterließ überall seine Doppelteamphantome.

Auch Boyds Bibor schaltete sich nun in den Kampf ein. „Energiefokus Bibi, bereite dich auf deinen Furienschlag vor!“ Boyds Stimme hallte durch die Luft, aber von ihren Gegnern war dank Glutexos Rauchwolke keine Spur mehr zu sehen.

Jayden dachte fieberhaft nach. Er hatte einen Typvorteil gegen Bibor, aber Pikachu würde sich an Georok die Zähne ausbeißen und seine Boden-Attacken konnten sowohl Pikachu als auch Glutexo gefährlich werden. Er kam zu einem Entschluss. „Drachenwut auf Georok!“

Der Boden unter ihren Füßen begann zu Beben. Jayden konnte nur schwer erkennen, was auf dem Kampfplatz vor sich ging, aber das musste Georoks Intensität sein, die nun traf. Pikachu huschte als gelbe Silhouette vor ihm vorbei und wich den Erdgeschossen so gut es ging aus, aber für die kleine Elektromaus war jeder Treffer gefährlich. Sie mussten Georok ausschalten, und zwar sofort.

In dem Moment leuchteten Bibors rote Augen im Dunkeln auf, die einzige Vorwarnung, bevor der Furienschlag auf Glutexo niederging, das bereits das Maul für seine Attacke geöffnet hatte. Nur zwei der Stiche drangen jedoch durch, bevor ein elektrisches Knistern Bibor von hinten traf und es zitternd in der Bewegung innehalten ließ. Pikachus Donnerwelle!

„Danke!“, rief Jayden Chris zu, die keine Miene verzog.

„Elektroball“, befahl sie stattdessen, im gleichen Moment in dem aus der anderen Richtung Steinwurf und Raserei gerufen wurden.

Glutexo kam alle dem zuvor; seine Drachenwut durchfuhr als grellblaue Flamme die Wand aus Rauch, die inzwischen halb verflogen war, und traf Georok direkt auf den runden Steinkörper. Das Pokémon steckte die Attacke gut weg, aber Jayden war sich sicher, dass es nur wenige der Treffer aushalten konnte. Drachenwut war eine der verlässlichsten Attacken, auch gegen Pokémon mit starker Verteidigung.

Bibor versuchte, seine Raserei zu starten, in dem es bedrohlich beide Stacheln hob, aber wieder schoss Pikachu aus seinem Meer aus Phantombildern heraus und schleuderte dem Insektenpokémon einen Elektroball direkt ins Gesicht. Bibor konnte nicht ausweichen und sank elektrisiert und zitternd zu Boden.

„Bibi!“, schrie Boyd. „Komm schon, lass dich nicht unterkriegen, Furienschlag!“

Jayden war so von dem Schauspiel gefesselt, dass Glutexos Schmerzensschrei ihn völlig überrumpelte. Er sah zu seinem Pokémon zurück, das von Georoks Stein frontal getroffen worden war und wütend Flammen aus den Nüstern stieß. „Nochmal Drachenwut!“, befahl Jayden.

Pikachu raste unterdessen wie ein Blitz auf Bibor zu, schlug einen Haken und warf sich mit seinem gesamten Körper gegen die Giftbiene. Der Slam beendete den Kampf zwischen den beiden Pokémon und Bibor ging besiegt zu Boden.

Glutexos Drachenwut traf Georok erneut, und obwohl das Gesteinspokémon die vier Arme schützend vor seinen Körper hielt, gab es von den blauen Flammen kein Entkommen.

„Intensität!“, schrie Chloe. Endlich konnte Jayden seine Widersacherin durch den Rauch ausmachen. Sie biss auf ihre Unterlippe, die Augen weit aufgerissen. Boyd stand verstört neben ihr und starrte auf sein besiegtes Pokémon.

Der Boden bebte erneut, heftiger diesmal. Einige Erdbrocken lösten sich und trafen Pikachu, das von der Attacke durch die Luft geschleudert wurde. „Slam!“, rief Chris ihm zu, und noch in der Luft drehte die Elektromaus sich um, kam beim Aufprall auf die Füße und katapultierte sich Georok entgegen.

Was Glutexos Drachenwut nicht ganz hatte fertigbringen können, wurde durch diese Attacke beendet. Georok sank in sich zusammen, und Pikachu und Glutexo, die beide von den eingesteckten Treffern geschwächt waren, gaben sich keuchend eine High-Five.

„Unmöglich“, sagte Chloe, die wie eine Salzsäule dastand und sich nicht rührte. „Ihr wart blutige Anfänger, wie seid ihr in einer Woche so stark geworden?!“

„Training“, verkündete Chris ungerührt. „Und blutig war nur Jayden, nicht ich.“

Chloe ignorierte den verwirrenden Kommentar und schüttelte vehement den Kopf. „Nein, das kann nicht sein. Pikachu erlernt Slam erst auf Level 26 …“

Chris nickte nur und Pikachu plusterte sich stolz auf. Sein Fell war so vom Staub der letzten Woche verdreckt, dass es fast braun wirkte.

„Ihr müsst geschummelt haben“, murmelte Chloe. „Boyd, wir kämpfen weiter.“

„Aber wie sollen sie geschummelt haben?“, fragte Boyd, der nun endlich aus seiner Schockstarre erwachte.

„Ist mir egal, aber ich werde mich nicht von zwei Winzlingen ohne Orden besiegen lassen!“, fauchte Chloe. „Los, Duflor, Menki!“

„Okay … Tauboga, Amonitas, ihr seid dran!“

Jaydens Kinnlade fiel herunter. „Das könnt ihr nicht machen!“, schrie er empört. „Zwei gegen zwei, das war die Abmachung!“

Chris hatte bereits einen Schritt vor gemacht und sich auf den Kampf eingestellt. „Doppelteam und Fokus auf Tauboga“, rief sie Pikachu zu, das sofort wieder sein Sprintspiel aufnahm.

Jayden fluchte leise und besah sich seine Gegner. Vier Pokémon auf einmal … aber dieses Mal war der Typvorteil auf ihrer Seite. Sie würden Chloe das Handwerk legen, und nach dieser Aktion erst recht!

Jayden – Akt 2, Szene 5

8 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Jayden war überfordert. Es waren zu viele Pokémon auf einmal, zu viele Befehle und Attacken, die durch die Luft flogen. Der Kamp dauerte keine dreißig Sekunden an und er hatte schon den Überblick verloren.

Nicht so Chris. Mit jedem Moment schien sie über sich hinauszuwachsen, ihr Pikachu eine Katastrophe für ihre Gegner. Seine wiederholten Doppelteams machten es unmöglich, das flinke Elektropokémon zu erwischen. Menkis Fußkicks und Karateschläge gingen ins Leere, dafür traf Pikachus Elektroball das Tauboga in die Flanke, kurz nachdem dieses Glutexo kreischend mit einem Windstoß attackiert hatte. Tauboga stürzte flatternd aus der Luft und begrub Menki unter sich, das sich wild fuchtelnd befreien musste.

Glutexo nutzte diesen Moment und fixierte Menki mit seiner Grimasse, bevor das Kampfpokémon ausweichen konnte. Die beiden Pokémon umkreisten sich.

„Fußkick“, rief Chloe.

„Weich aus und Feuerzahn!“, schrie Jayden über den Lärm der anderen Pokémon hinweg.

Menki flog bereits durch die Luft, schmales Bein voran gestreckt, aber Glutexo wand sich zur Seite, sodass der Tritt seinen Starter nur streifte. Im selben Moment fuhr es herum und verbiss sich in Menkis Oberschenkel. Die Flammen leckten zwischen seinen Fangzähnen empor und Menki quiekte auf. Glutexo ruckte seinen Kopf hin und her und schleuderte den Gegner von sich. Jayden wartete darauf, dass das Affenpokémon sich wieder aufrappeln würde, aber es blieb reglos liegen.

„Nochmal Feuerbiss!“, rief Jayden Glutexo zu, das voller Kampfeslust brüllte und nun auf Duflor zusprang.

„Giftpuder, na los!“, konterte Chloe seinen Befehl. Der Giftpuder explodierte in Glutexos Gesicht, genau in dem Moment, als es seine flammenden Zähne in Duflors blauen Körper versenkte. Das Feuer loderte heiß auf und ließ das Unkraut-Pokémon vor Schmerzen aufheulen.

„Beschütz Duflor!“, ertönte da Boyds verzweifelter Schrei. Glutexo wurde von einem Strahl Wasser zur Seite geschleudert und das restliche Feuer auf Duflors Bisswunde gelöscht. Amonitas kroch näher und holte zu einer weitere Aquaknarre aus, aber diesmal war Pikachu zur Stelle. Ein weiterer Elektroball sauste zwischen den Phantombildern hindurch und traf Amonitas auf den blauen, ungeschützten Körper unter dem Panzer. „Lass dich nicht besiegen, Anita, komm schon!“ Boyds Ruf erweckte Amonitas Lebenskräfte noch einmal, es bäumte sich auf und spie einen weiteren Schwall Wasser in Glutexos Richtung.

„Pass auf!“, schrie Jayden, und wie durch ein Wunder taumelte Glutexo in genau diesem Moment zur Seite und entging der Attacke um Haaresbreite. Es sah nicht gut für seinen Starter aus. Jaydens Herz pochte so laut in seiner Brust, dass er die Kampfgeräusche kaum mehr wahrnahm. Glutexo war vergiftet und hatte mehrere Attacken einstecken müssen. Sie waren stärker als ihre Gegner, aber nicht so überlegen, dass der Schaden vernachlässigbar war. Doch als Duflor sich für seinen Megasauger näherte, schnappte Glutexo nach ihm und schoss eine blaue Drachenwut hinterher.

Pikachu beendete den Kampf gegen Amonitas mit seinem Slam, der das Fossilpokémon in hohem Bogen durch die Luft warf und vor Boyds Füßen aufprallen ließ.

Jayden brauchte einen Moment um zu begreifen, was geschehen war. „Wir … wir haben gewonnen!“ Er nahm Chris überschwänglich in die Arme und wirbelte sie einmal im Kreis. „Wir haben gewonnen! Zwei gegen SECHS!“

„Ich weiß, aber lass mich runter“, sagte Chris, und obwohl ihre Stimme ernst klang, lag so viel Feuer und Stolz in ihren Augen, dass Jayden wusste, wie sie wirklich fühlte. Sie teilte seine Euphorie.

Auf der anderen Seite des Schlachtfelds sank Chloe matt auf die Knie und starrte ihre beiden besiegten Pokémon an. Boyd rief seine stumm zurück.

In dem Moment hörte Jayden Rufe. Chris immer noch halb im Arm, drehten sie sich gemeinsam um und entdeckten Schwester Joy und Roberta, die auf sie zugerannt kamen, angeführt von dem jungen Trainer, der sich irgendwann während ihres Kampfes aus dem Staub und auf die Suche nach Hilfe gemacht haben musste.

„CHLOE!“

Wenn Chloe vorher niedergeschlagen ausgesehen hatte, so empfand Jayden bei ihrem jetzigen Anblick echtes Mitleid. Sie sank noch mehr in sich zusammen und schien am liebsten im Erdboden versinken zu wollen.

Teresia kam schweratmend mit Abstand vor ihrer Tochter zum Stehen. „Ist es wahr, was dieser Junge sagt?“, fragte sie. „Hast du ihm wirklich nach seinem Arenakampf aufgelauert und ihn überfallen?“

„Es stimmt, Schwester Joy!“, beteuerte der Junge, der hinter Roberta hervorlugte und sich augenscheinlich nicht näher an Chloe heranwagte. Jayden knirschte mit den Zähnen. Er wusste genau, wie viel Angst der junge Trainer empfunden haben musste. Ihm selbst ging Chloes Abreibung nicht aus dem Kopf. Wie man ihn festgehalten und verprügelt hatte, und er sich so wehrlos gefühlt hatte …

Chloe hielt den Kopf gesenkt. Sie sagte kein Wort. Boyd war zurückgewichen und hielt sich so gut es ging aus dem Familiendrama heraus. Neben ihm zupfte Chris an seinem Ärmel, aber Jayden war zu sehr auf Teresias Tirade fokussiert, um sie zu beachten.

„Warum, Chloe?“, fragte sie gerade flehend. „Wieso bist du so geworden? Hast du nie daran gedacht, welchen Schaden du anrichtest? Erst fügst du diesem Kind solche Verletzungen zu—Jayden sog empört die Luft ein, als er begriff, dass sie mit „diesem Kind“ ihn meinte—dann forderst du einen Trainer mitten in der Stadt nach seinem Arenakampf heraus? Du bist die Nachfahrin einer ungebrochenen Reihe von vier Generationen Schwester Joy, bedeutet dir das gar nichts? Die Pokémon dieses Jungen hätten in einem weiteren Kampf schweren Schaden nehmen können!“

Chloe stand ruckartig auf. „Genau das ist dein Problem, Mama!“, fauchte sie. „Seit ich denken kann höre ich immer dieselbe Laier, Joy dies, Joy das. Hast du mich jemals nach meinen Zielen im Leben gefragt? Nach meinen Interessen? Nein!“

Schockiert machte Teresia einen Schritt nach hinten. „Natürlich habe ich das! Als du mir gesagt hast, dass du keine Schwester Joy werden willst, habe ich nicht mit dir diskutiert, sondern dich ziehen lassen.“

„Ziehen lassen“, lachte Chloe humorlos. „So nennst du das also, wenn du deine Tochter mit einem bisschen Taschengeld und einem unkontrollierbaren Pokémon vor die Tür setzt!“

„Menki ist ein gutes Pokémon, Chloe.“

„Es wurde von seinem Trainer ausgesetzt, weil es zu störrisch und aggressiv war, und als ich es bekam, war es dazu noch misstrauisch und verängstigt“, entgegnete Chloe hitzig, die sich nun richtig in ihre Diskussion hineinsteigerte. „Es hatte solche Angst, wieder verlassen zu werden, da hab ich es nicht übers Herz gebracht, es zurückzugeben. Und wir sind ja gute Freunde geworden. Aber ich wollte diese Verantwortung nicht! Ich wollte überhaupt keine Pokémon.“

Bei diesen Worten zog Jayden scharf die Luft ein. Teresia rührte sich gar nicht mehr. Sie sah ihre Tochter an, als hätte sie sie noch nie gesehen.

Chloe schien inzwischen den Tränen nahe, aber sie sprach tapfer weiter. „Ich wollte einfach nur ein normaler Teenager sein, zur Schule gehen, einen Beruf lernen, gutes Geld verdienen. Aber ich habe mich nie getraut, dir das zu sagen. Du hattest immer Pläne, und wenn ich schon keine Joy werde, dann würde ich doch sicher eine Trainerin werden. Ich habe Menki trainiert und Rocko besiegt und dachte, darauf kann ich es beruhen lassen, aber dann hast du mich auf mein Pokémonabenteuer geschickt, auf dass ich nie wollte.“ Sie zog schniefend die Nase hoch. „Ich hasse trainieren. Ich hasse kämpfen, wenn ich nicht sicher bin, dass ich gewinne. Ich habe die Arenaleiter nur mit Typvorteil besiegt und dann Trainer mit meinen Orden eingeschüchtert, um Geld zu verdienen, damit ich im Pokécenter übernachten kann. Und dann ist mir auch noch Roberta nachspioniert und hat mir andauernd Tipps gegeben, wie ich effektiver trainieren kann oder meine Pokémon weiterbringe. Also bin ich zurückgekommen. Aber ich habe mich nicht getraut, heimzukommen, weil sie dir bestimmt erzählt hat, was für eine schlechte Trainerin ich bin und …“

Chloes Zornestirade endete abrupt in einem Schluchzer.

„Oh, Chloe …“ Ihre Mutter breitete die Arme aus und kam ganz zaghaft auf Chloe zu, die im ersten Moment bockig den Kopf schüttelte und sich dann doch in die Umarmung fallen ließ und haltlos zu heulen begann.

Chris zupfte erneut an seinem Ärmel, diesmal heftiger. Jayden begriff, dass sie das wohl schon eine ganze Weile machte, als er ihren genervten Blick sah. Schnell wischte er sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Was denn?“, murrte er.

„Willst du Glutexo nicht zurückrufen?“, fragte Chris gedehnt.

Ein Gefühl wie Eiswasser lief Jaydens Rücken hinunter. Glutexo! Das hatte er im Eifer des Gefechts ganz vergessen. Er griff schon nach seinem Pokéball, aber da stand plötzlich Roberta direkt vor ihm und versperrte ihm die Sicht. Traurig lächelnd stützte sie sich auf ihren Stock.

„All dieser Kummer wegen einem Missverständnis“, seufzte sie. „Auch ich bin wohl verantwortlich. Meine Präsenz muss das arme Mädchen in die Enge gedrängt haben. Aber da sieht man mal wieder: Auch wenn Menschen auf Abwege geraten, so können sie doch den Weg zurückfinden. Manchmal reicht dafür schon eine Geste, ein Gespräch, oder ein guter Pokémonkampf. Ich muss euch beiden danken. Wenn ihr Chloe nicht so gründlich besiegt hättet, wäre es vermutlich nie zu dieser Aussprache gekommen. Teresia wollte den Kampf unterbrechen, weil ihr in der Unterzahl wart, aber ich konnte spüren, dass ihr um keinen Preis verlieren würdet, deshalb habe ich sie zurückgehalten.“

„Danke“, sagte Chris aufrichtig. „Wir brauchten keine Hilfe und ich wäre sehr wütend geworden, wenn der Kampf unterbrochen worden wäre.“

Roberta lachte. „Das dachte ich mir schon. In dir ist viel Feuer, junge Dame. Eines Tages wirst du es sehr weit bringen. Die Verwandlung, die ihr mit euren Pokémon in so kurzer Zeit durchgemacht habt, ist beachtenswert. Ich ziehe meinen Hut.“

Chris schaute sehr verwirrt drein, daher übersetzte Jayden seufzend. „Mit Feuer meint sie Leidenschaft oder Kampfeswille, und den Hut ziehen bedeutet so viel wie: Ich habe Respekt vor dir und deiner Leistung.“

„Ah“, sagte Chris und lächelte tatsächlich. „Danke, Roberta. Das ist nett von dir.“

„Keine Ursache.“

„Wir müssen jetzt aber wirklich los“, sagte Jayden und schlängelte sich an Roberta vorbei, um Glutexo mit seinem Pokéball zu treffen. Leider war er eine Sekunde zu spät, denn Schwester Joy hatte sich bereits aus der Umarmung mit ihrer Tochter gelöst und sah geradewegs auf Pikachu und Glutexo, die erschöpft auf dem Boden saßen und sich langweilten.

„Jetzt aber ab ins Pokécenter, eure Pokémon haben sich eine Erfrischung verdient …“, begann sie und brach dann mitten im Satz ab. Panik schnürte Jaydens Kehle zu, als er wie in Zeitlupe den Horror sah, der sich auf Schwester Joys Gesicht ausbreitete.

Er sah sein Pokémon wie durch ihre Augen. Die Schuppen vom Kampf rußig und verstaubt, aber darunter eindeutig goldgelben und nicht, wie normalerweise, orangerot.

„Ist das etwa …“

„RENN!“

Jayden packte Chris am Handgelenk, rief Glutexo zurück und preschte mit einem Satz an Roberta vorbei, die vor Schreck beinahe stürzte. „Tschuldigung!“, rief er noch über seine Schulter, dann waren er und Chris schon auf der Flucht.

„Was ist denn los?“, hörten sie dumpf Robertas Stimme.

„Das Glutexo“, erklärte Joy hektisch. „Es ist golden! Dieser Junge ist der Pokémondieb aus Alabastia! Ich muss sofort—“

Mehr hörten sie nicht mehr, denn da schlitterten sie schon um die Rückseite der Arena und in die Stadt. „Wohin jetzt?“, fragte er panisch Chris, die sich aus seinem Griff gelöst hatte und nun neben ihm herrannte. „Roberta hat damals die Top Vier herausgefordert, sie besitzt bestimmt ein Flugpokémon. Sie wird uns in Nullkommanichts aufspüren!“ Pikachu schoss an ihnen vorbei und sprang auf Chris‘ Schulter, wo es sich erschöpft festklammerte.

„Zurück zur Höhle“, entschied Chris. „Wenn wir schnell genug sind, kommen wir vielleicht unbemerkt rein. Und dann schlagen wir uns nach Orania City durch!“

Gesagt, getan. Es war die anstrengendste Flucht, die Jayden seit Beginn seiner Reise durchmachen musste, und wenn man bedachte, dass er so ziemlich seit Tag Eins eine Zielscheibe auf dem Rücken hatte, sagte das etwas aus. Er war müde. Seine Beine fühlten sich an wie Steinbrocken. Seine Kehle brannte, seine Seiten stachen. Angstschweiß klebte ihm am ganzen Körper. Es war heiß.

Sie konnten nicht viel länger als ein oder zwei Minuten gerannt sein, bevor Chris langsamer wurde und ihm eine kurze Verschnaufpause gönnte. Als sie sicher waren, dass die Luft rein war—im wahrsten Sinne des Wortes—liefen sie weiter, bis sie endlich den verkohlten Baum in der Hecke entdeckten. Sie schlüpften durch den Spalt hinein und erreichten endlich den Eingang der Digda-Höhle.

In dem Moment hörten sie ein Krächzen. Ein Blick nach oben bestätigte Jaydens schlimmste Vermutung. Ein Tauboss mit zwei Personen auf seinem Rücken, und ein Golbat mit einer Person hoben sich gegen die grelle Sonne am Himmel ab.

„Rein, rein, rein!“, schrie Jayden und sprang hinter Chris hinunter in die Dunkelheit. Er rief Glutexo, das ihn unzufrieden ansah, mit seinem Schweif aber immerhin den sonst stockdusteren Höhlengang erhellte. „Wir müssen fliehen“, informierte Jayden seinen Starter, damit der den Ernst der Lage verstand. „Wenn sie uns erwischen, nimmt man dich mir weg und du wirst wieder ins Labor gebracht. Willst du das?“

Glutexo spuckte eine Flamme zu Boden und trabte so schnell los, dass Jayden und Chris Probleme hatten, hinterherzukommen. Das ging einige Minuten so, bis Chris schließlich keuchte, „Wo sind all die Digda?“

Die Digda, wie Jayden wenige Momente später begriff, hatten ihre Lektion gelernt und wollten sich nicht mehr mit ihren unliebsamen Besuchern anlegen.

Dafür hatten sie Verstärkung geholt.

Sie waren schon tief in der Höhle, als der Boden, die Seitenwände und die Decke zu beben begannen. Geröll rieselte in Kaskaden zu Boden, Erdbrocken fielen auf sie herab. Und ein besonders großer Felsen lockerte sich genau über Glutexo.

Jayden schrie, aber gleichzeitig war er schon in Bewegung. Mit einem gigantischen Satz warf er sich von hinten gegen Glutexo und riss sein Pokémon aus der Gefahrenzone. Ein heftiger Schmerz durchzuckte seinen linken Fuß. Er heulte auf.

Chris – Akt 2, Szene 4

8 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Jaydens Schrei rang in Chris‘ Ohren. Sie rannte durch das spärlich erleuchtete Dunkel zu dem Erdbrocken, der sich durch die gesammelte Intensität der Höhlenbewohner von der Decke gelöst hatte, und ihrem wimmernden Freund, der am Boden lag.

Chris fiel neben ihm auf die Knie und nahm die Situation in Augenschein. Jayden hatte Glück gehabt. Statt von dem Brocken begraben zu werden, hatte dieser nur seinen linken Fuß erwischt. Da es feuchte, zusammengedrückte Erde und kein fester Stein war, hatte sie außerdem Hoffnung, ihn wegschieben zu können. „Bleib ruhig“, sagte sie zu ihrem Freund, der schniefend nickte. Glutexo kam langsam angetrottet und stupste seinen Trainer mit dem Kopf an. Jayden lachte durch die Tränen und tätschelte seinem Starter den Hals.

„Alles gut, Kumpel, halb so schlimm. Mach dir keine Vorwürfe.“

Chris stemmte sich unterdessen gegen den Erdhaufen, der bei dem Aufprall bereits leicht zerfallen war. Pikachu sprang an ihre Seite und warf sich mit einem Slam gegen den Brocken, während Chris schob, sodass die Erde vollständig zerbröselte und Jaydens Fuß freigab. Chris hockte sich hin und begann vorsichtig, die Schnürsenkel von Jaydens Wanderschuh aufzubinden und den Schuh auszuziehen. Jayden zischte und biss sich in die Faust, machte aber sonst keinen Laut. Glutexo stand weiterhin bedröppelt daneben und rieb sich an ihn.

Als Schuh und Socke entfernt waren, betastete Chris den Knöchel mit sanften Berührungen. Jaydens Gesichtsausdruck sagte alles, während sie den Fuß in diese und jene Richtung drehte und die Knochen abtastete. „Es ist nichts gebrochen, glaube ich“, stellte sie nach einigen Minuten fest. Als kleines Mädchen hatte sie sich beim Klettern den Arm gebrochen und wusste noch genau, wie höllisch die Schmerzen und wie instabil ihr Arm danach gewesen war. Jaydens Fuß war eindeutig schmerzempfindlich, aber alles fühlte sich normal an.

„Es tut aber verdammt weh dafür“, grummelte Jayden, der sich langsam vom ersten Schock erholte.

Chris zuckte die Achseln. „Wahrscheinlich ist dein Knöchel verstaucht. Wir sollten die Wunde kühlen, aber hier gibt es kein Eis, und zurückgehen können wir nicht. Wir müssen weiter nach Orania, bevor Roberta uns einholt.“

Jayden wurde bleich, nickte aber und begann sich aufzurichten. „Hilf mir mal, Glutexo“, forderte er und sein Pokémon ging leicht in die Knie, damit er sich an seiner Schulter hochziehen konnte. Auf einem Bein stehend sah Jayden sie an. „Ich, ehm, kann glaube ich nicht gehen“, gestand er.

Chris seufzte. „Natürlich kannst du nicht gehen. Komm, steig auf. Glutexo, nimmst du unser Gepäck?“

Jayden öffnete den Mund um zu protestieren, aber Chris hatte bereits ihren Rucksack und Hut abgesetzt und stellte sich mit dem Rücken zu ihm und leicht in der Hocke hin. „Glutexo kann dir beim Raufklettern helfen“, fügte sie hinzu, als Jayden sich nicht rührte.

„Ich—“ Er brach den Satz ab. „Danke“, nuschelte er schließlich und Chris spürte, wie er mit etwas Hilfe ihren Rücken erklomm. Sie umfasste seine Beine von unten und stapfte los, Glutexo mitsamt den zwei Rucksäcken und einem leuchtenden Schweif voran und Pikachu in der Nachhut.

Es dauerte nicht lange, bevor Chris müde wurde und ihre Beine schlapp machten, aber sie erlaubte sich keine Pause, außer hin und wieder stehenzubleiben und ihren Griff zu justieren. Jayden sagte die gesamte Zeit über kein Wort und vergrub nur beschämt das Gesicht in ihren Haaren.

 

 

„Als ihr so lange gebraucht habt, habe ich mich schon gefragt, ob die Digdri euch erwischt haben. Wie ich sehe, hatte ich Recht“, sagte Blue, als sie viele Tage später in Orania City aus der Digda-Höhle kraxelten und völlig erschöpft vor ihm und Nicole zusammenbrachen.

Jayden brach in Tränen aus und Chris starrte nur matt auf die beiden Trainer. Blue bedachte sie mit einem kurzen, enttäuschten Nicken, während Nicole nur Augen für Jayden hatte, bei dessen Anblick sie scheinbar nicht wusste, ob sie wütend oder mitleidig sein sollte.

„Seit wann seid ihr hier?“, fragte Chris, der von dem tagelangen Marsch mit so viel Gewicht auf dem Rücken jeder einzelne Muskel wehtat.

„Seit vier Tagen“, erklärte Blue. „Nachdem Schwester Joy aus Marmoria City uns Bescheid gab, dass ihr auf der Flucht wart, haben wir uns mit Roberta kurzgeschlossen. Sie hat den Ausgang in Marmoria bewacht während wir auf direktem Weg hergeflogen sind und auf euch gewartet haben.“ Er schüttelte den Kopf. „Der Digda-Tunnel hat nur einen Eingang und einen Ausgang, und er ist nicht gerade geheim. Ich weiß nicht, wie ihr an dem Zerschneiderbaum vorbeigekommen seid, aber als wir wussten, dass ihr hineingegangen wart, saßt ihr in der Falle.“

Chris nickte und erhob sich. „Jayden braucht einen Arzt“, erklärte sie. „Sein Knöchel ist stark geschwollen und er kann ihn immer noch nicht belasten.“

„Ich kümmere mich darum“, sagte Nicole und schob ihre kreisrunde Brille zurecht. Ihr blondes Haar hing lasch von der Hitze auf ihre Schultern. „Jayden und ich haben ohnehin ein Wörtchen miteinander zu reden, aber zuerst übergebe ich ihn Schwester Joy, damit sie sich die Verletzung ansieht.“ Jayden ließ den Kopf ergeben hängen. Er hatte aufgegeben. Ihre grandiose Flucht hatte nach fast drei Wochen ihr Ende gefunden.

Blue rief sein Arkani, das sich in Kampfhaltung mit wild gesträubtem Fell und gebleckten Zähnen inmitten der Gruppe materialisierte. Es knurrte und blickte suchend in die Runde.

„Kein Herausforderer heute, fürchte ich“, informierte Blue sein Pokémon belustigt. Arkanis Fell glättete sich und es ließ sich enttäuscht hechelnd auf den Bauch sinken. „Das ist Mari“, erklärte Blue. „Ich trainiere sie derzeit für mein Arenateam, aber sie muss noch etwas Zurückhaltung lernen.“ Mari bellte entrüstet.

„Hier“, sagte Blue und reichte Nicole den Pokéball. „Sie kann Jayden zum Pokécenter tragen, dann muss er nicht die ganze Strecke humpeln. Gib ihr etwas zu trinken und ruf sie zurück, sobald ihr dort seid. Ich will nicht, dass sie Streit mit einem anderen Pokémon anfängt.“

Chris tastete nach ihrem eigenen Pokéball. „Gehen wir nicht mit?“, fragte sie. Nachdem ihre Tränke aufgebraucht waren, hatten Pikachu und Glutexo in der Höhle ihr Bestes gegen die immer neuen Horden von Digda und Digdri getan, waren aber schließlich beide besiegt worden und seitdem zu erschöpft zum Kämpfen. Den letzten endlos scheinenden Abschnitt des Tunnels war sie in völliger Dunkelheit vorwärts gegangen und hatte sich nur anhand von Jaydens Anweisungen orientiert, der von seinem Platz auf ihrem Rücken die Wände abtastete, um den Ausgang zu finden.

Mehrfach hatten sie gestritten, weil Jayden darauf bestand, gehen zu können und nach kurzer Zeit doch wieder humpelte und kaum vorankam. Die Schwellung hatte sich daraufhin verschlimmert. Letztlich hatte er klein beigegeben und sich von Chris huckepack tragen lassen.

Auf ihre Frage hin schüttelte Blue den Kopf. „Nicole wird alleine mit ihm reden“, erklärte er. „Wir können in der Zeit zu den Wiesen auf Route 11 gehen und du kannst mir die ganze Geschichte erzählen.“

Chris nickte abwesend, sah statt Blue aber Jayden dabei zu, wie er mit Nicoles Hilfe auf Arkanis Rücken kletterte. Jayden warf ihr einen letzten leidenden Blick zu, da richtete Mari sich auf und trabte los.

„Langsam!“, protestierte Nicole und rannte hinterher.

„Mein Pokémon ist verletzt“, gestand Chris schließlich und wandte sich wieder Blue zu.

„Richtig, ihr müsst ziemlich was durchgemacht haben“, murmelte Blue und kramte eine grüne Sprühflasche aus seiner Tasche. „Hier. Das ist Top-Genesung.“

„Ich nehme keine Almosen an“, informierte Chris ihn.

Blue stutzte, dann lachte er herzhaft. „Chris, du bist wirklich einzigartig. Sieh es als Entschädigung dafür, dass ich dich vom Pokécenter fernhalte. Deren maschinelle Heilung nimmst du schließlich auch kostenlos an, oder?“ Nach kurzem Zögern nahm Chris die Top-Genesung entgegen und rief ihr Pikachu.

Blues Gesicht erstarrte.

Pikachu sah mitgenommen aus, aber Chris fand nicht, dass es diese Art von Entsetzen rechtfertigte. „Mir sind die Tränke ausgegangen“, verteidigte sie seinen Zustand, während sie Pikachu heilte. Kaum dass die Top-Genesung wirkte, sprang die gelbe Elektromaus voller Tatendrang empor, kletterte auf ihrem Kopf und ziepte liebevoll an ihren Haaren. Chris konnte nicht anders. Sie lächelte.

Blue riss sich aus seiner Starre. „Was? Oh nein, das ist es nicht, ich meine … es ist dumm. Es ist nur ein Pikachu wie tausende andere auch, aber ich habe keins mehr gesehen seit er … seit Red verschwunden ist. Ich assoziiere es sehr stark mit ihm.“

Chris sah ihn ernst an. „Was heißt assoziieren?“

„Oh.“ Er kratzte sich verlegen am Kopf. „Das ist, wenn du eine Sache siehst und sofort an etwas anderes denkst, dass du im Kopf damit verbindest.  Wenn ich also ein Pikachu sehe, denke ich sofort an meinen besten Freund, da das sein ikonischstes Pokémon war. Glurak war sein Starter, aber Pikachu hat Pokébälle verabscheut und ist ihm deshalb nie von der Seite gewichen. Verstehst du?“

Chris nickte. Dann machte sie kehrt und ging los in Richtung Route 11 im Osten. Der Pfad war gesäumt mit hohen Buchen, die etwas Schatten spendeten. Nach so langer Zeit in der Dunkelheit, umringt von Erde auf allen Seiten, genoss sie den Anblick der Natur in vollen Zügen.

Blue folgte ihr gemächlich. „Weißt du, Chris“, sagte er lachend, „irgendwie erinnerst du mich an ihn.“

Jayden – Akt 2, Szene 6

8 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

 

Jayden hatte sich in seinem Leben noch nie so miserabel gefühlt. Nicole sprach kein Wort mit ihm, während sie an Maris Seite lief und das Arkaniweibchen mit einer Hand im getigerten Fell zum Pokécenter lotste. Als sie die Waldlichtung hinter sich gelassen hatten, fanden sie sich bald im geschäftigen Orania City wieder. Dank dem Meer, das die Stadt an zwei Seiten säumte, war die sommerliche Hitze hier leichter zu ertragen. Eine salzige Brise wirbelte die aufgeheizte Luft auf. Zahllose Trainer, Kinder mit ihren Eltern und Pärchen liefen in Schwimmkleidung oder luftigen Kleidern durch die Straßen, schleckten Eiscreme und schützten sich mit Sonnenbrillen und breiten Hüten vor dem grellen Licht. Vom Hafen echoten die Rufe von Matrosen.

Jayden hingegen saß mit pochendem Fuß auf einem Feuerpokémon mit dichtem Fell, das ihn von unten her nur noch mehr wärmte, der Geruch der fettig frittierten Snacks und des süßen Eis` bohrten ihm ein Loch in den Magen und zu allem Überfluss fühlte er sich wie ein Verbrecher, den man zum Richter führte. Er konnte nicht an ein danach denken, sein ganzes Leben schien im Pokécenter zu enden.

Er hätte sich von Chris verabschieden sollen.

Zu allem Überfluss fühlte er jetzt auch die Scham, die er die ganze Zeit erfolgreich unterdrückt hatte. Aber es war zu spät. Nicole würde ihm Glutexo wegnehmen, er würde ins Gefängnis kommen und er würde seine Eltern nie wieder sehen.

Wenn sie überhaupt noch etwas mit einem Verbrecher wie ihm zu tun haben wollten.

Obwohl er sein bestes tat, rollten wieder stumme Tränen seine Wangen hinunter. Er wischte sie unauffällig weg, aber als Nicole kurz zu ihm rüber sah, wurde ihr Gesichtsausdruck etwas weicher.

„Oh Jayden“, sagte sie. „Da hast du aber gewaltigen Bockmist veranstaltet. Ein Shiny Pokémon aus dem Labor stehlen? Was hat dich nur geritten? Dir muss doch klar gewesen sein, dass du nicht damit durchkommst.“

Jayden starrte auf seine Hände, die Maris weiches Fell festhielten. „Ich hab nicht nachgedacht“, nuschelte er.

Nicole schnaubte. „Das hat man gemerkt.“

„Was ist ein Shiny?“, fragte er.

Nicole sah ihn nachdenklich an. „So bezeichnen wir umgangssprachlich Pokémon mit einem Phänotyp, der durch eine spezielle Genmutation verändert ist. Thomas forscht seit Jahren daran, welche Gene für diese spezielle Farbgebung verantwortlich sind und er hat bereits mehrere Gene identifiziert. Das erste nannte er SHN1, und daraus wurde im Sprachgebrauch dann Shiny, weil die 1 wie ein I aussieht.“

Jayden hatte nur die Hälfte verstanden, aber scheinbar war Glutexo aufgrund seiner Farbe etwas extrem Wichtiges für das Labor in Alabastia.

Und er hatte es einfach mitgenommen. Er schluckte.

 

 

Im Pokécenter angekommen nahm die hiesige Schwester Joy ihn unter ihre Fittiche. Sie betastete den Knöchel, röntgte den Fuß und stabilisierte ihn anschließend mit Heilsalbe und Verband. Er bekam außerdem ein paar Krücken, die er für die nächsten Tage nutzen sollte. Regel Nummer Eins war aber: Fuß hochlegen und ruhig halten.

Und so fand sich Jayden etwa eine Stunde später wiedermal auf der Liege in einem Behandlungszimmer wieder, Fuß hochgelegt und ein großes Glas Wasser mit belegten Brötchen auf einem Tablett neben ihm. Das Glas war schon zweimal aufgefüllt worden. Ihre Rationen in der Höhle waren mehr als spärlich gewesen.

Er war gerade dabei, sein zweites Brötchen zu verschlingen, als es klopfte. Er schluckte hastig runter. „H-herein!“

Nicole betrat den Raum, schloss die Tür hinter sich und kam zu seinem Bett. „Geht es dir besser?“

Jayden brachte vor Angst vor dem Kommenden kein Wort heraus, daher nickte er nur.

„Gut. Dann gib mir jetzt bitte Glutexos Pokéball.“

„I-ich kann nicht.“ Jayden kniff die Augen zusammen. „Wir haben schon so viel zusammen durchgemacht, ich kann ihn jetzt nicht einfach zurückgeben. Wir sind Partner!“

„Das hast nicht du zu entscheiden“, konterte Nicole. „Gib mir den Ball. Glutexo hat mit Sicherheit ebenfalls eine Heilung nötig und danach werden wir alle gemeinsam entscheiden, was wir tun.“

Jayden horchte auf. Das klang … nicht ganz so schlimm wie er gedacht hatte? Aber was war mit dem Gefängnis? Nicole hob ungeduldig die Augenbraue und er reichte ihr schnell den Pokéball. Damit in der Hand verschwand sie.

Es dauerte eine Viertelstunde, bevor sie mit Glutexo im Schlepptau zurückkam. Sein Starter wirkte frisch und völlig erholt. Als er Jayden entdeckte, brummte er glücklich und trabte zu ihm, um sich den Kopf tätscheln zu lassen. „Dir geht es gut?“, fragte Jayden und betastete sein Pokémon. „Es tut mir leid, dass du so viel in der Höhle durchmachen musstest. Du warst der Wahnsinn.“ Glutexo blies stolz einige Rauchringe in die Luft und reckte die Brust.

„Wie ich sehe, hast du es zumindest gut behandelt“, stellte Nicole fest. „Wenn Glutexo keine Bindung zu dir aufgebaut hätte, wäre es definitiv mit mir mitgekommen.“

„Heißt das …“, fragte Jayden, der seinen Ohren kaum traute.

„Ja, Jayden. Das heißt, du darfst Glutexo behalten“, seufzte Nicole. „Aber bevor du Luftsprünge machst: Dieses Privileg ist an einige Bedingungen geknüpft. Und bevor ich dir die sage, habe ich noch eine Frage. Warum zum Teufel hast du das Pokémon gestohlen?“

„Der Forscher meinte, es gäbe keine Glumandas mehr, aber da war ja noch eins, und ich wollte unbedingt dasselbe Pokémon wie Red damals …“

„Du hättest 3 Monate warten können, genau wie all die anderen Kinder, wenn sie keins mehr abbekommen“, unterbrach Nicole ihn zornig. „Hast du eine Ahnung, wie viel Schaden du mit dieser Aktion angerichtet hast? Thomas forscht seit Jahren an den Shiny-Genen. Er schreibt ein Paper, welches dank dir nun mindestens ein halbes Jahr später veröffentlich wird, weil seine gesamte Versuchsreihe unterbrochen wurde und wiederholt werden muss. Und das mit einem anderen Exemplar, denn jetzt wo Glutexo an einen Trainer gebunden ist, kann es nicht mehr ins Labor zurück.

Dein Vater musste eine Untersuchung über sich ergehen lassen, weil die Theorie im Raum stand, er habe dich benutzt, um das Glumanda zu stehlen und es dir danach abgenommen und auf dem Schwarzmarkt für viel Geld verkauft. Er hätte fast seinen Job verloren, den er seit fünfzehn Jahren innehat.“

Jayden wurde schlecht. Sein Vater … „Aber das ist doch Unsinn!“, protestierte er. „Mein Vater würde so etwas nie tun!“

„Das ist die Welt der Erwachsenen“, entgegnete Nicole. „Es gibt Regeln, und es gibt Konsequenzen. Und nur weil du über etwas nicht nachdenkst oder etwas nicht beabsichtigt hast, beschützt dich das nicht vor den Folgen deiner Handlungen. Du kannst von Glück sagen, dass sich sehr bald belegen ließ, dass dein Vater nichts mit der Sache zu tun hatte, aber er war für zwei Wochen suspendiert und musste um seine Arbeit bangen. Und dazu kommt noch der emotionale Ballast für deine Eltern, die nun damit umgehen mussten, dass ihr einziger Sohn erstens ein Pokémon gestohlen hat und wer weiß damit vorhat, und zweitens nun deswegen verfolgt wird. Deine Mutter war außer sich vor Sorge und hat Thomas und Professor Eich angefleht, dich nicht polizeilich suchen zu lassen und keine Anzeige zu erstatten. Wie du daran merkst, dass Blue und ich losgeschickt wurden, hatte sie damit Erfolg, auch wenn Thomas sehr versucht war.“

Glutexo rieb seine Schnauze gegen seine Hand, aber Jayden war wie taub. Nicoles Worte ließen alles, was er getan und sich gegenüber gerechtfertigt hatte, in einem ganz anderen Licht erscheinen. Wie hatte er nur so dumm sein können. „Kann ich meine Eltern anrufen?“, fragte er matt. „Und Thomas? Ich möchte mich entschuldigen.“

Zum ersten Mal seit sie den Raum betreten hatte, lächelte Nicole. „Ich freue mich, dass du das von dir aus angeboten hast. Das ist nämlich tatsächlich Teil der Bedingungen. Ich lasse dich gleich zum Telefon bringen. Aber das ist nicht alles.“

Jayden nickte und streichelte Glutexos Schnauze. Egal, was er tun musste, um seinen Partner zu behalten war es ihm das wert. „Was muss ich tun?“

„Thomas braucht ein neues Shiny Glumanda. In verschiedenen Pokémonarten sind die Gene unterschiedlich ausgeprägt und sie interagieren sehr komplex miteinander. Deswegen sehen manche Shinys unterschiedlicher vom Normaltyp aus als andere. Seine Versuchsreihe ist auf Glumanda und seine Evolutionen fokussiert. Damit er seine Forschung so schnell wie möglich weiterführen kann, wirst du Glutexo später, wenn es sich zu Glurak entwickelt hat, zu einem Pokécenter bringen, eine DNA-Probe abgeben und diese nach Alabastia ins Labor schicken lassen. Glutexo hier war so freundlich und hat die erste Probe bereits gegeben. Viel wichtiger ist aber, dass Thomas ein neues Forschungspokémon im Labor braucht.“

„Ich soll ein Shiny Glumanda finden?“, fragte Jayden skeptisch. Von allem, was er gehört hatte, waren diese Pokémon extrem selten. Und wo würde er überhaupt wilde Glumanda finden?

„Natürlich nicht“, lachte Nicole. „Das würde ja ewig dauern. Nein, wir haben eine Partnerschaft mit der Pokémon-Pension südlich von Dukatia City in Johto. Es war die erste Pension, die Pokémonzucht vorangetrieben hat und sie besitzen einige Glumandaweibchen, welche uns mit neuen Glumanda für die jungen Trainer versorgen. Die nächsten Eier werden dort in zwei bis drei Wochen schlüpfen. Da du ein Shiny Glutexo hast, ist die Chance ein weiteres Shiny Glumanda zu züchten, etwas erhöht. Du wirst also ohne Umwege nach Dukatia City reisen und Glutexo dort in die Pension bringen. Vermutlich wird es eine Weile dortbleiben müssen, aber sobald mit einem der dortigen Glumandaweibchen ein Shiny Glumanda entstanden ist, wird es zu uns geschickt und du kannst Glutexo wieder mitnehmen.“

Jaydens Kopf brummte von all den Informationen. „Glutexo soll also solange Babys machen, bis ein Shiny dabei herauskommt“, wiederholte er. Nicole seufzte.

„Ja, es soll Babys machen. Ganz genau.“

„Und danach darf ich es für immer behalten.“

„Das ist der Deal.“

Er sah zu Glutexo, das einen schelmischen Blick aufgesetzt hatte. „Du wirkst nicht gerade unglücklich über diese Entwicklung“, stellte er fest. Glutexo schnaubte ihm ins Gesicht. „Also gut. Wenn Glutexo keine Einwände hat, bin ich dabei.“

„Ausgezeichnet“, sagte Nicole und erhob sich. „Ich werde dir ein Magnetzugticket von Saffronia City nach Dukatia City besorgen. Du fährst in einer Woche ab. Schwester Joy versichert mir, dass du bis dahin wieder fit sein solltest. Die Kosten für das Ticket strecken deine Eltern vor, aber du wirst ihnen das Geld selbstverständlich zurückzahlen.“

Jayden nickte aufgeregt. Dukatia City. Johto. Eine ganz andere Region. Das war wirklich ein Pokémonabenteuer. Plötzlich sank ihm das Herz in die Hose. „Was ist mit Chris?“, fragte er. „Darf sie auch mitkommen?“

„Ich bin sicher, das wird Blue in Erfahrung bringen“, sagte Nicole. „Und jetzt hör auf zu grinsen. Du hast noch zwei Anrufe zu tätigen, und die Gespräche werden bei weitem nicht so milde sein wie mit mir.“

Chris – Akt 2, Szene 5

8 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Pikachus Elektroball sauste durch die Luft und trag ein Rattfratz frontal ins Gesicht, das ungeschickter Weise in dem Moment die Schnauze aus dem hohen Gras gehoben hatte. Chris sah dabei zu, wie es sich von dem Schock erholte und zum Gegenangriff ausholte, aber statt Pikachu Befehle zu erteilen, wandte sie sich Blue zu, der rücklings auf der Wiese lag und die Sonne genoss.

„Was wird jetzt mit Jayden passieren?“, fragte sie. Ihren eigenen Teil der Geschichte hatte sie dem Arenaleiter bereits auf dem Weg hierhin berichtet.

„Das kommt auf Jayden und Glutexo an“, gestand Blue. „Aber Nicole ist fair. Sie wird eine gute Lösung finden.“ Er zögerte einen Moment. „Wenn wir hier alles erledigt haben, werde ich sie zurück nach Alabastia fliegen. Soll ich deinen Eltern etwas ausrichten?“

„Nein.“ Chris drehte sich wieder zu Pikachu um, das zufrieden über seinen Sieg die roten Pausbacken rieb. Sie hatte weder ihrem Vater etwas zu sagen, noch ihrer Mutter. Nicht, bis sie ihr Ziel erreicht hatte.

Blue seufzte und setzte sich hinter ihr auf. Gemeinsam beobachteten sie Pikachus nächsten Kampf, der entbrannte, als ein Habitak aus der Luft herabsauste und Pikachu von hinten mit seiner Verfolgung traf. Ihr Starter quietschte empört und raste durchs Gras. Seine Doppelteam-Bilder begannen sich zu formen, was Habitak offenkundig überforderte, denn die nächste Attacke bescherte dem Vogelpokémon einen Schnabel voll Erde.

„Welches Level hat Pikachu jetzt?“

Chris zuckte die Achseln. „Ungefähr 26“, schätzte sie. Sie hatte den Pokédex seit über einer Woche nicht mehr benutzt.

„Ihr habt eine gewaltige Verbesserung geschafft, und das in sehr kurzer Zeit. Und dein Pikachu ist extrem flink, alle Achtung. Das muss das Training gegen die Digdas sein."

„Was hat das mit den Digda zu tun?“, fragte Chris stirnrunzelnd.

Blue stand auf und stellte sich neben sie. Er kratzte sich durch das blonde Haar. „Jede Menge Leuten machen es zu einem unglaublich komplizierten Thema, aber im Grunde ist es ganz einfach. Wenn du willst, dass dein Pokémon schneller wird, kämpfst du gegen schnelle Pokémon. Das gilt auch für alle anderen Statuswerte. Angriff, Spezialverteidigung, und so weiter. Dein Pokémon lernt in jedem Kampf dazu, und was es lernt hängt auch von seinen Gegnern ab.“

Chris nickte nachdenklich. „Und weil jedes Pokémon Stärken und Schwächen hat, sollte man seine Stärken fördern und die Schwächen durch den Rest des Teams ausgleichen.“

Blue lächelte anerkennend. „Ganz genau. Und weil wir schon beim Thema sind, sage ich dir noch etwas. Du hattest verdammt viel Glück.“

Chris plusterte sich sofort empört auf. „Glück?!“

„Ja, du hast richtig gehört. Zuerst einmal das Offensichtliche. Sich tagelang in ein geschlossenes Gebiet mit wilden Pokémon zu begeben, ohne ausreichende Vorräte und Arzneien für euch und eure Pokémon ist im besten Fall töricht, und kann dich und deinen Partner ganz schnell das Leben kosten. Jayden hätte von der Attacke der Digdris genauso gut am Kopf getroffen werden können. Pokémon dienen dazu, gegen andere Pokémon zu kämpfen. Sie sind dein Schild. Wenn du je in einer Situation bist, in der du schutzlos und starken Pokémon ausgeliefert bist, hau ab und renn um dein Leben.“

Blues Worte erinnerten sie auch an das, was Jayden ihr bei ihrem Aufbruch aus Alabastia gesagt hatte. Damals hatte sie seine Bedenken ohne Zögern ignoriert, und mit Recht, wie sie fand. Ein schläfriges Rattfratz in Alabastia war aber nicht mit einer Horde Digdri zu vergleichen, die durch ihr Training in der Höhle aufgebracht waren und Rache wollten. Rückblickend war es nicht schlau gewesen, mit geschwächten Pokémon ausgerechnet dort Zuflucht zu suchen. Aber hatten sie eine Wahl gehabt?

„Ich verstehe“, sagte sie schließlich. Ihre lange Pause ließ Blue schmunzeln.

„So viel dazu. Du hattest aber noch mehr Glück. Was hättest du getan, wenn Pikachu nicht der Typ für viel Training gewesen wäre?“ Darauf fand Chris keine Antwort, daher fuhr er einfach fort. „Pokémon haben, genau wie Menschen, eine einzigartige Persönlichkeit. Nicht jedes Pokémon will viel trainieren, genauso wenig wie jede Person Trainer werden möchte. Manche Pokémon sind besser als Haustiere geeignet, manche sind Kämpfer aber haben nicht die Ausdauer oder Willenskraft, um es weit zu bringen. Das nächstbeste Pokémon zu fangen, dass einem vor die Füße läuft, ist der beste Weg zu einem schlechten Verhältnis zwischen Pokémon und Trainer. Selbst mir ist das als junger Trainer passiert. Mein Rattikarl war keine Kämpfernatur, ich aber wollte um jeden Preis Champion werden und meinen Opa stolz machen. Letztlich war es das Beste für uns, getrennte Wege zu gehen, auch wenn es sehr weh tat.“

Chris kämpfte gegen die Hitze in ihren Wangen an. Sie wollte nicht, dass Blue mit all diesen Ratschlägen Recht hatte, aber sie wusste sofort was er meinte. Wenn Pikachu nun lieber den ganzen Tag schlafen und kuscheln würde, was hätte sie getan? Ihren Traum aufgeben?

Nie im Leben.

„Danke“, sagte Chris missmutig. Jedes Mal, wenn sie dachte, sie hätte einen großen Schritt nach vorne gemacht, merkte sie, wie viel sie noch zu lernen hatte. Es war frustrierend.

Und aufregend.

„Keine Ursache.“ Blue seufzte. „Ich schätze, ich will einfach sehen, wie weit du es bringen kannst. Du wirst eine verdammt gute Trainerin werden, da habe ich ein Gespür für. Aber wo geht deine Reise nun hin?“

„Red finden“, antwortete Chris sofort.

„Denk nicht an Red“, schalt Blue sie sofort. „Bis du auf seinem Level bist, werden Jahre vergehen. Denkst du, er hat aufgehört zu trainieren, wo immer er sich gerade befindet? Vielleicht holst du ihn erst ein, wenn ihr beide das absolute Maximum aus euren Pokémon geholt habt. Ihn dann zu suchen ist früh genug.“

„Dann werde ich trainieren“, erwiderte Chris sofort. „Ich werde ein starkes Team zusammenstellen, gegen andere Trainer kämpfen und neue Orte bereisen. Und dann werde ich Red finden und ich werde gewinnen.“

Blue lachte und schielte kurz über ihre Schulter, bevor er sie wieder fokussierte. „Mit dieser Einstellung wird es auf jeden Fall ein Kampf für die Jahrhunderte. Und wo passt Jayden in deinen Masterplan?“

Chris musste nicht lange überlegen. Jayden gab ihr ein gutes Gefühl. Als sie in der Höhle Pause gemacht hatten, lagen sie häufig Schulter an Schulter, schauten den Lehrkanal und sprachen gemeinsam die Dialoge mit, bis schließlich die Batterien aufgaben. Und selbst dann begann Jayden häufig mitten in einem Kampf, die Titelmelodie zu summen, und Chris konnte nicht anders als mitzusingen. Ihre Haut kribbelte, wenn sie daran dachte. Sie war glücklich, wenn sie zusammen waren.

„Wir reisen zusammen weiter.“

„Und falls sich eure Wege trennen müssen?“

Chris zögerte. Was dann? Sie hatte ihre Entscheidung getroffen. Sie musste stark werden und Red herausfordern. Aber würde Jayden sie jeden Schritt auf dieser Reise begleiten können?

„Dann trennen sie sich“, sagte Chris schließlich. „Aber keine Distanz wird etwas daran ändern, dass wir Freunde sind. Und Freunde finden immer einen Weg.“

„Verdammt richtig!“, ertönte hinter ihr eine Stimme und Chris fuhr erschrocken herum. Jayden kam mit Krücken angehumpelt, Glutexo dicht neben ihm und Nicole weiter hinten. „Chris, du wirst es nicht glauben, ich darf Glutexo behalten! Aber ich muss ihn nach Johto zu einer Pension bringen und ihn eine Weile dort lassen. Ich reise nächste Woche ab.“ Er blieb vor ihr stehen, sah sie hoffnungsvoll und etwas ängstlich an. „Kommst du mit?“

Chris wurde abwechselnd heiß und kalt. Johto? Sie wusste nichts über Kantos Nachbarregion, geschweige denn über die Pokémon dort. Hilfesuchend sah sie zu Blue, der lächelnd die Arme verschränkte.

„Gibt es dort starke Trainer?“, fragte sie ihn.

„Oh ja, und viele unterschiedliche Pokémon. Die Pension liegt südlich von Dukatia City, aber wenn ihr nach Norden zu Teak City reist, werdet ihr vielen Gegnern in eurem Levelbereich begegnen.“

Chris zögerte. Dann trat sie vor und umarmte Jayden. „Ich komme mit.“

Erleichtert lehnte Jayden sich gegen sie, soweit seine Krücken das zuließen.

„Hey“, flüsterte er grinsend. „Freunde finden immer einen Weg. Staffel 3, Folge 7?“

„... Ja.“

Chris – Akt 3, Szene 1

8 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Vor ihrer Abreise hatte Chris Blue über Johto und die Städte auf ihrem Weg ausgefragt und sogar eine Karte von ihm erhalten.

Aber nichts und niemand hätte sie auf den Trubel und die schieren Menschenmassen vorbereiten können, die Dukatia City bot.

Am Bahnhof war es am schlimmsten. Im Zug hatte Jayden im Gang gesessen und sie abgeschirmt, aber danach hatte er sie an der Hand nehmen und aus der überfüllten Halle mit dem Surren des Magnetzugs als unterschwelligem Geräusch im Hintergrund ziehen müssen.

Chris konnte erst wieder richtig atmen und sich fokussieren, als sie bereits fast die Pension erreicht hatten.

„Ist sie das?“, fragte Chris und deutete zu dem pink gestrichenen Haus mit der weitläufigen Gartenanlage, umringt von Wald und grünen Wiesen.

Jayden zuckte bei ihrer unvermittelten Frage zusammen. „Hast du mich erschreckt!“, stöhnte er und ließ hastig ihre schwitzige Hand los. „Was war eben los mit dir?“

Chris versuchte sich an ihren Weg hierher zu erinnern, aber sie hatte scheinbar alles nach ihren ersten Eindrücken vom Bahnhof völlig ausgeblendet. „Ich kann mich nicht erinnern.“

Jayden runzelte die Stirn. „Du bist erstarrt und hast panisch um dich geguckt ... aber ist auch egal, jetzt sind wir ja gleich da.“

Ihr Aussetzer war ihr unangenehm, aber Jayden ließ das Thema zum Glück auf sich beruhen.

Gemeinsam näherten sie sich der Pension. Chris brauchte länger, denn sie blieb immer wieder stehen, weil sie farbiges Fell in den Wildwiesen erspähte oder das Kreischen und Gurren ihr unbekannter Vogelpokémon sie ablenkte. So viele Pokémon, deren Namen sie nicht mal kannte. In Alabastia hatte sie sich viel Wissen angelesen, aber sie merkte mit einem grummeligen Gefühl im Bauch, dass ihr all das hier nur wenig nützen würde. Bevor sie nicht einen Überblick über die Artenvielfalt in Johto hatte, musste sie wachsam bleiben.

„Du machst es schon wieder!“, beschuldigte Jayden sie, der plötzlich direkt vor ihr stand. „Träumst du? Ich hab dich gefragt, ob wir in Dukatia City übernachten sollen oder direkt nach Teak City weiterreisen. Die Pokécenter können wir jetzt schließlich benutzen, und das noch für wenig Geld.“ Er grinste und wedelte mit seiner Trainer ID, die ihm nach vielen Versprechen, nie wieder ein Pokémon zu stehlen und alle entstandenen Schäden abzuzahlen unwirsch von Schwester Joy überreicht worden war. Chris selbst hatte ihre mit einem wohlwollenden Lächeln erhalten, welches sie versucht hatte zu erwidern.

„Teak City“, entschied Chris, ohne darüber nachdenken zu müssen. Der Gedanke, auch nur einen Tag länger als nötig in der Metropole zu verbringen, jagte ihr einen Schauer über den Rücken.

„Ich hatte es mir schon gedacht ...“, grummelte Jayden. „Dein Hass auf weiche Betten macht mir allmählich Sorgen.“

„Ich hasse keine Betten“, entrüstete Chris sich. „Ich hasse nur all diese Menschen hier. Außerdem ist es deine Schuld, dass wir bisher im Dreck—"

„Kann ich euch helfen?“

Erschrocken sahen sie auf und entdeckten ein Mädchen, zwei oder drei Jahre älter als sie, die mit Gartenschaufel und Eimer hinter einem großen Rosenbusch auftauchte und zu ihnen an den Zaun kam.

Jayden fing sich als erstes. „Ich soll hier mein Glutexo abgeben. Für Professor Eichs Labor.“

„Aaaah, ja, da war was.“ Sie kratzte sich und hinterließ eine Spur Erde neben ihrer Nase. Ihr dunkelbraunes Haar hing in zwei geschwungenen Zöpfen auf ihre Schultern herab. „Meine Großeltern und meine Mutter sind heute nicht da, aber ich kann dein Pokémon gerne annehmen. Es werden noch einige Glumandaweibchen schlüpfen, du bekommst dein Pokémon also hoffentlich bald wieder.“

Sie folgten der jungen Frau in die Pension. Während Jayden Papiere ausfüllte, sah Chris sich um.

Die Pension war in zwei Bereiche aufgeteilt, eine Theke mit Computer und Telefon auf der einen Seite des Raums, und einer kleinen Sitzecke mit Sofas und Tischen, die einladend eingesunken am anderen Ende des Raums standen. Eine Topfpflanze brachte etwas Grün in den sonst in hellen Tönen gehaltenen Raum.

„Schick oder?“, fragte das Mädchen, als sie hinter der Theke verschwand. „Wir haben hier vor kurzem renoviert müsst ihr wissen. Jetzt, wo ich meinen Opa beim Züchten ablöse, konnte ich mich endlich mit dem neuen Design durchsetzen. Ich bin übrigens Lyra.“ Sie sah grinsend von ihrer Arbeit am PC auf. „Gib mir schon mal den Pokéball, ich muss die Seriennummer hier registrieren. Und deine Trainer-ID brauche ich. Oh, tut mir leid, brauchst du einen Moment?“

Chris legte eine Hand auf Jaydens Schulter, der plötzlich sein Gesicht ganz komisch verzog. Er hielt Glutexos Pokéball in beiden Händen, die leicht zitterten.

„W-wie lange wird das hier dauern?“, fragte er.

Lyra stützte ihre Wange auf einer Hand ab. „Das ist schwer zu sagen. Wenn es nur um ein Ei ginge, wäre die Sache in ein paar Stunden erledigt, die Weibchen haben wir ja hier. Aber da wir das Schlüpfen abwarten müssen und ein Shiny dabei herauskommen muss … es kann ein paar Wochen oder sogar Monate dauern. Wenn du mir sagst, wohin ihr danach reist, kann ich dich über das Pokécenter informieren, sobald Glutexo abholbereit ist.“

Jayden schluckte und aktivierte den Pokéball, aus dem sich Glutexo materialisierte. Während er sich von seinem Starter verabschiedete, ging Chris hinüber zum Fenster und sah nach draußen.  Die Sonne stand hoch am Himmel. Sie waren früh in Saffronia City losgefahren, aber die Fahrt hatte mehrere Stunden gedauert. Plötzlich erspähte sie eine Gestalt, die sich mit hektischen Schritten der Pension näherte.

„Da kommt jemand“, verkündete sie.

„Bestimmt ein Kunde“, meinte Lyra. „Seid ihr soweit?“

Chris drehte sich wieder um. Jayden lag Glutexo in den Armen, das Rauchringe schnaubend seinen Rücken mit den goldgelben Pranken tätschelte. „Ich weiß ja, wir sehen uns bald wieder. G-genieß den Urlaub, okay?“, nuschelte Jayden. Glutexo grummelte zufrieden und löste sich. Jayden wischte sich über die Augen, tätschelte sein Feuerpokémon ein letztes Mal und rief es in den Ball zurück. „Hier“, sagte er und reichte ihn Lyra, die den Pokéball ehrfürchtig entgegennahm.

„Es ist mir eine Ehre, ein Shiny zu züchten“, sagte sie lächelnd. „Ich werde mich gut um ihn kümmern, Jayden.“

„Danke.“ Er schniefte.

Es klopfte laut an der Tür. Chris sah wieder hinaus. Sie konnte nur die Schulter eines schwarzen T-Shirts und den gelben Streifen auf einer Cappi erkennen. „Das ist der Kunde.“

„Können sich diese Trainer nicht einmal an die offiziellen Öffnungszeiten halten?“, fluchte Lyra, legte Glutexos Pokéball in eine benummerte Schublade an der Rückwand und kam um die Theke zur Tür. Sie öffnete diese schwungvoll. „Wir haben nicht geöff—“ Sie verstummte bei dem Anblick der Person draußen augenblicklich.

Chris sah an ihr vorbei. Der Junge sah für sie wie jeder andere Trainer aus, mit dem Unterschied, dass sechs statt den typischen zwei oder drei Pokébällen an seinem Gürtel befestigt waren und er sehr traurig aussah.

„Lyra? Hast du kurz Zeit?“

„Gold! Ich— ja, natürlich habe ich Zeit, wir haben in einer halben Stunde ein Date, schon vergessen?“

„Ehh …“

„Du hast es wirklich vergessen?!“

„Lyra, können wir das bitte privat besprechen?“

Lyra atmete mehrmals tief durch, dann lächelte sie Jayden und Chris an. „Würdet ihr kurz hier warten? Macht es euch bequem, da hinten steht ein Kaffeeautomat.“

Das ließ Chris sich nicht zweimal sagen. Als sie eine Minute später mit einem Pappbecher Kaffee zu Jayden zurückkehrte, der sich aus irgendeinem Grund unter das gekippte Fenster gehockt hatte, statt es sich auf dem Sofa gemütlich zu machen, drangen die Stimmen von Lyra und dem Jungen namens Gold von draußen an ihre Ohren.

„—soll das heißen, du musst gehen? Was willst du denn in Hoenn?!“

„Ich habe keine Wahl, Lyra. Red ist verschwunden. Ich habe ganz Kanto und jetzt Johto nach ihm abgesucht. Falls er die Regionen verlassen hat, wäre Hoenn die nächstbeste Region. Er ist mein einziger richtiger Rivale Lyra, versteh das bitte.“

Lyras Stimme klang erstickt, als sie antwortete. „Oh, ich verstehe sehr gut. Erst bereist du Kanto und bist fast ein Jahr weg, dann kommst du für ein paar Wochen zurück, nur um wieder abzuhauen und dieses Laugia zu fangen—“

„Es heißt Lugia …“

„—Lass mich ausreden! Und dieses verdammte Legendäre zu fangen, nur weil es dir seine Feder dagelassen hat und jetzt willst du schon wieder weg!“

Chris sippte an ihrem Kaffee. Red? Ein Legendäres? Hoenn? Diese Unterhaltung war weit aufschlussreicher, als sie erwartet hatte.

„Hörst du das?“, flüsterte Jayden überflüssiger Weise neben ihr. „Das ist Gold! Er hat Johto vor Team Rocket gerettet und Red herausgefordert. Man sagt, er wäre der einzige Trainer, der eine echte Chance gegen ihn hatte, und trotzdem hat er verloren.“

So, so. Chris trank noch einen Schluck Kaffee. Ein weiterer Trainer, den sie übertrumpfen musste, um Red zu besiegen. Blue hatte Recht damit gehabt, sie nach Johto zu schicken.

„Du könntest mitkommen“, sagte Gold nach einer extrem langen Pause. Er klang hoffnungsvoll. „Wir könnten zusammen reisen. Die Regionen erkunden, Abenteuer erleben.“

„Und was soll ich deiner Meinung nach machen, während du von einer Stadt zur nächsten fliegst und den lieben langen Tag trainierst?“, erwiderte Lyra hitzig. „Ich bin nicht dein Accessoire. Was ist denn mit meinen Wünschen und Träumen? Wie soll ich die beste Züchterin Johtos werden, wenn ich mein Leben lang hinter dir herrenne? Außerdem kann ich Mama hier nicht alleine lassen. Meine Großeltern sind schon alt, sie wollen ihren Ruhestand genießen. Ich kann nicht einfach für wer weiß wie lange verschwinden. Den Luxus habe ich nicht.“

Ihren Worten folgte Stille.

„Ich verstehe.“ Gold klang erschöpft. „Ich wollte dich nicht verärgern. Es tut mir leid, Lyra. Ehrlich.“

„Unser Date verschieben wir auf deine Rückkehr“, sagte Lyra. „Und dann bleibst du hoffentlich etwas länger.“

„Klaro. Lyra, ich wollte dir eigentlich noch etwas sagen …“

Chris und Jayden setzten sich gleichzeitig auf und lugten aus dem Fenster. Gold stand leicht abgewandt und kratzte sich verlegen im Nacken, während Lyra mit verschränkten Armen vor ihm stand. Bei seinem Anblick schien sie Mitleid zu haben, denn sie huschte vor und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich dir auch. Aber unser Date ist früh genug dafür, meinst du nicht?“

Gold wurde rot. „Ich, eh, ja, du hast natürlich, ehm, Recht. Ich, ehm, geh dann mal.“

Und wie jemand, der verlernt hatte gerade zu gehen, drehte er sich um und stolperte davon. Lyra seufzte und rieb sich die Augen, dann kam sie zurück in die Pension. Jayden und Chris waren nicht schnell genug und fanden sich Auge in Auge mit ihr wieder, während sie noch zusammengepfercht unter dem Fenster hockten. Lyra stieß die Luft aus. „Ihr habt wohl alles mitgehört. Ist auch egal. Nur das Übliche Bla Bla von Trainern. Datet nie einen Trainer, wenn er ihr selbst keiner seid, sage ich euch, das bringt nur Ärger.“ Sie ließ sich auf das Sofa fallen und umarmte ein flauschiges Kissen.

Chris setzte sich dazu, Jayden ebenfalls.

„Wollte er gerade …“, begann Jayden und wurde rot, also unterbrach Chris in Kurzerhand.

„Was ist Lugia? Weißt du, wo Red ist? Wie lange wird Gold in Hoenn sein?“

„Oh je, bist du auch so eine Fanatikerin?“, stöhnte Lyra. „Wo Red ist, weiß keiner, und ich will es auch gar nicht wissen, dann würde Gold nämlich nie mehr aufhören gegen ihn zu kämpfen und ich würde ihn höchstens alle zehn Jahre zu Gesicht kriegen. Wer weiß, wie lange er jetzt wieder wegbleiben wird. Ich halte jedenfalls nicht den Atem an. Soll er sich austoben, er weiß ja, wo er mich findet. Ich werde mein Leben auch ohne ihn genießen, jawohl!“

„Und Lugia?“, hakte Chris sofort nach. „Es ist ein Legendäres?“

„Ja, aber ich weiß auch nicht viel darüber“, erwiderte Lyra. „Legendäre kann man nicht züchten, wisst ihr. Sie sind quasi unsterblich, dafür aber unfruchtbar. Für mich also komplett uninteressant. Aber Lugia bildet ein Duo mit Ho-Oh. Lugia ist ein Wassertyp und gebietet über die Meere, während Ho-Oh ein Feuerpokémon ist und über die Lüfte wacht. Irgendetwas in der Art. Jedenfalls hat Gold Lugia ein paar Mal gesichtet und schließlich hat er die Silberfeder von ihm bekommen, was im Grunde bedeutet, dass Lugia von ihm herausgefordert werden wollte. Aber ich bin wirklich kein Experte für diese Mythen, da müsst ihr schon nach Teak City gehen. Da ist auch der Glockenturm, die Mönche wissen alles über die beiden.“

„Er hat Lugia also gefangen?“

„Ja, und wahrscheinlich sitzt er in diesem Moment auf dem vermaledeiten Vieh und freut sich darüber, endlich wieder unterwegs zu sein. Nerven hat dieser Junge, mich vor unserem Date abzuservieren … Urgh!“ Sie warf das Kissen von sich und sprang auf. „So, braucht ihr noch was? Ich muss mich abreagieren und das geht am besten, wenn ich shoppen gehe.“

Chris nickte. „Wir sind hier fertig.“

„Sind wir?“, fragte Jayden panisch, während sie ihn schon auf die Füße zog und aus der Tür bugsierte.

„Wartet!“, rief Lyra ihnen hinterher. „Wo geht eure Reise hin? Ich muss euch doch kontaktieren können!“

„Teak City“, rief Chris und stapfte mit Schwung im Schritt los.

Jayden schielte sie von der Seite an, während er versuchte, Schritt zu halten. „Was heckst du nun schon wieder aus?“, fragte er.

Chris lächelte ihn breit an. „Ist das nicht offensichtlich? Ich werde Ho-Oh fangen.“

Jayden – Akt 3, Szene 1

8 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Sie brauchten zwei Wochen, um Teak City zu erreichen, und Jayden hasste jede Sekunde. Also, nicht wirklich, aber der Verlust von Glutexo machte ihm schwer zu schaffen. In jedem Pokémonkampf war er darauf angewiesen, dass Chris und Pikachu ihn beschützten. Er schlief schlechter ohne das Gefühl des Pokéballs an seiner Hüfte. Seine Angst, Glutexo könnte etwas abfackeln wurde ersetzt durch die Furcht, er könnte seinen Starter Jahre nicht zurückbekommen, weil einfach kein Shiny schlüpfen wollte. Er vermisste sein Pokémon und jedes Mal, wenn Pikachu mit Chris` elektrisierten Haaren spielte oder die beiden sich durchs Gras jagten, stach ihm die Eifersucht wie ein Messer in die Brust.

Ihm war klar, dass Chris nichts dafür konnte, aber seine Laune wurde zusehends schlechter, je näher sie Teak City kamen. Auf ihren Vorschlag, ein zweites Pokémon als Ersatz zu fangen, reagierte er, indem er sie anbrüllte, und danach sprachen sie einen Tag lang nicht miteinander, bis er die Stille nicht mehr ertrug und sich bei seiner besten Freundin entschuldigte.

Als endlich der Glockenturm hinter den dichten Wäldern von Route 37 auftauchte und Teak City in greifbare Nähe rückte, war er bereit, sich nicht länger von Glutexos Abwesenheit runterziehen zu lassen. Er wusste, dass dies der Preis für seinen Diebstahl war und die Belohnung am Ende ihrer Trennung war den jetzigen Schmerz wert. Aber ein bitterer Nachgeschmack blieb trotzdem.

 

 

„Komm schon Chris, ich kann das Tor sehen!“, rief Jayden, aber seine Freundin reagierte nicht. Pikachu war in einen Kampf mit einem wilden Damphirplex verwickelt und schoss wie ein kleiner Blitz durchs Gebüsch, was den Hirsch rasend machte. Jayden schüttelte amüsiert den Kopf und ging voran. Sollte sie trainieren. Er hätte am liebsten dasselbe getan, aber ohne Glutexo blieb ihm nichts übrig, als alleine die Stadt zu erkunden. Er zurrte seinen Rucksack zurecht und stiefelte los.

Die Hitze des Sommers war in den letzten Tagen langsam abgeflaut. Bald würden die grünen Bäume ihr Laub verlieren und der Herbst mit kalten Händen nach ihnen greifen. Würde er Glutexo noch in diesem Jahr wiedersehen?

Er war nicht sicher.

Als er durch das rote Tor trat, hielt Jayden sprachlos inne. Teak City war wunderschön—und zerstört. Traditionelle Dächer waren eingerissen, Baumstämme lagen quer über den Straßen und diverse Menschen schoben Schubkarren voll abgebrochener Äste und Ziegelsteine vor sich her. Es herrschte geschäftiges Treiben. Einige Machollo und Quaputzi beteiligten sich an den Aufräumarbeiten.

Jayden nahm schnurstracks Kurs auf das Pokécenter, aber er blieb oft stehen, um die Schäden zu begutachten. So hatte er sich seine Ankunft in der historischen Stadt nicht vorgestellt.

Im Pokécenter war es brechend voll. Schwester Joy hatte die Tische mit belegten Broten, Obst und Kaffeebechern vollgestellt und viele der Helfer saßen eng an eng zusammen und machten Pause. Jayden schlängelte sich zwischen den Grüppchen hindurch, begrüßte Schwester Joy und lehnte sich dabei fast über die Theke.

„Was ist denn hier passiert?“, fragte er.

Die pinkhaarige Frau seufzte und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ein Unwetter, wie ich es noch nie erlebt habe. Vor vier Wochen ist hier alles durch die Luft geflogen, Blitze sind eingeschlagen, die Arena musste vorübergehend geschlossen werden. Es war Chaos. Wir hatten Glück, dass es keine Todesfälle gab, auch wenn einige Menschen schwer verletzt wurden. Seitdem laufen die Aufräumarbeiten, aber es ist sehr müßig und es gibt so viel zu tun.“ Sie warf ihm einen Blick zu. „Du wirkst kräftig für dein Alter, willst du nicht mithelfen?“

Jayden musste nicht lange nachdenken. „So gut ich kann!“, versicherte er. Die Leute hier brauchten Hilfe, und er würde ohnehin nicht trainieren können. So konnte er seine Zeit zumindest nutzen. „Aber ich brauche noch eine andere Art von Arbeit, meine Freundin und ich sind ziemlich knapp bei Kasse …“

„Oh, das ist kein Problem“, sagte Schwester Joy lächelnd. „Helfern, die nicht in Teak City wohnen, zahlt unser Jens aus eigener Tasche ein schönes Taschengeld. Sprich ihn einfach an, dann wird er dir schon sagen, wo Hilfe nötig ist.“

„Wo wohnt er denn?“

Sie lachte. „Na, neben der Arena natürlich!“

 

 

Er war gerade auf dem Weg zur Arena, da kam Chris durch das Tor getrottet. Sie sah sich kurz um, nahm die Schäden an den Häusern und Straßen wahr und kam dann ohne Kommentar an seine Seite. Pikachu lag wie ein knisterndes Nackenhörnchen um ihre Schultern und schlief.

„Wir können beim Wiederaufbau helfen und dabei Geld verdienen“, erklärte Jayden und deutete dabei auf die Plakate mit Sprüchen wie BAUT UNSERER STADT WIEDER AUF oder SEI KEIN FLEGMON, HILF MIT. Sie schlenderten über das Pflaster zu der Pagode, die etwas weiter entfernt zwischen den anderen Häusern emporragte. Auch sie hatte ziemlichen Schaden genommen, aber bis auf einen großen Ahorn, der zersägt und dann liegengelassen worden war, schienen hier noch keine Arbeiten stattgefunden zu haben.

„Ich bin nur hier, um zu trainieren und mehr über Ho-OH zu erfahren“, erwiderte Chris kühl. Jayden biss sich auf die Lippe. Er würde auch lieber trainieren, aber ihm blieb nun mal nichts anderes übrig, und die Rechnung für das Magnetzugticket und die Pensionsgebühr hatte Nicole ihm ebenfalls schon zugeschickt. Er brauchte das Geld, und Trainerkämpfe waren ohne Pokémon nun mal keine Option.

„Ich werde jedenfalls helfen“, sagte er stattdessen, da er wusste, dass ein Streit mit Chris nichts bringen würde. Wahrscheinlich empfände sie es als Teak City Stadtbewohner als eine Kränkung, Hilfe von Reisenden annehmen zu müssen, oder irgendetwas in der Art. Chris war in diesen Dingen sehr speziell.

„Wie du willst“, sagte sie. Pikachu schnarchte leise. Sie tätschelte lächelnd seinen Kopf.

An der Arena angekommen, ignorierten sie den Haupteingang und zurrten stattdessen an der Glockenklingel des kleinen Häuschens nebenan. Es dauerte eine Weile, bis die Schiebetür geöffnet wurde und eine hutzelige alte Frau mit Buckel öffnete. Sie nahm die beiden in Augenschein. Über ihrer Schulter schwebte etwas, das die Luft merkwürdig schimmern ließ, sich aber nicht zu erkennen gab.

„Wenn ihr Jens sucht, der ist am Glockenturm“, informierte die Alte sie. Chris nickte und drehte auf dem Absatz um, aber Jayden kniff die Augen zusammen. Er wollte wissen, was da in der Luft schwebte. „Tu dir beim Gucken mal nicht weh“, sagte die Frau weiter und lachte, als Jayden rot wurde. „Das hier ist Polly. Sie ist mein Apollo, und sie ist sehr schüchtern. Du wirst sie nicht einfach so zu Gesicht bekommen.“

„Ein Apollo“, flüsterte Jayden ehrfürchtig.

„Faszinierend, oder?“, fragte sie. „Geistpokémon sind treue Seelen, aber man muss Geduld mit ihnen haben. Die meisten haben eine schwierige Persönlichkeit, und da sie sich unsichtbar machen können, sind sie nicht für Anfänger geeignet. Leider fangen viele Jungspunde Nebulaks in Viola City, ohne die nötige Erfahrung mitzubringen. Dann sind sie überfordert mit der Aufgabe und geben die armen Pokémon im Pokécenter ab. Jens wildert sie alle paar Monate aus, aber einige Pokémon wollen weiter bei einem Trainer bleiben und um die kümmern wir uns dann.“

Jayden hatte jedem Wort gebannt zugehört. Er wusste nicht mal warum, aber etwas an dem Apollo der alten Frau faszinierte ihn. Vielleicht einfach, dass es sich unsichtbar machen konnte. Das war so … cool. „Kann ich sie mal besuchen? Also die Pokémon?“

„Aber sicher. Du bist jederzeit herzlich willkommen.“

„Danke!“ Da fiel ihm auf, dass er alleine war. „Chris, hey, Chris, wo bist du?”

Jayden sah sich um, aber Chris war schon längst verschwunden. Fluchend rannte er ihr hinterher zum Glockenturm.

Er holte sie auf halbem Wege ein.

„Hey!“, rief er. „Warte doch mal auf mich!“

Sie sah zu ihm zurück und wurde tatsächlich ein bisschen langsamer. „Warum?“, fragte sie. „Kennst du den Weg nicht?“

„Doch“, sagte Jayden genervt. Der Glockenturm war schließlich weithin sichtbar. „Aber es ist höflicher und ich muss sonst immer rennen, um dich einzuholen.“

Seine Freundin sah so aus, als wolle sie darauf noch etwas erwidern, beließ es dann aber bei einem Schulterzucken und deutete auf eine Gruppe Teenager und Erwachsene, die vor dem Glockenturm Dächer von Häusern flickten oder Schlamm schippten. „Weißt du, wer von denen Jens ist?“, fragte sie.

Jayden schüttelte den Kopf. Er war ja selbst erst seit einer halben Stunde in der Stadt! Aber die Frage klärte sich von selbst, sobald sie näherkamen.

Ein junger Mann, vielleicht zwanzig Jahre alt, mit violettem Stirnband und verstrubbeltem, blonden Haar, entpuppte sich ganz eindeutig als Zentrum des Treibens. Helfer fragten ihn um Rat, Vorbeilaufende riefen ihm einen Gruß zu und um ihn herum schimmerte die Luft wie über einem heißen Feuer.

„Geistpokémon“, flüsterte Jayden ehrfürchtig.

Chris schien zu der gleichen Schlussfolgerung gekommen zu sein, denn sie steuerte den Mann sofort an.

„Bist du Jens der Arenaleiter?“, fragte sie unverblümt.

Der Mann zuckte zusammen und drehte sich zu ihnen um. Als er den Pokéball an ihrem Gürtel sah, hellte sich sein Gesicht auf. „Eine Trainerin? Bist du hier um zu helfen oder willst du mich herausfordern? Wegen der Wetterschäden ist die Arena leider für die nächsten Wochen geschlossen, du kannst dein Glück aber schon bei Jasmin in Oliviana City versuchen.“

„Ich will mehr über die Legende von Ho-Oh erfahren“, widersprach Chris sofort.

„Und ich will beim Wiederaufbau helfen, ich bin etwas knapp bei Kasse“, fügte Jayden schnell hinzu.

Jens studierte sie beide mit einem undurchschaubaren Blick. Schließlich wandte er sich an Jayden. „Hilfe ist gern gesehen, und da ihr nicht aus der Stadt seid, springt tatsächlich etwas Geld für dich dabei raus. Und was Ho-Oh angeht …“ Er studierte Chris eingehend, dann lachte er. „Tja, da kann ich dir auch nicht so ohne weiteres helfen. Die Mönche besitzen jede Menge Texte über Ho-Oh, aber an die lassen sie nicht jeden heran.“

Von der Art, wie Jens das sagte, war Jayden sofort klar, dass der Arenaleiter sehr wohl über Ho-Oh Bescheid wusste, aber Chris als Fremden noch nicht über den Weg traute.

„Weshalb interessierst du dich denn für das Legendäre?“, fragte er.

„Ich will es fangen, so wie Gold Lugia gefangen hat. Und dann werde ich Red herausfordern.“

Jayden stöhnte. „Chris, das kannst du nicht jedem erzählen, da nimmt dich doch niemand ernst mit!“

Sie sah ihn überrascht an. „Warum nicht?“

„Na weil … du hast ein Pokémon, und das ist noch nicht besonders stark. Schau mich nicht so an! Ich wette, Ho-Oh lässt sich nicht einfach so fangen, sonst wäre es bestimmt schon bei einem anderen Trainer.“

Jens lächelte. „Da hat dein Freund recht. Aber ich versichere dir, ich nehme dich sehr wohl ernst. Trotzdem müssen Worten auch immer Taten folgen. Falls Ho-Oh dich als würdig erachtet, wirst du es schon merken. Bis dahin solltest du dein Glück bei den Mönchen versuchen.“

Chris sah mit dieser Antwort überhaupt nicht glücklich aus, nickte aber nach einer Weile, so als habe sie einen wichtigen Entschluss gefasst und ging an Jens vorbei Richtung Glockenturm.

Jayden seufzte leidend. Sie hatte schon wieder nicht auf ihn gewartet.

„Deine Freundin hat eine sehr direkte Art“, sagte Jens, der Chris ebenfalls hinterher sah.

„So ist sie immer“, sagte Jayden. „Sie wollte nicht unhöflich sein.“

„Das ist schon in Ordnung“, sagte Jens. „Mir sind Menschen wie sie lieber als solche, die den ganzen Tag lang schwatzen und doch nicht zum Punkt kommen. Aber eine andere Frage, wo wollt ihr unterkommen? Soweit ich das mitbekommen habe, ist das Pokécenter ausgebucht. Ich kann euch aber bei ein paar Freunden unterbringen, dort sind vor ein paar Tagen zwei Betten freigeworden.“

Dieses Angebot nahm Jayden dankend an.

Jayden – Akt 3, Szene 2

8 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Nachdem er Chris wieder eingesammelt hatte, machten sie sich gemeinsam auf den Weg zu ihrer vorübergehenden Herberge. Jens beschrieb Jayden den Weg, aber Jayden hörte nur mit halbem Ohr zu, weil er versuchte, eins der unsichtbaren Schemen über dem Arenaleiter zu erkennen. So verbrachten sie eine halbe Stunde damit, durch die Stadt zu irren.

Je mehr Jayden von der Stadt sah, umso überzeugter war er davon, mit der Hilfe beim Aufbau das Richtige zu tun. Kein Haus war verschont geblieben. Manche hatten nur leichte Dachschäden oder abgerissene Fensterläden, aber andere waren halb eingestürzt.

Das Haus von Jens Freunden entpuppte sich als ein traditionelles Gebäude mit blau gedeckten Pagodendächern und einem Schild mit einer stilisierten Tänzerin in sehr aufwendigem Gewand. Jayden hätte es gerne länger betrachtet, aber da entdeckte Chris den Seiteneingang.

„Hier“, sagte sie und zog an dem Türknauf. Die Tür ruckte, blieb aber geschlossen. Genervt ruckte sie erneut daran. Jayden seufzte, kam zu ihr und legte eine Hand auf ihre Schulter.

„Lass mich das machen.“

Chris runzelte die Stirn, trat aber einen Schritt zurück. Jayden streckte eine Hand aus, so als wolle er die Tür aufziehen—und betätigte dann die Klingelglocke. Bei dem Blick, mit dem Chris in strafte, musste er laut lachen, aber in dem Moment öffnete schon eine elegant gekleidete Frau die Tür. Graue Strähnen spickten ihr pechschwarzes, hochgestecktes Haar und hinter ihrem Bein versteckte sich ein kleiner Junge, der sie beide mit großen Augen ansah.

„Guten Abend“, begrüßte Jayden sie so höflich er konnte. In der Gegenwart dieser hochgewachsenen Frau, die ihre dreckstrotzende Kleidung kritisch beäugte, fühlte er sich sofort unwohl. „Jens sagte, dass wir hier unterkommen können“, erklärte er hastig. „Ich bin Jayden und das ist meine Freundin Chris. Vielen Dank, dass sie uns aufnehmen.“

Bei Jens` Namen wich der abschätzige Blick einem ehrlichen Lächeln. „Unserem Jens schlagen wir keinen Gefallen ab, und wir freuen uns selbstverständlich auch über etwas Hilfe im Theater.“ Sie trat beiseite. „Kommt herein.“

Sie betraten einen kleinen Flur mit einer Stufe, vor der sie ihre Schuhe ausziehen mussten und stattdessen Pantoffeln erhielten. „Mein Name ist Fiona“, stellte die Frau sich vor, während sie ihre Schuhe wechselten. „Mir gehört das Theater und ich lebe hier mit meiner Familie und den Mädchen.“ Sie führte Jayden und Chris durch einen langen, schmalen Flur mit Schiebetüren zu mehreren Seiten. Der kleine Junge blieb anfangs an ihr Bein geklammert, floh aber irgendwann vor den Fremden und verschwand um eine Ecke. „Ihr dürft solange bleiben, wie ihr wollt, im Gegenzug erwarte ich, dass ihr im Haus mithelft. Wischen, Fegen, Toiletten putzen, solche Dinge. Aber macht es euch erstmal gemütlich, ihr habt sicher einige Strapazen hinter euch. Es gibt ein kleines Bad mit Dusche auf eurem Stockwerk. Einmal die Woche dürft ihr euch in die Badeliste eintragen.“

So fuhr sie mit Erklärungen fort, von Mahlzeiten über Küchendienste bis hin zu dem Pokémonverbot im Haus.

Dieser Punkt stieß vor allem Chris sauer auf. „Warum dürfen wir unsere Pokémon nicht rufen?“, protestierte sie sofort.

„Glaub mir Chris, das war nicht immer so“, antwortete Fiona entschuldigend. „Aber wir haben aus der Vergangenheit gelernt. So, und da sind wir schon.“

Sie blieb vor einer dunklen Holztreppe stehen, die steil ins nächste Geschoss führte. Jayden blickte hinauf in die Dunkelheit und überlegte, ob er sich bei einem Sturz direkt das Genick brechen würde oder nur die Beine.

„Euer Zimmer ist gleich auf der linken Seite, das Bad ganz am Ende des Flurs. Ich hoffe, die Musik stört euch nicht, euer Zimmer ist direkt über der Bühne.“

„Welcher Bühne?“, murmelte Jayden, bis ihm wieder das Schild draußen einfiel. Und eben hatte sie ein Theater erwähnt. Er wollte gerade fragen, was für Veranstaltungen sie hier aufführten, da hörte er das Tapsen mehrerer Füße. Als er sich zu der Quelle des Geräuschs umdrehte, entdeckte er den Kopf eines Mädchens ungefähr in seinem Alter, das mit einer Hand die Schiebetür zu ihrer Linken aufhielt und durch den Spalt spinkste. Direkt unter ihr tat der kleine Junge von eben das gleiche. Jayden hatte gerade genug Zeit, das rot und blau gemusterte Gewand des Mädchens auszumachen, da entdeckten ihre braunen Augen ihn und sie riss kichernd den Kopf zurück.

Jayden stupste Chris an und deutete auf die Tür, die noch immer offenstand. Durch die Beleuchtung im anderen Raum konnten sie gerade sie die Umrisse von mehreren Personen ausmachen. Fiona bemerkte das Kichern im Nebenraum ebenfalls.

„Entschuldigt mich“, sagte sie und scheuchte Jayden und Chris die Treppe hinauf, bevor sie den Raum betrat. „Was ist hier los, Mädchen? Ihr solltet die zweite Sequenz üben, während ich mich um unsere Gäste kümmere! Husch, husch, weiter geht`s. Komm, Nick.“

Danach verklangen die Stimmen.

„Beeil dich“, drängelte Chris ihn, die bereits auf der obersten Treppenstufe stand.

„Ja, ja“, murrte Jayden und kletterte vorsichtig hinterher.

Ihr Zimmer entpuppte sich als geräumiger als erwartet, allerdings war die Hälfte des Raumes durch eine Dachschräge nicht hoch genug, darin stehen zu können, und vollgestellt mit Kartons und Truhen, aus denen Kostüme, gefaltete Gewänder, Fächer und andere Dinge quollen. Jayden untersuchte alles fasziniert, während Chris sich auf ihr Bett fallen ließ und missmutig ihren Pokéball hochhob.

„Ich finde es nicht gut, dass ich Pikachu nicht rufen darf“, verkündete sie.

Jayden trafen die Worte etwas tiefer als er wollte. Die Freude über seine Entdeckungen verlosch und er wandte sich Chris zu. Er versuchte, neutral zu klingen, als er sagte, „Wenigstens hast du dein Pokémon noch. Wer weiß, wann ich Glutexo wiedersehen werde?“

Chris legte den Kopf schief, nickte aber schließlich. „Du hast Recht, das ist wesentlich schlimmer.“

Jaydens Wut verrauchte. Er warf sich neben Chris auf ihr Bett und starrte an die Decke. „Wenn du es so sagst, fühle ich mich noch schlechter. Aber hast du all die Geistpokémon gesehen?“

„Nein.“

„Genau!“, sagte er und setzte sich ruckartig auf. „Das ist so cool! Ich glaube, ich möchte eins fangen. Aber die alte Frau bei Jens meinte, dazu muss man nach Viola City in den Knofensaturm …“

„Nimm eins von denen, die hier ausgesetzt wurden“, schlug Chris vor. Jayden starrte sie an. „Hat die Frau das nicht gesagt? Dass einige der Pokémon nicht ausgewildert werden können?“

„Chris“, sagte Jayden und nahm ihr Gesicht in beiden Hände. „Du bist ein Genie. Bis später!“

Und damit rannte er aus dem Zimmer und die Treppe hinunter, zum Glück ohne Genickbruch. Aber es war eine knappe Sache.

 

 

„Als ich dich eingeladen habe, die Pokémon zu besuchen, meinte ich nicht am selben Abend, junger Mann“, schalt ihn die hutzelige Alte, die trotz ihrer Tirade bereits Tee für ihren unangekündigten Besuch aufbrühte und sich stöhnend neben ihn an den Tisch kniete.

Jayden druckste herum. Chris` Vorschlag war ihm so gut vorgekommen, aber jetzt da er hier saß, wusste er nicht, wo er anfangen sollte. Würde sie ihn überhaupt ernstnehmen? Er war schließlich genauso ein Anfänger wie die anderen Trainer, die Geistpokémon fingen und sie dann wieder abgaben. Aber der Gedanke an Glutexo ließ ihn neuen Mut fassen.

„Ich möchte gerne mit den Geistpokémon helfen“, erklärte er. Die Alte zog die Brauen empor. Über ihrer Schulter schimmerte Apollo leicht, blieb aber unsichtbar. „Ich weiß, dass ich noch nicht viel Erfahrung habe, aber mein Starter war auch kein einfacher Charakter und wir haben trotzdem Freundschaft geschlossen. Es gibt noch viel für mich zu lernen, aber ich bitte Sie, geben Sie mir eine Chance!“ Er neigte den Kopf tief und wartete, während Blut in seinen Ohren brauste.

„Na“, sagte die alte Frau nach einer gefühlten Ewigkeit, „wenn das mal keine Ansage ist. Also gut! Ich werde nicht jünger und kann ein bisschen Hilfe von einem motivierten Jungspund wie dir gut gebrauchen. Und lernen kannst du bei mir auch einiges, Polly und ich sind inzwischen seit über fünfzig Jahren Partner. Ich erwarte dich morgen früh hier, um deine neuen Schützlinge kennenzulernen. Je nachdem, wie das Treffen läuft, sehen wir dann weiter. Und jetzt trink schon deinen Tee, er wird ja ganz kalt!“

Jayden kehrte erst spät abends zum Theater zurück. Zusammen mit der Alten, die sich im Laufe des Gesprächs als Koko vorstellte, trank er eine Tasse Tee nach der anderen und sog wie ein Schwamm alles in sich auf, was sie ihm erzählte, von typischen Fehlern mit Geistern, zu Vorurteilen und ihren Lieblingsspeisen. Sein Schädel brummte von so vielen Informationen, aber er war wunschlos glücklich, als er durch die Seitentür hereinkam (Fiona hatte ihnen den Zweitschlüssel unter dem Blumenpott gezeigt) und sich die Treppen hinauf in sein neues Zimmer schlich. Dort entdeckte er zu seiner großen Überraschung Chris, die bäuchlings auf dem Fußboden lag und durch ein Astloch in den Dielen starrte. Ihr Pony war frisch geschnitten und reichte gerade so zur Mitte ihrer Stirn. Scheinbar hatte sie endlich wieder ihrem Ritual nachkommen können. Jayden wusste von ihren Reisen, wie sehr sie das zu lange Haar störte.

„Endlich bist du da“, sagte sie, als er eintrat und winkte ihn zu sich. „Schau mal.“

Jayden ging neben ihr auf die Knie und schaute durch das kleine Loch im Holz geradewegs auf die Bühne. Fünf Mädchen bewegten sich im Takt einer klatschenden Person über das polierte Holz. Sie trugen dieselben rot-blauen Gewänder wie das Mädchen von vorhin, und schienen eine Art Tanz aufzuführen. Ihre goldenen Fächer untermalten die Bewegungen noch weiter. Es sah hier und da noch etwas holprig aus, aber insgesamt schienen sie alle sehr vertraut mit der Choreographie zu sein.

„Was machen sie da?“, wollte Chris wissen, die sich im Schneidersitz neben ihn gesetzt hatte und ihn beim Zuschauen beobachtete.

„Sie tanzen“, sagte Jayden und setzte sich auf. „Sag bloß, dass siehst du zum ersten Mal.“ Chris wurde rot, daher ruderte Jayden schnell zurück. „Jedenfalls scheinen sie hier eine Bühne und alles zu haben. Wahrscheinlich gibt es richtige Aufführungen mit vielen Zuschauern. Oder gab es vor dem Unwetter.“

Chris nickte nachdenklich. Dann stand sie auf und ging zum Bad, um zu Duschen und ihre Wäsche zu waschen. Jayden zog seine dreckigen Klamotten auf und warf sich auf sein Bett. Er breitete die Arme aus und starrte an die Decke. Es kam ihm so vor, als hätte er erst vor wenigen Tagen mit Glumandas Pokéball Alabastia verlassen, dabei waren inzwischen fast zwei Monate vergangen. Glutexo war nicht bei ihm, dafür Chris, und er hatte die Gelegenheit, ein Geistpokémon zu erhalten, wenn er sich gut anstellte. Seit sie in Teak City waren, schien alles ganz schnell zu gehen. Wie lange Chris wohl brauchen würde, um sich über Ho-Oh zu informieren?

Er sah zum Bad. Was würde geschehen, wenn sie bereit war, weiterzureisen? Würde sie wirklich auf ihn warten, egal wie lange es dauerte?

Wollte er das?

Jayden war sich nicht sicher.

Chris – Akt 3, Szene 2

8 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

 

Die erste Nacht im Theater schlief Chris schlecht. Sie war es von ihren Reisen inzwischen gewohnt, auf der Erde oder zumindest in einem Pokécenterbett zu schlafen, aber in einem fremden Haus zu übernachten fiel ihr sehr schwer. Sie schreckte bei jedem Geräusch auf und griff nachts immer wieder nach Pikachus Pokéball. Ihr Starter war ihr ein großer Trost und konnte sie mit seinen Streichen stets aufmuntern und beruhigen. Ihn nicht rufen zu dürfen, machte ihre Situation nur noch schwieriger.

Nach einigen Stunden Hin- und Herwälzen entschied sie, dass es Zeit war, aufzustehen, auch wenn die Sonne noch nicht ganz aufgegangen war. Sie zog sich leise an, um Jayden nicht zu wecken, wusch sich im Bad das Gesicht und verließ auf leisen Sohlen das Haus. Kaum, dass sie an der frischen Luft war, atmete sie leichter und rief Pikachu.

Ihr Starter materialisierte sich mit einem empörten Schütteln seines Pelzes und sprang sofort auf ihre Schulter, wo er es sich gemütlich machte und an ihrem Ohr zupfte. Chris lächelte und machte sich auf den Weg zum Pokécenter.

Dank der Kämpfe gegen Trainer, die sie auf dem Weg nach Teak City bestritten hatte, besaß sie inzwischen wieder ein bisschen mehr Geld und erlaubte sich nach der Heilung von Pikachu, im Pokémarkt einige Tränke, Pokébälle und Müsliriegel zu kaufen. Seit ihrem Gespräch mit Blue in Orania City waren ihre Gedanken nur auf eine Sache fixiert: Stärker werden. Ihr Ziel, Ho-Oh zu fangen, war zwar dazugekommen, aber sie wusste selbst, dass sie bis dahin viel zu tun hatte.

Sie schlenderte durch die schlafende Stadt und genoss die Stille und Einsamkeit. Pikachu dirigierte ihre Schritte mit seinem Ohrzupfen und so fand sie sich schon bald wieder auf Route 37 wieder, wo sie zusammen nach einem wilden Pokémon suchten. Pikachu warf sich in den Kampf gegen ein Vulpix, das sie aus dem Schlaf rissen.

Das erste Problem war ihr Wissen. Pikachu war stark, aber wenn sie gegen Pokémon kämpfte, deren Typen und Attacken sie nicht einschätzen konnte, war sie ihrem Starter keine Hilfe.

Damit kam sie zu ihrer nächsten Hürde. Ihr Team musste balanciert sein, wenn sie gegen Red gewinnen wollte. Sie hatte ein Elektropokémon, und den Platz für Ho-Oh musste sie freihalten. Lyra zufolge handelte es sich bei dem Legendären um ein Feuer-Flug-Pokémon. Sie würde also genau überlegen müssen, welche anderen Typen sie brauchte, und welche Rollen die Pokémon in ihrem Team übernehmen sollten. Und dazu kam noch das Problem mit den Persönlichkeiten!

Obwohl Chris sich fühlte, als würde sie von all diesen zukünftigen Entscheidungen erdrückt, musste sie doch grinsen. Sie wollte so viele Herausforderungen. Dadurch würde ihre Leistung umso verdienter sein.

Pikachu sprang steil in die Luft, um Vulpix` Attacke auszuweichen und griff seinen Gegner von oben mit seinem neu erlernten Donnerblitz an. Der Elektroschock traf Vulpix mit voller Wucht und ließ es besiegt zu Boden sinken. Pikachu kam freudig erregt auf sie zugesprungen und verpasste ihr durch seine Statik einen kleinen Schock, als sie es auffing. Chris hielt es trotzdem stolz in den Armen.

Obwohl sie zwei Wochen regelmäßig gegen Trainer und wilde Pokémon gekämpft hatten, war Pikachu nur langsam stärker geworden. Chris fragte sich, ob sie den ersten Levelrausch hinter sich hatten und es von nun an immer härter werden würde, Pikachu zu trainieren. Sie betrachtete ihren Partner, dessen rote Backen vom Kampf knisterten und der genüsslich die Augen schloss, als sie sein Kinn kraulte.

Und wenn schon. Sie war geduldig. Egal wie lange es dauern würde, ihr Team zu bauen und zu trainieren, sie würde nicht aufgeben.

 

 

Nach einigen Stunden Training knurrte Chris` Magen. Statt ihren Vorrat an Müsliriegeln anzufassen, machte sie sich auf den Weg zu einer Bäckerei und besorgte belegte Brötchen, die sie auf dem Weg zum Glockenturm mit Pikachu verspeiste.

Der Turm selbst lag mitten im Wald, aber der Zugang war soweit Chris das erkennen konnte nur durch eine Art Vorhaus möglich, vor dem sie gestern Jens getroffen hatten. Der Arenaleiter hatte ihr geraten, sich mit den Mönchen in Verbindung zu setzen, wenn sie mehr über Ho-Oh herausfinden wollte. Sie schlängelte sich also zwischen den freiwilligen Helfern hindurch, die mit Schubkarren und Holzplanken beladen hin- und herliefen. Es war ein großes Treiben, das Chris so schnell wie möglich verlassen wollte, aber da entdeckte sie inmitten der anderen Menschen Jayden und ein Mädchen in ihrem Alter mit schwarzem Haar. Sie saß auf einem Dach und nahm Ziegel von Jayden entgegen, der wiederum auf einer Leiter balancierte.

Chris dachte kurz darüber nach, ihn zu begrüßen, aber er schien in seine Arbeit vertieft zu sein und so ließ sie ihn in Ruhe. Sie würden einander am Abend wiedersehen. Bis dahin gab es noch viel zu tun.

Am Eingang des Gebäudes blieb Chris stehen und sah sich den Türmechanismus genau an. Sie war immer noch peinlich berührt, gestern die Klingel nicht gefunden zu haben, deswegen nahm sie sich diesmal viel Zeit, bevor sie entschied, dass es wirklich nur einen Türklopfer gab.

Pikachu sprang auf ihre Hand und half mit fröhlichem Fiepen beim Klopfen des Metallrings. Chris lächelte. Es tat gut, ihn wieder um sich zu haben.

Es dauerte eine Weile, bis die schwere Holztür einen Spalt aufschwang. Ein kahlrasierter, alter Mönch in dunkelbrauner Kutte und runder Brille stand vor ihr und musterte Chris eindringlich.

„Guten Tag“, begrüßte er sie schließlich. „Wie kann ich dir helfen?“

„Ich möchte mehr über die Legende von Ho-Oh erfahren“, erwiderte Chris sofort. Sie ließ diesmal außen vor, dass sie Ho-Oh eigentlich fangen wollte. Jaydens Warnung klang ihr noch im Ohr. Sie war ohnehin noch nicht bereit, diesen Schritt zu machen. Zuerst brauchte sie Informationen.

Der Mönch schwieg lange. Er studierte sie so eingehend, dass Chris sein Blick allmählich unangenehm wurde. Schließlich aber trat er zur Seite. „Folge mir.“

Chris setzte einen Fuß über die Schwelle und spürte sofort, wie anders es in dem Gebäude war.

Die Luft roch nach Kerzenwachs, altem Papier und Tee. Der Boden war frisch gewischt, alles sah ordentlich und gepflegt, aber alt und ursprünglich aus. Es gab kein elektrisches Licht. Ein Flur führte ein Stück geradeaus zu einer weiteren großen Holztür, die mit einem Vorhängeschloss gesichert war, und bog dann rechts ab. Zu beiden Seiten gingen Schiebetüren ab.

„Was ist hinter der Tür?“, fragte Chris, als sie im Flur rechts abbogen.

„Das ist der Durchgang zum Glockenpfad“, erklärte der Mönch, ohne aufzusehen. „Dort lang gehen jene mit reinem Herzen, die Ho-Oh im Glockenturm selbst huldigen wollen.“ Sie kamen einigen anderen Mönchen entgegen, die alle kahlköpfig waren, auch die Frauen. Der Mönch verneigte sich vor ihnen allen mit einer leichten Kopfbewegung, die von den anderen erwidert wurde. Schließlich erreichten sie eine halboffen stehende Schiebetür, durch die er sie durchlotste.

Chris ließ sich auf ein Kissen sinken und sah sich neugierig um. Die Wände waren von der Decke bis zum Fußboden mit Regalen zugebaut, die randvoll waren mit alten Büchern, Schriftrollen und losen Papieren.

Der Mönch ließ sich ihr gegenüber an den kleinen Tisch sinken und servierte ihr dort eine Tasse grünen Tee. „Was möchtest du über Ho-Oh lernen?“, fragte er, nachdem sie ihren ersten Schluck getrunken hatte. „Weshalb interessiert dich der Phönix?“

Chris zögerte. Die offensichtliche Antwort war, dass sie ihn fangen wollte, weil Gold Lugia besaß. Aber sie konnte sich denken, wie weit sie damit kommen würde. Stattdessen entschied sie sich für eine andere Wahrheit, und wählte ihre Worte sehr genau. „Ich weiß es nicht“, gestand sie. Der Mönch verzog keine Miene, deshalb fuhr sie fort. „Ich komme aus Kanto. Ich bin erst vor zwei Wochen in dieser Region angekommen, und habe da zum ersten Mal von Ho-Oh erfahren.“ Sie zögerte. Wie konnte sie dieses Gefühl beschreiben, das sie in der Pension überkommen hatte? Natürlich wollte sie das Legendäre fangen, weil es eine Herausforderung war. Aber darüber hinaus war da noch etwas anderes. Sie rang um Worte. „Es war wie … ein Ruf. Da war eine Verbindung. Ich wusste, dass ich zu Ho-Oh muss. Dass wir irgendwie zusammengehören. Anders kann ich es nicht erklären.“

Zum ersten Mal seit sie den Mönch getroffen hatte, entspannten sich seine Gesichtszüge. „Glaub mir, jeder Mönch in Teak City versteht genau, wovon du sprichst“, sagte er lächelnd. „Legendäre sind einsame Kreaturen, aber durch ihre Schönheit und Macht ziehen sie Menschen und Pokémon zu sich. Und manche von uns spüren diesen Ruf stärker als andere. Als ich als kleiner Junge Ho-Oh zum ersten Mal in meinem Leben erblickte, wusste ich, dass ich Mönch werden musste. Es gab keine andere Berufung, die mich so erfüllen würde. Es scheint, dass auch du den Ruf gespürt hast.“

„Ich will kein Mönch werden.“

„Und das musst du auch nicht“, erwiderte er lächelnd. „Du bist eine Pokémontrainerin. Das ist eine andere Art, einem Pokémon nahe zu sein, aber kann genauso ein Akt der Hingabe und Ehrerbietung werden. Aber alles mit seiner Zeit. Du bist hier, um zu lernen. Unter meiner Aufsicht darfst du hier deine Antworten selbst finden. Die Legenden, die sich um Ho-Oh ranken, sind mannigfaltig. Es wird viel Arbeit sein.“

„Das ist okay“, erwiderte Chris sofort und strich Pikachu über den gelben Kopf, das in ihrem Schoß eingedöst war. „Ich will mir die Antworten verdienen.“

Jayden – Akt 3, Szene 3

8 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Jaydens Ausbildung bei Koko begann gleich am nächsten Morgen. Die herrische Geistertrainerin stand in der Tür, als er beim ersten Sonnenlicht die Straße entlanggelaufen kam und sah ihn mitleidlos an. „Auf, auf, frisch ans Werk, es ist ein neuer Tag“, sagte sie und scheuchte ihn ins Haus, wo bereits eine dampfende Tasse Tee und eine Schale Reis mit Gemüse auf ihn warteten. Jayden, dessen Magen knurrte, machte sich sofort über das Frühstück her, während Koko eine Schiebetür öffnete und in einem angrenzenden Raum verschwand. Nach wenigen Minuten kehrte sie zurück. Die Luft um sie herum schimmerte wie über einem Lagerfeuer und verriet die Anwesenheit einiger Geister.

Jayden schlang schnell das letzte bisschen Reis hinunter und setzte sich im Schneidersitz hin.

„Das hier werden deine Schützlinge sein“, sagte sie und deutete der Reihe nach auf die weiterhin unsichtbaren Pokémon. „Nora hier wurde von ihrer Trainerin abgegeben, weil sie keine Kämpferin ist und sich lieber verwöhnen lässt. Komplimente wirken Wunder. Hier haben wir Nebel. Er ist schon ziemlich alt. Sein Partner verstarb vor einigen Wochen und er ist in tiefer Trauer. Wir achten auf ihn, bis wir einen neuen Trainer für ihn finden. Und der letzte im Bunde ist Nebulak. Seine Trainerin nannte ihn Shadow, aber seit sie ihn abgegeben hat, hört er nicht mehr auf den Namen.“

Jayden starrte die drei Pokémon an, die er doch nicht sehen konnte. Drei Nebulak. Jedes mit seiner eigenen Geschichte und Persönlichkeit. „Ich werde mein Bestes geben!“, versprach er inbrünstig.

„Gut“, erwiderte Koko. „Diese Pokémon haben viel durchgemacht und verdienen einen liebevollen Trainer, der sich um sie kümmert, bis sie ein neues Heim haben. Die Pokébälle bleiben die erste Woche noch hier, bis wir sicher sind, dass du mit den Dreien klarkommst, danach werde ich sie in deine Obhut geben.“

Jayden nickte und stand auf. „Hallo liebe Nebulak“, sagte er feierlich. „Mein Name ist Jayden. Es freut mich sehr, eure Bekanntschaft zu machen.“ Nichts geschah. Er schielte zu Koko, die gutmütig die Augen verdrehte.

„Du bist hier nicht bei einem Vorstellungsgespräch“, tadelte sie. „Etwas natürlicher, wenn‘s genehm ist.“

Peinlich berührt wandte Jayden sich dem zweiten Schimmern zu, das Koko als Nebel vorgestellt hatte. „Es tut mir sehr leid, was mit deinem Trainer passiert ist“, sagte er. „Es muss schwer sein, seinen Partner zu verlieren. Mein Starter ist auch für die nächste Zeit von mir getrennt. Nicht, dass das derselbe Schmerz wäre! Aber … ich verstehe, wie du dich fühlen musst, zumindest ein bisschen.“ Ein leises Seufzen ertönte. Nebels Gestalt flackerte einmal kurz auf und nickte ihm andächtig zu, dann wurde es wieder unsichtbar. Koko lächelte ihm aufmunternd zu.

„Und du musst die schöne Nora sein“, sagte Jayden und wandte sich dem ersten Nebulak zu. „Ich wünschte wirklich, du würdest dich mir zeigen.“ Nora flackerte schüchtern, blieb aber sehr transparent, sodass Jayden sie kaum erkannte. Sie schwirrte allerdings näher an ihn heran und plötzlich spürte Jayden ein eiskaltes, klebriges Etwas an seiner Wange. Er erzitterte vor Ekel, schaffte es aber gerade noch, seinen Aufschrei zu unterdrücken. „Vi-vielen Dank“, brachte er hervor. „So eine z-zarte Zunge hat mich noch nie abgeschleckt.“ Nora flackerte erneut auf, diesmal deutlicher, und zu Jaydens großer Überraschung konnte er in ihrem Gesicht tatsächlich so etwas wie Stolz erkennen. Koko hielt sich unterdessen vor unterdrücktem Lachen den Bauch.

Jayden streckte ihr die Zunge heraus. Er wollte sich gerade zu dem letzten Nebulak wenden, da bemerkte er, dass das Schimmern in der Luft verschwunden war. Verwirrt sah er sich um, konnte das Pokémon aber nirgends entdecken.

„Und das ist die erste Schwierigkeit mit Geisterpokémon“, stellte Koko fest, die sich allmählich von ihrem Lachanfall erholt hatte. „Manchmal verliert man sie einfach aus den Augen.“

„Nebulak?“, rief Jayden. Keine Antwort. Natürlich nicht. „Nebulak!“

„Das ist schon in Ordnung“, sagte Koko. „Er wird wieder auftauchen. Für’s erste hast du dich gut geschlagen. Komm heute Abend wieder vorbei, dann zeige ich dir ein paar Tricks, wie man Geister dazu bringt, sich zu zeigen. Aber jetzt husch, husch zum Turm. Jens wartet nicht gerne.“

 

 

Obwohl Jayden sich sputete, verspätete er sich fast. Jens teilte bereits Gruppen ein, als er keuchend aufschlug und sich auf seinen Knien abstützte. Jens warf ihm nur einen kurzen Blick zu, dann fuhr er mit der Aufgabenverteilung hoch. „Cory und Igor, ihr arbeitet an der eingestürzten Häuserecke im Westviertel weiter. Ich brauche außerdem noch einen Ersatz für Lucy, sie hat eine Erkältung. Jayden, wie sieht es bei dir aus? Bist du schwindelfrei?“

Jayden dachte an seine Tage im Vertania City Wald zurück, als Chris und er in den Baumwipfeln gehaust hatten, um sich vor Trainern zu verstecken. Bei dem Gedanken an ihre Flucht schüttelte er sich innerlich. „Ich habe kein Problem mit Höhen.“

„Gut, dann kannst du mit Irene die kaputten Dächer hier reparieren.“ Jayden sah sich suchend nach seiner Partnerin um und entdeckte im Kreis der Teak City Helfer ein junges Mädchen mit langem, schwarzem Haar und tiefbraunen Augen, das ihm schelmisch zuwinkte.

Moment mal …

Jens beendete seine Ansprache mit einem motivierten „Packen wir es an!“, in das alle mit lautem Jubel einstimmten, dann verliefen sich die Gruppen. Jayden blieb mit dem Mädchen namens Irene und einem weiteren Arbeiterpärchen zurück, da ihre Häuser gleich beim Glockenturm standen.

Sie kam auf ihn zu und streckte ihm freudig die Hand entgegen. „Irene“, stellte sie sich erneut vor. „Ich mag Höhen nicht, also musst du klettern.“

„Ich bin Jayden“, stellte er sich mit einem Handschlag vor. „Sag mal, bist du zufällig gestern, ich meine, wohnst du auch—“

„Im Tanztheater?“ Irene schenkte ihm ein breites Grinsen und fuhr sich durchs Haar. „Nein, da lebe ich nicht. Aber du hast mich gestern dort gesehen. Ich bin eine der Kimonotänzerinnen für Frau Fiona.“

„Was ist eine Kimonotänzerin?“, fragte Jayden. War das so ein Johto-Ding?

„Komm, ich erklär dir alles bei der Arbeit“, schlug Irene vor, und so bewaffneten sie sich mit Schubkarre, Leiter und anderem Werkzeug und stapften zu ihrem ersten Haus. Der Aufstieg zum Dach war Jayden alles andere als geheuer, aber nachdem er die ersten Sprossen hinter sich hatte, vertraute er der Stabilität so weit, dass er sich etwas entspannte. „Also, was ist dieses Kimono jetzt?“, hakte er nach, während er kaputte und lose Ziegel vom Dach entfernte und in die Schubkarre fallen ließ. Irene begann derweil, um das Haus den Boden freizuschaufeln.

„Ein Kimono ist ein traditionelles Gewand, das wir für unsere Aufführungen tragen“, erklärte sie. „Wir tanzen jeden Samstag und Sonntag mit unseren Pokémon. Ich bin erst seit einem halben Jahr dabei, deshalb beharrt Frau Fiona so sehr auf unserem Training.“ Sie kratzte sich verlegen am Kopf. „Ich will natürlich besser werden, aber manchmal gibt es einfach wichtigeres zu tun. Die Stadt nach einem Sturm aufräumen zum Beispiel.“

„Oder die neuen Trainer beobachten“, scherzte Jayden. Irene lachte.

„Ich habe halt meine Prioritäten!“

„Und wer war der kleine Junge?“

„Oh, das ist Nick, mein kleiner Bruder.“ Sie verzog gutmütig das Gesicht. „Ich muss ihn immer zum Training mitnehmen, weil meine Eltern arbeiten, aber er kommt uns nur zwischen die Füße.“ Das letzte sagte sie mit einem Seufzen, aber schaltete danach sofort auf Lächeln um. „Und was machen du und deine Freundin in der Stadt? Seid ihr auf Reisen?“

„So ungefähr“, gestand Jayden und begann ihr grob ihre Geschichte seit Alabastia zu erzählen, was nicht einfach war, denn er ließ alle Details zum Thema Pokemondiebstahl und Verfolgungsjagd außen vor. Auch wenn er jetzt für seinen Fehler geradestand und alles tat, um ihn wieder gutzumachen, schämte er sich immer noch für sein kindisches Verhalten. Und wer wusste, wie Irene reagieren würde?

Die Geschichte ergab zum Glück auch in abgespeckter Version Sinn. Zumindest teilweise.

„Aber warum seit ihr nach Johto gereist?“, fragte Irene mit gerunzelter Stirn. Sie machte eine kleine Verschnaufpause und stützte sich auf dem Griff ihrer Schippe ab. „Ist das nicht teuer? Und ihr habt ja kaum Kanto gesehen, eure Heimat? Sollte das nicht zuerst passieren? Und warum hast du keinen Pokéball dabei, wo du doch ein Glutexo hast? Wie ist das überhaupt mit Chloe ausgegangen? Ich verstehe ja, dass sie eine harte Zeit durchgemacht hat, aber sie muss trotzdem für ihre Verbrechen büßen!“

„Du stellst ja eine Menge Fragen auf einmal!“ Jayden „Was mit Chloe passiert ist, weiß ich nicht, wir wollten danach einfach schnell aus der Stadt verschwinden. Und was Johto angeht …“ Er rang nach Ausreden. „Ein, eh, Bekannter hat uns Teak City als Ziel empfohlen und sogar unsere Tickets bezahlt, deswegen haben wir die Möglichkeit am Schopf gepackt.“

Irene öffnete bereits den Mund zur nächsten Frage, aber Jayden unterbrach sie schnell, bevor sie sein Lügengeflecht noch weiter unter die Lupe nahm. „Hör mal, Chris und ich haben ein bisschen von eurem Training mitgekriegt, durch das Loch in der Decke über der Bühne. Es sah toll aus! Könntest du uns das mal zeigen? Wie so ein Kimono aussieht und wie man damit tanzt?“

„Oh!“ Irene begann zu strahlen. „Natürlich, gerne! Wir trainieren jeden Abend, ich kann euch gerne mitnehmen. Die anderen stören sich bestimmt nicht daran, und Fiona kriegen wir schnell überzeugt.“

Jayden warf einen weiteren Ziegel hinunter. „Das wäre mega. Ich bin hier oben übrigens fertig. Brauchst du noch Hilfe?“

Irene schüttelte den Kopf. „Hier unten ist alles erledigt.“

„Dann auf zum nächsten Haus!“

 

 

Jayden konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so erschöpft gewesen war. Wie Irene nach einem ganzen Tag Knochenarbeit noch die Kraft hatte, ihre Proben wahrzunehmen, war ihm schleierhaft, aber sie war bereits vorangegangen, um ihre Tanzschwestern und Fiona über ihre Gäste vorzuwarnen. Das ließ ihm Zeit, sich seine nächste Lektion bei Koko abzuholen. Er verbrachte ungefähr eine Stunde bei ihr, hörte sich Tipps und Tricks für den Umgang mit Geisterpokémon an und versuchte, das Vertrauen der drei Nebulak zu gewinnen.

Nora war die erste, die sich ihm vollständig zeigte. Einige Komplimente über ihre Schönheit und Eleganz waren alles, was es brauchte, auch wenn sie die grausige Angewohnheit hatte, ihn zum Dank abzuschlecken. Nebel war etwas schwieriger einzuschätzen. Er schien nicht von Jayden abgeneigt, zeigte aber auch wenig Interesse, sich ihm anzunähern. Jayden vermutete, dass es noch einige Zeit dauern würde, bevor die Trauer um seinen Trainer abflaute. Das namenlose Nebulak war allerdings der härteste Brocken.

Wenn Jayden gedacht hatte, Glutexo wäre in seiner Anfangszeit nicht umgänglich gewesen, so erlebte er jetzt ein böses Erwachen. Nebulak ignorierte ihn so geflissentlich, als würde er gar nicht existieren. Koko schien es nur ansatzweise zu gehorchen, weil sie seinen Pokéball hatte und so viel Erfahrung mitbrachte, aber selbst sie hatte Probleme, zu dem Geist durchzudringen.

Und so kehrte Jayden trotz des Erfolges mit Nora frustriert und verunsichert zum Theater zurück. Er wollte Nebulak irgendwie helfen, aber wie? Sein Vertrauen in Trainer war eindeutig gebrochen. Das wieder gut zu machen, würde mehr als nur Zeit brauchen.

Bevor er sich zu sehr in die Situation hineinsteigern konnte, entdeckte er Chris, die vor dem Theater saß und mit Pikachu spielte. Sein Herz sank ihm bei dem Anblick in die Hose. Zum einen, weil er wusste, wie schwer es Chris fiel, Pikachu im Haus nicht rufen zu dürfen, zum anderen, weil es ihn an Glutexo erinnerte, und wie er vor nur zwei Wochen genauso mit seinem Partner getobt hatte.

Er schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter und winkte Chris zu, bis sie auf ihn aufmerksam wurde.

„Hallo“, begrüßte sie ihn. „Ich habe heute mit einem Mönch gesprochen. Er hat mir Schriften über Ho-Oh gegeben. Was hast du heute gemacht?“

Jayden ließ sich neben ihr auf die Straße sinken und strich Pikachu über das gelbe Fell. Es versetzte ihm einen liebevollen Schlag. „Mit Geisterpokémon gesprochen und Dächer repariert“, sagte er. „Oh, und ich habe das Mädchen von gestern getroffen, die in dem Kleid! Ihr Name ist Irene. Wir sind zu ihrem Training eingeladen. Komm.“

Er sprang auf und reichte ihr seine Hand. Chris zog sich an ihm hoch und rief Pikachu nach einigem Zögern zurück. Ihr brauner Pony war so kurz gestutzt wie zuletzt am Anfang ihrer Reise, was Jayden freute. Sie hatte häufig genug nicht die Gelegenheit gehabt, ihn ordentlich zu schneiden.

Gemeinsam betraten sie das Tanztheater und liefen durch die Gänge zu der Tür, durch die Irene und Nick gestern gelugt hatten. Nach einigem Suchen fanden sie endlich den Seiteneingang. Es lief keine Musik, aber Fionas Klatschen gab wie gestern Abend den Takt an. Sie schlichen außen herum, setzten sich in die dritte Reihe. Der Saal war nicht riesig, aber groß genug für eine Bühne und etwa hundert Sitzplätze.

Vor ihnen tanzten fünf Mädchen und junge Frauen, Irene in ihrer Mitte. Sie alle trugen die rot-blauen Gewänder, die mit breiten Stoffstreifen um die Taille festgebunden waren, und ihr Haar war hochgesteckt. Sie drehten sich sanft im Kreis, wiegten die Arme und neigten die Köpfe. Um ihre Beine schlichen verschiedene Pokémon.

„Evoli-Entwicklungen“, stellte Chris sofort fest. Sie deutete nacheinander auf die Pokémon. „Flamara, Aquana, Blitza …“ Sie stockte. Jayden sah die anderen beiden Entwicklungen an, das eine schwarz mit langen Ohren und goldenen Ringen im Fell, das andere blassviolett mit einem gespaltenen Schweif.

„Sind das Johto-Entwicklungen?“, mutmaßte er. Chris nickte.

Jayden wandte sich wieder den Tänzerinnen zu. Je länger er dem Tanz zusah, desto mehr zogen die fremden, fließenden Bewegungen ihn in seinen Bann. Er hatte noch nie so etwas Majestätisches gesehen. Seine Augen fanden Irene, die ihm bei ihrer nächsten Drehung zuzwinkerte.

Dann stolperte sie über die Flosse ihres Aquanas, das aufquietschte und ihr einen kleinen Wasserstrahl ins Gesicht spuckte.

„Uuuund von vorn“, befahl Fiona.

Chris – Akt 3, Szene 3

8 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

[JUSTIFY]Eine Woche verging, dann zwei. Chris verbrachte jeden Morgen mit Pikachus Training, wobei sie abwechselnd die südliche und westliche Route besuchte. Während der Kämpfe versuchte sie, die ihr unbekannten Pokémon mit dem Pokédex ihres Vaters zu identifizieren. Erfolglos.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Der Kantodex war vor vielen Jahren vervollständigt worden, und die Modelle konnten diese Informationen jederzeit abrufen. Aber sie war hier in Johto, und ihr Pokédex so gut wie nutzlos. Also musste sie es auf die altmodische Art versuchen.[/JUSTIFY][JUSTIFY] [/JUSTIFY][JUSTIFY] [/JUSTIFY][JUSTIFY]„Was für ein Pokemon ist das?“, fragte sie den Mönch, der gerade in goldenem Gewand von einer Zeremonie zurückkam und verdutzt auf den Stapel beschriebener Blätter schaute, die Chris ihm vor die Nase hielt. Sie deutete auf eine der zahlreichen Beschreibungen. „Es ist ein Vogelpokémon, und es ist braun mit helleren Augenbrauen, die nach oben abstehen. Seine Augen waren rot und rund.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Der Mönch rückte seine runde Brille zurecht und lehnte sich vor, um die kleine Skizze zu begutachten, die Chris daneben gemalt hatte. „Das scheint mir ein Noctuh zu sein“, erklärte er schließlich. „Die Weiterentwicklung von Hoot-Hoot. Es ist Typ Fliegen und Normal.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Chris nickte und notierte sich den Namen. Typ Fliegen hatte sie sich bereits selbst gedacht, aber es hätte genauso gut ein Psychopokémon sein können, mit diesem durchdringenden Blick … „Und dieses?“, fragte sie und zeigte ihm die nächste Skizze. „Es war pink und hatte einen Euter. Und es hat sich in einen Ball zusammengerollt und Walzer benutzt.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Das wäre wohl Miltank“, überlegte der Mönch laut. „Die Arenaleiterin in Dukatia City benutzt so eins, wenn ich mich nicht irre. Aber weshalb fragst du mich das alles, Chris? Reicht dir das Studium von Ho-Oh nicht?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Sie sah ihn verdutzt an. „Nein. Natürlich nicht.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Haaa …“ Der Mönch seufzte und ging voran zu seinem Archiv, in dem er und Chris seit zwei Wochen gemeinsam recherchierten. „Deine Wissbegier ist wirklich unersättlich.“[/JUSTIFY][JUSTIFY] [/JUSTIFY][JUSTIFY] [/JUSTIFY][JUSTIFY]„Und das hier ist ein Webarak!“, erklärte Chris Jayden aufgeregt, als sie sich abends wieder im Tanztheater befanden. Sie saß im Schneidersitz auf einem der Stühle, während Jayden versuchte, Irenes Schritte und Bewegungen nachzumachen, die sie ihm nach ihrem eigenen Training beibrachte. Chris verstand seine Faszination mit diesem Tanzen nicht, aber es erlaubte ihr, ihm alles über ihr eigenes Training zu erzählen, ohne dass er sich wehren konnte.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Und Irene war auch da. Sie war fast genauso hilfreich wie ihr Mönch.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Seine Entwicklung ist Ariados“, fuhr sie fort, als Jayden keine Antwort gab. „Ich habe leider noch keins getroffen. Weißt du, wie sie aussehen, Irene?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Wie Webarak, nur größer und rot-schwarz gestreift. Du musst hier mehr aus der Hüfte drehen, Jayden, dein Fuß bewegt sich nur ein klein bisschen, siehst du?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ja, ich seh`s, aber das heißt noch lange nicht, dass meine Füße kapieren, was sie tun sollen.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Das wird noch. Oh, und mir ist eingefallen, welche Pokémon du gestern meintest, Chris. Das sind die drei legendären Hundepokémon. Suicune, Entei und Raikou.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Irene wies Jayden an, seine Routine zu wiederholen und ließ sich am Rand der Bühne nieder, sodass ihre Beine in der Luft baumelten und sie Chris direkt gegenübersaß.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Aus der Legende mit der Wiedergeburt aus Ho-Ohs Asche?“, fragte Chris.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Genau. Hier in Teak City gibt es den Aberglauben, dass die Legendären im niedergebrannten Turm hausen und fliehen, sobald sich jemand ihrem Versteck nähert. Aber ich glaube, das ist einfach eine Begründung dafür, dass niemand sie je zu Gesicht bekommen hat.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Aber Pokémon können sich entwickeln“, entgegnete Chris. „Ist es dann nicht denkbar, dass ein anderes Pokémon eine weitere Entwicklung hervorrufen könnte?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Irene kniff nachdenklich die Lippen zusammen. „Möglich. Ich glaube da nicht dran, aber ich weiß schließlich nicht alles.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Hey“, warf Jayden dazwischen, der sich neben Irene die Bühne hinunter schwang. „Warum gehen wir nicht nachgucken? Jetzt gleich?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Irene wurde blass. „Bist du irre?“, stammelte sie. „Es ist stockduster draußen! Und du hast Glutexo nicht bei dir.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Jayden grinste sie frech an. „Was, hast du etwa Angst?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Nein! Ich meine, nicht direkt. Aber warum gehen wir nicht morgen, wenn wir auch wirklich etwas sehen können … Chris, du stimmst mir zu, oder?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Chris dachte kurz nach, dann erhob sie sich. „Ich gehe mit Jayden. Du kannst aber hier warten, Irene.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Blödsinn, ich lass euch doch nicht alleine dahinlaufen! Ich wohne schließlich hier … Ach verdammt, na gut, dann gehen wir halt jetzt! Hast du deine Freunde dabei?“, fragte sie an Jayden gewandt, der kurz in den Raum schielte.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ja, sind alle von der Partie. Worauf warten wir noch?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Irene rieb sich die Stirn. „Oh, ich werde das sowas von bereuen …“[/JUSTIFY][JUSTIFY] [/JUSTIFY][JUSTIFY] [/JUSTIFY][JUSTIFY]Als sie nach einer halben Stunde Fußmarsch die Turmruine im Westen von Teak City erreichten, war Chris fast bereit, mit Irene umzukehren. Ihre Freundin schlotterte am ganzen Leib, gab aber der kalten Brise die Schuld, wenn sie darauf angesprochen wurde. Jayden ging furchtlos voran und die Treppen zum halb eingestürzten Eingang hinauf.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Das Schild, auf dem Einsturzgefahr, betreten verboten stand, schob er ungeniert nach oben, um darunter hindurch zu gehen. „Kommt schon ihr lahmen Entons“, feuerte er sie an. Über seiner Schulter schimmerte die Luft im Mondlicht, ein Zeichen für die Nebulak, die Jayden seit einer Woche pausenlos begleiteten. Chris vergaß regelmäßig ihre Namen, aber sie hatte sich ein wenig mit dem ältesten der drei angefreundet. Jayden, Irene und sie wollten es am Wochenende zum Grab seines Trainers bringen, damit es Abschied nehmen konnte. Die anderen beiden hatte sie noch nie zu Gesicht bekommen, aber Jayden schien sie hin und wieder zu sehen, wenn sie sich ihm offenbarten.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Etwas griff ihren Arm und Chris sprang fast in die Luft. Sie sah zur Seite, wo Irene sich an sie geklammert hatte. „D-da war was! Hinter Jayden!“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Das sind meine Nebulak.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Nein, etwas anderes! Ach verdammt, ich hätte nicht mitkommen sollen. Bringen wir es schnell hinter uns, okay?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Chris nickte und ließ Irene an ihrem Arm festhalten, während sie gemeinsam die Treppen zum ehemaligen Bronzeturm erklommen. Der Sturm hatte der alten Ruine keinen Gefallen getan. Ein Großteil der violetten Dachziegel lag zerschellt am Boden und die Holzstruktur wirkte an vielen Stellen brüchig.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Wir sollten nicht zu lange bleiben“, sagte Chris in die Dunkelheit, als sie den Turm betraten. Mit ihrer freien Hand rief sie Pikachu, dessen Statik zumindest ein bisschen Licht spendete. Irene tat es ihr gleich und rief Aquana, das seine Flanke eng an ihr Bein presste und ängstlich fauchte.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Er will auch nicht hier sein“, stellte Irene trocken fest.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Schaut mal!“ Jayden stand bereits am Rand des riesigen Lochs im Parkett und starrte hinunter.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Obwohl Irene zitterte, ließ Irene Chris los und ging zu ihm. Jayden seufzte. „Es ist zu dunkel. Ich kann kaum was sehen.“ Pikachu hopste vor und formte einen kleinen Elektroball, den es zwischen seinen Pfoten festhielt und emporstreckte.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Danke Kumpel!“, lobte Jayden ihn. Chris kam ebenfalls näher. Es war immer noch zu dunkel, um Details zu erkennen, aber sie war sich ziemlich sicher, dass dort unten keine Legendären auf sie warteten.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Lasst uns zurückgehen“, sagte sie, nachdem sie alle einige Minuten lang angestrengt in die Dunkelheit gestarrt hatten. „Hier sind sie zumindest nicht.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Sag ich doch“, maulte Irene. Sie drehte sich um und lief Richtung Ausgang.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Da machte es Knack.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Chris und Jayden hatten gerade genug Zeit, sich zu ihrer Freundin um zu sehen, bevor das morsche Parkett unter Irenes Füßen einbrach und sie schreiend in die Tiefe stürzte.[/JUSTIFY]

Jayden – Akt 3, Szene 4

8 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Jayden rannte los, aber etwas hielt ihn fest. Das namenlose Nebulak erschien direkt vor ihm, seine Augen geweitet und auf ihn fixiert.

„Horrorblick?“, fragte Jayden tonlos. Er schielte an Nebulak vorbei zu Chris, die sich dem neuen Loch im Boden sehr vorsichtig näherte. Selbst Aquana setzte eine Tatze vor die andere, obwohl seine Flosse vor Sorge aufrecht in die Luft stand. Mehr Holz brach ein. Unten winselte Irene vor Schmerzen.

„Alles okay?!“, schrie Jayden ihr zu.

„Mein Bein … urgh …“, kam Irenes gedämpfte Antwort.

„Wir kommen dich holen, beweg dich nicht!“

Nachdem Jayden keine weiteren Anstalten machte, überstürzt loszurennen und noch mehr des Bodens einstürzen zu lassen, ließ Nebulak den Horrorblick fallen. „Danke. Das wäre fast schiefgegangen“, sagte er. Nebulak blinzelte einmal langsam. Jayden zögerte einen Moment, dann tätschelte er dem Pokémon den schwarzen Körper.

„Wir können da nicht runter“, stellte Chris fest und zog Jayden Aufmerksamkeit wieder auf sich. Sie stand über einen Meter von dem Loch entfernt. „Hier bricht gleich alles ein.“

So frustrierend ihre Worte waren, so hatte sie doch Recht. Selbst Aquana traute sich nicht näher heran.

„Sollen wir Hilfe holen gehen?“, fragte Jayden und ließ seine Hand sinken. Er fühlte sich elend. Irene hatte nicht mitkommen wollen und er hatte sie hergedrängt. Jetzt war sie verletzt. „Oder wir versuchen, einen anderen Weg runter zu finden.“

Chris dachte kurz nach. „Ich gehe jemanden holen, du bleibst hier.“ Sie umrundete das Loch und rannte nach draußen.

Vorsichtig näherte Jayden sich dem Loch. Aquana fauchte besorgt, als er sich vor beugte um hinunter zu schauen. Irene saß schniefend inmitten von eingestürztem Schutt. Ihr Fuß schien unter einen Holzbalken geraten zu sein.

„Chris holt gerade Hilfe!“, rief Jayden ihr zu und fühlte sich dabei unglaublich nutzlos. „Wie schlimm ist es?“

„M-mein Fuß ... ich glaube, er ist gebrochen. Mein Rücken tut auch weh.“

„Okay, lass uns einfach zusammen warten, bis—“

Weiter kam Jayden nicht, denn in dem Moment wurde Nebel sichtbar. Das alte Nebulak war mit Abstand das größte in seiner Gruppe. Es schwebte sanft auf und ab und begann mit einem Mal violett zu leuchten.

Plötzlich hörte Jayden das Poltern von schwerem Holz. Hektisch sah er sich um. Brach jetzt der ganze Turm ein? Das namenlose Nebulak stieß ihn leicht an, um seine Aufmerksamkeit zurück auf Nebel zu lenken, das erneut violett glühte. Diesmal quiekte Irene, bevor sie in Zeitlupe aus dem Loch schwebte. Derselbe violette Schimmer umhüllte sie. Nebel ließ sie ganz sanft abseits vom Loch auf den Boden nieder und wurde augenblicklich wieder unsichtbar. Dafür erschien Nora neben ihr und schleckte sie einmal von oben bis unten ab.

Der Schock schien Irene erstmal die Sprache zu verschlagen, da kam ihr Aquana auf sie zugesprungen und begann ihr Fußgelenk vorsichtig mit seiner Schnauze zu betasten.

„Autsch, lass das ...“, beschwerte Irene sich und schnappte sich ihr Pokémon, das sich sofort eng an sie schmiegte.

Jayden lief zu ihr, das namenlose Nebulak weiterhin sichtbar an seiner Seite.

„Es tut mir so leid, Irene!“ Er ließ sich vor ihr auf den Boden sinken. „Das ist alles nur passiert, weil ich Vollidiot mitten in der Nacht in die Turmruine wollte.“

Irene lächelte ihn durch ihre Tränen hinweg tapfer an. Sie zögerte kurz, dann griff sie nach seiner Hand und drückte sie. „Ich bin ein genauso großer Vollidiot, schließlich habt ihr mich nicht gezwungen, mitzukommen. Aber ich habe schon ein bisschen Angst.“

„Wovor denn?“, fragte Jayden, und versuchte dabei sein bestes, die warme, weiche Hand zwischen seinen Fingern zu ignorieren.

„Na, vor Frau Fionas Reaktion.“ Sie deutete auf ihren verletzten Fuß. „Ich werde für eine ganze Weile nicht tanzen können.“

 

 

Es zeigte sich, dass Irene mit ihrer Furcht völlig recht hatte. Nachdem Chris etwas später mit Schwester Joy, Jens und noch ein paar freiwilligen Helfern samt deren Pokémon zurückkehrte, wurde Irene verarztet, ins Pokécenter auf die Krankenstation verfrachtet, geröntgt und gegipst und fand sich am nächsten Morgen direkt in Fionas Kreuzfeuer wieder.

Jayden und Chris, die auf der Besuchercouch im Zimmer übernachtet hatten, entknoteten sich, wobei Pikachu zu Boden fiel, das auf ihnen beiden geschlummert hatte, als Fionas Stimme durch das ganze Zimmer hallte.

„So ein verantwortungsloses Verhalten!“, zeterte sie. „Das Theater hat jedes Wochenende Aufführungen, wir haben keine Ersatztänzerinnen, und du denkst dir, es wäre eine tolle Idee, mitten in der Nacht eine einsturzgefährdete Turmruine zu besichtigen?!“

„Das war meine Schuld!“, empörte sich Jayden sofort und sprang auf. „Ich habe den Vorschlag gemacht und sie dazu gedrängt.“

Fiona drehte sich zu ihm um. „Das ist sehr ehrenhaft von dir, aber falls du sie nicht gerade gefesselt und geknebelt hast, traue ich meinen Mädchen zu, dass sie alt genug sind, erwachsene Entscheidungen zu treffen.“ Sie wandte sich wieder Irene zu. „Offensichtlich jedoch habe ich mich mit dieser Einschätzung getäuscht, und deine Tanzschwestern sind diejenigen, die dafür büßen müssen. Für dich mag das nur ein Hobby sein, Irene, aber die anderen verdienen mit den Aufführungen ihren Lebensunterhalt, und wenn wir nicht auftreten, dann gibt es auch kein Geld.“

Irene wurde aschfahl. „Aber … das ist unfair!“

„Ja, und das gehört leider zum Leben dazu“, entgegnete Fiona bissig. „Mir macht das auch keinen Spaß, aber so ist es nun mal.“

„Ich werde sie ersetzen!“, platzte es aus Jayden heraus. Alle starrten ihn an, inklusive Nebulak, das sich bei seinen Worten neben ihm materialisierte und den Kopf schief legte. Ein leichtes Grinsen formte sich in seinem breiten Gesicht.

Chris nickte anerkennend. „Das ist eine gute Idee, Jayden.“

„In welcher Welt ist das eine gute Idee?“, stöhnte Fiona und rieb sich die Stirn. „Er ist ein Junge, zuerst einmal, und selbst wenn er das nicht wäre, kann er doch immer noch nicht tanzen!“

„Doch, doch das kann er!“ Irenes Augen hellten sich auf. „Chris hat Recht, das ist eine tolle Idee. Jayden fand unsere Proben so beeindruckend, dass er seit zwei Wochen jede Nacht mit mir unsere Choreographien geübt hat. Er ist nicht viel schlechter als ich, und ich wette, er wird hart arbeiten um aufzuholen. Und er kann sich Aquana leihen.“

Aquana, das neben seiner Trainerin im Bett lag, spreizte angewidert seine Gesichtsflossen ab. „Stell dich nicht so an“, schalt Irene ihn sofort. „Und dass er ein Junge ist, sieht man bei dem ganzen Make-Up und den Kostümen eh nicht. Er ist die beste Option, die wir haben, Frau Fiona.“

Fiona sah zwischen ihnen drei hin und her. Jayden spürte, wie er rot wurde. An die Kleider und das Make-Up hatte er gar nicht gedacht, aber wenn schon! Wenn es zu dem Kimonotanz gehörte, würde er sich vor nichts drücken.

„Also schön“, gab Fiona sich geschlagen. „Wir lassen dieses Wochenende ausfallen und nutzen die Zeit für Zusatzproben. Jayden, ich erwarte, dass du alles gibst. Du hast viel nachzuholen. Wenn die Aufführung in zwei Wochen gut läuft, darfst du Irene bis zu ihrer vollständigen Genesung ersetzen.“

„YEAH!“, schrie Jayden und machte einen Luftsprung. „Ich werde Sie nicht enttäuschen, Fi- ich meine, Frau Fiona!“

Frau Fiona schüttelte erschöpft den Kopf und verließ das Zimmer. „Ich werde zu weiche auf meine alten Tage …“

Chris – Akt 3, Szene 4

8 Jahre vor Team Shadows Gründung

 
 

 

 

Chris saß auf der weichen Erde und versuchte Jayden stumm Trost zu spenden, während Irene auf der anderen Seite aus ihrem Rollstuhl heraus einen Arm um seine Schultern legte und ihren Mund gegen sein Haar presste. Jayden kniete vor dem Grab des Trainers, dem Nebel einst gehört hatte, und sah mit tränenüberströmtem Gesicht dem langsam verblassenden Pokémon beim Sterben zu.

Nebels Formen lösten sich auf, verschwammen mit dem Rauch, der von den Räucherstäbchen am Grab emporstieg. Als es fast erloschen war, drehte es sich um und lächelte Jayden dankbar an.

Jayden schluchzte auf und drückte Chris‘ Hand, bis sie wehtat. Chris ließ ihn gewähren. Die Nebulak waren ihm seit drei Wochen nicht von der Seite gewichen, und keiner von ihnen hatte damit gerechnet, dass Nebel das Grab seines lebenslangen Trainers nur noch ein letztes Mal sehen wollte, bevor es starb.

„Shhh …“, beruhigte Irene Jayden und rieb seinen Rücken. „Jetzt sind sie wieder zusammen.“

Jayden nickte, aber seine Hand drückte nur noch fester zu.

Hinter ihm materialisierten sich Nebulak und Nora, jeweils hinter Jayden und Irene. Nora schleckte Irene über die Wange, während Nebulak sich nicht rührte. Es war nur eine kalte Aura, aber Jayden schien daraus Kraft zu schöpfen. Er sah zu dem Pokémon auf. Die beiden blickten sich eine lange Zeit in die Augen. Es kam Chris fast so vor, als führten sie ein stilles Gespräch, so wie er das auch manchmal mit Glutexo tat, oder sie mit Pikachu. Ein kaum erkennbares Grinsen formte sich in Nebulaks großem Gesicht. Jayden nickte entschlossen.

„Ich werde dich nicht enttäuschen“, verkündete er. Obwohl seine Augen rot und verquollen waren, klang seine Stimme kraftvoll und selbstbewusst. Nebulak neigte leicht den Kopf und verschwand.

„Was ist gerade passiert?“, fragte Irene, die mit ihrer freien Hand versuchte, Noras Zunge von ihrem Gesicht fernzuhalten.

Chris lächelte und drückte kurz die Hand ihres besten Freundes. „Jayden hat ein neues Pokémon.“

 

 

Es war der Abend von Jaydens erstem Auftritt. Obwohl Chris seit Wochen jeden Abend die Proben sah, hätte sie bis heute keine der Schrittfolgen erklären können.

Sie saß gelangweilt auf einem der vielen freien Stühle, während die Kimonogirls, wie sie sich selbst nannten, ein letztes Mal ohne Kostüme ihre Schrittfolgen durchgingen. Blitza und Aquana kabbelten sich in einer Ecke, das Psiana der ältesten der Tänzerin leckte gelangweilt seine Pfote und das Nachtara ruhte sich in den Schatten aus.

Irene saß neben ihr, wo zwei der Stühle weggeräumt worden waren, um ihrem Rollstuhl Platz zu machen, und rief Jayden Anweisungen zu. „Verpass hier nicht deinen Einsatz, du schaffst das! Und jetzt die Drehung … ja, sehr gut! Sieht super aus. Sieht er nicht super aus?“, endete sie. Chris brauchte einen Moment, bevor sie verstand, dass der letzte Teil an sie gerichtet war.

„Jayden?“ Sie dachte darüber nach und sah zu ihrem Freund hinauf. Sein Gesicht war konzentriert, aber lange nicht so verkniffen wie noch am Anfang. Die zwei Wochen Training hatten ihre Wirkung getan. Davon abgesehen war sein Haar bereits in einem Haarnetz eng an seinen Kopf gedrückt und er trug ein schwarzes T-Shirt. „Er sieht aus wie Jayden, nur komischer. Warum fragst du?“

Irene wurde rot. „Ihr reist doch schon lange zusammen, oder?“

„Seit ein paar Monaten.“

„Und da habt ihr nicht … also ich meine …“

Chris sah sie verständnislos an. „Was haben wir nicht?“

„Ach, ist auch egal. Nicht so wichtig!“ Irene widmete sich wieder ihren Anweisungen. Chris runzelte die Stirn. Was meinte Irene damit? Und warum wechselte sie so plötzlich das Thema?

„Doch, es ist wichtig“, sagte sie und zog damit Irenes panischen Blick auf sich. „Du wolltest mich etwas fragen, also frag es auch“, forderte sie.

Die Zeit mit Irene und Jayden in Teak City war für sie eine komplett neue Erfahrung gewesen. Nicht nur eine Person, die sich die Mühe machte, so mit ihr zu sprechen, dass es verständlich war, sondern gleich zwei. Sie waren zu einem guten Trio geworden. Doch jetzt flüchtete Irene sich hinter Chris‘ Unverständnis und das irritierte sie.

Ihre Freundin friemelte nervös an ihrem dunklen Haar. „Es ist nur … ich mag Jayden. Aber ich wollte nicht zwischen dich und ihn kommen, falls du schon Gefühle für ihn hast.“

„Natürlich habe ich Gefühle für ihn“, sagte Chris etwas zu laut. Fiona, die ihnen am nächsten stand, hob interessiert eine Augenbraue. „Er ist mein bester Freund und ich mag ihn.“

„Okay, okay!“ Irene bedeutete ihr hektisch, ruhig zu sein. „Also seid ihr kein Pärchen?“, flüsterte sie aufgeregt. „Du bist nicht in ihn verliebt, du willst ihn nicht küssen oder so?“

Chris dachte darüber nach. Ihre Eltern küssten sich manchmal. Aber sie hatte noch nie darüber nachgedacht, das auch tun zu wollen, auch nicht mit Jayden. Sie hatte ihn sehr lieb, das schon, aber wo war die Grenze zu verliebt? Sie betrachtete Irene genauer. Sie wusste inzwischen, dass Irene dreizehn war, also ein Jahr älter als Jayden und sie, aber irgendwie konnte sie sich nicht vorstellen, dass ihre fehlenden Kusswünsche damit zu tun hatten. Viel mehr war es ihr einfach nie in den Sinn gekommen.

„Nein, möchte ich nicht“, sagte sie daher nach einer Weile. Irene atmete so erleichtert aus, dass Chris grinsen musste. „Aber du schon?“, hakte sie nach.

„Psst!“ Irene wurde knallrot. „Ja, ich möchte ihn küssen. Aber das ist ein Geheimnis, also wehe du verrätst es ihm. Ich warte nur noch auf den richtigen Moment, ihn zu fragen.“

Chris war nicht ganz sicher, warum für Küsse besondere Momente abgewartet werden mussten, schließlich hatten ihre Eltern sich auch ganz nebensächlich beim Kochen oder Putzen geküsst. Aber das war auch egal. Wenn es Irene wichtig war, würde sie schweigen.

„Meinst du, er mag mich auch?“, fragte Irene vorsichtig.

„Natürlich mag er dich“, sagte Chris sofort.

„Ja, klar, aber so?“

Bevor Chris darauf antworten konnte, klatschte Fiona laut in die Hände. „Zeit für die Ankleide! Wenn ihr gleich die Aufführung so wie bei der Generalprobe hinlegt, bin ich sehr zufrieden. Gästeeinlass ist in einer Stunde, der Tanz startet eine halbe Stunde später. Und denkt immer daran. Würde!“

„Würde!“, rief die ganze Gruppe zurück.

Jayden gab ihnen einen Daumen hoch, dann verschwanden er und die anderen Tänzerinnen hinter der Bühne im Umkleideraum.

Irene seufzte laut. „Ich hoffe bloß, er stolpert nicht über Aquanas Schwanz.“

„So wie du?“

„CHRIS!“

Chris & Jayden – Akt 3, Szene 5

8 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Jayden erkannte sich nicht wieder. Sein Spiegelbild sah so fremd aus. Weiß gemalte Haut, kleine rote Lippen, dunkler Lidstrich. An den langen Kimono hatte er sich über die letzten zwei Wochen gewöhnt, aber es war erst das zweite Mal, dass er in voller Gesichtsbemalung tanzen würde. Gestern bei der Generalprobe hatte er sich bemüht, nicht in die Spiegel zu gucken, weil ihm seine Reflektion so unangenehm war, aber heute zwang er sich, nicht wegzusehen.

Hände legten sich auf seine Schultern. „Du siehst fabelhaft aus“, sagte Frau Fiona hinter ihm.

Jayden wusste nicht, ob er dem zustimmte, aber er nickte. Er sah jedenfalls wie die anderen Tänzerinnen aus, und das war das wichtigste. Und je länger er sich mit dem Make-Up ansah, umso mehr gewöhnte er sich daran. Diese Person im Spiegel war auch er, sein Ich wenn er sich wirklich dem Tanz hingab. Fiona drückte noch einmal seine Schultern. „Ich habe es vielleicht nicht in so vielen Worten gesagt, aber ich bin dir dankbar, dass du so hart gearbeitet hast, Jayden.“

„Danke, Frau Fiona. Ich werde Sie nicht enttäuschen.“

Sie ließ ihn los und ging zu der nächsten Tänzerin. Jayden stand von seinem Stuhl auf und spähte durch einen klitzekleinen Schlitz im Vorhang nach draußen. Inzwischen hatte sich der Tanzsaal gefüllt. Gäste suchten nach ihren Plätzen oder richteten sich bereits auf ihren Stühlen ein. Zwei junge Mädchen nahmen am Eingang Tickets entgegen und verteilten Armbändchen und Broschüren.

Jayden spürte, wie seine Kehle sich zuzog. Bald war es soweit. Nur noch ein paar Minuten. Er hielt nach seinen Freundinnen Ausschau. Irene saß in ihrem Rollstuhl in vorderster Reihe, das gegipste Bein mit Namen und Kritzeleien übersät. Sie schien ihn nicht zu bemerken, denn sie unterhielt sich gestikulierend mit einer älteren Dame, die hinter ihr in der Reihe saß. Von Chris war nichts zu sehen, aber ihr Stuhl war frei. Bestimmt war sie nur kurz auf Klo.

Bei dem Gedanken an Chris musste er an das Gespräch zwischen Irene und ihr während seiner Probe denken. Er hatte nur Schnipsel ihrer Unterhaltung mitbekommen, aber genug, dass ihm heiß und kalt wurde. Warum redeten die beiden darüber, ob sie ihn küssen wollten?! Das war so … er wusste auch nicht. Und es war ja nicht so, dass er den Gedanken nicht mochte. Aber seine Gefühle verwirrten ihn.

Er konnte sich inzwischen eingestehen, dass er sich am Anfang ihrer Reise ein klein bisschen in Chris verguckt hatte. Aber diese Gefühle waren zu guter Freundschaft gewachsen, und stattdessen zog ihn nun irgendetwas Richtung Irene. Und trotzdem … Würde er sich letztlich für eine der beiden entscheiden müssen? Der Gedanke gefiel ihm überhaupt nicht. Er fühlte sich in zu viele Richtungen gleichzeitig gezogen, und das zehrte an ihm.

Mit einem energischen Kopfschütteln ließ er den Vorhang zufallen. Genug Trübsal geblasen, er hatte eine Mission!

Fiona klatschte in die Hände. „Macht euch bereit. Noch fünf Minuten!“

 

 

Chris saß vor dem Tanztheater auf der Treppe. Es war bereits dunkel. Während sie von Alabastia nach Teak City gereist waren, hatte der Spätsommer sich in Herbst verwandelt. Bald würden die Tage noch kürzer werden.

Durch den Eingang strahlte warmes Licht nach draußen, während die letzten Besucher ihre Tickets vorzeigten und ihre Plätze fanden. Lachen und gedämpfte Gespräche drangen an ihre Ohren. Chris seufzte. Sie wusste, dass die Aufführung bald anfing, aber sie wollte nicht zurück nach drinnen. Es war zu eng, zu viele Menschen. Aber Jayden würde traurig sein, wenn sie nicht da war, um ihn anzufeuern. Sie tastete nach ihrem frisch geschnittenen Pony und den Gegenständen in ihrer Reisetasche. In letzter Zeit war sie selten so nervös gewesen, dass sie ihre Beruhigungstaktik brauchte, aber heute fühlte sie sich total aufgewühlt.

Schließlich war es soweit. Das Geplauder legte sich, dafür erklang Fionas Stimme, die alle Gäste daran erinnerte, während der Aufführung ruhig zu sein und sich für das zahlreiche Erscheinen bedankte.

Chris blieb draußen sitzen, auch als eins der Mädchen die Tür langsam zuzog, bis sie nichts mehr von drinnen hörte. Sie lehnte sich auf den Steinstufen zurück und starrte in den Himmel. Wie lange war sie schon in Teak City? Einen Monat? Wie lange würden sie und Jayden noch bleiben müssen? Es juckte sie bereits unter den Fingern, in die nächste Stadt zu reisen, nach Oliviana City, wo die Trainer stärker waren. Pikachu hatte sein Potential in dieser Gegend ausgeschöpft. Sie hatte nicht das Gefühl, dass ihr Starter noch viel stärker wurde. Er langweilte sich bereits mächtig während ihrem Training und trieb noch mehr Schabernack als gewöhnlich.

Sie rief ihr Pokémon, das es sich sofort auf ihrem Schoß gemütlich machte. „Was sagst du?“, fragte sie. „Reisen wir weiter, oder warten wir?“

Pikachu blinzelte sie an, dann schloss es die Augen und kuschelte sich an ihren Bauch. „Keine Meinung?“ Frustriert stützte Chris das Kinn auf eine Hand und begann mit der anderen, den weichen Pelz der Elektromaus zu kraulen.

„Ist es das?“

„Ja, guck doch, die Beschriftung. Das muss es sein.“

„Da sitzt jemand.“

Überrascht sah Chris sich nach den Stimmen um. Sie entdeckte drei Jugendliche, alle etwas älter als sie, die von der Hauptstraße abbogen und geradewegs auf sie zukamen. Der Junge in der Mitte, mit kurzrasiertem, dunklem Haar und grüner Weste, führte die Gruppe an. An seiner Seite trottete ein hechelndes Fukano, das bei dem Anblick von Pikachu die Ohren anlegte.

Ein über drei Meter langes Arbok schlängelte sich hinter dem Mädchen der Gruppe über das Pflaster und hisste leise. Der letzte der Runde, ein rundlicher Junge mit gewaltigem Rucksack auf dem Rücken, wurde von einem Pokémon begleitet, das Chris nicht kannte. Es lief auf vier kräftigen, gelbgrünen Beinen, war etwa schulterhoch und hatte einen langen Hals, von dessen Stirn ein gewaltiges Blatt herabhing. Eindeutig Pflanzentyp. Chris wünschte, sie hätte ihr Notizbuch zur Hand.

Der Anführer blieb vor Chris stehen. „Bist du eins der Kimono-Girls? Wir sind hier, um sie herauszufordern.“

„Herauszufordern?“, fragte Chris ungläubig. Warum hatte man ihr nicht gesagt, dass die Tänzerinnen auch kämpfen konnten?

„Ja doch, das hat Gold damals gemacht“, erklärte das Mädchen. „Und er hat ein wertvolles Geschenk bekommen. Jetzt sind wir dran. Wir kommen den ganzen Weg aus Dukatia.“

„Du bist also keine von denen?“, fragte der Junge mit dem Rucksack neugierig. Chris schüttelte den Kopf.

Sie machten Anstalten, zur Tür zu gehen, aber Chris sprang auf und baute sich vor dem Trio auf, wodurch Pikachu unsanft aus ihrem Schoß purzelte und unwirsch quietschte. „Ihr könnt da jetzt nicht rein“, sagte sie, und dachte an Jayden, der bestimmt seine volle Konzentration brauchte, um den Tanz durchzustehen. „Sie haben gerade eine Aufführung.“

„Na und?“, fragte das Mädchen. „Das hat Gold auch nicht aufgehalten.“

„Ihr seid aber nicht Gold“, stellte Chris fest.

„Du bist ja ein witziger Vogel“, sagte der Anführer. Er verschränkte die Arme und sein Fukano machte einen Schritt vor. Es bleckte die scharfen Zähne. „Wir können uns auch erst mit dir aufwärmen.“

„Tu nichts, was du später bereust“, informierte Chris ihn kühl. Pikachu, das endlich die Lage verstand, sprang auf ihre Schulter und ließ die Backen knistern, bis Chris Haare in alle Richtungen abstanden.

„Hahaha“, lachte der Anführer. „Du hast Mumm, das muss ich dir lassen. Du willst allein gegen uns antreten?“ Er deutete auf ihren Gürtel. „Du hast nur ein Pokémon.“

„Mehr brauche ich nicht.“

„Arrogant ist sie, nicht mutig“, korrigierte das Mädchen ihren Freund. „Aber das werde ich ihr austreiben.“

Chris spürte, wie das Adrenalin sie durchfuhr. In ihrem Kopf herrschte jedoch absolute Ruhe. Die Nervosität von vorhin war verschwunden. Es gab nur noch sie, Pikachu, und die Herausforderung direkt vor ihr.

„Pikachu, Donnerblitz!“

Chris & Jayden – Akt 3, Szene 6

8 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Wochen der Frustration entluden sich in dieser einen Attacke ihres Pokémon. Pikachus Donnerblitz schlug mit solcher Wucht in das Fukano ein, dass Chris unwillkürlich einen Schritt zurückmachte. Dem Anführer der Gegner standen alle Haare zu Berge. Pikachu ließ zufrieden die Backen knistern und gestikulierte mit seiner Pfote, so als wolle es sagen, Wer will als nächster?

Fukano rappelte sich einige Sekunden später zitternd vom Boden auf. Das schwarz-rot getigertes Fell rauchte. Sein Trainer bleckte wütend die Zähne.

„Na komm schon, Foxy, zeig ihr was du kannst! Flammenrad!“

„Unterstütz Foxy mit deinem Reflektor, Lorblatt“, rief der Junge mit dem Rucksack seinem Pflanzenpokémon zu. Chris speicherte den Namen mental ab. Ein Pokémon mehr aus Johto, dass sie kannte.

„Arbok, Wickel!“, schaltete sich das Mädchen der Gruppe ein.

Pikachu sprang zur Seite, um dem Wickel auszuweichen, wurde dafür aber von dem Rand des Flammenrads getroffen und sengte sich das Fell an. Lorblatt schwang inzwischen das Blatt auf seinem Kopf und beschwor einen schimmernden Schild hervor, von dem Chris wusste, dass er physische Attacken abfing und schwächte. Auf Slam würde sie vorerst verzichten. „Doppelteam“, befahl sie, auch wenn sie wusste, dass Pikachu ihre Anweisungen kaum noch brauchte. Aber jetzt, wo sie die Chance hatte, endlich wieder einen richtigen Kampf auszufechten, wollte sie ihrem Starter nicht den ganzen Spaß überlassen.

Arbok bäumte sich mit einem Zischen zu seiner vollen Größe auf. Seine Trainerin verschränkte selbstbewusst die Arme. „Glaubst du wirklich, dass du diesen Kampf gewinnen kannst?“

Diesmal antwortete Chris ihr nicht. Während sie Pikachu weiter mit Doppelteam durch die Luft schießen ließ, beobachtete sie die Bewegungen der gegnerischen Pokémon. Fukano schüttelte den qualmenden Pelz, aber es zuckte hin und wieder, war also wahrscheinlich paralysiert. Lorblatt hielt sich noch im Hintergrund. Umso besser.

„Foxy, versuch es mit Biss“, rief der Anführer seinem Pokémon zu. Foxy sprang vor, zuckte mitten in der Bewegung jedoch zusammen und ging zu Boden. Pikachu ließ sich diese Gelegenheit nicht entgehen. Während Lorblatt zu einer Zauberblatt-Attacke ansetzte, tauchte Pikachu inmitten seiner Trugbilder auf und schleuderte einen zweiten Donnerblitz auf Fukano.

Arbok schien nur auf diesen Moment gewartet zu haben, denn es spie Säure auf Pikachu—und traf dabei auch Fukano, das zischend und getroffen von zwei Attacken besiegt in sich zusammen sackte.

Der Junge fuhr zu seiner Freundin herum. „Was machst du denn?“, fauchte er sie an. „Verdammt!“

Pikachu schüttelte mit schmerzverzerrtem Gesicht die Säure aus seinem Pelz. „Weiter so“, feuerte Chris ihren Starter an. Es nickte ihr kurz zu, dann schoss es wieder davon, schlug Haken und hinterließ Phantom-Pikachus. Lorblatts Zauberblatt ging ins Leere, woraufhin der Rucksack-Junge leise fluchte. Das Mädchen sah elend aus. Sie schielte immer wieder zu dem Anführer, der Fukano zurückgerufen hatte und nun wütend den Pokéball in seinen Händen drehte. Arbok wiegte unterdessen verwirrt seinen Kopf hin und her und wartete auf ein Kommando, das nicht kam.

„Donnerblitz“, befahl Chris, und die Attacke schlug wie aus dem Nichts in Lorblatt ein, das sich weiter hinten in Sicherheit gewähnt hatte. Es strauchelte, blieb aber stehen.

„Jetzt hilf mir schon, Julia“, beschwerte sich der Rucksack-Junge. Julia schreckte zusammen und erinnerte sich scheinbar daran, dass sie noch mitten im Kampf war. „K-knirscher!“, rief sie ihrem Pokémon zu. Arbok züngelte die Luft, dann stieß es blitzschnell zu, und packte tatsächlich Pikachu aus seinen Schattenbildern heraus. Die weit geöffneten Kiefer drückten sich tief in Pikachus kleinen Körper und es stieß einen hohen Schrei aus. „Pikachu!“ Chris trat vor, aber sie konnte natürlich nicht eingreifen. Allerdings erlaubte diese Position ihnen einen Vorteil …

„Donnerwelle, los!“

Pikachu kniff die Augen zusammen und ein Elektroschock ging durch Arboks ganzen Körper. Es wurde stocksteif, dann schlaff und ließ Pikachu zu Boden fallen. Pikachu machte einen kleinen Purzelbaum und sprang auf. Sein gelber Pelz war angesengt und mit Säure verklebt und Staub bedeckte seinen ganzen Körper, aber seine Augen blitzten angriffslustig.

Chris wollte gerade das nächste Kommando rufen, da wurde hinter ihr die Eingangstür zum Theater aufgerissen. Sie sah sich erschrocken um. Fiona stand mit ausgebreiteten Armen zwischen den Türflügeln. „Was zur Hölle geht hier vor sich?“

 

 

Jayden bemerkte in der zweiten Hälfte ihrer Aufführung, das etwas nicht stimmte. Er konnte das Publikum im schummrigen Licht kaum ausmachen, die meisten Lichtquellen waren auf die Bühne gerichtet. Er drehte sich gerade in anmutigen Pirouetten mit Aquana, während er mit einem anderen Kimono-Girl die Plätze wechselte, als er von draußen ein lautes Krachen hörte.

Er unterdrückte sein Zusammenzucken und bewegte sich stattdessen normal weiter durch die Choreographie, aber seine Ohren lauschten nun neben der Musik auch auf weitere Geräusche von draußen. Ihm war außerdem bewusst, dass Chris nicht zurückgekehrt war. War sie für den Krach verantwortlich? Er spürte eine leichte Kälte, die am Rand der Bühne auftauchte. Nebulak.

Nicht ablenken lassen! Aquana warf ihm einen kurzen, rügenden Blick zu, während es seine Flosse sinnlich schwenkte. Beinahe wäre er ihm auf die Pfote getreten.

Das Krachen wiederholte sich. Leises Raunen wurde in den Zuschauern laut. Aus dem Augenwinkel entdeckte Jayden Frau Fiona, die etwas abseits mit verschränkten Armen neben der Bühne stand und immer wieder mit auf und ab tappendem Fuß zur Eingangstür guckte. Als es zum dritten Mal draußen laut wurde, schien sie es nicht mehr auszuhalten, denn sie stapfte davon.

 

 

Chris starrte Fiona an. Die Theaterbesitzerin sah aus, als wolle sie jemandem den Kopf abreißen, vielleicht allen gleichzeitig. Sie stürmte an Chris vorbei auf die Trainer zu und baute sich ungeachtet des drei Meter großen Arboks vor ihnen auf. „Das hier ist ein ehrenhaften Tanztheater und ich werde nicht zulassen, dass jahrhundertelange Generationen in den Staub getreten werden von dahergelaufenen Trainern wie euch!“

Stille. Dann lachte der Anführer der Trainer. „Was will denn die Alte jetzt? Wofür sind die Kimono-Girls da, wenn nicht zum Kämpfen?“ Er legte die Stirn in Falten und stand langsam auf. „Alleine kommt ihr ja scheinbar nicht klar, also muss ich mal wieder eingreifen. Ich wollte es eigentlich erst bei den Kimono-Girls benutzen, aber ihr geht mir alle richtig auf die Nerven, also was soll‘s.“ Er griff in seine Jackentasche und zog einen zweiten Pokéball hervor. „Das hier ist das Pokémon von meinem Bruder.“

 Chris biss sich auf die Lippen. Pikachu war schon angeschlagen. Julia sah unsicher zu ihrem Freund. „Gary, bist du sicher? Beim letzten Mal …“

„Sein kein Miesepeter, ich habe sie unter Kontrolle. Los geht’s, Ampharos!“

Der Name des Pokémons sagte Chris nichts, aber sie brauchte nur eine Sekunde, um es als Elektrotyp einzuordnen. Gelbes Fell, weißer Bauch, schwarz-gestreifte Ohren. Es war nicht besonders groß oder angsteinflößend, aber Chris hatte genug Zeit mit Pikachu verbracht, um seine Stärke einzuordnen. Die Statik ließ ihr selbst auf diese Entfernung alle Haare zu Berge stehen. Wenn sie raten müsste, würde sie den Level dieses Pokémons auf über fünfzig schätzen. Zwanzig Level von Pikachu entfernt.

Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Chris den Gedanken, dass sie keine Chance hatte, zu gewinnen. Vor ihr rappelte sich Pikachu jedoch auf und warf ihr einen kurzen, entschlossenen Blick zu. Chris verstand sofort. Sie grinste. Pikachu grinste zurück.

Da schwang die Tür erneut auf. Chris wusste nicht, weshalb, aber sie wusste, dass es Jayden war, noch bevor er in voller Kimonomontur neben ihr auftauchte, Nebulak an seiner Seite. Sein Make-Up hatte begonnen, an den Seiten zu verlaufen und einige seiner hellbraunen Haarsträhnen hatten sich unter der schwarzen Perücke gelöst. Chris nickte ihm zu. Erleichtert, ihn an ihrer Seiter zu haben. Sie beide hatten heute schon einen Kampf ausgetragen.

Frau Fiona stampfte zornig auf den Boden. „Also gut“, fauchte sie in Richtung von Gary, der amüsiert die Augenbraue hob. „Du willst gegen ein Kimono-Girl kämpfen? Hier hast du eins.“

Und mit diesen Worten zog sie einen Pokéball aus ihrer Tasche und beschwor ein betagt aussehendes Flamara. Zu dritt standen sie nun dem Ampharos, dem paralysierten Arbok und dem geschwächten Lorblatt gegenüber.

Hinter ihnen strömten die Zuschauer hinaus und blieben überrascht über das Spektakel stehen. Einige gingen schnell weiter, andere waren schaulustiger und bildeten einen Kreis um die sechs Trainer.

Chris Adrenalin ging in Schüben durch ihren Körper, ihr Herzschlag hämmerte in ihren Ohren. Sie hatte sich selten so lebendig wie in diesem Moment gefühlt. Das letzte Mal vermutlich bei ihrem Kampf gegen Chloe.

Ampharos ließ die Fäuste knistern, Arbok bäumte sich zischelnd auf, Lorblatt schwang sein Stirnblatt.

Gary verschränkte selbstzufrieden die Arme. „Jetzt zeigen wir ihnen, was eine Harke ist! Donner, Ampharos!“ Ampharos schnaubte verächtlich.

Nichts geschah.

Chris & Jayden – Akt 3, Szene 7

8 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Obwohl es sich um seinen Gegner handelte, konnte Jayden nicht anders. Er hatte Mitleid mit Gary. Der Trainer, der scheinbar in irgendeine Art von Streit mit Chris und Frau Fiona geraten war, lief puterrot an, als das Pokémon seinen Befehl ignorierte.

Chris sah ihn verwirrt. „Aber … was ist denn jetzt eine Harke?“

„Ach, das ist ein Rechen“, murmelte Jayden. „Aber das ist nicht so wichtig. Klär mich auf, was hier los ist.“

Während Gary das gelangweilte Ampharos anschrie, ihm zu gehorchen, gab Chris ihm eine kurze Zusammenfassung. Jaydens Mitleid verpuffte augenblicklich. Wegen diesem unflätigen Trainer war er keine Sekunde nach dem Ende der Aufführung hinaus gehechtet und hatte den Applaus verpasst?

„Wenn du gegen Kimono-Girls kämpfen willst, hier ist noch eins!“, rief er Gary zu, der beim Klang seiner Stimme verdutzt die Stirn krauszog. Jayden hob in Nebulaks Richtung eine Augenbraue. „Bereit für unseren ersten Kampf, Kumpel?“

Nebulaks Augen leuchteten auf. Es waberte an Pikachus und Flamaras Seite. „Chris, könntest du kurz …“ Er deutete zu seinem Pokémon. Chris zückte ihren Pokédex, der eine Liste von Nebulaks Attacken und seinen Level ausspuckte. Vierundzwanzig, nicht schlecht. Seine alte Trainerin hatte also zumindest ein bisschen Zeit in ihn investiert, bevor sie ihn verlassen hatte. Bei dem Gedanken brodelte Wut in Jaydens Bauch hoch. Die Vorstellung, Glutexo ohne ein Wort zurückzulassen und nie mehr wiederzusehen … Er schüttelte sich. Dafür war jetzt keine Zeit!

Das Mädchen namens Julia fing sich als erste. „Knirscher, Arbok!“, rief sie. Kurz danach trabte Lorblatt vor, um mit einer weiteren Zauberblattattacke anzugreifen.

Frau Fiona fuhr mit ihrem Arm durch die Luft, so als wäre es eine Tanzbewegung und kein Befehl zum Angriff. „Rechte Hand, dann Feuerzahn auf Lorblatt.“

„Nebulak, Nachtnebel auf Arbok!“

„Pikachu, Slam auf Ampharos.“

Alle Pokémon griffen gleichzeitig an. Lorblatts Zauberblatt schoss in schimmernden Regenbogenfarben auf Nebulak zu, das von der Attacke frontal getroffen wurde, sich aber sofort sammelte und einen dunklen Schatten Richtung Arbok schickte, das bereits vorgeschnellt war, um Pikachu zu beißen. Das wiederum wich gekonnt mit einem kleinen Salto aus, und schoss aus der Bewegung heraus mit Flamaras Rechter Hand-Unterstützung auf Ampharos zu. Der kleine Körper prallte gegen das Elektropokémon, das sich leicht verdutzt von seinem Streit mit Gary abwandte und auf Pikachu herabsah.

Pikachu schwenkte herausfordernd seine kleine Pfote. Bevor Ampharos entscheiden konnte, ob es angreifen oder sich weiter aus dem Kampf heraushalten sollte, schoss Flamara mit flammendem Maul an ihm vorbei und versenkte die Zähne tief in Lorblatts Flanke. Flammen züngelten den grüngelben Körper hinauf und Lorblatt ging stöhnend zu Boden.

Arbok zuckte paralysiert, und Jayden sah seine Chance gekommen. „Nochmal Nachtnebel!“, befahl er. Nebulak verschwand, nur um im nächsten Moment direkt hinter Arbok aufzutauchen und es mit seiner Geistattacke zu erledigen. Arbok sank in sich zusammen. „Nein!“ Julia rannte auf ihr Pokémon zu und hielt es in ihren Armen. „Jetzt tu doch was, Gary!“, flehte sie. Gary fuhr zornig zu ihr herum.

„Was soll ich denn machen? Das blöde Vieh hört nicht auf mich!“

„Aber du sagtest doch, dein Bruder hätte es dir geliehen“, sagte der Rucksackjunge, der sein besiegtes Lorblatt zurückrief.

„Ja, hat er ja auch. So irgendwie.“

„So irgendwie? Weiß er überhaupt davon?!“

„Jetzt … lasst mich einfach in Ruhe! Na komm, Ampharos, willst du etwa gegen so ein paar Schwächlinge verlieren?“

„Schwächlinge?“, murmelte Chris empört. Jayden drückte ihre Schulter.

„Dreist, oder? Zeigen wir ihm, was wir draufhaben.“

Sie nickte ernst. Frau Fiona lächelte zufrieden. „Es ist lange her, seit ich gekämpft habe, aber Flamara und ich haben nichts verlernt.“

KRACH!

Jayden sprang zurück, als ein gewaltiger Donner in den Boden einschlug. Er blinzelte und sah, dass Pikachu und Flamara nur haarscharf der gewaltigen Elektroattacke entkommen waren. Sie standen um den Krater und rangen panisch nach Atem. Frau Fiona wirkte genauso schockiert wie er, aber Chris ließ sich von nichts beirren. Wieder einmal musste Jayden bei ihrem furchtlosen Anblick staunen. Wenn er sie nicht in ihren verletzlichsten Momenten erlebt hätte, damals auf dem Weg nach Vertania City, oder bei ihrer Ankunft in Dukatia City, würde er sofort glauben, dass nichts dieses Mädchen berührte. Sie war wie ein standfester Baum im Sturm.

„Pikachu, Doppelteam, dann Slam“, befahl sie.

Jayden schluckte und zwang sich, sein rasendes Herz zu beruhigen. „Unterstütz Pikachu mit Hypnose, Nebulak!“, rief er seinem Geistpokémon zu.

Auch Frau Fiona schüttelte sich aus ihrer Starre. „Flamara, Feuerzahn!“

„Ha ha, das geschieht euch Recht!“, jubelte Gary, während die Pokémon ihre Angriffe starteten. „Los Ampharos, nochmal Donner!“

Ampharos ignorierte ihn geflissentlich. Stattdessen lud es sich mit zusätzlicher Elektrizität auf. „Ladevorgang“, stöhnte Jayden. „Als wenn es nicht schon stark genug wäre …“

Flamara rammte Ampharos mit voller Wucht und biss ihm mit seinen feurigen Zähnen in den Arm. Ampharos schüttelte es genervt ab und schleuderte es in die Menge, wo einige Zuschauer aufschrien und das arme Pokémon auffingen. Nebulaks Augen weiteten sich und es fixierte Ampharos mit seinem hypnotisierenden Blick, aber das Elektropokémon riss sich nach einigen Sekunden unwirsch aus der Attacke. Soweit zu der Strategie … Jayden wusste, dass sie diesen Kampf nur durch irgendeine Taktik gewinnen konnten, die nicht darauf basierte, Ampharos frontal anzugreifen. „Versuch es nochmal, Nebulak!“

In dem Moment schoss Pikachu zwischen seinen Schattenbildern heraus und rammte Ampharos von hinten. Dieses Mal stolperte Garys Pokémon einige Schritte vorwärts und runzelte genervt die Stirn.

Die Luft knisterte. Jayden spürte, wie sich die Haare in seinem Nacken kräuselten. „Ausweichen!“, schrie er. Pikachu raste zur Seite und auch Nebulak schoss ungewöhnlich schnell nach hinten, gerade rechtzeitig, um Ampharos vollständig aufgeladenem Donner zu entgehen, der mit einem ohrenbetäubenden KRACH in den Boden einschlug.

„Slam!“, befahl Chris ungerührt neben ihm.

„Feuerzahn!“

Ampharos schnaubte wütend. „Mach schon was!“, rief Gary dem geliehen Pokémon zu. Ampharos plusterte sein Fell auf und begann, Wattebäusche in die Luft abzusondern, die bald wie Pusteblumensamen durch die Luft waberten.

Plötzlich flackerten seine Augenlider. Einmal, zweimal. Seine Beine knickten ein und es fiel auf das Hinterteil. Ein lauter Schnarcher entwich ihm.

Jayden nahm Augenkontakt zu Nebulak auf, das selbstzufrieden direkt vor dem hypnotisierten Pokémon sichtbar wurde. Scheinbar hatte es Ampharos schläfrig gemacht, ohne dass dieses es bemerkte. „Du bist ein Genie“, flüsterte Jayden seinem Partner zu. Nebulak grinste breit. Es wurde tiefdunkel, und raste auf Ampharos zu. Flamara und Pikachu griffen im selben Moment an, und Ampharos wurde von jeder Richtung getroffen. Pikachu rammte es in den Bauch, Flamara biss es in die Schulter und Nebulak …

„War das Tiefschlag?“, fragte Chris verwirrt und studierte schnell ihren Pokédex. „Das lernt Nebulak nur durch TM.“

Jayden begann, bis über beide Ohren zu grinsen. „Cool.

 

 

Chris wusste, dass sie keine Zeit zu verlieren hatten. Ihr Dreier-Angriff war gut gelaufen, aber Ampharos konnte jeden Moment aufwachen. Gary sah so aus, als wolle er sich die Haare ausreißen, was der Situation nicht unbedingt helfen würde. Julia und der Rucksackjunge standen nebeneinander und hielten sich aneinander fest. Chris fand das sehr dramatisch. Es war schließlich nur ein Pokémonkampf, und die beiden waren nicht mal mehr beteiligt. Dann wiederum hatten sie vermutlich Angst vor Ampharos‘ Donner. Diese Attacke war tatsächlich sehr respekteinflößend.

Die Luft schimmerte. Chris kniff die Augen zusammen, dann verstand sie.

„Greift an!“, rief sie Jayden und Fiona zu. „Reflektor ist abgeklungen!“ Die beiden nickten energisch. Nebulak attackierte das schlafende Ampharos erneut mit seinem Tiefschlag, während Pikachu einen weiteren Slam versuchte. Flamara erneuerte Rechte Hand und griff gleich danach mit Feuerzahn an. Genau in dem Moment erwachte Ampharos. Es brüllte, die rote Kugel an seinem Schweif glühte mit Energie und es schoss reflexartig einen Strahl pinken Lichts auf Flamara, das von der Wucht des Angriffs umgerissen und durch die Luft geschleudert wurde.

„Flamara!“ Fiona rannte zu ihrem besiegten Pokémon, dessen Körper schwelte. „Du hast gut gekämpft“, flüsterte sie. Chris biss sich auf die Lippen. Blieben nur noch Pikachu und Nebulak. Jayden Pokémon schien noch recht frisch, aber Pikachu hatte die gesamte Zeit seine Doppelteam-Klone aufrechterhalten und jede Menge Attacken einstecken müssen.

Nebulak griff erneut mit seinem Tiefschlag an, während Pikachu aus der anderen Richtung seinen Slam nutzte, um Ampharos weiter zu schwächen. Es sollte unmöglich sein, aber so langsam schien Ampharos den Schaden wahrzunehmen. Es atmete schwerer und sein gelbes Fell war an den Bisswunden von Flamara leicht verkohlt.

Ampharos lud sich erneut auf. Chris begann zu schwitzen. Trotz des wilden Kampfes war es ganz ruhig um sie herum. Die Zuschauer hielten alle den Atem an. Die nächste Donnerattacke schlug mit einem gewaltigen Krachen ein.

Sie traf Nebulak nicht frontal, sondern nur mit dem Rand der Attacke, was vielleicht der einzige Grund war, weshalb Nebulak keine schlimmeren Verletzungen davontrug. Jayden schrie, als sein Pokémon von der Wucht des Angriffs durch die Luft geworfen wurde. Er rief es sofort zurück, um es aus der Gefahrenzone zu bringen.

„Ha ha, nehmt das!“, ereiferte sich Gary. Er lachte gehässig und sah zu seinen beiden Freunden. „Seht ihr, wie stark ich bin?“ Die beiden wirkten alles andere als begeistert.

Julia wandte den Kopf ab. „Es ist nicht dein Pokémon. Und du hast es nicht mal ehrlich ausgeliehen bekommen. Soll mich das beeindrucken?“

Garys Gesichtszüge entgleisten. „Hä?“

„Genau“, stimmte der Rucksackjunge zu. „Ampharos kämpft komplett ohne dich, du bist total überflüssig.“

„Ü-überflüssig?“

Chris hatte keine Zeit, dem Rest der Unterhaltung zuzuhören, denn sie musste Pikachu anfeuern. Ihr Starter sprang in Haken über das inzwischen verwüstete Kampffeld und wich einer weiteren Ampelleuchte aus, bevor es wieder mit Slam angriff. Ampharos keuchte. Sie waren so nah dran!

„Du schaffst das!“, schrie Chris, so laut wie sie noch nie geschrien hatte. „LOS!“

Die Sonne ging auf.

Das war der erste Gedanke, den Chris hatte, als warmes Licht aus dem Himmel flutete. Dann fiel ihr ein, dass es Abend war, und die Sonne längst untergegangen war. Sie sah empor und schirmte ihre Augen gegen das grelle Licht ab. Ein dunkles Schemen schwebte über der Stadt.

Tuscheln wurde in der Menge laut, mehrere Zuschauer deuteten in den Himmel. Chris schnappte einige Gesprächsfetzen auf, während sie Tränen wegblinzelte.

„Ist das—“

„Kann es wirklich—?“

„—wurde ewig nicht mehr gesichtet!“

Und plötzlich spürte Chris es, dieses Ziehen in der Brust, kräftiger und intensiver als je zuvor. Sie musste nicht mehr sehen, was da im Himmel inmitten eines Sonnentags schwebte und über die Stadt flog.

„Pikachu, SLAM!“

Pikachu musste etwas in ihrer Stimme gehört haben, denn es plusterte sich auf, und während Ampharos (zusammen mit allen anderen) in den Himmel starrte, nahm es Anlauf und schleuderte sich mit voller Wucht gegen das Elektropokémon. Ampharos stolperte einige Schritte zurück, sichtlich überrascht, dann knickte es ein. „Nochmal!“

Ein zweiter Slam. Jayden stand ganz dicht neben ihr, seine Finger krallten sich in ihre Schulter. Er sagte etwas, aber sie konnte nichts mehr hören, nur das Hämmern des Bluts in ihren Ohren und das grelle Kreischen über ihr. Ampharos setzte zu einem letzten Donner an. Die Attacke raste herab, verfehlte Pikachu um Haaresbreite, und Pikachu hechtete in einem weiten Halbkreis und rammte Ampharos um.

Das Pokémon lag auf dem Rücken, scheinbar unfähig sich zu rühren. Sein Kopf sackte zur Seite.

Besiegt. Sie hatten gewonnen. Gewonnen! Der Sonnentag im Himmel verblasste.

Über ihren Köpfen schlug Ho-Oh mit seinen gewaltigen, regenbogenfarbenen Schwingen, und flog Richtung Westen.

 

 

Jaydens Kehle war trocken. Er hielt Chris am Arm fest und half ihr vorsichtig, sich auf den Boden zu setzen. Pikachu hetzte im Siegesrausch durch die Menge, stahl Hüte, nahm Süßigkeiten entgegen und genoss in jeder Hinsicht seinen Triumph, aber Chris war völlig abwesend. Ihr Blick war stur Richtung Westen gerichtet, dorthin, wo soeben das legendäre Ho-Oh über ihren Köpfen davongeflogen war.

Jayden nahm nur am Rande wahr, dass Frau Fiona die drei Trainer davon scheuchte, und die Menge um Verzeihung für das unplanmäßige Kampfgeschehen bat.

In dem Moment hörte er aus der Menge hinter ihnen Irenes Stimme. „Dürfte ich mal … kann ich bitte durch … ich bin im Rollstuhl, lassen Sie mich … Jayden!“ Er sah sich um. Sie rollte mit glühenden Wangen auf ihn zu, aber als sie ihn neben Chris knien sah, erstarrte ihre Miene. Kaum bei ihnen angekommen, nahm sie seine und Chris‘ Hand.

„Was ist passiert? Habt ihr verloren? Warum seid ihr so niedergeschlagen?“

Jayden räusperte sich. Chris machte keine Anstalten, sich an der Konversation zu beteiligen. Pikachu kam angerannt und sprang in ihre Arme. Ihre einzige Reaktion war, dass sie es eng an ihre Brust drückte, ohne jedoch den Blick vom Horizont zu nehmen.

„Ho-Oh war eben hier“, sagte Jayden zu Irene. Er schluckte die Tränen hinunter. „Es ist nach Westen geflogen.“

„Aber … das ist doch gut?“ Irene sah verwirrt zwischen ihnen hin und her. „Ho-Oh wurde ewig nicht mehr gesichtet. Das ist bestimmt ein gutes Omen.“

„Das ist es in der Tat.“ Jayden fuhr bei der Stimme herum. Jens stand hinter ihnen. Seine Augen blitzten. „Ho-Oh zeigt sich nie ohne Grund. Etwas, oder jemand, muss es über einen längeren Zeitraum angezogen haben, und heute ist etwas passiert, dass es so beeindruckt hat, dass es sich zeigte.“

Irenes Augen wurden groß. Sie alle sahen zu Chris.

Chris stand auf. Als sie sich endlich zu ihnen drehte, war ihr Blick voller Schmerz, aber auch Stahl. Jayden atmete tief durch. Er hatte doch gewusst, dass es so kommen würde. Warum tat es dann jetzt trotzdem so weh?

„Wann reist du ab?“, fragte er seine beste Freundin.

Chris presste die Lippen aufeinander. „Morgen früh. Ich—“ Sie stockte und sah zu Boden.

„Hey.“ Jayden wartete, bis sie ihn wieder ansah. „Du musst dich nicht entschuldigen. Mir war klar, dass wir uns früher oder später trennen müssen, jetzt wo ich nicht mehr frei überall hinreisen kann. Außerdem muss ich mein Versprechen an Frau Fiona halten und Irene bei den Kimono-Girls vertreten, bis sie wieder einsatzfähig ist. Ich werde vielleicht Monate, oder sogar Jahre hierbleiben. Es wäre unfair, von dir zu erwarten, dass du deine Reise so lange aussetzt.“

Irene schien endlich die Tragweite ihrer Unterhaltung zu begreifen. „Ihr … ihr trennt euch? Du wirst gehen, Chris?“ Sie kämpfte sichtbar mit den Tränen. Instinktiv griff Jayden nach ihrer Hand und drückte sie fest. Ihm war auch nach Heulen zu Mute, aber er wollte Chris ihre Entscheidung nicht noch schwerer machen. Er konnte sehen, wie sehr sie mit sich rang.

„Ich muss“, sagte Chris. „Ho-Oh … es ist wie Jens sagt. Es ist nicht einfach aufgetaucht. Es hat mich herausgefordert. Ich habe seine Aufmerksamkeit erregt, jetzt muss ich mich beweisen.“

„Die Regenbogenschwinge“, fügte Jens hinzu. „Ich bin auch einst von Ho-Oh herausgefordert worden. Aber auch wenn ich die Schwinge ergattern konnte, ist es mir nicht gelungen, es damit in den Glockenturm zu locken. Ich würde sie dir anbieten …“

„Nein.“ Chris schüttelte vehement den Kopf. „Die Schwinge hat keinen Wert, wenn ich sie nicht selbst finde. Ich muss Ho-Oh folgen und stark genug werden, um es hier zu fangen.“ Jens lächelte, so als habe sie gerade einen Test bestanden.

„Aber sicher ist es nicht schlimm, wenn du zumindest noch eine Woche bleibst“, sagte Irene. „Oder zwei. Wir haben uns doch alle gerade erst richtig kennengelernt. Ihr … ihr seid die besten Freunde, die ich je hatte.“

Chris lächelte sie an und Jaydens Herz zog sich zusammen. Ein Teil von ihr wollte bleiben, das spürte er in seinen Knochen. Aber der größere Teil, der Ehrgeiz, trieb sie, weiterzureisen. „Ich bin schon viel zu lange hier. Wärt ihr beiden nicht gewesen, wäre ich schon vor zwei Wochen abgereist.“

Irene schniefte, aber sie straffte ihre Schultern. „Dann kann ich dich wohl nicht umstimmen. Vergiss mich ja nicht auf deiner Reise, und komm mich mal in Teak City besuchen.“

„Ruf mich hier im Pokécenter an, sobald du weißt, wo es hingeht“, sagte Jayden. „Vielleicht kann ich bald nachkommen.“

„Das werde ich.“ Sie zögerte kurz, dann nahm sie Jayden fest in den Arm. „Denk dran: Freunde finden immer einen Weg.“

Jayden sog die Wärme ihrer Umarmung in sich auf. „Verdammt richtig.“

„Und übrigens“, sagte Chris, „Irene möchte dich küssen. Nur falls du daran Interesse hast.“

„CHRIS!“

Ronya − Akt 1, Szene 1

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

„Was machst du da?“

Ronya sah von dem Buch auf, das aufgeschlagen in ihrem Schoß lag und fand sich Auge in Auge mit ihrer Schwester wieder, die vorgebeugt über ihre Schulter schielte. Als Thea den Blick ihres Zwillings bemerkte, streckte sie die Zunge heraus und ging neben Ronya in die Hocke.

„Ein Buch über Pokémon“, erklärte Ronya und hob den Wälzer, um ihr den Buchtitel auf dem Einband zu zeigen. Grundlagen der Pokémonaufzucht, von Wyatt Thomsen. „Ich habe es mir in der Bibliothek ausgeliehen, als wir vorgestern da waren.“

„Ehh …“ Thea nahm ihr das Buch aus der Hand und ließ es beinahe fallen. „So schwer!“, rief sie entsetzt und drückte es zurück in Ronyas Arme. „Warum liest du sowas?“

„Ich will Trainer werden“, sagte Ronya leise und spürte eine unbekannte Hitze in ihren Wangen aufsteigen. Es war das erste Mal, dass sie ihren Wunsch laut äußerte. Ihr wurde schlagartig bewusst, wie nervös sie über Theas Reaktion war. Ihre Schwester mochte es nicht, wenn sie Geheimnisse voreinander hatten und konnte tagelang schmollen, bis Ronya es nicht mehr aushielt und sich entschuldigte.

„Vielleicht sollte ich auch Trainer werden“, schlug Thea vor und grinste, als Ronya überrascht aufschaute.

„Aber du magst Pokémon doch gar nicht!“, protestierte sie. Thea zog eine Grimasse.

„Das habe ich nie gesagt“, entgegnete sie trotzig. „Und außerdem sind wir Zwillinge. Wir sollten alles zusammen machen, oder nicht?“

„Ich will nur nicht, dass du dich langweilst“, sagte Ronya und legte das Buch beiseite. Sie würde später weiterlesen, wenn ihre Schwester eingeschlafen war. Die wenigen nächtlichen Stunden waren die einzigen, die Ronya wirklich alleine verbrachte. Thea war nie weit von ihr entfernt.

„Ach was.“ Thea wedelte ihren Einwand ungeduldig ab. „Das wird schon. Zusammen wird es auf jeden Fall Spaß machen. Oh, ich weiß! Wir können dasselbe Starterpokémon aussuchen, was meinst du?“

„Ich weiß nicht …“ Ronya zögerte. „Ich habe mir noch keins ausgesucht.“

„Das machen wir zusammen!“ Theas moosgrüne Augen glühten auf. „Wir werden zusammen nach Sandgemme gehen und dann bekommen wir ein Pokémon. Welches hättest du gerne? Ich bin für ein Plinfa, die sind so süß! Können wir bitte beide ein Plinfa haben? Bitte, bitte, bitte?“

Ronya zwang sich zu einem Lächeln. Sie wollte kein Plinfa. Aber mit Thea in diesem Zustand zu diskutieren, war zu anstrengend. Sie würde warten, bis ihr Interesse abgeklungen war. Ronya hatte in ihrem Buch gelesen, dass die Aufzucht von Pokémon sehr viel Geduld und Sorgfalt erforderte. Sicher würde ihre aufgeweckte Schwester von ihrem Plan ablassen, sobald ihr das klar wurde.

Thea deutete das Lächeln ihrer Schwester als eindeutiges Ja, sprang auf und begann, in einem Freudentanz durch ihr gemeinsames Zimmer zu hopsen. Erst die Klingel im Untergeschoss riss sie aus ihrem Tanz. Sie packte Ronyas Handgelenk und zog ihre Schwester mit sich hinunter in den langen Flur, wo ihre Mutter bereits an der Tür stand und ihren Vater mit einem Kuss auf die Wange begrüßte.

Jakob Olith war ein Mann von breitgebauter Statur, die ihm in seinem Job an Fleetburgs Werft zu Gute kam. Ronya liebte seinen Geruch nach Salzwasser und die rauen Hände, die abends ungeahnt sanft über ihre Wangen streichen konnten, bevor er Gute Nacht sagte.

Wie jeden Abend war es Thea, die zuerst in seine Arme sprang und sich von ihm emporheben und in dem schmalen Flur umherwirbeln ließ. Sie lachte und kreischte begeistert. Ronya blieb einige Schritte zurück. Der amüsierte Blick ihrer Mutter traf auf den ihren und Darleen zuckte entschuldigend mit den Schultern. Erst als Thea abgesetzt wurde und an allen vorbei in die Küche lief, um das Abendessen zu probieren, war Ronya an der Reihe.

„Hallo, Papa“, sagte sie und umarmte ihn, kürzer als sie gewollt hätte. Jakob strich über ihr rückenlanges, kastanienbraunes Haar und drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange.

„Da ist ja mein Lesefratz“, sagte er und zwinkerte ihr zu. „Bist du mit dem Buch schon durch?“

Sie schüttelte den Kopf. „Aber ich habe schon über die Hälfte!“, fügte sie stolz hinzu. Er grinste schelmisch, tätschelte ihren Kopf und verschwand in die Küche.

Ronya lächelte in sich hinein und tastete zum gefühlt hundertsten Mal nach dem Bibliothekausweis in ihrer Bauchtasche, den ihr Vater vorgestern heimlich für sie besorgt hatte. Ihre Wünsche nach neuen Büchern hatten ihn regelmäßig von der Arbeit abgehalten. Nun würde sie alles ausleihen können, was sie wollte, ohne von ihm abhängig zu sein.

Noch besser war, dass Thea keinen Ausweis besaß. Es war ein Geheimnis, das Ronya mit aller Macht vor ihr hüten würde.

Sie liebte ihre Schwester. Wirklich. Aber als sie den anderen in die Küche folgte und Theas Aussehen mit dem ihren verglich, fühlte sie sich… eingeengt. Theas Bestehen auf ständige Nähe, auf die gleichen Hobbys und den gleichen Freundeskreis war in den letzten Jahren immer schlimmer geworden, bis es einen Punkt erreicht hatte, an dem Ronya sich von ihrer Schwester aus ihrem eigenen Leben verdrängt fühlte. Sie brauchte Abstand. Ihr Ausweis für die Bibliothek war ein erster Start. Ihre Reise als Pokémontrainerin, entfernt von zu Hause, würde ihr endlich die Freiheit geben, sich ohne ihren Zwilling zu entfalten.

„Ronya, starr nicht so in die Luft, das Essen wird kalt“, schalt ihre Mutter sie. Ronya schüttelte den Kopf und rutschte zu ihrer Schwester auf die Eckbank, wo sie bereits mit Messer und Gabel auf den Tisch hämmerte und Essen, Essen, Essen sang.

Das Gespräch verlief in gewohnten Bahnen und erlaubte Ronya, still über ihr Buch nachzudenken, das oben in ihrem Zimmer auf sie wartete. Ihr Vater beschwerte sich mal wieder über den neuen Chef, der seiner Meinung nach zu jung für eine Führungsposition war und den Job nur bekommen hatte, weil er der älteste Sohn des alten Herrn Heeps war. Während er sich über dessen Überheblichkeit und die neuen Regeländerungen aufregte, wiederholte Ronya still die Gründe, warum Jungpokémon lernfähiger waren als ältere Pokémon des gleichen Levels. Es hatte etwas mit ihrem Gehirn zu tun, da war sie sicher, aber die Erklärung war so kompliziert gewesen, dass ihr die genauen Argumente—

„Ronnyyy“, quengelte Thea und pikste sie mit verwundeter Miene in die Wange. „Ich habe dich was gefragt!“

„Tut mir leid“, murmelte Ronya und rieb sich die Wange. „Was hast du gesagt?“

„Ich meinte, dass wir den kleinen Bruder von Papas Chef getroffen haben. Erinnerst du dich nicht?“

Es dauerte einige Momente, bevor Ronya sich an den Ausflug in den lokalen Park erinnerte, auf den Thea sie letzte Woche mitgeschleift hatte. Thea wollte unbedingt, dass Ronya all ihre Freunde traf und sich ebenfalls mit ihnen anfreundete. Ronya hatte gute Miene zum bösen Spiel gemacht—Theas Freundeskreis bestand aus kichernden Mädchen, die mit Thea über ihre neuen Kleider und Schuhe redeten und hysterisch lachend ihre Schwärme verglichen. Ronya, wie so oft in ihrer zerrissenen Lieblingslatzhose gekleidet, hatte schnell genug gehabt und sich zu den beiden Jungen gesellt, die besprachen, wann man sich wieder mit den anderen Kindern zum Kicken treffen würde. Nikolas und Tommy, das waren ihre Namen gewesen. Sie hatte beide nicht gemocht.

„Der Blonde?“, fragt sie, ohne sich etwas von ihrem Gedankengang anmerken zu lassen. Thea mochte Ronyas Zwillingsschwester sein, aber ihre Mimik verstand sie auch nach dreizehn Jahren nicht.

„Ja, genau!“ Thea nickte energisch. „Tommy Heep. Er hat mit seinem Bruder geprahlt, weil der befördert wurde.“ Sie zwinkerte Ronya zu, bevor ihr Mund sich zu einem stummen Oh öffnete und sie sich aufgeregt ihren Eltern zuwandte. „Mama, Papa, Ronya und ich wollen Pokémontrainer werden! Können wir nach Sandgemme, um uns dort bei dem Professor ein Plinfa zu holen? Bitte, bitte?“

„Ist das so?“, fragte ihre Mutter und hob interessiert eine Augenbraue. „Habt ihr euch das auch gut überlegt? Ihr müsst die Verantwortung für eure Pokémon und euch selbst tragen, das ist nicht leicht. Gerade du stürzt gerne unüberlegt in neue Hobbys, Thea.“

Ihre Schwester schüttelte vehement den Kopf. „Nein, ich will Trainerin werden, so wie Ronya! Ich lasse mich nicht umstimmen.“ Beleidigt verschränkte sie die Arme und sah zur Seite. Ronya unterdrückte ein Seufzen.

„Nun, ihr seid alt genug, um ein Pokémon zu besitzen“, gab Darleen zu. „Ich werde euch natürlich nach Sandgemme begleiten müssen. Der Weg ist nicht ungefährlich. Was meinst du, Jakob?“

„Ich werde Professor Eibe anrufen, damit er euch bei der nächsten Vergabe ein Pokémon reserviert“, sagte ihr Vater stirnrunzelnd. „An Arenakämpfen dürft ihr nach der neuen Regelung erst teilnehmen, wenn ihr vierzehn seid“, fügte er hinzu. „Und bis nach Erzelingen ist es ein gutes Stück Weg. Wenn ihr euch gut vorbereitet und zusammenbleibt, werdet ihr das aber meistern, da bin ich mir sicher.“

Ronya presste ihre Lippen aufeinander, bis sie weiß wurden.

„Aber warum fangt ihr euch nicht ein lokales Pokémon?“, schlug Mama nach einigen Momenten vor. „Ihr müsst nicht bis Sandgemme gehen, auf Route 218 gibt es viele Pokémon, die für Anfänger geeignet sind.“

„Wir wollen aber ein Plinfa!“, protestierte Thea augenblicklich und umschlang Ronya in einer festen Umarmung. „Ein Plinfa, nichts anderes.“

„Ich will kein Plinfa“, flüsterte Ronya. Sie hatte es nicht laut aussprechen wollen, aber der Esstisch war klein und ihre Stimme trug. Ihr Vater warf ihr einen fragenden Blick zu, ihre Mutter faltete diplomatisch die Hände auf dem Tisch. Thea riss sich los und schaute sie entgeistert an.

„Aber du hast doch gesagt, dass du Trainer werden willst“, sagte sie. „Wir sind doch Schwestern!“

„Ich will kein Plinfa“, wiederholte Ronya nur. „Du kannst dir gerne eines in Sandgemme in abholen. Ich will ein anderes.“

„Welches denn?“, fragte Thea frustriert. „Ich möchte ein Plinfa, aber du gehst vor! Wenn du ein anderen Pokémon haben willst, dann nehme ich—“

Etwas in Ronya explodierte. Bevor sie es verhindern konnte, war sie aufgesprungen.

„Ich will nicht dasselbe Pokémon, dass du hast, warum kapierst du das nicht?!“, schrie sie. Ihre Stimme hallte in dem kleinen Esszimmer nach. Entsetzte Blicke trafen sie von allen Seiten. Sie wollte sich wieder hinsetzen, so tun, als wäre nichts geschehen, aber das plötzliche Aufschluchzen ihrer Schwester und der entsetzte Blick ihrer Mutter nagelten sie förmlich fest. Sie konnte keinen Finger rühren.

„Du ha-hasst mich …“, heulte Thea auf.

„Dein Ton ist sehr unangebracht, Ronya“, sagte ihre Mutter. „Wenn du etwas sagen möchtest, dann sag es bitte in normaler Lautstärke. Entschuldige dich.“

„Es tut mir leid“, sagte Ronya und ließ sich mit hängenden Schultern zurück auf die Bank sinken. Bei dem Anblick ihrer Schwester, der Rotz und Tränen über das Gesicht strömten, zog sich alles in ihr zusammen, so als hätte jemand in ihre Brust gefasst und eine Faust um ihr Herz geschlossen. Schon jetzt bereute sie ihren Wutausbruch. Thea würde ihr nicht so schnell vergeben.

Still aß sie zu Ende, verließ das Esszimmer und stieg allein die Treppen hinauf. Die Aussicht auf ihr Buch war nicht mehr so verlockend, wie noch vor dem Abendessen. Sie hätte Thea nichts sagen dürfen. Sie hatte alles ruiniert.

Ronya − Akt 1, Szene 2

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Ronya klopfte zum wiederholten Mal an ihre Zimmertür und wartete darauf, dass Thea sie von alleine reinlassen würde. Sie konnte den Trotz ihrer Schwester nachvollziehen, schließlich hatte sie bei dem Abendessen überreagiert, aber sie hatte keine Lust, schon wieder zu ihrer Mutter nach unten gehen zu müssen, damit diese Thea umstimmte.

Die letzten drei Tage waren peinlich genug gewesen.

„Lass mich rein, Thea“, flehte sie und klopft erneut. Stille begrüßte ihre Bitte. Genervt ging Ronya in die Hocke und spähte durchs Schlüsselloch. Sie konnte nicht viel sehen, aber ihre Schwester schien auf dem Hochbett zu sitzen. In der Hand hielt sie …

„Thea!“, schrie sie, sprang auf und hämmerte nun doch gegen das dunkle Holz. „Gib mir mein Buch zurück!“

„Es ist auch mein Buch!“, ertönte es aus dem Zimmer, schrill und gedämpft durch die Tür zwischen ihnen. „Wir sind Schwestern, alles was dir gehört, gehört auch mir!“

„Das Buch gehört der Bibliothek und ich habe es ausgeliehen!“, fauchte Ronya und trat so fest gegen die Tür, dass sie sich einen Zeh stieß und aufheulte, als der Schmerz durch ihren gesamten Fuß raste. Sie biss die Tränen zurück. „Lass mich rein, dann darfst du darin lesen, wenn ich fertig bin.“

„Nein!“, erschallte Theas Stimme. „Geh weg! Du magst mich nicht mehr!“

„Was ist da oben für ein Radau?“, rief ihre Mutter aus dem Flur herauf. Als Ronya keine Antwort gab, ertönte das Knarzen der Treppenstufen. Wenige Sekunden später stand Darleen hinter Ronya im kleinen Flur, ein Handtuch um die Stirn gewickelt, und schaute ihre Tochter kritisch an.

„Thea lässt mich nicht rein“, sagte Ronya kleinlaut.

„Das schon wieder …“ Seufzend klopfte ihre Mutter ebenfalls an die Tür. „Thea, lass sofort deine Schwester in euer Zimmer, oder ich streiche dein Taschengeld für diesen Monat. Drei Tage dieses Unsinns sind wirklich genug.“

Einige Sekunden lang geschah nichts. Ronya fürchtete bereits, dass ihre Schwester sich sogar jetzt noch querstellen würde, aber dann hörte sie, wie sich Schritte von der anderen Seite näherten, gefolgt von dem metallischen Schrammen, als Thea den Schlüssel umdrehte.

Die Tür schwang auf. Thea stand mit verheultem Gesicht vor ihr, Buch fest an ihre Brust gepresst.

„Gib das wieder her“, befahl Ronya und schnappte nach dem Wälzer, aber Thea begann nur noch mehr zu weinen und sprang zurück.

„Mamaaa“, heulte sie und ließ sich auf die Knie fallen. „Ronya lässt mich nicht in ihrem Buch lesen!“

„Du hast versucht, mich auszusperren“, erwiderte Ronya wütend. „Und das ist mein Buch.“

„Wir sind Zwillinge!“, schrie Thea. „Also ist es unser Buch!“

„Ruhe jetzt, alle beide“, fauchte Darleen und zog Ronya an der Schulter zurück, damit sie nicht weiter versuchen konnte, Thea das Buch zu entreißen. „So geht das nicht weiter. Ich dachte, ihr regelt euren Streit wie sonst auch, aber ich sehe schon, dass ihr nicht in der Lage seid, normal miteinander zu reden. Thea, leg das Buch auf den Schreibtisch und gib mir den Schlüssel für euer Zimmer. Danke. Und jetzt setzen wir uns zusammen und klären diesen Streit ein für alle Mal.“

Wenige Minuten später fand Ronya sich am Esszimmertisch wieder. Thea saß ihr mit roten Augen gegenüber, ihre Mutter hatte die neutrale Position am Kopfende eingenommen.

„Also, was ist das Problem?“, fragte sie.

Ronya schwieg stoisch. Thea schniefte, wischte sich über die Augen und schaute ihre Schwester böse an. „Sie mag mich nicht mehr“, sagte sie trotzig und zog die Nase hoch. „Ronya will nicht, dass wir Schwestern sind.“

„Das habe ich nie gesagt!“, protestierte Ronya sofort. Ihre Mutter warf ihr einen strengen Blick zu.

„Ganz ruhig“, mahnte sie. „Du musst nicht schreien, wir verstehen dich auch so.“

Ronya lief rot an. „Thea will nur Trainer werden, weil ich Trainer sein will. Und jetzt will sie, dass wir dasselbe Pokémon haben und immer zusammenreisen und mein Buch will sie auch. Ich will aber selbst aussuchen.“

„Ich dachte, wir bleiben für immer zusammen“, flüsterte Thea. Tränen tropften wieder ungehemmt auf ihr Kleid und ihre geballten Fäuste. Ronya schluckte. Sie hasste es, ihre Schwester so zu sehen, aber wenn sie jetzt nachgab, würde sie niemals ihre Freiheit bekommen. Thea würde sie weiter nachahmen und in Beschlag nehmen, bis nichts von Ronya übrig war. Sie durfte nicht nachgeben. Sie durfte keine Kompromisse machen.

„Ich gebe zu, dass ich mich über euren Wunsch gewundert habe“, sagte Darleen nach einer Weile. „Du hast dich doch nie für Pokémonkämpfe interessiert, Thea. Warum machst du nicht das, was du willst?“

„Ich will Trainerin werden!“, kreischte Thea hysterisch. „Ich werde Trainer und niemand wird mich davon abhalten. Und ich werde dasselbe Pokémon haben wie Ronya, daran kannst du nichts ändern!“

„Thea“, unterbrach ihre Mutter sie sofort. „Nicht in diesem Ton. Du hast natürlich das Recht, Trainerin zu werden. Warum vereinbaren wir nicht ein Treffen mit Professor Eibe? Dann kannst du dir ein Plinfa aussuchen und deine Schwester wird ihre eigene Entscheidung treffen.“

Thea hob trotzig den Kopf und sah Ronya in die Augen. Eine ungewohnte Boshaftigkeit war in ihrem Blick, die Ronya dort nie zuvor gesehen hatte. Sie krallte sich an dem Jeansstoff ihrer Latzhose fest, um ein Zittern zu unterdrücken. Diese Thea war ihr völlig fremd.

„Wenn Ronya kein Plinfa will, dann will ich auch keins.“

Darleen atmete frustriert aus. „Wir sollten das besprechen, wenn euer Vater wieder hier ist“, sagte sie schließlich. „Ronya, es würde mich freuen, wenn du Thea in deinem Buch lesen lässt. Ein Grund für schlechtes Klima in diesem Haushalt ist eindeutig genug.“

Ronya konnte nicht mehr atmen. Alles, was sie liebte, wurde ihr genommen. Schon jetzt war ihr Traum von einem eigenen Pokémon, das niemand sonst in Fleetburg hatte, zerstört. Ihre Hobbys waren nicht mehr ihre eigenen, ihre Entscheidungen, nicht mal ihr Aussehen. Thea nahm ihr alles.

Sie sprang auf und rannte die Treppen hinauf in ihr Zimmer.

„Ronya, warte!“, rief ihre Mutter, doch Ronya blieb nicht stehen, auch nicht, als sie die schnellen Schritte ihrer Schwester dicht hinter sich hörte. Wenn sie das Buch nicht alleine lesen konnte, würde niemand es lesen. Sie schnappte es vom Schreibtisch, riss das Fenster weit auf und ließ das Buch hinunterfallen, wo es im dichten Gras ihres Gartens landete. Ronya selbst holte Schwung und sprang aus dem Fenster.

Die Eiche, deren Äste sich in alle Richtungen streckten, ragte etwa zwei Meter von dem Fenster entfernt in den Himmel, aber es war nicht das erste Mal, dass Ronya diesen Weg wählte. Sie schleuderte sich vorwärts und schlug heftig auf dem fetten Ast auf, der ihren Fall abfing. Keine Zeit, die blauen Flecken an ihrem Bauch zu begutachten. Mit gekonnten Bewegungen, und ohne hinab zu sehen, hangelte Ronya sich in den Garten hinab, packte das Buch und rannte davon.

Theas Schreie verfolgten sie aus dem Fenster den ganzen Weg durch den Garten, aber Ronya hatte richtig gewettet. Ihre Schwester mochte ihr wie ein Spiegelbild gleichen, aber sie waren zwei unterschiedliche Persönlichkeiten. Wo Ronya Risiken einging, war Thea vorsichtig und ängstlich. Der Sprung aus dem Fenster auf die Eiche war zu viel für sie, und bis Thea durch die Haustür kam, war Ronya schon die Straße entlang und zwischen zwei Häusern verschwunden.

Erst einige Zeit später, als ihr Herz so heftig pochte, dass ihr schlecht wurde, blieb sie stehen. Schweiß tropfte auf den Asphalt, als sie sich würgend vornüberbeugte, aber anstatt sich hinzulegen, trottete sie unermüdlich vorwärts. Solange die Gefahr bestand, von ihrer Schwester eingeholt zu werden, durfte sie sich keine Pause erlauben.

 

 

„Schätzchen?“

Ronya hob erschrocken den Kopf. Die alte Bibliothekarin, die ihren Ausweis überprüft und das Buch zurückgenommen hatte, stand vor ihr und lächelte sie besorgt an. „Wir schließen gleich“, sagte sie. „Holen deine Eltern dich ab?“

Es erforderte Mühe, ihr Schnauben zu unterdrücken. Ihre Eltern waren sicher außer sich vor Wut, weil Ronya einfach abgehauen war. Sie hatte mehrere Stunden in einem der Lesezimmer verbracht, die nur für Mitglieder zugänglich waren und in einem neuen Buch gelesen. Erste Schritte im Pokémontraining – Wie sie typische Fehler vermeiden, von Maxwell Starling. Eine wahre Offenbarung, wenn man Ronya fragte. Während sie las, hatte sie alles andere vergessen können, aber die mütterlichen Augen der Bibliothekarin ließen die Geschehnisse des Tags neu in ihr aufkeimen.

„Mein Vater ist auf dem Weg hierher“, log sie. „Es ist nicht weit. Wir treffen uns immer am Gelatini.“

„Ah, dann ist gut.“ Die alte Frau nickte, als Ronya mit ihrer Wortwahl bewies, dass sie sich in Fleetburgs Nordviertel auskannte. Die lokale Eisdiele war tatsächlich ein naher Treffpunkt, den sie oft mit ihrem Vater vereinbart hatte.

Heute würde dort niemand auf sie warten.

„Möchtest du das Buch ausleihen?“, fragte die Bibliothekarin, als Ronya sich erhob. Sie zögerte. Wie gerne sie heute Nacht weiterlesen würde! Aber der Gedanke an Thea ließ sie den Kopf schütteln.

„Ich komme morgen wieder und lese hier“, sagte sie und erhob sich.

Ronya ließ sich mit dem Rückweg Zeit. Sie hatte keinen Grund, sich zu beeilen. Es war schon spät, das Abendessen wahrscheinlich längst vorbei. Wenn sie Glück hatte, konnte sie über die Eiche zurück in ihr Zimmer klettern, ohne dass Thea sie bemerkte. Sie hatte keine Lust, ihre gesamte Familie wach zu klingeln.

Als sie sich ihrem Haus näherte, brannte im Erdgeschoss noch Licht. Ronya umrundete vorsichtshalber das Haus, aber das Fenster zu ihrem Zimmer war geschlossen. Sie drehte um, stopfte die Hände in die Bauchtausche ihrer Latzhose und klingelte am Eingang.

Die Tür flog Sekunden später auf.

Darleens Augen waren rot gerändert. Einen Moment starrte sie Ronya nur an, dann fiel sie auf die Knie und zog sie in eine Umarmung, die Ronyas Knochen knirschen ließ.

„Tu mir das nie wieder an!“, befahl sie, als der erste Schock über ihre Rückkehr überwunden war. Ronya hielt den Blick gesenkt. Sie hatte mit Wut gerechnet, nicht mit so viel Erleichterung. Sie fühlte sich schuldig, einfach abgehauen zu sein, aber Theas Worte hatten sie rot sehen lassen.

„Ja, Mama“, flüsterte sie kleinlaut und ließ sich ein weiteres Mal umarmen. Über Darleens Schulter hinweg entdeckte sie Jakob, der ihr erleichtert zulächelte. Thea saß auf seinem Schoß und erwiderte grimmig ihren Blick. Was immer ihre Mutter sich mit der Aussprache erhofft hatte, Ronya war sicher, dass es nichts gebracht hatte. Im Gegenteil. Es hatte ihre Zwillingsfehde nur noch schlimmer gemacht.

Ronya − Akt 1, Szene 3

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Ronya betrachtete ihr Spiegelbild. Thea schaute zurück.

Sie kniff die Augen zusammen. Sie war nicht ihre Schwester. Sie war ihre eigene Person. Warum konnte sie sich dann nicht einmal mehr mit ihrem eigenen Spiegelbild identifizieren?

„Ronya, wie lange brauchst du noch?“, rief ihre Mutter aus dem Flur. Ronya riss die Augen auf.

„Einen Moment“, rief sie zurück. Ihr Blick huschte durch das kleine Bad. Sie musste etwas finden, irgendetwas dass …

Da.

Ronya ging zu der Badewanne und griff die Haarschere aus dem Flechtkorb, die ihre Mutter dort aufbewahrte. Weder sie noch Thea hatten ihr Haar in den letzten Jahren geschnitten, nur die Spitzen wurden alle paar Monate von ihrer Mutter gestutzt.

Ronya schluckte, als sie sich wieder vor dem Spiegel aufstellte und sich durch ihr Haar fuhr. Es war dicht, tiefbraun und glänzte. Obwohl es ihr manchmal im Weg war, hatte sie sich nie daran gestört. Im Gegenteil. Ihre Hand zitterte, als sie die Schere an ihrem Kinn ansetzte.

Die Klingen rührten sich nicht. Ronya zwang sich, ihre Atmung ruhigzuhalten. Sie wollte ihr Haar nicht abschneiden. Aber noch viel weniger wollte sie sich in Theas Aussehen verlieren. Mit zusammengepressten Lippen ließ sie die Schere etwas tiefer wandern, bis die Klingen auf Schulterlänge zum Stillstand kamen. Sie schnitt.

Eine merkwürdige Ruhe erfüllte Ronya, als die dunkeln Haarsträhnen federleicht ins Waschbecken fielen. Ihr Blick wanderte empor, zurück zu dem Spiegelbild. Thea war noch da, aber sie sah anders aus. Ihr langes Haar fiel ihr in seidenen Wellen den Rücken herab. Nur eine einzige Strähne stoppte dicht über ihrem Schlüsselbein.

Ronya holte tief Luft und fuhr fort. Als sie dieses Mal in den Spiegel sah, war Thea verschwunden.

„Ronya, was treibst du da drin?“

Die Tür schwang auf und Ronya fand sich ihrer Mutter gegenüber, die verdutzt von der Schere zu den Haaren im Waschbecken und schließlich zu ihrem neuen Haarschnitt wanderte. Sie sagte nichts, umrundete ihre Tochter nur und fuhr mit den Fingern durch die Strähnen.

„Sieht schön aus“, sagte sie und lächelte Ronya durch den Spiegel an. „Warum der plötzliche Sinneswandel? Ihr habt mich doch sonst kaum an eure Haare gelassen.“

„Ich hatte Lust auf etwas neues“, sagte Ronya leise und berührte ebenfalls die Schnittstelle. Es fühlte sich ungewohnt an, aber nicht schlecht.

„Gehst du heute wieder in die Bibliothek?“, fragte ihre Mutter und umarmte Ronya von hinten, während sie das Kinn auf ihren Kopf bettete. „Möchtest du nicht mit Thea und ihren Freunden in den Park? Es würde sie glücklich machen, das weißt du. Die letzten Tage hast du dich nur in deinem neuen Lieblingsbuch vergraben.“

Ronya zögerte. „Ein andermal“, sagte sie schließlich. Sie war fast mit dem Buch durch, das sie vor einigen Tagen angefangen hatte und wollte ungern ihre Zeit mit Theas Freunden verschwenden.

Ihre Mutter seufzte, gab ihr einen Klaps auf den Hinterkopf und machte sich an ihrer eigenen Morgentoilette zu schaffen. Ronya verließ das Bad und lief die Treppenstufen hinunter. Kaum war sie zur Haustür hinaus, entdeckte sie Thea, die an den Gartenzaun gelehnt auf sie wartete. Als der Blick ihrer Zwillingsschwester auf ihre Frisur fiel, erstarb das Lächeln auf ihren Zügen.

Sie sprang auf und lief davon.

 

 

Missmutig kehrte Ronya an diesem Abend nach Hause zurück. Ihr hatten nur noch wenige Seiten gefehlt, aber die Bibliothek machte sonntags früher zu und trotz ihrer Bitten hatte man sie kurzerhand vor die Tür gesetzt. Wie schon den gesamten Tag fuhr sie mit den Fingern über ihren neuen Haarschnitt. Sie war vor jedem Fenster und jeder Spiegelfront stehen geblieben, um sich von allen Seiten zu begutachten. Noch fiel es ihr schwer, sich selbst mit dem Mädchen zu identifizieren, das ihre Bewegungen imitierte, aber sie spürte, dass sie Thea hinter sich gelassen hatte.

Schon von weitem konnte sie einen Schatten hinter dem Küchenfenster erkennen, der verschwand, sobald sie sich ihrem Haus näherte. Sie hatte kaum Gelegenheit zu klingeln, da flog die Tür auf. Thea strahlte sie an.

Ihr Haar reichte ihr gerade bis zu den Schultern.

„Komm rein“, sagte sie und trat grinsend zur Seite. Ronya stolperte durch die Tür, versuchte, sich zu fangen. Hatte sie es mit Absicht gemacht? Wusste sie, dass Ronya ihr Haar geschnitten hatte, um sich von ihrer Schwester abzuheben, oder war es eine weitere von Theas selbstgerechten Annahmen?

Thea lief voraus in die Küche, wo ihre Eltern bereits in der Küche standen und kochten. Der Geruch von Schmorpilzen, der Ronya an jedem anderen Tag augenblicklich in Euphorie versetzt hätte, brannte ihr nun in der Nase.

„Ich mag diese neue Frisur“, sagte Thea unbekümmert und kletterte auf die Sitzbank, wo sie ihre Füße hochzog. „Zuerst dachte ich, du willst mir eins auswischen, aber das war eine gute Idee. Viel luftiger.“

Sie warf Ronya einen abschätzenden Blick zu.

„Ja“, stimme Ronya zu. „Luftiger.“

„Ich bin froh, dass ihr beiden euch wieder vertragen habt“, sagte ihre Mutter, die eine dampfende Auflaufpfanne, gefüllt mit den faustgroßen Pilzen, auf den Tisch stellte. Ihr Vater folgte mit einem Krug Limonade und einer Schüssel Wildreis. „Thea hat mich gebeten, ihre Spitzen nachzuschneiden, damit es sauberer ist. Soll ich dir auch gleich damit helfen? Du warst heute Morgen so schnell weg.“

Ronya nickte nur. Das gesamte Abendessen über sagte sie kein Wort, aß nur stumm ihre Pilze und stocherte in dem Reis herum. Sie hatte keinen Hunger. Ihr Lieblingsessen stand auf dem Tisch und sie aß kaum die Hälfte von dem, was auf ihrem Teller lag. Alles schmeckte nach Gummi.

Thea ignorierte das Verhalten ihrer Zwillingsschwester und nahm sich mehrmals nach, während sie lautstark von ihrem Tag im Park berichtete. Schmorpilze waren auch ihr Lieblingsessen. Früher hatte Ronya es als Zufall abgetan, dass sie beide sogar dieselben Geschmäcker hatten, aber jetzt fragte sie sich, ob nicht auch das Teil von Theas Scharade war. Plötzlich war allein der Gedanke an die Pilze zu viel.

Angewidert schob sie den Teller von sich.

„Ronya, geht es dir gut?“, fragte ihr Vater und unterbrach mit seinen Worten Theas Schwärmerei über Tommy und Erikas neue Schuhe. „Du siehst blass aus.“

„Mir ist schlecht“, sagte Ronya und versuchte sich an einem Lächeln. Es endete als Grimasse, die ihre Mutter beunruhigt zu ihr schauen ließ.

„Hast du dir etwas eingefangen?“

Ronya zuckte mit den Schultern und entzog sich Thea, die sie in eine dramatische Umarmung ziehen wollte. „Ich glaube, ich gehe schlafen“, sagte sie und erhob sich. Ihre Hände zitterten. Sie versteckte die verräterischen Gliedmaßen hastig in ihrer Bauchtasche.

Darleen nickte, aber etwas an ihrem Blick verriet Ronya, dass ihre Hände nicht unbemerkt geblieben waren. „Warum schläfst du heute nicht oben im Bett, Thea?“, fragte sie. „Deine Schwester will dich nicht anstecken und wenn sie nachts … auf Klo muss, wird sie dich nur wecken.“

Thea runzelte unwillig die Stirn, nickte aber. So anhänglich sie war, die Angst vor einem eventuellen Magen-Darm-Virus hielt ihre Einwände zurück. Ronya warf ihrer Mutter einen dankbaren Blick zu und verschwand hinauf in ihr Zimmer.

Sie hatte nicht gelogen. Ihr war schlecht, auch wenn sie bezweifelte, dass es tatsächlich eine Infektion war. Als sie umgezogen war, kuschelte sie sich in die Decken und schloss die Augen. Lange Zeit blieb sie still und lauschte auf die Gespräche von unten. Einige Male kam es ihr so vor, als schliefe sie ein, aber immer riss ein plötzliches Lachen oder Stuhlschrammen sie aus ihrem Halbschlaf.

Stunden später, so schien es ihr, wälzte sie sich noch immer auf der Matratze umher und starrte an die Wand oder den Lattenrost des Hochbetts über sich.

Es war schon lange dunkel, als sie das Knarzen der Tür hörte. Hastig schloss sie die Augen, während Thea ins Zimmer huschte, sich blind umzog und zum Bett ging. Vor der Leiter blieb sie stehen. Ronya zwang sich, gleichmäßig und tief zu atmen und der Versuchung zu widerstehen, ihre Augen zu öffnen. Es war stockduster und außer einer mondbeschienenen Silhouette würde sie nichts ausmachen können.

Thea stand lange still da.

Dann wandte sie sich ab und ging neben Ronya in die Hocke. Mit einer Hand strich sie sanft über Ronyas Stirn und durch ihr Haar, das in einem Fächer um ihren Kopf ausgebreitet sein musste. Ein Moment der Rührung erfüllte sie. Ihre Schwester mochte manchmal nervtötend sein, aber sie liebte Ronya, auf ihre Weise. Vielleicht musste sie sich keine Sorgen machen. Sie würde mit Thea reden, ehrlich sein und gemeinsam eine Lösung finden. Sie waren immer noch Zwillinge. Sicher war noch nicht alles verloren.

„Ich weiß, was du vorhast“, flüsterte Thea leise, während ihre Finger über Ronyas Haar strichen. „Du willst mich loswerden. Du willst uns trennen. Aber das wirst du nicht schaffen.“

Ronyas Herz setzte einen Schlag aus.

„Ich weiß, dass du wach bist, Ronny“, sagte Thea und als Ronya vorsichtig ein Auge öffnete, gerade weit genug, um Theas zu erkennen, entdeckte sie ein Lächeln in ihrem Gesicht. Ihre Zwillingsschwester legte den Kopf schief.

„Du kannst nichts tun“, sagte sie leise und ließ ihre Hand sinken. „Egal, welches Pokémon du aussuchst, ich werde mir dasselbe fangen. Egal, wohin du gehst, ich werde auch dort sein. Wir sind Zwillinge. Du wirst mich niemals verlassen.“

Sie erhob sich und kletterte die Leiter hinauf ins Hochbett.

Ronya blieb mit pochendem Herzen liegen und zwang sich, nicht die Kontrolle zu verlieren. Ihre Schwester würde ihr alles nehmen. Zum ersten Mal in ihrem gesamten Leben hatte Ronya das Gefühl, Thea zu hassen.

 

 

Schlaf entzog sich ihr.

Theas gehässige Worte kreisten unermüdlich durch Ronyas Kopf, ein Strudel aus Angst, der sie mit jedem neuen Gedanken tiefer zog. Kalter Schweiß hatte sich auf ihrer Stirn und ihrem Nacken gebildet. Über ihr schnarchte Thea leise, unterbrochen von gelegentlichen Seufzern.

Vorsichtig schob Ronya die Decke weg und stand auf. Tief in ihrem Inneren hatte sie gewusst, was zu tun war, es aber vor sich hergeschoben. Selbst jetzt, da sie über den Laminatboden tapste, die Tür sanft aufstieß und hinaus in den finsteren Flur trat, wollte sie am liebsten umdrehen.

Sie ging weiter. Der Weg zum Bad erschien ihr länger als gewöhnlich und trotzdem viel zu kurz, als sie die kalte Klinke unter ihren Fingern spürte. Sie trat ein, schloss lautlos die Tür hinter sich und suchte nach dem Schalter.

Grelles Licht blendete sie, als die Lampe zum Leben erwachte, aber Ronya suchte bereits unbeirrt nach der Schere. Alles fühlte sich unwirklich an. Plötzlich stand sie vor dem Spiegel, Schere erhoben.

Sie starrte in ihr kreidebleiches Gesicht.

Es war wie mit dem Baum. Sie musste Wege gehen, die Thea verwehrt blieben, Entscheidungen treffen, die Thea niemals treffen würde. Sie konnte keine Kompromisse mehr machen.

Ronya setzte die Haarschere direkt über ihrer Kopfhaut an und schnitt.

Ronya − Akt 1, Szene 4

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Ein Schrei riss Ronya am nächsten Morgen aus dem Schlaf.

Müde von der durchwachsenen Nacht rollte sie sich zur Seite und blinzelte gegen die schräg einfallende Morgensonne. Thea war bis an die Tür zurückgewichen und sah sie entsetzt an. Für einen kurzen Moment war Ronya verwirrt, aber als sie sich aufsetzte und sich abwesend über die borstigen Reste ihrer Frisur strich, kamen die Erinnerungen mit einem Schlag zurück.

Thea klammerte sich an ihre eigenen schulterlangen Strähnen, so als hätte Ronya nicht sich selbst, sondern ihre Zwillingsschwester kahlgeschoren.

Sie lächelte und stand auf.

„Wa-was hast du gemacht?“, flüsterte Thea. Ronya antwortete nicht, sondern ging ruhig auf ihre Schwester zu, die noch immer die Tür blockierte. Als Thea sich nicht von der Stelle rührte und im Gegenteil zitternd die Arme ausbreitete, blieb Ronya stehen.

„Lass mich durch“, sagte sie. Innerlich war sie genauso nervös wie ihre Schwester. Wie sie Thea zwingen konnte, aus dem Weg zu gehen, war ihr schleierhaft, aber die kühle Morgenluft, die durch das gekippte Fenster über ihren ungeschützten Nacken und Hinterkopf streifte, verlieh ihr ein plötzliches Selbstbewusstsein.

Thea schien eine unausgesprochene Drohung in ihren Worten zu hören, denn sie schluckte ein Wimmern hinunter und trat zur Seite. Noch immer im Schlafanzug stieg Ronya die Treppe hinab.

Ihre Mutter war mit der alten Kaffeemaschine beschäftigt, die sie und Jacob zum Hochzeitstag gekauft hatten. Ronya trat in die Küche, ohne von ihrer Mutter bemerkt zu werden, die mit dem Rücken zu ihr einen Schraubenzieher zückte und sich an dem Gehäuse zu schaffen machte.

„Morgen“, begrüßte Ronya sie und ließ sich an den Tisch sinken.

„Morgen, Ronya“, murmelte ihre Mutter abwesend. „Kannst du glauben, dass Ute schon wieder streikt? Und das gerade jetzt, wo Margret sich für einen Besuch angemeldet hat …“

Ronya grinste in sich hinein. Darleen wischte sich den Schweiß von der Stirn, seufzte und drehte sich im. Ihr Mund, der bereits zu einer weiteren Bemerkung geöffnet war, blieb stumm, als ihr Blick auf Ronya fiel.

Ronya wartete auf eine ähnliche Reaktion wie die von ihrer Schwester, aber ihre Mutter sah sie nur einige Sekunden lang an, ließ sich auf einen Stuhl fallen und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. „Was mache ich nur mit euch?“, fragte sie nach einigen Minuten und sah auf. Ihre Augen wirkten sehr müde. Ronya streckte eine Hand aus und ergriff die ihrer Mutter. Sie wollte nicht, dass Darleen ihretwegen so traurig aussah, wo sie selbst sich doch so viel besser fühlte.

Darleen schüttelte den Kopf, entzog ihr die Hand und erhob sich. „Ich schneide das nach“, sagte sie und winkte Ronya zu sich. „So wie jetzt verlässt du mir nicht das Haus.“ Grinsend folgte Ronya ihr ins Badezimmer.

Dort fanden sie Thea.

Heulend hockte sie auf dem Teppich vor dem Waschbecken, Arme um ihre Knie geschlungen. Die Schere lag etwas abseits, so als habe Thea sie von sich geworfen. Ihr kastanienbraunes Haar verdeckte ihr tränenüberströmtes Gesicht wie ein Vorhang. Als sie die Schritte ihrer Familienmitglieder hörte, riss sie den Kopf hoch.

Vor wenigen Tagen hätte der verzweifelte Ausdruck in ihren Augen Ronya einen Stich versetzt, aber wann immer sie sich ihre frühere Schwester ins Gedächtnis rufen wollte, musste sie an ihre Worte der letzten Nacht denken, an ihre Manipulation und Nachahmerei. Ronya empfand keinerlei Mitleid.

Ihr Plan war aufgegangen. Thea hatte versucht, ihr Haar abzuschneiden und war an der Aufgabe gescheitert. Trotz ihres Bestehens auf gleiches Aussehen, hatte sie niemals ihren Kleidungsstil opfern können, ganz zu schweigen von ihren Haaren. Hier lag die Grenze.

„Thea, ganz ruhig, komm her …“

Ronya riss sich aus ihren Gedanken. Während sie ihre Situation analysiert hatte, war Darleen neben Thea auf die Knie gegangen und hatte sie in den Arm genommen. Thea schluchzte und schniefte und murmelte unverständliche Sätze.

Etwas später, als Darleen Thea beruhigt und mit einer heißen Schokolade auf das Sofa im Erdgeschoss verfrachtet hatte, kehrte sie ins Badezimmer zurück und rieb sich stöhnend die Nasenwurzel. Sie hob die Schere vom Boden auf, positionierte Ronya auf dem Klodeckel und begann, die ungleichen Haarbüschel auf eine Länge zu schneiden.

Ronya war ziemlich sicher, dass nicht viel übrigbleiben würde. Sie war gestern Nacht nicht gerade vorsichtig gewesen.

„Ich hatte mich schon über euren plötzlichen Frisurenwandel gewundert“, sagte Darleen, während das metallische Schnappen der Schere in Ronyas Ohren nachklang. „Jetzt wird mir einiges klar.“ Sie hielt in ihrer Arbeit inne und strich nachdenklich über Ronyas kurze Stoppeln. „Ich verstehe, wie du dich fühlen musst“, sagte sie. Ronya konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber die warmen Hände auf ihrem Kopf beruhigten sie. „Thea kann sehr anhänglich sein. Bisher hielt ich es für harmlos, aber du leidest darunter, kann das sein?“

Ronya nickte stumm. Sie hatte die Augen geschlossen.

Darleen seufzte wieder. „Du darfst nicht glauben, deine Schwester terrorisiere dich mit Absicht“, fuhr sie nach einer Weile fort und nahm ihre Arbeit an Ronyas Haaren wieder auf. Sie versuchte, ruhig zu klingen, so als habe sie die Situation unter Kontrolle, aber Ronya konnte das Zittern am Rand ihrer Stimme hören. „Sie ist verunsichert. Du warst immer so ausgeglichen und wusstest genau, was du mochtest und das hat ihr Halt gegeben. Ich dachte, das würde sich ändern, wenn ihr älter werdet, aber es scheint sich nur zu verschlimmern.“ Sie atmete tief durch. „Ich möchte euch beide glücklich sehen, Ronya. Ich glaube nicht, dass sie als Trainerin glücklich werden wird, aber ich kann es ihr auch nicht verbieten, verstehst du?“

„Ich werde keine Trainerin mehr“, sagte Ronya.

„Was?“ Darleen hielt inne. „Aber du liest doch all diese Bücher! Du warst versessen auf Pokémon, seit du das erste Mal eins gesehen hast.“

„Wenn ich Trainerin werde, kann ich nicht mehr vor Thea weglaufen“, flüsterte Ronya und spürte nun ihrerseits Tränen in sich aufsteigen. Sie kniff die Augen zusammen, zwang ihre Gefühle zurück. Sie wollte Trainerin werden, mehr als alles andere. Aber es war zu leicht für Thea, sie nachzuahmen. „Sie kann das gleiche Team fangen wie ich. Sie wird ihnen die gleichen Attacken beibringen. Wir werden dieselben Städte bereisen müssen, dieselben Arenen besiegen, auf denselben Routen trainieren … Ich kann das nicht! Ich kann nicht immer alles mit ihr teilen!“

Darleen schwieg, während Ronya nach Luft schnappte. Letztlich waren die Tränen doch gekommen, aber das war ihr egal. Sie musste mit den Dingen, die Thea nicht imitieren konnte, weiterarbeiten. Ihre Frisur. Ihre Kleider. Ihr Bibliotheksausweis. Ihre Risikobereitschaft. Ihre Geduld.

Sie würde einen Weg finden, sich von Thea abzuheben, auch wenn es ihren Traum von der eigenen Trainerkarriere zerstörte.

„Fertig“, sagte ihre Mutter, so als hätte sie ihren Ausbruch nicht bemerkt. Ronya war ihr dankbar. „Warum gehst du nicht mit Thea in den Park und verbringst dort etwas Zeit mit ihren Freunden?“, fragte sie. Ronya drehte entrüstet den Kopf. Hatte ihre Mutter ihr überhaupt zugehört?

Stattdessen hielt sie inne, als sie Darleens schelmisches Grinsen entdeckte. „Du willst ihnen doch sicher deine neue Frisur zeigen, oder?“

Ronya grinste. „Gute Idee“, sagte sie und stand auf. Ein Blick in den Spiegel bestätigte, was sie von gestern Nacht in Erinnerung hatte: Ein kahler Kopf, die dunkelbraunen Stoppeln gerade lang genug, um sichtbar zu sein. Ihre weiße Kopfhaut schien problemlos hindurch.

Sie lächelte. Es tat gut, ihr eigenes Spiegelbild zu sein.

 

 

Zum ersten Mal seit Ronya denken konnte, war sie es, die auf den gemeinsamen Tag mit Thea bestand. Sie hatte ihre Schwester verheult und in eine Decke eingerollt auf dem Sofa vorgefunden. Zuerst hatte Thea sie nicht einmal angeschaut, und wenn sie es tat, sah sie schnell wieder weg, so als würde allein der Anblick von Ronyas fehlenden Haaren ihre eigenen ausfallen lassen.

Trotzdem. Sie war mit ihrer Clique im Park verabredet und auch Ronyas Ankündigung, mit ihr zu gehen, hielt sie nicht von dem Treffen ab. Während Thea die Straße entlang lief, offensichtlich in dem Bedürfnis, ihre Schwester abzuhängen, folgte Ronya gelassen und kickte einen Stein vor sich her.

Dank Theas Anstrengung kam sie einige Minuten später am Park an. Die Blumenbeete waren noch nicht völlig aufgeblüht und wo die Wiese an den Wald grenzte, lag das braune Laub vom letzten Herbst verstreut im Gras. Eine Schaukel, eine Rutsche und ein einfaches Klettergerüst waren mittig in einem groß angelegten Sandkasten angesiedelt. Hier fand Ronya ihre Schwester samt Gefolge.

Thea musste alle Anwesenden auf den grausamen Anblick ihres Zwillings vorbereitet haben, denn als Ronya um die Ecke in den Park trat und sich dem tuschelnden Grüppchen näherte, spürte sie die bohrenden und verächtlichen Blicke der Mädchen auf sich. Tommy Heep hatte schützend einen Arm um Theas Schultern gelegt. Von der Art, wie sie sich an ihn presste, hätte Ronya genauso gut ein blutrünstiges Pokémon sein können, das sich jeden Moment auf sie stürzen wollte.

Ronya hatte sich noch nie so gut gefühlt.

Sie holte tief Luft und trat in den Kreis der anderen. „Hallo“, begrüßte sie alle und lehnte sich etwas zurück, Hände in ihrer ausgebeulten Bauchtasche verstaut. Thea, die in ihrer rosa Bluse und den Glitzerjeans neben Tommy stand, schüttelte fassungslos den Kopf.

„Ich erkenne dich nicht wieder, Ronny“, sagte sie leise.

„Weil ich nicht mehr du bin?“, fragte Ronya ihrerseits. „Oder weil du nicht mehr ich bist?“

Thea sah sie ausdruckslos an. „Ich weiß nicht, wovon du redest“, sagte sie. „Du hast eine andere Frisur, aber wir sind immer noch Schwestern. Wir werden zusammen auf Reisen gehen und Pokémontrainer werden.“

„Ich werde kein Pokémontrainer“, sagte Ronya. Sie versuchte sich einzureden, dass der bittere Geschmack in ihrem Mund ganz normal war. Sie wusste, dass es die einzig richtige Entscheidung war. Keine Kompromisse mehr. Thea durfte nie mehr in ihr Leben treten. Nicht so wie bisher.

„Unsinn“, lachte Thea. Es klang hohl. „Natürlich wirst du Trainer. Das haben wir doch beschlossen.“

Wir haben gar nichts beschlossen“, sagte Ronya leise und erhob dann ihre Stimme, damit auch die anderen sie unmissverständlich hören konnten. Theas Freunde waren in schockiertes Schweigen verfallen und warfen sich unsichere Blicke zu. Niemand verstand so ganz, was vor sich ging. Ronya am allerwenigsten. Sie wusste nicht, was sie sagen würde, bevor die Worte ihren Mund verließen, aber als sie es taten, waren es die einzigen, die sie in diesem Moment hätte sagen können. „Ich werde mich nie mehr von dir nachahmen lassen, Thea. Was mich betrifft, sind wir keine Schwestern mehr.“

Sie sah jedem der anderen Kinder in die Augen. Tommys Blick klebte förmlich an ihr, in einer Mischung aus Abscheu und Faszination. Ihre Nackenhaare stellen sich auf. Ronya machte hastig auf dem Absatz kehrt und verließ den Park. Sie war kaum um die Ecke gebogen, da hörte sie schon die Schritte ihrer Schwester, die in schnellen Abständen näherkamen.

„Ronny … Ronny, warte!“

Ronya wartete nicht. Sie ging weiter, bis Thea sie keuchend einholte und nach ihrem Ärmel griff, um sie festzuhalten.

„Da-das kannst du nicht ernst meinen“, stotterte sie. Tränen glänzten in ihren Augen und ihr langes Haar war windzerzaust. „Wir haben i-in einem Monat Geburtstag! Wir sind Schwestern, egal, was du sagst, also warum … warum bist du so?“ Sie zerrte an Ronyas Ärmel. „Ich wollte doch nur für immer bei dir sein!“

Ronya riss sich los. Sie wollte Mitleid empfinden, wollte die Liebe zu ihrer Zwillingsschwester spüren, die sie bisher trotz aller Konflikte gefühlt hatte.

Sie war verschwunden.

„Du hast meinen Traum zerstört“, sagte sie tonlos und wandte sich von Thea ab. „Jetzt zerstöre ich deinen.“

Ronya − Akt 1, Szene 5

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Ronya gab den Versuch auf, sich auf den Band Fortgeschrittene Trainingsmethoden für Elektrotypen von Sybill Lordlinger zu konzentrieren und sah stattdessen aus dem Fenster. Regen peitschte gegen das Glas und lief in schmalen Strömen die Scheibe herab.

Seit sie sich vor einigen Tagen von ihrer Schwester losgesagt hatte, war Thea unerträglich geworden. Sie ließ Ronya endgültig nicht mehr in ihr Zimmer, hatte ihre Klamotten aus dem Fenster geworfen und schrie wie ein Kleinkind, wann immer ihre Mutter das Wort ergriff. Ronya hatte schnell aufgegeben und vergrub sich nun täglich in der geschlossenen Abteilung der Bibliothek, wo sie alle Bücher zum Thema Pokémontraining und -aufzucht verschlang, die ihr zwischen die Finger kamen.

Sie mochte keine Trainerin mehr werden können, aber sie hatte dennoch nicht vor, ihre Leidenschaft aufzugeben. Ihr blieb nur, sich mit der Theorie auseinanderzusetzen, bis Thea ihr nicht mehr gewachsen war.

„Schätzchen, da wartet jemand auf dich“, ertönte die Stimme der Bibliothekarin in dem Moment und riss Ronya aus ihren Gedanken. Sie sah auf. Die alte Frau winkte sie ungeduldig zu sich. Sie war die einzige, die Ronyas neuer Frisur keinerlei Beachtung geschenkt und sie auch sonst nicht kommentiert hatte. Für sie zählte nur, dass ein junges Mädchen unter ihrem Dach Bücher las und das genügte ihr. Ronya glaubte nicht, dass Mrs. Harving überhaupt ihren Namen kannte. Vom ersten Tag an war sie nur Schätzchen gewesen.

Als Ronya das Buch in dem wandhohen Regal verstaute—nicht ohne sich vorher die Seitenzahl für den nächsten Tag zu merken—schüttelte die Bibliothekarin traurig den Kopf.

„Wieder keine Ausleihe?“, fragte sie und trat zur Seite, um Ronya durch die Tür zu lassen.

„Ein andermal vielleicht“, log Ronya und folgte ihr die Treppen hinunter ins Foyer. Dort warteten bereits, wie verabredet, ihr Vater und Margret.

Margret teilte die tiefbraune Haarfarbe mit dem Rest der Familie Olith, doch da hörten die Gemeinsamkeiten auf. Der schmale Körperbau und die geringe Größe waren eindeutig von Darleens Seite gekommen, denn Marge war kräftig gebaut und voller Rundungen.

Ronya lief die letzten Stufen herab und ließ sich erst von ihrem Vater, dann von ihrer Tante in die Arme schließen.

„Deine Frisur ist der Wahnsinn“, sagte Margret ohne Umschweife. „Darf ich?“ Sie streckte eine Hand nach Ronyas Kopf aus, die geduldig nickte und ihre Haarstoppel befühlen ließ. „Wirklich großartig“, wiederholte Marge grinsend.

Ronya lächelte. Auch wenn sie die Entscheidung nicht aus ästhetischen Gründen getroffen hatte, war sie eitel genug, um das Kompliment zu genießen.

„Ich habe Marge gerade vom Hafen abgeholt“, erklärte Jacob, während sie die Bibliothek verließen und ihre Schirme zückten. Der Regen hüllte Fleetburg in einen grauen Schleier. Verschwommene Reflektionen in den Pfützen zerplatzten unter Ronyas Schuhsohlen und der salzige Wind war angenehm kühl auf ihrer Kopfhaut. „Sie wird ein paar Tage bei uns übernachten.“

„Ich störe hoffentlich nicht“, sagte Marge fröhlich, eindeutig in der Auffassung, dass das nicht der Fall sein würde.

„Wie geht es deiner Familie?“, fragte Ronya, um nicht völlig stumm zu bleiben.

„Oh, gut soweit. Martin hat einen neuen Job in Teak City gefunden, aber ich bin trotzdem regelmäßig in Dukatia City, um … eine alte Freundin zu besuchen. Sie ist wirklich alt.“ Sie überspielte das kurze Zögern mit einem Lachen.

Ronya nickte, aber sie spürte, dass hinter der Pause mehr steckte. Sie fragte nicht nach.

 

 

Darleen hatte sich an diesem Abend ins Zeug gelegt. Der Tisch ächzte förmlich unter all den Platten und Schüsseln, die sie im Esszimmer aufgetragen hatte. Thea saß bereits auf der Bank und schob mit ihrer Gabel die kleinen Kieselsteine umher, die ihre Mutter als Tischdekoration zwischen dem Geschirr verstreut hatte.

Als Ronya mit Jacob und Marge eintrat, warf Thea ihrer Schwester einen giftigen Blick zu. Ronya ignorierte sie. Ihre Worte im Park waren nicht gelogen gewesen. Sie konnte weder Mitleid noch Verständnis für Thea aufbringen. Alles an ihrer Art irritierte sie, untermalt von der Angst, dass Thea es doch irgendwie schaffen würde, ihre Macht über Ronya zurückzugewinnen. Bisher war es ihr nicht gelungen, aber Ronya wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war.

Das Abendessen verlief in friedlichen Bahnen, soweit das zwischen Theas Seitenhieben und Ronyas resolutem Schweigen möglich war. Marge, entgegen Ronyas Einschätzung ihrer Tante, bemerkte schnell, dass etwas nicht stimmte.

„Ihr zwei habt euch ja ganz schön verändert“, sagte sie, als Darleen mit Jacob in der Küche war, um das Dessert vorzubereiten. „Früher konnte man euch kaum auseinanderhalten.“

Ronya hat sich verändert“, sagte Thea verbittert. Sie hatte ihr Spiel mit den Steinchen wieder aufgenommen. „Sie ist jeden Tag weg und nimmt sich keine Zeit für mich.“

„Ich habe kein großes Bedürfnis danach, Zeit mit dir zu verbringen, wenn du mich aus meinem eigenen Zimmer aussperrst“, erwiderte Ronya zwischen zusammengebissenen Zähnen. Dass sie noch nie so gut geschlafen hatte, wie die gesamte letzte Woche im Gästezimmer, behielt sie für sich.

„Du bist schuld!“, fuhr Thea sie an. „Du willst nicht mehr meine Schwester sein, deshalb darfst du auch nicht mehr in unser Zimmer. Es war unser Zimmer, aber wenn du nicht mehr meine Schwester bist, dann gehört es dir auch nicht mehr.“

„Das ergibt keinen Sinn“, sagte Ronya, hielt dann aber den Mund. Marge sah sie beide mit gerunzelter Stirn an.

„Warum nimmst du Thea nicht mit in die Bibliothek?“, fragte sie.

Ronyas Kehle wurde trocken. Sie starrte Marge an, die gerade ihr wohlbehütetstes Geheimnis ausgeplaudert hatte. Die Hoffnung, dass Thea der Hinweis entgehen könnte, schwand in Sekundenschnelle.

„Du warst in der Bibliothek?“, fragte sie überrascht. „Aber ich war doch schon dort und habe nach dir gesucht!“

Dankbar, dass Mrs. Harving sich niemals Ronyas Namen gemerkt hatte, atmete sie erleichtert aus. Selbst, wenn Thea nach ihr gefragt hatte, wäre die Bibliothekarin ihr keine Hilfe gewesen.

„Außer …“, fuhr Thea leiser fort und riss plötzlich die Augen auf. „Du hast einen Ausweis, oder? Oder Ronya? Deswegen habe ich dich nicht gefunden, du warst in den gesicherten Bereichen! Oh, wie unfair!“

„Was ist unfair?“, fragte Darleen, die in dem Moment mit den Puddingschälchen ins Esszimmer trat.

„Ronya hat einen Bibliotheksausweis und ich nicht! Warum habe ich keinen bekommen?“, schrie sie, ohne Rücksicht auf Marge oder Ronya zu nehmen, die beide kreidebleich geworden waren, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

Ronya sah ihre neugewonnene Freiheit dahinschmelzen. Ihr letzter Rückzugsort, ihre letzte Möglichkeit, ihre Leidenschaft zu verfolgen. Thea machte alles zu Nichte, so wie immer. Selbst Marge schien zu merken, dass sie in ein Bibornest getreten war. Sie warf Ronya einen entschuldigenden Blick zu.

„Du hast nie nach einem Ausweis gefragt“, erinnerte ihr Vater Thea ruhig. „Und jetzt setz dich wieder hin. In diesem Ton redest du weder mit deiner Schwester, noch mit dem Rest von uns, ist das klar?“

„Aber ich will auch einen Ausweis“, protestierte Thea sofort. „Ich will einen, sofort!“

„Warum?“, fragte Darleen. Der leidende Ausdruck in ihrem Gesicht erinnerte Ronya an das eine Mal, als sie auf dem Eis ausgerutscht war und sich den Knöchel verstaucht hatte. „Versuch doch einmal, dir selbst treu zu bleiben, Thea. Wann hast du jemals freiwillig ein Buch ausgeliehen? Wann hast du eigenständig etwas gelesen, das nicht Ronya gehörte?“

Thea verschränkte trotzig die Arme. „Ich will einen Ausweis.“

„Nein.“ Darleen blieb hart. „Ich werde dein Imitationsspiel nicht weiter unterstützen. Es zerbricht unsere Familie und treibt deine Schwester allmählich in den Wahnsinn. Wenn du ein Hobby gefunden hast, dass du für deine eigenen Gründe magst, die nichts mit Ronya zu tun haben, dann können wir weiterreden.“

Der Ausdruck auf Theas Gesicht war es Ronya beinahe wert, ihr Geheimnis auffliegen zu sehen. Der schiere Schock, einmal nicht das zu bekommen, was sie wollte, war köstlicher als jeder Pudding.

 

 

Wie Ronya erwartet hatte, floh Thea heulend die Treppen hinauf in ihr Zimmer, kaum dass das Essen offiziell beendet war. Unter normalen Umständen hätte Darleen darauf bestanden, dass ihre beiden Töchter zumindest einen Teil des Gespräches mit Marge beiwohnten, aber sie war klug genug, Thea nicht weiter in die Ecke zu drängen.

Die Unterhaltung folgte schon bald den Geschehnissen der letzten Woche. Ronya hörte nur mit halbem Ohr hin. Ihre Eltern kannten nur die Hälfte der Geschichte und was sie wussten, war Ronya längst ins Gedächtnis gebrannt. Als sie das Gefühl hatte, gehen zu können, ohne unhöflich zu sein, verabschiedete sie sich und verschwand schlurfend die Treppen hinauf.

Die Tür war verschlossen.

Es überraschte Ronya nicht, aber statt sich ins Gästezimmer zu schleichen und ein paar Stunden Schlaf zu stibitzen, bevor Marge zu Bett ging, lehnte sie sich an das Treppengeländer und starrte an die Decke.

Marge hatte Ronyas Lebensstil in Gefahr gebracht. Ihre Mutter hatte das Schlimmste abgewendet, aber es würde nicht lange dauern, bevor Thea sich irgendetwas einfallen ließ. Ihre Schwester war viele Dinge, aber nicht dumm. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie ihrem Vater im Halbschlaf eine Unterschrift abschwatzte, deren Verwendung er meist erst ein paar Tage später in Frage stellte. Wenn es darum ging, Ronya nachzuahmen, war Thea sehr einfallsreich.

Ronya seufzte und schlug ihren Kopf mehrmals gegen das Holzgeländer, um sich abzulenken. Spekulieren half nichts. Sie musste sich etwas einfallen lassen, kein Trübsal blasen. Konnte sie Mrs. Harving um Hilfe bitten? Ein unbenutzter Raum vielleicht, oder eine Warnung, wenn Thea kam? Die Bücher auszuleihen war ausgeschlossen, es sei denn, sie fand einen geheimen Ort, an dem sie ihre Schätze sicher aufbewahren und lesen konnte, ohne entdeckt zu werden.

Mit neu gefundener Entschlossenheit nickte sie zu sich selbst. Thea würde nicht die Überhand gewinnen. Sie wollte gerade einen Platz zum Schlafen suchen, da hörte sie von unten die Stimmen ihrer Mutter und Tante.

„—weiß wirklich nicht mehr, was ich noch tun soll“, sagte Darleen in gedämpfter Stimme. Ronya hielt in ihrer Bewegung inne und ging stattdessen neben dem Geländer in die Hocke. Sie presste ihr Gesicht gegen die Stäbe, konnte aber nicht an der Wand vorbei in den Flur sehen. „Ronya ist kaum noch zu Hause und Thea weint den ganzen Tag oder lässt ihren Frust an uns aus. Wenn das so weiter geht, geht eins meiner beiden Mädchen daran kaputt. Höchstwahrscheinlich beide, so wie sich die Dinge gerade entwickeln.“

Ronya runzelte die Stirn. Sie hatte ihre Mutter noch nie so direkt reden hören, schon gar nicht über ihre Ängste. War das ein Blick in die wahren Gefühle ihrer Mutter, die sie nur mit anderen Erwachsenen teilen konnte? Sie war nicht sicher, wie sie sich dabei fühlte, so mit ihrer Tante besprochen zu werden.

„Ich kann verstehen, dass du eine schwierige Phase durchmachst, Darleen“, sagte Marge leise. „Aber du machst einen tollen Job. Kinder in dem Alter sind nicht leicht zu handhaben, und du hast dich heute gut geschlagen.“

„Es ist einfach so frustrierend …“ Die Stimme ihrer Mutter war heiser. „Ich will meine beiden Mädchen glücklich sehen, nicht in diesem Machtkampf. Ich bin ihre Mutter, ich sollte dafür sorgen, dass sie ihren Träumen folgen können. Stattdessen muss ich mit ansehen, wie Ronya alles aufgibt, was sie liebt, während Thea nicht weiß, wer sie eigentlich ist oder was sie will.“

„Vielleicht kann ich helfen“, sagte Marge. „Ich habe dir doch von meiner Bekannten in Dukatia City erzählt —“

Ronya floh in das Gästezimmer und warf sich auf das Bett. Sie wollte es nicht hören. Sie hatte mit ihrem Traum abgeschlossen, sie würde sich keine neue Hoffnung machen lassen. Marge konnte unmöglich ihr Versprechen halten, egal was sie ihrer Mutter jetzt sagte.

Morgen würde sie ihr eigenes Leben in die Hand nehmen. Sie hatte viel zu tun.

Ronya − Akt 1, Szene 6

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Die Wochen bis zu Ronyas vierzehntem Geburtstag verstrichen schleichend. Die Angst, Thea könnte in ihr privates Reich im gesicherten Teil der Bibliothek eindringen, lähmte Ronya. Sie konnte sich kaum auf ihre Bücher konzentrieren, auch wenn einige vielversprechende Funde dabei waren, unter anderem eine Sammlung veralteter Vorurteile über Geistpokémon und deren Herkunft von Hedwig Dillery.

Zaghafte Schritte, das Rascheln von Papier und das sanfte Murmeln der anderen Bibliothekbesucher waren früher Teil der natürlichen Geräuschkulisse gewesen. Sie hatte sich geborgen gefühlt.

Jetzt zuckte sie zusammen, wann immer jemand versehentlich auf eine knarzende Bodendiele trat oder sein Buch etwas zu laut in den Plastikkorb fallen ließ, mit dem Besucher ihre Ausleihen bequem in einer Hand tragen konnten. Jedes noch so kleine Geräusch riss Ronya aus ihrer Lektüre und ließ sie erschrocken nach Thea Ausschau halten. Drei Wochen ging das schon so, und obwohl Thea nicht aufgetaucht war, lagen Ronyas Nerven blank.

Frustriert kratzte sie über ihre langsam nachwachsenden Haarstoppel und klappte Geister und ihre Mythen zum fünften Mal an diesem Nachmittag zu. Mrs. Harving hatte ihre Bitte um Hilfe nicht verstanden—wenn es nach ihr ging, war es egal, warum jemand las, solange er nur ein Buch in die Hand nahm. Ronyas Wunsch, ihre Schwester nicht in der Bibliothek anzutreffen, war ihr völlig unbegreiflich.

Ein Blick auf die Uhr an der Wand bestätigte Ronyas Verdacht. Es war Sonntag, ein Tag vor ihrem Geburtstag, und sie würde frühzeitig nach Hause müssen, weil die Bibliothek um 16:00 Uhr schloss. Der Tag konnte nicht viel schlimmer werden.

Ronya erhob sich, prägte sich die Seitenzahl ihres Buches ein und verließ die Bibliothek. Im öffentlichen Foyer schlich sie um einige Regale und Säulen und kundschaftete voraus, um nicht versehentlich in Theas Arme zu laufen. Nachdem es ihrem Zwilling nicht gelungen war, ihre Eltern zu einem Ausweis zu überreden, hatte sie es sich in der letzten Woche zur Gewohnheit gemacht, mit Tommy im Eingangsbereich auf Ronya zu warten.

Beim ersten Mal war Ronya ahnungslos in ihre Falle getappt und hatte einen Schwall Beleidigungen und Anschuldigungen über sich ergehen lassen müssen, bis sie die beiden an einer Straßenecke abhängte, indem sie sich in einem Müllcontainer versteckte. Es war nicht ihr glorreichster Moment gewesen, aber der Gestank war nicht halb so schlimm wie der Anblick ihrer Schwester.

Heute schien die Luft rein zu sein. Ronya kniff die Augen zusammen und überprüfte jede Ecke der Bibliothek doppelt, konnte aber weder Tommy noch Thea entdecken. Der Vorabend vor ihrem Geburtstag war Thea wohl zu wertvoll, um ihn an ihre rebellische Schwester zu verschwunden. Die Party, die sie morgen geplant hatte, war ohnehin schlimmer als jeder Überraschungsbesuch.

Allein der Gedanke an die Feier ließ Ronya Galle schmecken. Auf dem Weg zurück nach Hause dachte sie mit spärlich unterdrückter Wut an die Unterhaltung, die sie mit ihrer Mutter geführt hatte. Trotz allen Telefonaten mit Marge und ihrer Versicherung, sich in Dukatia City um etwas zu kümmern, war nichts passiert. Ronya hatte sich absichtlich geweigert, dem Gespräch der beiden Frauen beizuwohnen, aber ein kleiner, verräterischer Hoffnungsfunke hatte sich allen Widrigkeiten zum Trotz in ihrer Brust eingegraben und pulsierte nun schmerzvoll, wann immer Ronya daran dachte, dass sich nichts an ihrer Situation geändert hatte.

Im Gegenteil. Ihre Mutter bestand darauf, dass sie morgen zu Hause blieb und der Feier bewohnte. Auch sonst hatte sie viel mehr Zeit mit Thea verbracht als mit Ronya. Unterbewusst wusste Ronya, dass es an ihren eigenen außerhäuslichen Aktivitäten lag, aber das änderte nichts an dem unzufriedenen Gefühl in ihrer Magengrube.

Ihre Angst vor der Party überschattete jedoch alle anderen Gefühle. Der Albtraum hatte begonnen und es gab kein Halten mehr.

 

 

Als Ronya am Morgen ihres vierzehnten Geburtstags die Augen aufschlug, fühlte sie sich kein bisschen anders. Ihre Schläfen pochten von der schlaflosen Nacht und auch ohne Spiegel war sie sicher, dunkle Ringe unter ihren Augen vorzufinden.

Die ersten zaghaften Sonnenstrahlen warfen ein Lichtfeld auf die Dielen und einige Vogelpokémon zwitscherten lautstark durch das offene Fenster. Ronya wünschte, sie könnte einfach liegen bleiben. Stattdessen stand sie auf, zog ihre altbewerte Latzhose an und verließ das Gästezimmer. Sie presste ein Ohr an die Tür zu ihrem ehemaligen Zimmer und war nicht überrascht, das laute Schnarchen ihrer Schwester zu hören.

Zufrieden, zumindest den frühen Morgen ohne Thea verbringen zu können, machte Ronya sich kurz im Bad frisch und schlich die Treppe hinunter. In der Küche traf sie ihren Vater an, der als einziger schon wach war und sich gerade einen Kaffee mit der reparierten Ute aufbrühte. Als er Ronyas Schritte hörte, hob er den Kopf.

Ein breites Lächeln formte sich auf seinem Gesicht. Er stellte die Tasse ab, breitete die Arme aus und hob sie in einer festen Umarmung von den Füßen. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Ronya“, sagte er und wirbelte Ronya einmal im Kreis, bevor er sie wieder absetzte. Er wirkte eindeutig emotionaler, als Ronya es von ihren früheren Geburtstagen kannte. „Ich bin froh, dich vor der Party noch gesehen zu haben“, fügte er hinzu.

Ronya runzelte die Stirn. „Es wird unangenehm, aber ich werde den Tag überleben“, sagte sie. Ihr Vater lachte laut los, verstummte erschrocken und griff nach seiner Kaffeetasse, so als wäre nichts geschehen. „Wann kommen die Gäste nochmal?“, fragte Ronya und lehnte sich neben ihrem Vater an die Küchenanrichte. Er schüttelte den Kopf.

„Nicht zu früh, sonst wäre Darleen längst wach. Am späten Mittag, würde ich denken, aber was weiß ich schon.“ Er schielte zu ihr. „Versuch, ein bisschen Spaß zu haben“, sagte er. „Es ist auch dein Geburtstag. Lass ihn dir nicht von Thea vermiesen.“

Ronya zwang sich zu einem Grinsen. „Ich werd’s versuchen.“

Er nickte nachdenklich. Schweigend standen sie nebeneinander. Als ihr Vater ausgetrunken hatte, stellte er die Kaffeetasse in die Spüle und wandte sich wieder Ronya zu. Er sah sie lange an, dann nahm er sie in eine zweite, festere Umarmung. Seine muskulösen Arme umschlangen sie mit aller Kraft. Als er sich wieder von ihr löste, lächelte er ihr zu und verließ ohne zurückzublicken das Haus.

Verwirrt sah Ronya ihm hinterher. Wenn ihr Vater sie so behandelte, musste sie sich wundern, ob die Party sich nicht vielleicht doch als ihre Beerdigung entpuppen würde.

 

 

Der Schock ihrer Mutter, als sie Ronya eine halbe Stunde später alleine in der Küche beim Tischdecken vorfand, war beinahe komisch. Ronya grinste frech, als Darleen mit offenem Mund in der Tür stehen blieb, sie ins Wohnzimmer scheuchte, ihr ein Glas Limonade in die Hand drückte und verspätet zum Geburtstag gratulierte.

„Du solltest noch gar nicht wach sein“, schimpfte sie und machte sich nun selbst an das Frühstück. „Du kannst nicht deinen eigenen Geburtstagstisch decken, das gehört sich nicht.“

„Ich konnte nicht schlafen“, entgegnete Ronya schlicht. Es war keine direkte Kritik an Darleens Wunsch, sie möge heute an der Feier teilnehmen, aber ihre Mutter war nicht dumm. Sie seufzte und drehte sich um.

„Du weißt, dass ich dir nichts Böses will“, sagte sie. „Thea ist immer noch deine Schwester, auch wenn du das gerne vergessen möchtest, und wir deine Familie. Diesen einen Tag würde ich gerne mit dir zusammen verbringen.“

„Auch wenn ich keinerlei Spaß haben werde?“, fragte Ronya leise. Darleen schürzte die Lippen.

„Vertraust du mir nicht?“, fragte sie. „Denkst du, ich würde dich zwingen, hier zu bleiben, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, dass du Spaß haben wirst?“

Ronya zögerte. Sie vertraute ihrer Mutter, das Beste für sie zu wollen, aber sie war nicht sicher, ob Darleen wirklich wusste, was das Beste für sie war. Sie ließ Darleen ihr Schweigen interpretieren, wie sie wollte.

 

 

Thea hielt sich an das ungeschriebene Geburtstagsprotokoll der Familie Olith. Sie stand spät auf, duschte, zog ihr bestes Kleid an und wartete geduldig an der Treppe, bis sie von ihrer Mutter das Signal bekam, nach unten zu kommen. Ihr breites Grinsen verflüchtigte sich schlagartig, als sie Ronya in ihrer ausgewaschenen Latzhose am Küchentisch antraf, wo sie sich hinter dem Rücken ihrer Mutter bereits einen Pfannkuchen in den Mund gestopft hatte.

Ihr Protest ging in Darleens Umarmung und Glückwünschen unter. Ronya war ziemlich sicher, dass ihre Mutter diesen Moment zeitlich abgestimmt hatte, denn sie ließ Thea kaum zu Wort kommen, bis Ronya den Pfannkuchen runtergeschluckt hatte und ebenfalls aufstand. Sie und Thea hatten sich nie etwas geschenkt, daher war es ein fast normaler Geburtsmorgen.

Wenn sie davon absah, dass Thea ihr früher schon im Bett gratuliert hätte.

„Alles Gute“, sagte sie und zwang sich zu einem Lächeln. Wenn sie den Tag hier verbringen musste, wollte sie zumindest nicht für den ersten Streit verantwortlich sein.

„Alles Gute“, erwiderte Thea mit derselben neutralen Tonlage. Sie setzten sich und das Frühstück des Grauens begann.

Die Gäste kamen um 14:00 Uhr. Es war höchste Zeit, denn Darleen hatte vorgeschlagen, die Geschenke erst während der Party zu öffnen. Sie hatten die restlichen Stunden mit Theas Lieblingsbrettspielen und einem Film verbracht, aber die Blicke ihrer Schwester waren nie lange von dem kleinen Geschenkstapel ferngeblieben, der auf dem Esstisch darauf wartete, ausgepackt zu werden.

Auch Ronya hatte der Versuchung nicht völlig widerstehen können. Sie war nicht sicher, was heute auf sie wartete. Ihr Paket stand als einziges neben dem kleinen Häufchen von Thea, aber das musste nichts bedeuten. Es war in blauem Papier eingewickelt und, was Geschenke betraf, recht gewöhnlich. Von der Größe erinnerte es sie an einen Schuhkarton, aber sie bezweifelte, dass ihre Mutter ihr neue Sneakers gekauft hatte, auch wenn ihre eigenen schon bessere Zeiten gesehen hatten.

Tommy war der erste, der klingelte. Ronya wartete auf dem Sofa, während ihre Schwester zur Eingangstür hüpfte und ihn hereinließ. Seine Umarmung war etwas länger als nötig, aber das störte keinen der beiden. Er überreichte Thea eine kleine pinke Schachtel mit weißer Schleife, die Thea hochzufrieden entgegennahm und auf dem Esstisch abstellte. Tommy begrüßte ihre Mutter, warf Ronya einen undefinierbaren Blick zu und setzte sich abseits mit Thea auf das zweite Sofa.

Ronya starrte stur an die Wand.

Einer nach dem anderen tauchten Theas Freunde auf, denn das waren die einzigen Gäste. Nicht einer von ihnen begrüßte Ronya mit mehr als einem Nicken oder Winken, von Glückwünschen ganz zu schweigen.

Selbst ihre Mutter wurde nervös, denn Theas Geschenkstapel wuchs mit jedem neuen Gesicht, während Ronyas bis zuletzt aus dem einzelnen, blauen Karton bestand.

„Wie unhöflich“, murmelte Darleen, als sie neben Ronya stand und das Treiben im Esszimmer beobachtete, wo Thea nun doch begonnen hatte, sich über die Geschenke herzumachen. Papier in schillernden Farben bedeckte den Fußboden wie Konfetti. „Du hast auch Geburtstag“, fuhr sie leise fort, während Thea quietschend einen Haarreif mit Schleife aus einem der etwas unförmigen Pakete förderte und sofort anzog.

„Was hast du erwartet?“, fragte Ronya gedämpft zurück. „Das sind Theas Freunde, nicht meine. Die meisten hielten mich für einen Freak, noch bevor Thea sie die letzten Wochen gegen mich aufgestachelt hat.“

„Ich habe ein sehr schlechtes Gewissen“, gestand Darleen. „Eigentlich hatte ich erwartet, dass du deine Zeit hier zumindest ein bisschen genießen würdest.“

„Noch ist der Tag ja nicht vorbei“, sagte Ronya ohne große Überzeugung. Erst, als ihre Mutter nicht antwortete, hob sie den Kopf und erschrak fast zu Tode, als sie die Tränen in ihren Augen sah. „Was ist denn?“, fragte sie und sprang halb auf.

Darleen schüttelte den Kopf und rieb sich über die Augen. „Tut mir leid.“ Sie holte tief Luft. „Ich … bin einfach nicht sicher, ob ich die richtige Entscheidung getroffen habe, das ist alles.“

„Wovon redest du?“, fragte Ronya, nun wütend. „Ich werde ein paar Stunden schiefe Blicke überleben, das weißt du. Dann bekomme ich halt weniger Geschenke, ist mir doch egal. So ein Haarreif sähe bei mir ohnehin ziemlich kacke aus.“

„Ronya!“, rief ihre Mutter, halb entsetzt, halb belustigt.

„Ist doch wahr …“, murmelte Ronya grinsend, froh, die Stimmung aufgeheitert zu haben. Darleen schüttelte fassungslos den Kopf und kehrte in die Küche zurück.

Ronyas Blick fiel zurück auf die Gäste, die sich um Thea geschart hatten und ihr kichernd beim Auspacken zusahen. Sie stützte ihr Kinn in ihre Hand und ließ ihre Gedanken zu Hedwig Dillery und ihren Geistermythen schweifen. Ihre Tagträume wurden jedoch unterbrochen, als Tommy sich unauffällig aus der Gruppe löste und in ihre Richtung schlenderte. Als er direkt vor ihr stand, blieb er stehen.

„Ich mag deine Schwester“, sagte er und ließ Ronya dabei nicht aus den Augen. Die Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf. Sie mochte seinen Blick nicht.

„Freut mich“, sagte Ronya und setzte sich aufrechter hin. „Sie ist gleich dort drüben.“

Er kniff die Augen zusammen. „Du siehst ihr wirklich ähnlich. Wenn du dich nicht so entstellt hättest, wer weiß?“

Ronya öffnete den Mund, aber sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihr Kopf war wie leergefegt. Bevor sie sich wieder fassen konnte, hatte Tommy sich schon umgedreht und wieder zu dem gackernden Grüppchen gesellt.

War er nur zu ihr gekommen, um ihr das zu sagen? Dass sie entstellt war? Dass er Thea nur wegen ihres Aussehens wertschätzte?

Ihr Mund war trocken geworden. Sie stand hastig auf und lief in die Küche, um ihrer Mutter mit irgendetwas zu helfen. Sie wollte sich ablenken. Die Begegnung hatte sie tief erschüttert, obwohl sie nicht sicher war, weshalb. Tommy war ihr von Anfang an unsympathisch gewesen. Aber ihn so voller Gleichgültigkeit zu erleben, ließ ihr Herz schneller schlagen.

Darleen warf ihr einen besorgten Blick zu, als Ronya wortlos auf einen Hocker stieg, um die Kuchenteller aus dem obersten Regalfach zu holen, sagte aber nichts. Stattdessen ging sie ins Esszimmer, wo sie Thea darum bat, die Geschenke ins Wohnzimmer zu befördern, damit sie den Kuchen auftischen konnte. Ronya scheuchte sie aus der Küche, sobald der Tisch gedeckt war.

Schon bald fand Ronya sich umringt von Diskussionen über Kleider und Make-Up und Jungs. Selbst Tommy schien letzteres Gesprächsthema unangenehm, aber er lachte, wenn ein Witz gemacht wurde, auch wenn Ronya sicher war, dass sein Verhalten mindestens so gekünstelt war wie Theas. In diesem Sinne passten sie gut zusammen, aber wann immer Ronya Tommys Blick auffing, kam die Erinnerung an seine Worte zurück und schnürte ihr die Kehle zu.

Als niemand hinsah, griff sie nach ihrem eigenen Geschenk und verschwand damit zu ihrer Mutter in die Küche.

„Darf ich das aufmachen?“, fragte sie.

Darleen sah sie lange an. „Vielleicht solltest du in dein Zimmer gehen, bevor du es öffnest“, sagte sie und nickte in Richtung Thea. „Nur zur Sicherheit.“

Ronya zog eine Augenbraue hoch, nickte aber. Ihre Mutter umarmte sie ein letztes Mal und drückte sie fest an sich, dann scheuchte sie Ronya die Treppen hinauf. Im oberen Flur angekommen atmete Ronya zuerst einmal tief durch. Das hysterische Lachen ihrer Schwester war von unten zu hören, dicht gefolgt von einem Lied, das wohl ihre Mutter angestimmt hatte. Sie wurde plötzlich unsicher und starrte auf das Paket in ihren Händen. Warum benahm ihre ganze Familie sich heute so komisch?

Sie verschwand in dem Gästezimmer, das seit ihrem Streit mit Thea wie ihr eigenes Zimmer gewesen war, ließ sich auf das Bett fallen und zerriss das Geschenkpapier. Zu Tage förderte sie einen unspektakulär aussehenden Pappkarton. Vorsichtig hob sie den Deckel an.

Im Inneren fand sie eine kleine, schwarze Schachtel mit einer weißen Zwei auf dem Deckel und zwei Briefe mit der Aufschrift 3) Anweisungen und 1) Liebe Ronya.

Mit zittrigen Fingern öffnete Ronya den ersten Brief.

Das Papier raschelte, während sie es auffaltete und glattstrich. Auf der weißen Oberfläche war ein kurzer Paragraph in der feingliedrigen Schrift ihrer Mutter verfasst. Ronya überflog den Anfang, in dem sie und ihr Vater ihr alles Gute zum vierzehnten Geburtstag wünschten und hofften, sie würde das Geschenk mögen, ihr aber gleichzeitig versicherten, sie sei zu nichts gezwungen. Ronyas Verwirrung wuchs, bis sie endlich über den Satz stolperte, der all ihre Fragen verpuffen ließ.

 

Dank deiner Tante Margret ist es uns gelungen, dir deinen größten Traum zu erfüllen. Du kannst jetzt die kleine Schachtel öffnen, danach erwarten dich weitere Anweisungen in Umschlag 3, solltest du sie wollen. Wir lieben dich.

—Papa, Mama und Marge

 

Ronyas Atem ging stoßweise, während sie den Brief anstarrte und die Worte wieder und wieder las. Es konnte nicht sein. Es war unmöglich. Sie hatte abgeschlossen, ihr Traum war vorbei, bevor er begonnen hatte, ihre Eltern und ihre Tante konnten unmöglich einen …

Sie ließ den Brief auf die Bettdecke fallen und griff nach der schwarzen Schachtel. Die Muskeln in ihren Armen zuckten, als sie den Deckel berührte. Sollte sie ihn anheben? Konnte sie mit der Enttäuschung leben, wenn es nicht das war, was sie erwartete?

Ronya war sich nicht sicher. Aber sie wusste eines: Wenn sie jetzt nicht nachsah, gab es keine Möglichkeit, richtig zu liegen. Sie schloss die Augen und öffnete die Schachtel. Lange saß sie einfach nur da, wagte nicht hinzusehen, wagte nicht einmal, zu blinzeln. Doch so geduldig Ronya war, in diesem Moment hielt sie es nicht mehr aus. Sie öffnete vorsichtig ein Auge und starrte in die Schachtel.

In ihr lag, eingebettet zwischen grauem Papier und dicht gepackter Watte, ein Pokéball.

Ronya − Akt 1, Szene 7

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Nachdem Ronya ihren ersten Schock überwunden hatte, erwachte sie zu neuem Leben. Noch war Thea mit ihren Freunden und Darleens Ablenkungsmanövern beschäftigt, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis ihre Schwester bemerkte, dass Ronya nirgends zu finden war.

Sie steckte den Pokéball in ihre Bauchtasche und riss den zweiten Brief ohne Umschweife auf.

 

Anweisungen:

1) Klettere durch das Fenster auf die Eiche. In den Ästen wirst du einen Rucksack finden.

 

Ronya wartete nicht länger. Sie schnappte die Anweisungen, verließ vorsichtig das Gästezimmer und testete die Türklinke, die in ihr ehemaliges Zimmer führte. Verschlossen. Sie atmete tief durch, ließ sich aber nicht beirren. Dies war ihr Weg in die Freiheit. Wenn Thea glaubte, sie würde sich durch ein Schloss aufhalten lassen, kannte ihre Schwester sie schlechter als gedacht.

Ronya kehrte in das Gästezimmer zurück. Es lag direkt neben Theas und besaß ebenfalls ein Fenster, das auf den Garten hinausschaute, war aber zu weit von dem Baum entfernt, um Ronya für einen Sprung von Nutzen zu sein.

Stattdessen öffnete sie es weit, kletterte auf das Fensterbrett und richtete sich vorsichtig auf, während sie sich nach draußen lehnte. Panisches Herzklopfen hämmerte von innen gegen ihren Brustkorb, als Ronya die kalte Abendluft auf ihrem Gesicht spürte. Sie zwang sich, nicht nach unten zu sehen. Ihre Sprünge auf die Eiche waren immer leicht gewesen, weil sie keine Gelegenheit hatte, über die Höhe nachzudenken, aber als sie jetzt einen Fuß nach dem anderen auf den schmalen Vorsprung vor dem Fenster setzte, wanderte ihr Blick unweigerlich in die Tiefe.

Das dichte Gras schien vor ihren Augen zu verschwimmen, als heftiger Schwindel sie überkam. Verzweifelt griff sie nach der Dachrinne über dem Fenster und krallte sich so fest in das schiefergraue Metall, dass ihre Fingernägel quietschend über die Oberfläche schrammten.

Das Geräusch ließ Ronya instinktiv die Augen zukneifen und unterbrach ihren Blick in den Garten. Sie konnte das Adrenalin durch ihre Adern pulsieren fühlen. Sie atmete tief ein und aus, während sie sich blind und mit winzigen Schritten auf dem Vorsprung umdrehte und beide Hände fest in die Kante der Regenrinne hakte. Sie durfte nicht ihren Kopf verlieren, nicht so kurz vor ihrer Freiheit.

Ein Bild schlich sich in ihre Gedanken, ein Szenario, in dem sie die Rinne nicht mehr zu packen bekommen hatte und vornüber in ihren Tod gestürzt war. Sie schüttelte den Gedanken ab und öffnete ihre Augen. Verbissen tastete sie sich auf dem Fensterbrett vor, bis sie die äußerste Kante erreicht hatte.

Langsam, ganz langsam, ließ sie ihre Arme durchhängen und testete die Stabilität der Rinne. Als sie sicher war, dass zumindest ihr Gewicht nicht zu einem Problem werden würde, öffnete sie die Augen und konzentrierte sich auf die raue Steinfassade des Hauses.

Nur nicht nach unten schauen. Nur nicht nach unten schauen.

Sie holte tief Luft, verließ die Sicherheit des Fensterbretts und hangelte sich an der Regenrinne die Wand entlang. Trotz ihrer Bemühung fanden ihre Schuhe keinen Halt an der Wand. Ihr gesamtes Körpergewicht hing an ihren Armen und bereits nach wenigen Sekunden spürte sie, wie die Metallkante schmerzhaft in ihre Finger schnitt. Sie durfte keine Zeit verlieren. Wenn ihre Kraft nachgab, bevor sie den Fenstersims von Theas Zimmer erreichte, war es aus.

Allein der Gedanke, dass sie hier in fünf Meter Höhe an der Außenwand ihres Hauses hing, ließ Übelkeit in ihr aufsteigen. Warum musste sie Höhenangst haben? Aus allen Ängsten, die es gab, warum die eine, die ihr den Weg in die Freiheit so erschwerte?

Weiterrutschen. Noch ein paar Zentimeter.

Ronya biss ihre Zähne zusammen, schnaufte und schnappte nach Luft. Die Schmerzen in ihren Fingern wurden unerträglich, aber sie hatte erst die Hälfte geschafft. Sie konnte nicht mehr umkehren. Sie konnte nur noch vorwärts. Immer weiter, bis sie in Sicherheit war.

Das, oder ein Fall in die Tiefe.

Als sie das Fensterbrett endlich erreichte, kam es ihr so unwirklich vor, dass sie die Regenrinne umklammert hielt, lange nachdem sie sicher auf dem Sims stand. Erst langsam löste sie ihre Finger und blies vorsichtig gegen die dunklen Einkerbungen und die tiefroten Pünktchen, die sich dort als Vorläufer für winzige Blutergüsse gebildet hatten.

Nach einigen Minuten Luftholen war sie bereit für den nächsten Streckenabschnitt. Im Vergleich zu der vergangenen Kletterpartie erschien Ronya der Sprung auf den Baum beinahe leicht, trotzdem klopfte ihr Herz vor dem Absprung schmerzlich in ihrer Brust.

Mit einem unangenehmen Aufprall fing sie sich mit Bauch und Armen auf dem breitesten Ast ab und kam vorsichtig auf die Füße.

Nicht nach unten gucken, das war die Devise. Der Rucksack musste irgendwo über ihr sein. Ronya tastete sich vorsichtig durch das Gestrüpp zu dem Baumstamm durch und schaute hinauf ins Geäst. Dort, leuchtend rot gegen das frische Grün des Laubs, entdeckte sie einen dicken Reiserucksack mit Schlafsack und Wanderschuhen, der mit einem stabil aussehenden Seil an den Ästen befestigt war. Sie löste den Knoten und ließ den Rucksack Stück für Stück ins Gras sinken, bevor sie folgte.

Endlich unten angekommen, erlaubte Ronya sich eine kurze Verschnaufpause. Sie war außerhalb der Sicht eines jeden Fensters und hatte Gelegenheit, ihre durchgelaufenen Sneakers durch die neuen Wanderschuhe zu ersetzen, die so einladend an dem Rucksack befestigt waren. Ihre alten warf sie kurzerhand in einen Busch.

Als nächstes überprüfte sie die Sicherheit ihres Pokéballs―noch immer in ihrer Bauchtausche, zum Glück―und kramte den Zettel mit ihren Anweisungen hervor.

 

2) Begib dich zu dem Briefkasten. Dort ist ein Umschlag mit Reisegeld hinterlegt.

 

Aufgeregt zog Ronya den Rucksack über und schlich unter den Fenstern entlang zur Eingangstür. Das Fenster der Küche stand auf Kipp. Durch den schmalen Spalt drangen die Geräusche der Feier an Ronyas Ohren. Sie wusste, dass sie so schnell wie möglich verschwinden sollte, aber eine nagende Neugier hielt sie an die Hauswand gepresst, verzweifelt hoffend, dass niemand die Straße entlangkommen und sie sehen würde.

Das Klirren von Geschirr und das laute Lachen einiger Mädchen übertönte fast alles andere, aber gerade als Ronya ihr Lauschen aufgeben wollte, hörte sie Schritte, als jemand die Küche betrat.

„Mamaaa“, quengelte Thea und Ronya ging jede Wette darauf ein, dass ihre Unterlippe beleidigt vorgeschoben war. „Wann kommt Ronny wieder runter? So schlecht kann es ihr nicht gehen.“

„Sie hatte starke Kopfschmerzen und wollte sich früher hinlegen“, erwiderte Darleen, ihr Ton so natürlich, dass Ronya ihr auf Anhieb geglaubt hätte, wäre sie nicht selbst Bestandteil der Lüge. „Du solltest sie nicht stören.“

„Aber sie verpasst ja alles“, sagte Thea sofort. „Ich gehe hoch und bringe ihr etwas zu trinken.“

Ronya biss sich auf die Lippen. Warum war ihre Schwester nur nett, wenn sie nicht im selben Raum waren? Aber es änderte nichts an ihrer Situation. Darleen bemühte sich nicht mehr um eine Ausrede. Zu viel Widerspruch hätte Thea nur Verdacht schöpfen lassen und Ronya hatte schließlich genug Zeit gehabt, das Haus zu verlassen.

Als Theas Schritte verklangen, huschte Ronya zum Briefkasten und fand wie versprochen ein kleines Kuvert. Kaum war ihre Aufgabe erfüllt, schoss sie davon und lief im Schatten des angrenzenden Waldes die Straße entlang, während sie den nächsten Teil ihrer Anweisungen überflog.

 

3) Geh zum Pokécenter. Deine ID wurde beantragt und liegt bereit zur Abholung. Überweise die Hälfte deines Reisegelds auf deine ID. Miete dir ein Zimmer für die Nacht.

 

Ronya nickte zufrieden und sah auf die Uhr. Es war noch nicht zu spät. Wenn sie sich beeilte, konnte sie es schaffen. Fleetburgs Pokécenter lag am anderen Ende der Stadt, hinter der Zugbrücke, die einige Male pro Tag hochgezogen wurde, um die Schiffe durchzulassen. Die nächste Schiffsdurchfahrt war in nicht mal einer Stunde. Sie konnte nicht länger warten.

Theas plötzlicher Schrei ließ Ronya erschrocken zusammenfahren, doch sie fing sich schnell wieder. Ein letzter Blick zurück bestätigte ihre Vermutung. Das Licht im Gästezimmer brannte. Thea musste das offene Fenster und die leeren Schachteln entdeckt haben. Ronya schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Ihre Zeit war endlich gekommen. Thea würde ihr Leben nie wieder bestimmen.

Entschlossen schulterte sie ihren Rucksack und rannte los.

 

 

„Puh“, stöhnte Ronya und ließ sich erschöpft auf das schmale Pokécenterbett fallen. Die Müdigkeit wich sogleich einem freudigen Schwindelgefühl, das sie von einem Ohr zum anderen strahlen ließ.

Sie hatte es geschafft. Nur eine Minute Verspätung und ein sehr freundlicher Wachmann weniger hätten sie gezwungen, zwei Stunden auf der Straße zu warten. So hatte man sie gerade noch die Brücke überqueren und zum Pokécenter laufen lassen. Schwester Joy hatte sich an ihre ID erinnert, wenn auch mit Mühe, und das Geld war ebenfalls auf ihren Ausweis übertragen worden. Alles lief nach Plan.

Schwungvoll setzte sich Ronya auf und zog den Pokéball aus ihrer Latzhose. Sie wog das Plastik in ihren Händen, bis es warm wurde und legte den Ball schließlich vor sich auf die Bettdecke. Aus ihrer auf dem Bauch liegenden Position heraus sah sie ihn an.

Der Moment, auf den sie mit jedem Buch hingearbeitet hatte, war nun endlich gekommen. Was würde es sein? Welcher Typ? Welches Temperament? Wie würde sie ihr Training am besten beginnen?

Ronya fing sich, bevor die panische Vorfreude sie übermannen konnte. Es machte keinen Unterschied, welches Pokémon sie hatte. Was immer es war, sie würde alles tun, um es ideal zu trainieren und all ihr Wissen dazu verwenden, ihren Partner glücklich zu machen. Sie holte ein letztes Mal tief Luft und aktivierte den Pokéball.

Der rote Lichtblitz blendete sie. Hastig setzte Ronya sich auf und rieb die bunten Flecken aus ihren Augen. Als sie wieder sehen konnte, saß vor ihr auf dem Bett ein junges Evoli.

Fassungslos starrte Ronya das kleine Fellknäuel an, dessen karamellfarbenes Fell im scharfen Licht der Deckenlampe schimmerte. Der bauschige, weiße Fellkragen verdeckte fast seinen gesamten Kiefer und die langen, spitz zulaufenden Ohren zuckten nervös, als es Ronya mit großen Augen inspizierte.

Ronyas Kopf war wie leergefegt. Mehrere Sekunden lang starrte sie ihr Pokémon, ihr eigenes Pokémon, einfach nur an. Ein Evoli. Von all den Pokémon, die es gab, hatte ihre Familie ihr eine Art besorgt, die in Sinnoh so gut wie nicht mehr existierte. Wer eines haben wollte, musste zwangsläufig nach Herzhofen gehen, wo der einzige anerkannte Evoli-Züchter der gesamten Region lebte. In Kanto oder Johto waren diese Pokémon öfter vertreten, aber hier war ein Evoli eine Seltenheit.

„Hallo, Evoli“, brachte sie schließlich hervor, als ihr langes Schweigen das Pokémon den Kopf schief legen ließ. „Ich bin ab heute deine Trainerin. Ich werde mich gut um dich kümmern, versprochen.“

Evoli quiekte und sprang vom Bett, um das Zimmer zu beschnüffeln. Ronya beobachtete ihr Pokémon sorgfältig. Von dem dunkleren Fell, dem ausgeprägten Halsbausch und der staksigen Art, wie es sich bewegte, handelte es sich eindeutig um ein Männchen.

Maxwell Starling hatte in seinem Buch über die fünfundzwanzig Wesen gesprochen, eine grobe Unterteilung der typischsten Temperamente in Pokémon, abhängig von ihren angeborenen Stärken und Schwächen. In ihrer Zeit in der Bibliothek hatte sie sein Buch so viele Male gelesen, dass sie nun fast automatisch nach den Merkmalen in ihrem eigenen Pokémon Ausschau hielt. Evoli hatte nicht lange gefackelt und war schon halb in Ronays Rucksack verschwunden, der geöffnet an die Wand gelehnt stand. Während Ronya zusah, kippte er zur Seite und ließ Evoli verzweifelt und mit den Hinterbeinen strampelnd zurück. Ronya lachte.

Sie stand auf, zog Evoli aus dem umgefallenen Rucksack und sah ihm in die Augen.

„Was hältst du von dem Namen … Maxwell?“

Ronya − Akt 1, Szene 8

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Der nächste Morgen brach früh für Ronya an. Sie hatte sich einen Wecker gestellt, doch Maxwell funktionierte genauso gut. Das kleine Evoli hatte zuerst versucht, auf Ronyas Bauch zu schlafen, war von seiner Trainerin aber wieder und wieder ans Fußende gesetzt worden, bis es grummelnd dort liegen blieb.

Es hatte Ronya fast das Herz gebrochen, aber Maxwell Starlings Worte waren eindeutig:

 

»Gerade zu Beginn muss ein respektvolles Verhältnis zwischen Trainer und Pokémon hergestellt werden, denn auch wenn intensiver physischer Kontakt ein schnelles Mittel zur emotionalen Bindung ist, führt ein plötzlicher Abbruch dieses Verhältnisses (wie er häufig innerhalb weniger Wochen oder nach dem Erhalt weiterer Pokémon auftritt) zu Verwirrung, Enttäuschung oder in manchen Fällen sogar zu Aggression und Abneigung (s. dazu: Kapitel 3.5. „Warum mag mein Pokémon mich nicht mehr?“). Trainer müssen sich vor Erhalt ihres Partners darüber im Klaren sein, wie sehr sie ihre Beziehung zu dem Pokémon in ihr Privatleben eingreifen lassen wollen […]«

 

Ronya seufzte und betrachte Max, der auf ihrer Brust saß und ihr über das Gesicht schleckte. Bisher waren ihre Distanzierungsversuche fehlgeschlagen. Sie hob ihn vom Bett und streichelte einige Male durch sein flauschiges Fell, bevor sie zu ihrem durchwühlten Rucksack ging und sich für den Tag wappnete.

Auf dem Weg nach unten überflog sie ein letztes Mal die nächsten Anweisungen, die ihre Eltern ihr hinterlassen hatten.

 

4) Morgen setzt um 10:00 Uhr ein Fischer über den See auf Route 218. Die Passage für dich ist angemeldet. Triff ihn an der nördlichsten Anlegestelle. Sein Name ist Harald Unger. Du erkennst ihn an einem roten Halstuch und einem weißen Bart. Die vereinbarte Bezahlung ist 1500 PD. Wenn er dich gut behandelt und nicht versucht, den Preis hochzutreiben, gib ihm 500 PD Trinkgeld. Sobald du das andere Ufer erreichst, bist du auf dich allein gestellt. Die erste Stadt auf deinem Weg ist Jubelstadt. Wir lieben dich. Viel Glück!

 

Ronya nickte entschlossen. Sie hatte noch über drei Stunden, um Route 218 zu erreichen und am See den Fischer ausfindig zu machen. Evoli war gefüttert und in seinem Pokéball, den Ronya sicher in ihrer Bauchtasche verstaut hatte.

Nichts konnte sie jetzt noch aufhalten.

Euphorie über ihre neugewonnene Freiheit hätte Ronya beinahe kopflos die Treppen hinunter sprinten lassen. Sie war kaum bis zur zweiten Stufe gekommen, da hörte sie aus dem Erdgeschoss eine ihr sehr bekannte Stimme. Instinktiv presste Ronya sich an die Wand. Sie konnte falschliegen.

Doch die schrillen Töne, die von unten zu ihr drangen, ließen sie daran zweifeln.

Entgegen besseren Wissens folgte sie dem Lauf der Treppe, bis sie die letzte Biegung erreichte und ein weiterer Schritt sie im Treppengeschoss sichtbar machen würde. Mit ihrem Herz in der Kehle lauschte Ronya auf die Stimmen, die sie nun ohne Probleme als die ihrer Schwester und zwei weiterer Personen identifizierte. Die eine, stetig gegen Thea anredende, schien zu Schwester Joy zu gehören, bei der anderen war Ronya nicht sich nicht sicher, denn gegen Theas Redeschwall kamen die abgebrochenen Einwürfe nicht an.

„Ich will wissen, wo sie ist!“, schrie Thea. Ihrer Tonlage nach war sie nicht mehr weit von einem Nervenzusammenbruch entfernt.

„Es tut mir wirklich leid, aber ich darf dir gesetzlich keine Auskunft darüber geben, wer in diesem Pokécenter —“

„Sie ist meine Schwester! Ich muss wissen, ob sie hier ist!“

„Thea, reiß dich zusammen“, warf eine männliche Stimme ein.

Ronya wagte einen kurzen Blick um die Ecke. Da stand Tommy, wie sie vermutet hatte. Er griff nach Theas Arm, um sie zurückzuziehen, doch sie riss sich unwirsch los und lehnte sich soweit über die Theke, dass ihre Füße in der Luft baumelten. „Wenn … wenn sie mir nicht sofort sagen, wo Ronya ist, dann …“ Sie rang nach Worten. Wohl auch nach Drohungen, die einen Erwachsenen überreden konnten, mit ihr zu kooperieren. Schwester Joy war bereits an die Wand zurückgewichen und hatte die Lippen zu einem weißen Strich zusammengepresst. Wenn Thea so weiter machte, würde sie noch die Polizei rufen.

Ronyas erste Reaktion war Scham. Dieses verwöhnte Mädchen, das sich vor Schwester Joy aufführte wie ein Kleinkind, war ihre biologische Schwester? Ihr Zwilling? Sie wollte gerade ihren Kopf zurückziehen, da sah Tommy in ihre Richtung und gab einen überraschten Laut von sich.

Theas Reaktion war imminent. Sie riss den Kopf herum und kam auf die Füße. Suchend glitt ihr Blick über das Treppenhaus und blieb an Ronya hängen, die bei Tommys Entdeckung in Schockstarre verfallen war. Thea schrie auf und rannte auf sie zu.

Ronya floh.

Schwester Joys empörter Ruf machte das Chaos komplett. Ronya flog förmlich die Treppenstufen hinauf, aber Tommy war fast sechszehn, hatte längere Beine und war dank seines Fußballtrainings in besserer Verfassung. Er holte sie ein, noch bevor sie das erste Stockwerk erreicht hatte und packte ihr Handgelenk, doch die Aussicht, so kurz vor ihrem Ziel wieder aufgehalten zu werden, vielleicht sogar ihr Treffen mit dem Fischer zu verpassen, nur weil Thea sie nicht gehen lassen wollte, setzte ungeahnte Kräfte in Ronya frei.

Sie riss sich los und stieß Tommy rückwärts gegen Thea, die in dem Moment zu ihrem Freund aufholte. Während die beiden um ihre Balance kämpften, sprintete Ronya den Gang entlang und steuerte auf die Feuerleiter zu.

Ronya!“

Theas durchdringender, fast flehender Schrei hallte in dem langen Gang wider. Ronya rüttelte verzweifelt an dem Türknauf des Notausgangs, versuchte, die Stimme ihrer Schwester auszublenden. Sie wollte nur noch weg von hier. Da packten kräftige Finger ihre Handgelenke und zerrten sie gewaltsam von der Tür weg.

Jetzt war es an Ronya, zu schreien und um sich zu treten, aber Tommy hielt sie in eisernem Griff. Als sie versuchte, ihre Hacke in seinen Fuß zu rammen, wich er schnell aus und umarmte sie so fest von hinten, dass ihr für einen Moment die Luft wegblieb. Ihre Arme waren unter den seinen eingeklemmt. Sie wusste, dass es irgendeine Möglichkeit geben musste, sich zu befreien, aber die schiere Panik, die sich bei seinem festen Griff und dem warmen Atem in ihrem Nacken in ihr breit machte, lähmte sie effektiver als seine Hände. Seine Worte von dem Geburtstag kamen ihr wieder in den Sinn und ihr wurde mit einem Schlag speiübel.

„Jetzt halt einfach still“, zischte er in ihr Ohr. „Sie will nur mit dir reden.“

„Ronya …“

Ronya presste ihre Lippen aufeinander und drehte den Kopf, bis sie Thea entdeckte, die mit Tränen in den Augen vor ihr stand. „Was?“, fragte sie brüsk und wehrte sich ein letztes Mal gegen Tommys Griff, bevor sie aufgab. Ihre Muskeln zitterten. Es wunderte sie, dass ihre Stimme nicht dasselbe tat.

„Du bist weggelaufen“, sagte Thea und schniefte. „Ich … ich musste dich finden!“

„Warum? Damit du mich weiter nachahmen kannst?“, fragte Ronya.

Thea hatte einen Schritt nach vorne gemacht. „W-wir sind doch Schwestern“, sagte sie, ein hoffnungsvolles Lächeln auf ihren Lippen. „Du wolltest nur testen, ob ich dir folgen würde, oder? Jetzt können wir gemeinsam weiterreisen. I-ich will auch gar kein Plinfa mehr, wir nehmen, was du willst und dann —“

Ronya schrie. Sie war sich nie bewusst gewesen, was für Geräusche ihre Kehle hervorbringen konnte. Außer die wenigen Male in den letzten Wochen waren ihre Gefühle nie mit ihr durchgegangen. Sie war frustriert gewesen, hatte Angst gehabt und Thea mit jeder Faser ihres Körpers verabscheut, aber sie war nur selten laut geworden. Immer hatte sie ihre Wut zurückgehalten und Thea nicht ihren geballten Empfindungen ausgesetzt. Bis heute.

Das frustrierte Aufheulen, das jetzt aus ihr hervorbrach und Thea zusammenzucken ließ, war geballte Hilflosigkeit, die Frustration, dass ihre Schwester nicht verstand. Sie holte mit ihrem Kopf aus und rammte ihren Schädel nach hinten in Tommys Gesicht.

Der Junge heulte auf und lockerte instinktiv seinen Griff. Sie riss sich von ihm los und sah schweratmend dabei zu, wie er benommen rückwärts torkelte. Blut tropfte zwischen seinen Fingern und sein Kinn herab, während er sich stöhnend den Mund zuhielt. Als er die Hände sinken ließ, lag ein abgebrochener Schneidezahn in seiner blutigen Handfläche. Für einen kurzen Moment glaubte Ronya, er würde sich auf sie stürzen, doch er starrte nur auf den Zahn und das Blut. Er wurde kreidebleich und sank langsam gegen die Wand.

Ronya drehte den Kopf zu Thea, die ihre Schwester mit angsterfüllten Augen anstarrte, eine Hand auf ihren Mund gepresst.

„Ich habe deinen Anblick so satt“, fauchte Ronya und ballte ihre Hände zu Fäusten, um das Zittern zu unterdrücken. „Seit ich denken kann, läufst du mir hinterher. Du hast mich immer nachgeahmt, mein Lieblingsessen, mein Lieblingsspiel, meine Lieblingsfarbe, meine Bücher … alles an dir ist falsch. Du bist nichts als eine leere Hülle!“ Sie holte zittrig Luft. „Damit ist jetzt Schluss. Ich werde abhauen, ich werde Pokémontrainerin werden, mit einem Team, das du niemals nachahmen kannst, selbst wenn du wolltest und ich will dich nie, nie wiedersehen!“

Thea sah sie an. Ihre Augen waren geweitet, doch sie sah wie durch Ronya hindurch.

„Sei irgendjemand anders, es ist mir egal“, sagte Ronya, warf einen letzten Blick auf den stöhnenden Tommy und wandte sich ab. „Aber du wirst nie wieder ich sein. Dafür werde ich sorgen.“

Sie ging zum Notausgang und drückte gegen die verräterische Tür. Sie schwang problemlos auf.

„Bitte“, erklang Theas flehende Stimme. Ronya blickte über ihre Schulter. Tränen flossen ungehemmt über Theas rote Wangen, ihr schulterlanges Haar war zerzaust und sie kniete auf dem Boden, so als habe sie nicht mal mehr die Kraft, eigenständig zu stehen. „Ich will nicht allein sein.“

„Gewöhn dich dran“, sagte Ronya und trat hinaus ins Freie.

Ronya − Akt 2, Szene 1

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Thea folgte ihr nicht.

Ronya war nicht sicher, ob ihre Schwester aufgegeben hatte oder ob Joy die beiden endlich erreicht und aus dem Pokécenter entfernt hatte. Aufgewühlt und mit brennenden Augen stapfte sie durch Fleetburgs Südviertel und wünschte mit neu entfachter Intensität, sie wäre nie als Zwilling geboren worden.

Der letzte Abschnitt ihrer Reise, auf den sie sich seit gestern wie eine Wahnsinnige gefreut hatte, ging nun wie ein halbvergessener Traum an ihr vorbei. Als sie Route 218 endlich erreichte, war Ronya enttäuscht zu sehen, dass der Fischer in der Tat darauf bestand, 3000 PD mit ihren Eltern als Bezahlung ausgemacht zu haben. Erst als Ronya ihm den handgeschriebenen Zettel mit den Anweisungen samt den Unterschriften unter die Nase hielt, gab er seine Lüge verlegen, aber unbekümmert zu.

Die Bootsfahrt zog Ronya allmählich aus ihrer Melancholie. Der frische Wind fegte über den See und ihre Kopfhaut, Wingull und andere Vogelpokémon kreisten durch die Lüfte und wenn Ronya sich über den Bootsrand lehnte, konnte sie die dunklen Schemen der Karpador, Finneon und Tentacha erkennen, die unter ihr durch das graugrüne Nass glitten. Jeder Meter, den sie hinter sich brachten, ließ Ronyas früheres Leben verblassen.

 

 

„Danke für die Überfahrt“, sagte Ronya, als sie am frühen Nachmittag das andere Ufer erreichten und dem Fischer seine Bezahlung übergab.

„Nimm’s einem alten Mann nich’ übel, was?“, sagte er und zwinkerte ihr aus wässrigen Augen zu, die inmitten seiner braungebrannten Haut kleinen Teichen ähnelten. Ronya zögerte, dann drückte sie ihm entgegen ihren Anweisungen die 300 PD Trinkgeld in die Hand und verabschiedete sich.

Kaum stand sie alleine auf dem Pfad, der das letzte Stück Weg zur nächsten Stadt bedeckte, atmete sie erleichtert aus. Sie hatte es geschafft. Endlich trennten Thea und sie mehr als nur eine Wand. Sie hatte den See und eine Route voller wilder Pokémon und starker Trainer zwischen sich und ihren Zwilling gebracht.

Für den restlichen Streckenabschnitt rief sie Maxwell, der beim Anblick der grünen Wiesen und dem scharfen Geruch der umliegenden Tannenwälder einen Freudensprung machte und wie vom Ariados gestochen durch das Gras tollte. Ronya beobachte ihr Pokémon belustigt und spürte, wie warme Zuneigung in ihr aufkeimte. Während Maxwell auf und ab stromerte, an Blumen schnupperte, sich an den Nadelhölzern in die Schnauze pikste und quietschend einen halben Meter in die Höhe sprang, folgte Ronya mit einem zufriedenen Grinsen auf dem Gesicht.

 

 

Jubelstadts Straßenlaternen erwachten gerade flackernd zum Leben, als Ronya und Maxwell die Metropole erreichten. Gigantische Stahlbauten und verglaste Hochhäuser verdeckten den Horizont und wo keine Asphaltstraße verlief, bildeten aschgraue Fliesenquader den Bordstein. Maxwell, der zuvor noch freudig durchs Gras gesprungen war, hielt sich im Angesicht der schieren Menschenmasse eng an Ronya und schlich zwischen ihren Beinen hindurch, bis er neuen Mut fasste und sich zurück ins Getümmel stürzte.

Ronya behielt ihn im Auge, kam aber nicht umhin, sich staunend umzusehen. Sinnohs Hauptstadt galt allgemeinhin als modernste und geschäftigste in der ganzen Region und bei dem Geräuschpegel, der von allen Seiten auf Ronya eindrang, glaubte sie die Gerüchte sofort. Sie selbst, die im abgelegenen Fleetburg groß geworden war, fühlte sich im Angesicht all der Häuser und Gesichter, der ineinanderfließenden Gespräche und fettigen Gerüche von Imbissläden völlig überfordert.

Da bemerkte sie, dass ihr Pokémon nirgends zu sehen war.

„Max?“, rief sie und zwängte sich an Pärchen und kleinen Grüppchen vorbei. „Maxwell!“ Panik überkam sie. Sie konnte unmöglich den Weg auf sich genommen haben, nur um im letzten Moment ihr Pokémon zu verlieren!

Plötzlich entdeckte sie einen beigen Fleck, einige Meter vor sich. Ohne sich um die empörten Rufe der anderen Passanten zu scheren, quetschte sie sich an allen vorbei und fand sich schließlich vor einer Straßenlaterne wieder, an der Maxwell mit verbissenem Gesichtsausdruck hochzuklettern versuchte.

„Runter“, befahl sie in scharfem Ton. Max sah zu ihr herab, die Ohren ihn freudiger Erregung zuckend. Als er ihren Blick sah, duckte er den Kopf und kletterte gehorsam zurück auf den Boden. Ronya ging vor ihm in die Hocke. Sie spürte die Blicke der anderen Fußgänger in ihrem Rücken, aber davon ließ sie sich nicht beirren.

Maxwell Starling sprach immer von sofortiger Zurechtweisung, wenn ein Pokémon seine Grenzen überschritt. Sie wollte Max nicht an der kurzen Leine halten, aber wenn er seine Freiheit unter ihrem Kommando genießen wollte, musste sie zuerst sicher gehen, dass es klare Regeln gab. „Du musst in Sichtweite bleiben“, erklärte sie in ruhigem, aber strengem Tonfall. „Wenn du dich austoben oder klettern willst, gib mir vorher ein Signal, damit ich dir folgen kann. Hier sind zu viele Menschen. Wenn du nochmal so abhaust, könnte ich dich verlieren, verstehst du?“

Maxwell presste sich flach gegen den Boden, ein Zeichen eindeutiger Unterwürfigkeit.

Ronya nickte zufrieden und tätschelte seinen Kopf. „Hoch mit dir“, sagte sie und erhob sich. „Wir suchen uns einen ruhigen Platz, wo du so viel klettern kannst, wie du willst.“

Maxwells griesgrämiges Gesicht hellte sich augenblicklich auf. Ronya beobachte mit Genugtuung, dass er dieses Mal an ihrer Seite blieb. Mit Hilfe seiner schärferen Sinne fanden sie eine halbe Stunde später eine kleine Parkanlage, die zwar nicht mit dem Naturbestand in Fleetburg zu vergleichen war, Ronya inmitten dieser grauen Einöde aber wie ein echtes Paradies vorkam. Sie ließ sich auf dem Rand einer Fontäne nieder, zog ihre Schuhe aus und massierte ihre Füße, während Maxwell getreu ihrem Versprechen den nächstbesten Baum in Angriff nahm, an der glatten Rinde jedoch kläglich scheiterte.

Ronya atmete die kühle Nachtluft ein. Sie lächelte flüchtig und schielte zu Maxwell, der das Klettern aufgegeben hatte und nun nach den niedrig hängenden Ästen sprang. Er nahm Anlauf, katapultierte sich mit seinen kräftigen Hinterbeinen in die Höhe und bohrte seine Krallen in das dunkle Holz des Astes. Er strampelte, zog sich hoch und schaute sie mit leuchtenden Augen an. Schmunzelnd erinnerte sie sich an die letzte Anweisung ihrer Mutter und dass sie jetzt auf sich allein gestellt war.

Ganz alleine war sie nicht.

Ronya verbrachte einige Stunden mit Maxwell im Park. Ihr Evoli tobte sich so lange aus, bis es in ihren Armen einschlief. Sie hätte ihren neuen Lebensgefährten in den Pokéball zurückrufen können, um ihre müden Arme zu entlasten, stattdessen schlenderte sie stolz durch Jubelstadt, dessen Beleuchtung erfolgreich gegen die Nacht ankämpfte. Sie kaufte sich eine Box mit gebratenen Nudeln von einem Imbissstand und genoss die Atmosphäre der Großstadt.

Max schnarchte leise in ihren Armen. Ihr Herz schwoll bei dem Anblick an. Max und sie kannten sich nur wenige Tage, und trotzdem konnte sie sich ein Leben ohne ihren hyperaktiven Racker nicht mehr vorstellen. Ob es normal war, dass Trainer so schnell eine Bindung zu ihren Pokémon aufbauten? Sie würde nach einem Buch darüber Ausschau halten, sobald sie eine Bibliothek in dieser riesigen Stadt ausfindig gemacht hatte.

Trotz der späten Stunde wurde Jubelstadt nicht ruhiger. Ronya fragte einige Passanten nach dem Weg zum hiesigen Pokécenter, wo sie sich mit ihrer ID für wenig Geld ein Zimmer mietete. Sie legte Max behutsam ans Fußende und strich ihrem Pokémon sanft über das flauschige, braune Fell. Max grummelte wohlig. Ronya legte liebevoll lächelnd den Kopf schief. In diesem Moment keimte etwas in ihr auf. Ein Beschützerinstinkt. Komme was wolle, Max und sie würden sich niemals trennen.

Ronya – Akt 2, Szene 2

7 Jahre vor Team Shadows Gründung
 

 
 

Ihre erste Amtshandlung am nächsten Morgen war es, die Trainerschule zu besuchen. Max und sie verließen am frühen Morgen das Pokécenter und stiefelten durch die vollgepackte Stadt. Es war noch relativ kühl, und eine steife Brise wogte durch die Menge, aber Ronya störte sich nicht daran. Sie genoss das Gefühl des Windes auf ihrer Kopfhaut und der Freiheit und unendlichen Möglichkeiten, das sie hier in der Großstadt verspürte.

Seit sie vor zwei Jahren herausgefunden hatte, dass es Schulen für Pokémontrainer in anderen Städten gab, war sie unendlich neidisch gewesen. Ihre eigene Familie besaß keine Pokémon, eine ziemliche Ausnahme in Sinnoh. Statt von Kindesbeinen an den Umgang mit ihnen zu lernen, oder zumindest an offiziellem Unterricht teilnehmen zu können, hatte sie sich all ihr Wissen selbst aneignen müssen. Sie wusste, dass die meisten Kinder in ihrem Alter wenig Interesse an der Literatur hatten, mit der Ronya sich Tag ein, Tag aus beschäftigte, aber das war ihr egal. Dank Thea hatte sie ohnehin nie einen eigenen Freundeskreis gehabt, und selbst wenn, wäre dieser sicher von ihrer Schwester infiltriert worden.

Thea …

Bei dem Gedanken an ihre letzte Auseinandersetzung wurde Ronya heiß und kalt gleichzeitig. Sie ballte die Fäuste, ihre Kehle zog sich zusammen. Obwohl sie wusste, wie irrational es war, sah sie über ihre Schulter, so als könnte Thea plötzlich in der Menge der Jubelstadtpassanten auftauchen und nach ihr rufen.

Ein abrupter Schmerz ließ sie zusammenzucken. Sie sah zu ihrer rechten Hand, an der eine kleine Bisswunde zu sehen war.

Max, der die ganze Zeit eng an ihrer Seite lief, hatte sie gebissen. Ronya starrte ihr Pokémon an, das sich flach auf den Boden drückte, ihr aber ungeniert in die Augen sah.

Sie atmete tief durch und ging in die Hocke. Mit der nicht blutenden Hand strich sie Max über den Kopf. „Danke. Ich weiß, ich sollte nicht so viel über sie nachdenken. Sie hat nur die Macht über mich, die ich ihr gebe. Aber es ist schwer, loszulassen.“

Die Trainerschule war nicht weit vom Pokécenter entfernt. Vor dem Eingangstor blieb Ronya stehen. Sie hatte ein imposantes Gebäude erwartet, schließlich befanden sie sich in Jubelstadt, Sinnohs Hauptstadt, aber das hier sprengte jeden Rahmen.

Ein gewaltiger Komplex aus rotbedachten Gebäuden umringte einen runden Park, der mit Bäumen und Bänken gesprenkelt war. Eine Hausmeisterin kehrte den Steinpfad, der zu den verschiedenen Gebäuden führte. Das Haus zu ihrer Linken war vier Stockwerke hoch, mit kindlich bemalten Hausfassaden und Papierdekorationen, die innen an den Fenstern klebten. Eine Art Pokémon-Grundschule? Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich, was Ronya mit geübtem Auge als Bibliothek identifizierte. Drehtüren ließen trotz der frühen Stunde bereits Trauben von Schülern hinein, und hinter den hohen Glasfenstern konnte Ronya Reihe um Reihe von Bücherregalen erspähen. Ihr Herz klopfte sofort heftiger.

In der Mitte dieser beiden Gebäude erhob sich das größte der drei, sechs oder sogar sieben Stockwerke hoch, mit breiten Eingangstüren und diversen Schülern und Schülerinnen, die mit Ranzen und Pokébällen am Gürtel nach innen eilten. Ronya klappte ihre Kinnlade zu und sah zu Maxwell hinunter, der von ihrer Aufregung ganz angesteckt bereits gierig die Bäume beäugte.

„Fünf Minuten“, sagte sie warnend. „Dann gehen wir rein.“ Max quietschte und sprintete auf den erstbesten Baum zu.

Nachdem Max sich ausgetobt hatte, rief Ronya ihn in seinen Pokéball zurück (an der Eingangstür hing ein „Pokémon verboten“-Schild) und betrat das klimatisierte Hauptgebäude. Innen führte ein langer Gang zu einem Aufzug und einer Treppe nach oben. Davor war eine Rezeption, an der ein älterer Herr saß und sich mit einer Besucherin stritt.

Langes, blondes Haar hing in einem perfekt frisierten Pferdeschwanz ihren Rücken hinunter. Sie trug einen dunkelblauen Nadelstreifenanzug und hochhackige Schuhe. In der einen Hand hielt sie einen schwarzen Aktenkoffer, mit der anderen umklammerte sie die Hand eines Jungen mit ebenfalls blondem Haar, der neun oder zehn Jahre alt sein musste und gelangweilt in die Luft starrte.

Neben den beiden stand ein junges Mädchen, etwa in Ronyas Alter. Sie hatte lockiges, blondes Haar, das ihr rundes Gesicht umrahmte und trug eine weiße Strickjacke über ihrem pinken, rüschenbesetzten Kleid. Als sie Ronyas Blick bemerkte, weiteten sich kurz ihre Augen. Ihr Blick glitt über Ronyas abgetragene Latzhose und dreckstrotzenden Schuhe, dann sah sie schnell weg.

Ronya fühlte sich sofort unwohl. Das Mädchen erinnerte sie an Theas Freundinnen, die nur an Mode interessiert waren. Sie sah zurück zu der Frau, die allem Anschein nach die Mutter der beiden Kinder war, und trat etwas näher, um zu lauschen, was trotz der immer noch hereinschlendernden Schüler leicht war, denn die Frau sprach in sehr lauter, energischer Stimme.

„—nicht so weit gereist, um mich von jemandem in ihrer Position abwimmeln zu lassen.“

„Ma’am …“ Der Rezeptionist rückte seine Brille zurecht und sah eingeschüchtert zwischen ihr und seinem PC-Monitor hin und her. „Es tut mir wirklich leid, aber alle Kurse sind ausgebucht. Wenn Sie in zwei Monaten wiederkommen könnten …“

„In zwei Monaten?“, fragte die Frau schneidend und lehnte sich über den Tresen. Ronya machte instinktiv einen Schritt zurück. Sie hatte Mitleid mit dem Rezeptionisten, dem inzwischen Schweißperlen auf der Stirn standen. „Sicher haben Sie noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Ich bin durchaus bereit, für Privatunterricht bei den Dozenten zu bezahlen, es geht schließlich nur um zwei Wochen, die wir hier verbringen werden.“

„P-privatunterricht?“ Der Rezeptionist starrte die Frau an. Ronya ebenfalls. Klar, sie sah gepflegt und professionell aus, aber dass sie so reich war … „Na gut, ich werde ein paar Anrufe tätigen. Wenn Sie mir ihre Nummer hierlassen, kontaktiere ich Sie, sobald ich Näheres weiß.“

„Na bitte, so schwer war das doch nicht“, seufzte die Frau. „Der Name ist Heartoline. Ich erwarte die Termine bis spätestens heute Abend. Wir haben schon genug Zeit in dieser Stadt vergeudet.“ Sie kritzelte ihm eine Nummer auf einen Zettel, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und kam direkt auf Ronya zu, die reflexartig zur Seite sprang. Das Mädchen lief seiner Mutter hinterher.

„Mamaaa, ich hab Hunger“, quengelte es, dann schloss sich die Tür hinter den Dreien.

Ronya atmete erleichtert aus, im genau gleichen Moment wie der Rezeptionist. Sie warfen sich einen kameradschaftlichen Blick zu. Sie ging zum Tresen. „Also … die Kurse sind voll?“, fragte sie schweren Herzens. Der Mann nickte.

„Die Wartezeit ist eigentlich eher sechs Monate. Aber das habe ich mich wirklich nicht getraut zu sagen.“

Ronya presste die Lippen zusammen und griff nach Max‘ Ball. Sechs Monate … unter normalen Umständen wäre das kein Problem gewesen. Schließlich hatte sie noch ihr gesamtes Leben vor sich. Aber sie war mehr oder weniger auf der Flucht. Und wenn sie ehrlich war, hatte sie gewusst, dass die Trainerschule von Jubelstadt der erste Ort wäre, an dem Thea nach ihr suchen würde. Ihre Schwester kannte sie eben doch gut genug, um zu wissen, was für eine Anziehungskraft die Schule mit ihrem geballten Wissen auf sie haben würde. Und nun stand Ronya hier, vor ihrem Traum, und konnte ihn doch nur von außen betrachten.

Sie durfte keine Spur hinterlassen, und schon gar nicht durfte sie zu lange an einem Ort bleiben.

„Sie haben eine tolle Schule hier“, sagte sie und schluckte ihre Tränen hinunter. „Dürfte ich in die Bibliothek gehen? Nur heute?“

„Ich fürchte, das ist nicht möglich“, sagte der Rezeptionist, und sah dabei so traurig aus, als wäre es sein eigener Traum, den er mit Füßen trampelte. „Nur eingeschriebene Schüler haben Zugang.“

„Ich verstehe.“ Sie straffte ihre Schultern und zwang sich zu einem Lächeln. „Vielleicht komme ich ein andermal wieder. Schönen Tag noch.“

Ohne auf die Antwort zu warten, machte sie kehrt und floh regelrecht aus dem Gebäude. Draußen blendete sie die Sonne. Sie rief Max, der ihre Laune sofort spürte und in ihre Arme sprang. Ronya schaffte es gerade noch zu einem der Bäume, bevor sie einknickte und sich zwischen die Wurzeln fallen ließ. Tränen strömten ihr übers Gesicht.

„Es ist nicht fair“, flüsterte sie und drückte Max so fest an ihre Brust, wie sie konnte. „Ich könnte einfach hierbleiben und studieren, aber Thea …“

Thea würde sie finden. Sie würde sich in dieselben Kurse einschreiben lassen, dieselben Seminare besuchen, Ronya auf Schritt und Tritt verfolgen. Ihre Freiheit, die sie sich so hart erkämpft hatte, wäre verloren.

Plötzlich fühlte sie wieder den Arm um ihren Hals, der ihr die Luft abdrückte. Nur dass es nicht Tommy war, der sie festhielt, sondern die Angst vor Thea.

Ronya – Akt 2, Szene 3

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Die Trainerschule wäre ihre erste Wahl gewesen, aber glücklicherweise gab es in Jubelstadt auch öffentliche Bibliotheken. Nach einigem Nachfragen bei Passanten und einer kleinen Hetzjagd hinter Max her, der einem fremdem Evoli nachstelle, erreichten sie endlich die Stadtbücherei.

Eine freundliche Bibliothekarin, die Ronya sehr an die Dame in Fleetburg erinnerte, erklärte ihr die Hausregeln und zeigte ihr den Weg zu den Pokémon-Sachbüchern. Nach dem sehr emotionalen Morgen brauchte Ronya dringend eine Pause, und Bibliotheken waren für sie der sicherste Ort auf Erden. Sie verkroch sich in der hintersten Ecke des Lesebereichs auf einem der quietschgelben Plüschsofas und verlor sich in Die Psychologie des Kampfes, von Abbott McLawry.

Als sie das nächste Mal auf die Uhr sah, war es bereits Mittag. Seufzend markierte sie ihre Stelle im Buch mit dem Lesebändchen und stellte es ins Regal zurück. Sie wollte so viel wissen, so viel lernen, aber sie wollte auch endlich praktische Erfahrungen sammeln. Kaum dass sie wieder draußen stand, rief sie Max. Sie grinste ihr Pokémon an. „Bereit, dir einen Freund zu fangen?“

 

 

Sie wollte es nicht zugeben, aber sie hatte sich verlaufen. „Wir sind ganz sicher hier lang gekommen“, murmelte Ronya. Sie hatte mit Max einen Abstecher zum Pokémarkt gemacht, um sich mit Pokébällen und anderen nützlichen Items auszustatten, musste aber eine falsche Abzweigung genommen haben, denn nun fand sie sich in einer zwielichtig aussehenden Gasse wieder, in der sich Müllsäcke neben Containern türmten und es nach verdorbenem Essen stank. Max tapste unglücklich über den Asphalt und rümpfte demonstrativ die Nase, wenn Ronya zu ihm sah. „Ja, ich weiß, wir hätten nicht die Abkürzung nehmen sollen“, murmelte Ronya.

Plötzlich hörte sie ein Poltern. Erschrocken fuhr sie in Richtung des Geräuschs herum, und staunte nicht schlecht, als das pink gekleidete Mädchen mit den blonden Locken auf sie zustürmte.

Ronya konnte gerade noch zur Seite springen, da war sie schon an ihr vorbeigerannt, die nächstbeste Mülltonne emporgeklettert und darin verschwunden. „Ich war nie hier“, ertönte ihre gedämpfte Stimme aus dem Container, kurz bevor ihre Mutter mit dem Jungen um die Ecke gelaufen kam.

„Amy Heartoline, wenn ich dich in die Finger bekomme …“, rief sie drohend, doch dann entdeckte sie Ronya, verstummte und kam in gemäßigterem Tempo direkt auf sie zu.

Ronya stand wie vom Blitz getroffen. Diese Frau hatte einen Blick, der sie regelrecht festnagelte. Sie war noch nie jemand so angsteinflößendem begegnet.

„Hast du zufällig ein junges Mädchen gesehen?“, fragte Frau Heartoline. „Blondes Haar, gepflegte Kleider. Sie müsste hier vor kurzem durchgekommen sein.“

Max knurrte leise, versteckte sich aber sofort hinter Ronyas Beinen, als Amys Mutter ihren stechenden Blick auf ihn richtete. „Sie, eh, ist hier langgerannt“, stotterte Ronya und deutete hinter sich. „Sie kann noch nicht weit sein, bestimmt holen Sie sie gleich ein.“

„Herzlichen Dank“, sagte die Frau und stolzierte davon. Ronya blieb regungslos stehen, bis sie verschwunden war, dann kletterte sie auf den Container und öffnete den Deckel. Das blonde Mädchen sah frech grinsend zu ihr auf.

 „Ist sie weg?“, fragte sie. Ronya nickte. „Danke! Das wäre fast schiefgegangen. Puh, stinkt es hier drin. Hilfst du mir raus?“

Bevor Ronya wusste, wie ihr geschah, ergriff Amy ihre Hände und zog sich an ihr aus dem Container. Gemeinsam sprangen sie zurück auf die Straße. Amy strich ihr Kleid glatt, das von einem halboffenen Müllsack mit roten und braunen Striemen verdreckt war, und streckte dann ihre Hand zum Gruß aus.

„Ich bin Amy Heartoline, freut mich, deine Bekanntschaft zu machen. Und du bist?“

„R-ronya. Ronya Olith.“

„Ronya! Sehr schöner Name. Ich finde deine Haare übrigens toll. Ist mir eben sofort aufgefallen.“ Sie betastete ihre eigenen Locken. „Aber ich glaube, mir steht das nicht. Sollen wir etwas zusammen unternehmen? Jetzt, wo ich Mama abgehängt habe, kann ich ein paar Stunden rausschlagen, bevor sie wirklich böse wird und die Polizei einschaltet.“

„Die Polizei?!“

Amy zuckte mit den Achseln und sah unglücklich in die Richtung, in die Ronya ihre Mutter geschickt hatte. „Wäre nicht das erste Mal, dass sie übertreibt. Aber genug davon. Was sagst du? Ich werde nicht lange in Jubelstadt bleiben können, deswegen will ich so viel erleben wie möglich.“

Ronya wusste, dass es komisch wirken musste, wie sie stumm vor Amy stand und sie einfach nur anstarrte. Aber dieses Mädchen, das sie nach ihrem ersten Aufeinandertreffen als verhätschelt, eitel und gänzlich uninteressant abgestempelt hatte, stand hier vor ihr, nachdem sie sich—genau wie Ronya damals—in einer Mülltonne versteckt hatte, und wollte etwas mit ihr unternehmen.

Mit ihr. Ronya. Theas Anhängsel, das nie eigene Freunde und Kontakte gehabt hatte. Sie schluckte die Gefühle hinunter, die bei diesem Gedanken in ihrer Brust aufkeimten, und sprang über ihren Schatten.

„Ich wollte gerade ein Pokémon fangen gehen“, sagte sie schließlich zögerlich. „Willst du mitkommen?“

„Oh, das ist so spannend! Ich wette, wir finden ein Cooles für dich. Und ein Evoli hast du auch schon. Ich bin richtig gespannt, was es hier für Pokémon gibt. Los geht’s!“

Sie ergriff Ronyas Hand und zog sie in die entgegengesetzte Richtung, in die ihre Mutter verschwunden war. Ronya ließ sich von ihr mitziehen. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals.

 

 

Dafür, dass Amy behauptete, noch nicht lange in Jubelstadt zu sein, kannte sie sich zehnmal besser aus als Ronya. Sie blieben den Hauptstraßen mit ihrem Trubel fern und durchquerten stattdessen jede Menge zwielichtige Gassen. Ronya war unendlich fasziniert von Amy, die mit Schwung im Schritt durch schmutzige Pfützen lief und ohne mit der Wimper zu zucken Gruppen von älteren Männern durchquerte.

Es dauerte nicht lange, bevor sie am nördlichen Ende der Stadt herauskamen und sich Richtung Route 204 aufmachten. Inzwischen schien die Sonne schön stark und es war wärmer geworden. Ein Duft nach Honig lag in der Luft, und eine seichte Brise kam ihnen von den von Wald umsäumten Seen entgegen. Ronya konnte sich an dem Anblick nicht sattsehen. Sie ließ Max vorlaufen, der durch das hohe Gras tobte und den nächstbesten Baum erklomm.

Amy stemmte die Hände in die Hüften und sah sich um. „Wirklich idyllisch hier“, kommentierte sie zufrieden. Sie ließ sich ins Gras plumpsen und sah Ronya grinsend an. „Kommst du aus Jubelstadt?“

Ronya warf einen kurzen Blick zu Max, der am Seeufer mit dem Wasser spielte und sich scheinbar gut zu beschäftigen wusste. Sie ließ sich Amy gegenüber im Schneidersitz auf dem weichen Boden nieder. „Aus Fleetburg. Das ist westlich von hier.“

„Oh, dort sind wir mit Mama auf dem Schiff angereist“, sagte Amy und lehnte sich aufgeregt vor. „Bestimmt haben wir uns irgendwo mal ganz knapp verpasst.“

Ronya grinste zurück. „Ja, vielleicht. Mein Papa arbeitet am Hafen, er könnte euch sogar gesehen haben.“

Amy klatschte in die Hände. Sie hatte so viel … Enthusiasmus. Ein klein bisschen erinnerte sie Ronya an Thea, bevor ihre Schwester so kontrollierend und gehässig geworden war. Die Schwester, die Ronya geliebt hatte. Ihr Lächeln erstarb langsam. Amy legte den Kopf schief. „Ist alles okay?“, fragte sie vorsichtig. „Du siehst sehr traurig aus.“

Ronya zwang sich zu einem Lächeln. „Ist schon in Ordnung. Stress in der Familie.“

Amy nahm ihre Hand. „Das tut mir sehr leid.“ Ihr Blick glitt zur Seite, ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. „Ich weiß, wie sich das anfühlt.“

Ronya drückte ihre Hand, um ihr ebenfalls Mut zu machen. Hinter der aufgeweckten Persönlichkeit verbarg sich also auch Schmerz. Nachdem sie Amy bei der Flucht vor ihrer Mutter geholfen hatte, hätte sie sich das eigentlich auch denken können.

Sie stand auf und pfiff Max zu sich, der sofort angesprungen kam. Ihr Training mit Kommandos hatte wirklich gut funktioniert. „Bereit?“, fragte sie.

Amys düstere Miene verschwand genauso abrupt, wie sie gekommen war. Sie rappelte sich auf. „Darauf kannst du wetten! Hast du schonmal ein Pokémon gefangen? Soll ich dir helfen oder dich erst machen lassen?“

„Ich habe Bücher darüber gelesen“, gestand Ronya und kramte einen leeren Pokéball aus ihrem Rucksack. Zusammen mit Amy und Max stiefelten sie Richtung See, wo das Gras höher wuchs und mit Sicherheit einige wilde Pokémon beherbergte.

Das erste Pokémon, das Ronya entdeckte, war ein Goldini, das elegant aus dem See sprang und mit einem lauten Platschen zurück ins Wasser tauchte. Ein Wasserpokémon wäre nützlich, aber sie traute sich noch nicht zu, mit Max einen Wasserkampf auszufechten. Die Pokémon hier waren auf einem ähnlichen Level wie ihr Starter, aber das bedeutete nicht, dass sie ihnen den Heimvorteil geben wollte. Je mehr sie sich umsah, desto mehr wilde Pokémon entdeckte sie. In den Ästen einer Buche saßen zwei Staralili und zwitscherten um die Wette, ein Waumpel kroch gelassen unter einem Busch entlang und zwischen einigen Glockenblumen sonnte sich ein Knospi.

Unentschlossen sah Ronya zwischen all ihren Optionen hin und her und befingerte den leeren Pokéball, den sie bereits in der Hand hielt. Sie hätte nie geglaubt, dass ihr die Auswahl so schwerfallen würde, sobald sie einmal die Möglichkeit hatte, ein Pokémon zu fangen.

Plötzlich zupfte Amy an ihrem Arm. „Schau mal da hinten“, flüsterte sie tonlos und lenkte Ronyas Aufmerksamkeit auf einen schattigen Bereich zwischen einigen hochgewachsenen Bäumen mit neuen Trieben. Ein Sheinux—weiblich, wie sie sofort an der schwächer ausgeprägten Mähne des blau-schwarzen Elektropokémon erkannte—schlich durch das hohe Gras, genau auf sie zu. Der Schweif wogte langsam hin und her, während sie immer näherkam. Ihr Blick war auf Max fixiert, der unbescholten im Gras saß und geflissentlich seine Pfote leckte.

Ronya musste nicht lange nachdenken. All die anderen Pokémon waren zufrieden und glücklich, wo sie waren. Sie genossen ihr friedlichen Leben. Aber hier war ein Pokémon mit Kampfeswillen. Sie wusste noch nicht, wo ihre Reise hinführen sollte, das war eine zu große Frage für ihre erst kürzlich erlangte Freiheit, aber sie wusste eins: Sie würde nicht mittelmäßig sein. Sie würde sich hochkämpfen und so viel Distanz wie möglich zwischen sich und Thea bringen.

Sie drehte sich zu dem Sheinuxweibchen um und sah es herausfordernd an. Das Flacker-Pokémon erstarrte kurz in der Bewegung, dann knurrte es und rannte auf sie zu.

Ronya atmete tief durch. Ihr erster Kampf. Jetzt würde sich zeigen, ob ihr Studium gereicht hatte, sie auf diesen Moment vorzubereiten.

Sheinux sprang.

„Max, Tackle!“

Ronya – Akt 2, Szene 4

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Ronya war vorbereitet. Max nicht.

Beim Klang der ihm bekannten Attacke schaute Max verwirrt auf, und wurde sofort von Sheinux umgerissen, das durch die Luft gesegelt kam. Die beiden kugelten als zankendes Fellknäuel durchs Gras. Ronya knirschte mit den Zähnen. Sie hatte sofort einen Fehler begangen! Da spürte sie Amys Händedruck.

„Ruhig bleiben, du musst es nicht besiegen, nur schwächen. Der Kampf ist nicht verloren!“

Ronya nickte entschlossen. „Max, befrei dich mit Rutenschlag!“

Sie konnte nur grob erkennen, was geschah, aber tatsächlich wurde Sheinux weggeschleudert und landete auf allen Vieren, knurrend und bereit zum Angriff. Sein Blick durchbohrte Max regelrecht, der zurückzuckte, sich dann jedoch zusammenriss und zu einem Tackle ansetzte.

Mit jeder Sekunde, die verstrich, jeder Attacke, die zwischen den beiden kleinen Pokémon ausgetauscht wurde, gewann Ronya an Ruhe und Selbstvertrauen. Sie erinnerte sich wieder an die Lektionen in ihren Büchern, daran wie wichtig ihre eigene Mentalität während eines Kampfes war. Ihr Pokémon musste sich auf ihre Befehle verlassen, und sie konnte nur eine gute Strategie entwickeln, wenn sie rational blieb und sich von der Aufregung nicht mitreißen ließ.

Sie atmete tief durch und widmete sich dem Kampfgeschehen. Es war wahrlich kein strategisches Meisterwerk; Max und Sheinux griffen sich solange mit ihren Tackles an, bis sie hechelnd und mit zitternden Beinen im Gras standen und sich angifteten.

Ronya warf den Pokéball und sah mit Herzrasen dabei zu, wie er auf Sheinux traf und das kleine Pokémon in einem Strahl roten Lichts einsaugte. Der Pokéball zuckte einige Male, dann blieb er still liegen. Sie sackte vor Erleichterung auf die Knie, während Amy einen Freudentanz um sie herum veranstaltete. „Du hast es geschafft! Und beim ersten Versuch, Wahnsinn! Wirklich großes Kino! Herzlichen Glückwunsch, Ronya.“

Max sah ziemlich mitgenommen aus, aber er begann sofort, den Pokéball mit seiner Stupsnase auf Ronya zuzurollen. Sie ging in die Hocke, und als er sie erreichte, nahm sie Max in den Arm und drückte ihn fest an sich.

„Toll durchgehalten“, flüsterte sie. „Ich verspreche dir, dass ich eine bessere Trainerin werde.“ Max grummelte wohlig und leckte ihr über die Wange.

„Jetzt ruf es schon“, quengelte Amy aufgeregt neben ihr.

Ronya setzte Max ab, der aufgeregt mit dem buschigen Hinterteil wackelte. Der neue Pokéball war warm unter ihren Fingern, wie etwas Lebendiges. Fühlten sich frisch benutzte Bälle immer so an oder versuchte Sheinux, sich zu befreien? Was, wenn es sie nicht mochte? Wenn alle ihre Bücher ihr im echten Leben nichts nutzten?

„Ronyaaaa“, drohte Amy.

„Okay, okay!“ Ronya betätigte den Knopf und herausgeschossen kam Sheinux. Es sah sich kurz desorientiert um, da wurde es schon von Max umgeworfen, der es freudig abschleckte. Sheinux blinzelte Ronya leidend an. „Runter von ihr“, befahl Ronya. Zu ihrer Erleichterung hörte Max sofort und ließ von seinem neuen Teammitglied ab. „Hallo, Sheinux“, begrüßte Ronya ihr Pokémon. Sie streckte ihm ihre Hand hin, damit es ihren Geruch aufnehmen konnte. Das war für Pokémon mit ausgeprägten Jagdinstinkt und Riechorganen essentiell.

Sheinux schnupperte an ihren Fingern. Sein elektrisch aufgeladenes Fell knisterte sanft über ihre Haut. Sofort musste Ronya an Fortgeschrittene Trainingsmethoden für Elektrotypen denken, eins der Bücher, das sie in den letzten Wochen verschlungen hatte. „Ich würde dich gerne Sybill taufen“, erklärte sie Sheinux. „Ist das in Ordnung für dich?“

Ihr neues Pokémon gab ein Grummeln von sich, das Ronya mit viel Fantasie als Zustimmung deutete. Erleichtert grinste sie Amy an, die ihr zwei Daumen hoch zeigte.

„War das dein erster Pokémonfang?“, fragte sie und hockte sich neben Ronya ins Gras.

„Und mein erster Kampf“, fügte Ronya hinzu. Ihr war ihr Schnitzer immer noch peinlich. „Hat man gemerkt, oder?“

„Klar, aber das ist normal.“ Amys Gesichtsausdruck verdüsterte sich. „Ich kann mich an meinen ersten Kampf nicht mal mehr erinnern.“

Nicht erinnern? Stirnrunzelnd nahm Ronya ihre neue Freundin in Augenschein, aber sie glaubte nicht, dass sie sich im Alter verschätzt hatte. Wie konnte sie so ein Ereignis mit dreizehn Jahren schon vergessen haben? Ronya war davon überzeugt, dass sich ihr Kampf gegen Sheinux für immer in ihr Gedächtnis brennen würde.

Bevor Ronya die Worte finden konnte, um nachzuhaken, verschwand Amys finstere Miene. Sie stand auf. „Na komm, lass uns an den See und mit unseren Pokémon spielen!“

„Meinst du?“ Ronya sah sehnsüchtig zum See. „Sollten wir nicht trainieren, wo wir schon hier sind?“

„Dafür ist später noch genug Gelegenheit, aber bei so schönem Wetter muss man einfach ans Wasser.“ Bevor sie protestieren konnte, schnappte Amy sich schon ihren Arm und zog sie mit.

 

 

Die Sonne ging gerade unter, als ihre Idylle schlagartig unterbrochen wurde.

„So, so, die junge Dame vergnügt sich also am See, während ihre Mutter krank vor Sorge die ganze Stadt durchforstet.“

Amy und Ronya schreckten aus ihrem Nickerchen auf und stießen sich dabei heftig die Köpfe. Ronya stöhnte auf und blinzelte gegen die schrägstehende Sonne, um auszumachen, wer sie angesprochen hatte, doch Amy stand bereits.

„Es tut mir so leid, Mama!“, rief sie und warf sich der Frau aus der Pokémonschule in die Arme. „Ich hatte hier mit diesem Mädchen trainiert, aber dann müssen wir eingeschlafen sein. Habe ich etwa die Unterrichtsstunde verpasst?“

Frau Heartoline strich ihrer Tochter nachdenklich über das Haar, während Ronya völlig benommen das Schauspiel betrachtete.

„I-ist sie das?“, fragte eine zweite Stimme. Erst jetzt bemerkte Ronya den jungen Polizisten, der direkt hinter Amys Mutter stand und sich nervös den Kopf kratzte. Er war hochgewachsen und schlaksig, mit kurzem dunklen Haar, besaß aber die eingezogenen Schultern von jemandem, der gerade von einer herrischen Frau zum Schneckmag gemacht worden war. Sein Blick huschte von Amy zu Ronya und blieb einige Sekunden an ihr kleben, bevor er schuldbewusst wegsah. Ronya hatte sich inzwischen an solche Blicke gewöhnt. Die wenigsten Leute hatten je eine junge Frau mit kahlgeschorenem Kopf gesehen, deswegen starrten sie automatisch, bis sie sich dabei ertappten. Einmal war sie von einer alten Frau mit Beileidsbekundungen zu ihrer Krankheit überhäuft worden, bis Ronya ihr genervt klar gemacht hatte, dass es sich lediglich um eine alternative Frisur handelte.

„Ja, Lukas, das ist meine vermisste Tochter“, erklärte Frau Heartoline dem Polizisten, den sie wie selbstverständlich mit Vornamen ansprach. „Glücklicherweise hatte mein Sohn mit seiner Vermutung Recht, wo sie sein könnte. Jetzt komm, Amy, euer Privatunterricht fängt gleich an und bis zum Hotel ist es weit. Wir müssen wohl ein Taxi nehmen …“

Ohne Ronya eines weiteren Blickes zu würdigen, zog sie Amy mit sich, die Ronya über die Schulter entschuldigend die Zunge rausstreckte. Ronya starrte den beiden hinterher, genau wie der Polizist, der erleichtert ausatmete, kaum dass die Heartolines hinter einer Weggabelung verschwunden waren.

„Uff“, sagte er und wischte sich Schweiß von der Stirn. „Diese Frau möchte ich nicht zur Feindin haben.“

Ronya nickte abwesend. Sie musste immer noch an Amys plötzlichen Verhaltensumschwung denken, und daran, wie falsch sie das Mädchen deshalb zuerst eingeschätzt hatte. Und sie dachte an all die Momente, wenn Amy traurig wirkte, und dann sofort wieder lächelte und das Thema wechselte, so als wäre nichts gewesen.

Wie eine Maske, hinter der sie sich jederzeit verstecken konnte.

Ronya – Akt 2, Szene 5

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

„Meinst du, dass wir uns wiedersehen?“, fragte Ronya. Sie saß an einen Baum gelehnt, ihr Trasla Abbott im Arm, und sah zu Amy hinauf, die über ihr auf einem breiten Ast thronte und die Beine baumeln ließ. Sie befanden sich abseits des Pfades von Route 203, an der Grenze zum dichten Wald, was ihnen eine ordentliche Portion Privatsphäre bot. Etwas, das mit Amys Mutter im Nacken unabdingbar war.

„Natürlich“, sagte Amy von oben. „Meine Mama reist dauernd mit uns herum, das nächste Mal, wenn wir in Sinnoh sind, schreibe ich dir vorher, und wer weiß, vielleicht verschlägt es dich in der Zukunft ja nach Einall. Dann zeige ich dir Septerna City, und du kannst meinen Papa kennenlernen! Er würde dich mögen.“

Ronya versuchte, sich von Amys Redeschwall aufmuntern zu lassen, aber es fiel ihr schwer.

Die zwei Wochen seit ihrer Ankunft in Jubelstadt waren wie im Flug vergangen, und es waren die schönsten ihres Lebens gewesen. Jede freie Minute, die Amy sich von ihrer Mutter loseisen konnte, verbrachten sie zusammen. Gigantische Eisbecher zum Frühstück, Schwimmen im kalten See, Verstecken spielen im Einkaufszentrum ... und plötzlich stand Amys Abreise unmittelbar bevor und Ronya sah sich mit dem Verlust ihrer ersten echten Freundin konfrontiert.

Sie war alleine losgezogen und hatte nicht damit gerechnet, dass sich das ändern würde. Aber jetzt, wo sie wusste, wie schön so eine Zweisamkeit sein konnte, musste sie sehr mit sich kämpfen, ihre Trauer nicht Überhand nehmen zu lassen. Solange Amy hier war, wollte sie die Zeit mit ihr genießen. Aber nun war es Nachmittag, und in weniger als einer Stunde musste Amy zurück in der Stadt sein, um sich mit ihrer Familie zu treffen.

Abbott, der wie die meisten Psychopokémon ein Gespür für ihre Gefühle entwickelt hatte, tätschelte leicht ihre Hand.

„Das wäre schön“, sagte Ronya schließlich. „Und wir schreiben regelmäßig, oder?“ Gleich am zweiten Tag hatten sie die Emailadressen ihrer Pokémon IDs ausgetauscht.

„Darauf kannst du wetten!“

Amy sprang vom Baum hinunter und setzte sich vor ihr hin. Heute trug sie ein hellblaues, bauchfreies T-Shirt und einen knielangen Rock. Amy nahm ihre Hand und drückte sie fest. „Ich werde dich auch vermissen“, sagte sie. „Aber lass uns nicht traurig sein. Ich bin einfach froh, dich getroffen zu haben, du etwa nicht?“

Ronya musste grinsen. „Doch. Auch wenn du mir damals den Eistee ins Gesicht gespuckt hast.“

„Das war ein Unfall, und außerdem hast du mich zum Lachen gebracht, also ist es eigentlich deine Schuld!“

„Ach so, verstehe. Und das eine Mal, als du über die Schlammpfütze gesprungen bist und—“

„Da bin ich nur ausgerutscht, das hätte jedem passieren können—“

„Und als du mich nachts wecken wolltest und mit dem Stein das Fenster eingeschlagen hast—“

„Also jetzt muss ich wirklich langsam los, Ronny!“

Ronya lachte und ließ sich von Amy hochziehen. Sie wuschelte ihr durchs blonde Haar. „Ich mach doch nur Spaß. Komm, ich bring dich noch zum Treffpunkt. Schreib mir auf jeden Fall, sobald ihr wieder zuhause seid, ja?“

Amy nickte und warf sich ihr um den Hals. „Du wirst mir fehlen. Auch wenn du doofe Kommentare machst.“

„Gern geschehen.“

 

 

Ronya saß mit Max im Arm auf dem Bürgersteig und winkte Amy aus der Ferne zu, die bereits mit ihrem Bruder auf der Rückbank des Taxis davonfuhr. Sie winkte nicht zurück, aber das musste sie nicht. In den zwei Wochen hatte Ronya viel über sie und ihre Familie erfahren. Es gab zwei Amys. Die eine war so, wie Ronya ihre Freundin später kennengelernt hatte, voller Tatendrang, aufgeschlossen und abenteuerlustig. Die andere war Catherine Heartolines Tochter, ruhig, verwöhnt und gehorsam. Trotzdem war Ronya sicher, dass sie mit dieser Einschätzung gerade einmal an der Oberfläche kratzte. Genauso wie Amy im Groben von Thea wusste, aber nicht annährend alles.

Max grummelte sie an und strampelte sich den Weg in ihre Latzhose, sodass nur so kein Kopf oben herausguckte. Seufzend stand Ronya auf und streckte die Arme. Vielleicht würde sie morgen endlich mit dem Training ihrer Pokémon anfangen. Amy hatte aus irgendeinem Grund immer abgeblockt, wenn Ronya Pokémonkämpfe vorgeschlagen hatte. Trotzdem hatte sie mit Abbott bereits eine recht gute Beziehung aufgebaut, nur Sybill gab sich noch etwas distanziert. Aber vielleicht würde sich das ändern, sobald sie zusammen kämpften.

„Bist du Ronya Olith?“

Erschrocken drehte Ronya sich um. Ihr gegenüber stand, genauso in sich zusammengesunken wie bei ihrer letzten Begegnung, der Polizist Lukas. Er hielt ein Notizbuch in der Hand und kratzte sich verlegen am Kopf. Ronya kniff die Lippen zusammen. Warum wollte er das wissen? Woher kannte er überhaupt ihren Namen? Aber hatte sie nicht schon viel zu lange gezögert, um ihn anzulügen?

„Was wollen Sie von mir?“, fragte sie, um Zeit zu schinden.

„Es kam ein Anruf für sie“, sagte Lukas, der unter ihrem Blick immer nervöser zu werden schien. „I-ihre Mutter hat für sie angerufen.“

Darleen! Ronya ohrfeigte sich innerlich. Darauf hätte sie auch selber kommen können, dass ihre Mutter sie irgendwann kontaktieren würde. Sie hatte ihr schließlich keine Nummer oder Adresse zukommen lassen, und ihre Eltern waren sicher krank vor Sorge. Hoffentlich hatten sie Thea aus dem Haus manövriert, damit sie in Ruhe reden konnten.

„Dann zeigen Sie mal den Weg“, sagte sie.

 

Die Polizeiwache befand sich am nordöstlichen Ende der Stadt, ein gutes Stück vom Pokécenter entfernt, aber nicht ganz ab vom Schuss. Das graue Hochhaus sah sehr respekteinflößend aus. Ronya jedenfalls ließ nicht auf sich warten, als sie endlich durch den Eingang traten. Sie war schon auf dem Weg zu der Telefonstation, die in der Nähe des Wartebereichs hinter einer verglasten Front zu erkennen war, als Lukas in die entgegengesetzte Richtung abbog und ihr bedeutete, ihm zu folgen. Ronya wurde langsamer. Max, der immer noch in ihrer Latzhose steckte, strampelte unruhig mit den Beinchen und fiepte. Alle ihre Nackenhaare stellten sich auf.

Lukas stand inzwischen vor einer Tür, die in einen Raum führte. Sie sah zurück zu den Telefonen. Sicher hätte ihre Mutter eins der öffentlichen Telefone angerufen, oder zumindest die Rezeption?

Statt dem Polizisten zu folgen, stiefelte Ronya zu ebenjener und lehnte sich auf die Theke. Die Polizistin sah durch eine gigantische Brille zu ihr auf.

„Ich bin Ronya Olith“, stellte sie sich vor. Lukas drehte um und kam raschen Schrittes auf sie zu. „Darleen Olith hat hier für mich angerufen.“

Die Frau sah sie unbewegt an. „Sieht das hier aus wie ein Hotel? Hier hat niemand für Sie angerufen.“ Ronya lief es kalt den Rücken hinunter. Sie ging einige Schritte zurück.

„Ronya, warte bitte!“ Lukas begann plötzlich, zu rennen. Und hinter ihm öffnete sich die Tür, durch die er sie hatte führen wollen.

Ein violettes T-Shirt und Glitzerjeans.

Dunkelbraunes, schulterlanges Haar.

Ein Gesicht, das ihrem bis ins Detail ähnelte.

„Ronny!“

Ronya drehte auf dem Absatz um, riss ihren Arm aus Lukas‘ Griff, der sie gepackt hatte, und rannte auf die Straße.

Sie traute sich nicht, zurückzugucken. Wagte nicht, stehenzubleiben. Sie rannte Richtung Osten, ohne ihren Rucksack, den sie für den Tag im Pokécenter gelassen hatte. Ohne das Bargeld, das sie darin lagerte, ohne die Wechselkleidung oder Items, die sie gekauft hatte.

Nur mit ihre Trainer-ID in ihrer Hosentasche und den Pokémon an ihrem Gürtel, rannte sie, vom Terror getrieben, zurück auf Route 203, Richtung Erzelingen, und blieb nicht stehen, bis ihre Beine unter ihr nachgaben und sie sich übergeben musste.

Ronya – Akt 3, Szene 1

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Ursprünglich war Ronyas Plan gewesen, ihre Reise nach Erzelingen zu genießen. Sie hätte jeden Tag ihre Pokémon im Schatten der dicht belaubten Buchen und Eichen trainiert, ihre müden Füße in dem kleinen See abgekühlt, und mit Max, Sybill und Abbott Zeit verbracht, um sie besser kennenzulernen und ein Gespür für ihre Persönlichkeiten zu entwickeln.

Stattdessen jagte sie wie eine Besessene durchs Unterholz.

Nach ihrem ersten Zusammenbruch hatte sie sich gerade genug Pause erlaubt, um ihren Heulkrampf zu beenden und mit dem sauren Geschmack von Erbrochenem im Mund wieder zu Atem zu kommen. Danach ging es weiter. Noch am selben Abend brachte sie ein großes Stück der Route hinter sich. Max und die anderen ließ sie in ihren Bällen. Sie fühlte sich nicht in der Lage, eine ruhige Front zu zeigen.

Es war schon dunkel, als sie völlig entkräftet und weit ab vom Pfad neben einem großen Baum in die Knie ging und mit der Faust gegen den Stamm schlug.

„Du hast dich doch losgesagt“, fauchte sie sich selbst an. „Warum lässt du dich jetzt so von ihr aus dem Konzept bringen? Du bist stärker als das!“

Aber sie fühlte sich nicht stärker. Ronya starrte auf ihre Faust, die gegen die raue Rinde presste, und zitterte. Sie war nicht okay. Ganz und gar nicht.

Obwohl sie so erschöpft war, machte sie in dieser Nacht kaum ein Auge zu. Jedes Rascheln im Gebüsch, jeder Vogelschrei ließ sie aufschrecken, und sie hatte keinen Proviant dabei, der ihren knurrenden Magen beruhigen könnte. Trotzdem machte sie sich beim ersten Sonnenstrahl wieder auf den Weg.

Es dauerte eine Weile, bis Ronya nicht mehr alle paar Minuten über ihre Schulter guckte und sich traute, auf dem regulären Pfad zu wandern. Welche Geschichte Thea dem Polizisten auch immer aufgetischt hatte, Ronya schien es ihm nicht die Mühe wert zu sein, die Verfolgung aufzunehmen. Die einzigen Menschen, denen sie begegnete, waren Trainer in ihrem Alter, die Pokémonkämpfe austrugen oder sich im Schatten der Bäume ausruhten.

Ihr fiel schnell auf, dass einige der Trainer die aschgraue Schuluniform der Trainerschule von Jubelstadt trugen. Je näher sie dem Erzelingen-Tor kam, einer Höhle direkt an der Grenze zu Erzelingen, desto weniger wurden sie jedoch. Stattdessen fand sie bald ganze Grüppchen von normalen Trainern vor, die ihr mit frustrierten und verkniffenen Mienen wieder entgegenkamen.

Ein Mädchen mit feuerroten Zöpfen lief sie dabei fast um.

„Hey!“, beschwerte sich Ronya, die gerade noch rechtzeitig zur Seite sprang. Sybill knurrte ungehalten, während Max sich mit einem gewaltigen Satz auf den nächsten Baum katapultierte. Sie fasste das Mädchen an der Schulter. „Pass ein bisschen auf, ja?“

„Lass mich in Ruhe“, sagte es und riss sich los. „Der ganze Weg umsonst, nur wegen dieser Heinis …“

„Was für Heinis?“, rief Ronya ihr hinterher, doch das Mädchen stürmte einfach an ihr vorbei.

„Wirst du schon sehen!“, lachte sie humorlos. Sie verschwand hinter einer Biegung zwischen den Bäumen.

„Wie war die denn drauf?“, murmelte Ronya entrüstet und kratzte sich am Kopf. „Hast du eine Idee, Sybill?“

Ihr Sheinux nieste und sah sie ungerührt an. Ronya seufzte. „Dachte ich mir schon. Na kommt, weiter geht’s. Wenn wir uns ranhalten, erreichen wir bis heute Abend das Tor.“

 

 

Das taten sie, aber sie waren nicht die einzigen. Eine ganze Schar Trainer campierte auf der Lichtung vor dem Höhleneingang, aus dessen Inneren ein flackerndes Licht strahlte. Während Ronya durch die Grüppchen ging, sah sie sich um. Die meisten Lager sahen so aus, als wären sie nicht nur für die Nacht, sondern für mehrere Tage oder sogar Wochen aufgeschlagen worden. Verbrannte Holzkohle türmte sich in den kleinen Feuerstellen, und das Gras war von den vielen Stiefeln in den Boden getrampelt. Pokémon verschiedenster Arten saßen in den Baumkronen, schliefen gelangweilt in den Armen ihrer Trainer oder stromerten unbeaufsichtigt durchs Unterholz, um sich mit wilden Bidiza und Zirpurze zu keilen.

Ronya schüttelte fassungslos den Kopf. Das Erzelingen-Tor war gleich dort drüben. Sicher, es waren noch ein paar Stunden Fußmarsch bis zur Stadt, aber es gab keinen Grund, so kurz vor dem Ziel aufzugeben. Von der Art, wie die Blicke der anderen Trainer ihr folgten und das Tuscheln lauter wurde, je näher sie der Höhle kam, stellten sich ihr die Armhaare auf. Sybill, die sonst immer sehr reserviert war, schlug mit dem Schweif und sträubte das Fell, während sie leicht zurückfiel, um Ronyas Nachhut zu bilden.

Das allein machte es schon wert für Ronya, so begafft zu werden, denn es zeigte Sybills Beschützerinstinkt ihr gegenüber, was bedeutete, dass ihr Sheinux sie endlich als Rudelmitglied ansah. Max stromerte ebenfalls zurück an ihre Seite und lief dicht an ihr Bein gedrängt.

„Ich gebe ihr zehn Minuten“, rief ein Junge aus der größten der Gruppen.

„20 Pokédollar, dass sie in fünf Minuten wieder da ist“, hielt ein älteres Mädchen dagegen.

Ronya presste die Lippen zusammen, straffte die Schultern und konzentrierte sich darauf, nicht schneller zu werden. Ihr Magen knurrte laut und beschwerte sich über die zwei Tage, die sie ihn bereits vernachlässigte. Sie hatte keine Ahnung, was hier los war, aber sie würde jetzt durch diese Höhle gehen und sich noch heute Abend in Erzelingen wiederfinden und eine große Portion Schmorpilze verschlingen.

Der Höhleneingang umschloss sie wie ein gewaltiges Maul. Die Temperatur sank sofort um einige Grad, und die Luft schmeckte feucht und modrig. Ronya fand sich in einem langen, steinernen Korridor wieder. Sie wusste, dass es hier Pfade gab, die tiefer in das Höhlensystem führten, aber um nach Erzelingen zu kommen, musste sie einfach nur geradeaus. Trotz des schummrigen Lichts entdeckte sie schnell zwei Gestalten, die etwa hundert Meter vom Eingang entfernt standen und sich unterhielten.

Max knurrte leise und bäumte sich an ihrem Bein auf. Ronya nahm ihn ohne ein Wort auf den Arm und ging mit Sybill im Schlepptau zu den beiden hin.

Es dauerte nicht lange, bis ihr klar wurde, wer in diesem Gespräch die Oberhand hatte. Ein schlaksiger Junge, vielleicht sechzehn oder siebzehn, gekleidet in der aschgrauen Uniform der Jubelstadt Trainerschule und mit einem schwarzen Taschentuch, das er um seinen Oberarm gebunden hatte, stand mit verschränkten Armen und einem süffisanten Lächeln vor einem wesentlich jüngeren Trainer, der regelrecht vor ihm kauerte.

„Ich habe dir eine einfache Frage gestellt“, sagte der Trainer mit dem Band um den Arm. „Wie bezeichnet man die Ei-Gruppe eines Dittos?“ Aus der Nähe konnte Ronya endlich erkennen, dass das Licht von einem Magmar stammte, das im Schneidersitz auf dem Boden hinter dem älteren Trainer saß und von innen heraus glühte.

„Eh … ein Ditto? Was ist das?“

„Oh, Billy. Du weißt nicht mal, was ein Ditto ist, und willst trotzdem nach Erzelingen einreisen?“ Er schüttelte enttäuscht den Kopf. „Na gut, eine Chance bekommst du noch. Dein Pokémon ist ein Rettan, korrekt?“

Der Junge nickte. „Sie heißt Cindy.“

Der anderen Trainer lächelte gehässig. „Rührend. Welche Giftattacken kann ein Rettan nur durch Zucht erlernen? Komm schon, das ist elementar für jemanden, der Rettan als Starter hat.“

Billys Schultern zogen sich noch weiter nach oben, bis sie fast seine Ohren erreichten. „I-ich weiß es nicht.“

Seufzend schüttelte der Trainer den Kopf. „Dann kann ich dich nicht durchlassen. Und jetzt geh zurück zu den anderen Stümpern, ich will meine Zeit nicht mit solchen wie dir verschwenden, dafür ist sie mir zu teuer.“

„Jetzt hör mal!“, schaltete sich Ronya ein, die nun endlich verstand, was hier vor sich ging. „Das sind doch keine elementaren Fragen für einen Anfänger! Und was bildest du dir eigentlich ein, hier zu stehen und zu entscheiden, wer nach Erzelingen darf und wer nicht?“

Billy sprang bei ihren Worten fast an die Decke, warf einen Blick in ihre Richtung und rannte dann Hals über Kopf aus der Höhle.

Der andere sah ihm einige Sekunden lang nach, dann widmete er sich Ronya. „Gestatte, ich bin Jacob“, stellte sich der Trainer ungeniert vor. Sein Magmar gähnte. Max plusterte sich in Ronyas Armen auf. „Möchtest du auch dein Glück versuchen?“

„Das hat nichts mit Glück zu tun“, fuhr Ronya ihn an. Klar, sie kannte die Antworten auf Jacobs Fragen, aber sie hatte schließlich auch den Großteil ihrer Jugend damit verbracht, jedes Buch über Pokémon zu verschlingen, das ihr in die Finger kam. Die meisten Trainer, die auf Reisen gingen, wussten nur das Nötigste. Aber sie war lange genug von Theas Freunden ausgeschlossen geworden, um sofort eine heftige Abneigung gegenüber Jacob zu fühlen.

Sie sah zum Höhleneingang zurück. Billy stolperte gerade hinaus und brach draußen zusammen. Ronya biss die Zähne zusammen. „Ich komme wieder“, drohte sie Jacob, der amüsiert eine Augenbraue hob.

„Du willst wirklich nicht? Letzte Chance.“

Ohne zu antworten, drehte Ronya um und lief zurück nach draußen. Billy war in der Zwischenzeit in den Schutz einiger Bäume gekrabbelt, wo er sich vor den Pfiffen und dem Grölen der versammelten Trainer schützte, indem er sich die Ohren zuhielt. Seine Wangen waren tränenverschmiert und Schnodder lief ihm das Kinn hinunter. Es war so ein miserabler Anblick, dass Ronya ohne Umschweife neben ihm auf die Knie ging und ein Taschentuch aus ihrer Latzhose kramte.

Im Tageslicht wurde ihr schnell klar, dass Billy maximal zwölf sein konnte.

„Billy. Billy, hey.“ Sie wedelte mit dem Taschentuch vor seiner Nase. „Hier. Tief durchatmen.“

Während Billy sich das Gesicht abputzte, warf sie einen Blick zurück auf die Trainergrüppchen. Sie tuschelten immer noch, aber wenigstens waren sie vorerst ruhig. Sie sah, wie einige von ihnen Geldscheine umherreichten.

„Danke“, schniefte Billy. „Du bist nett.“

Ronya winkte ab. „Was war da drin los? Wer ist dieser Jacob, und warum hängen hier so viele Trainer ab?“

„Kaiser“, sagte Billy, was genau keinen Sinn ergab.

„Und Kaiser ist was genau?“, fragte sie ungeduldig.

Billy erschauderte. „Eine Gang. Sie haben sich erst vor kurzem in Erzelingen gebildet, zumindest sagen das die anderen. Ich bin seit einer Woche hier, und da haben sie gerade die Höhle besetzt. Es kommen nur Trainer durch, die ihre Fragen beantworten können.“ Er sah zu Boden. „Aber jedes Mitglied ist Absolvent der Trainerschule. Mit Ehren. Wir normalen Trainer haben keine Chance. Aber sie haben auch sehr starke Pokémon, deswegen können wir nichts gegen sie tun. Manche Trainer geben auf, aber die anderen bleiben hier und hoffen drauf, Glück zu haben und leichte Fragen zu erwischen.“

„Wissen hat nichts mit Glück zu tun“, sagte Ronya. „Die Fragen, die er dir gestellt hat? Das ist Stoff aus Zuchtmethoden für Fortgeschrittene II, von Allison Bear. Das erratet ihr nicht einfach so.“

Billy sank noch weiter in sich zusammen. „Also ist es aussichtslos?“

„Nein, ihr müsst einfach diesen Unsinn beenden und alle zusammen da rein gehen und diesen Kaiser-Typen die Hölle heiß machen.“

„Wird nicht klappen“, sagte Billy traurig und nickte zu den anderen Trainern. „Hier sind alle frustriert und zerstritten. Es haben sich direkt Grüppchen gebildet, und jeder, der nicht an Kaiser vorbeikommt, wird ausgebuht. Nie im Leben lassen die sich zusammenschweißen.“

Ronya seufzte und kratzte sich am Kopf. Sie hatte wirklich keine Zeit, hier eine Revolte zu organisieren. Sie musste nach Erzelingen, bevor Thea zu ihr aufholte.

Wahrscheinlich verfolgt sie dich nicht mal mehr, flüsterte der rationale Teil ihrer Gedanken.

Aber was, wenn doch?, fragte der andere. Ronya schüttelte sich.

„Hör zu, die Antwort auf die Fragen von eben ist wie folgt: Ditto gehört zur Ditto-Gruppe. Es ist ein Gestaltwandler und kann damit jede Ei-Gruppe imitieren. Ein sehr wertvolles Zuchtpokémon, und das einzige mit dieser Ei-Gruppe. Und die Zuchtattacken für Rettan, lass mich mal nachdenken … das müssten Giftschweif und Giftzahn sein. Wenn du Glück hast, fragt er dich die nochmal, dann hast du vielleicht eine Chance, durchzukommen.“

„Wow …“ Billy starrte sie mit offenem Mund an. „Du bist super schlau!“

„Belesen“, korrigierte Ronya und stand auf. „Ich gehe jetzt jedenfalls nach Erzelingen.“

Mit diesen Worten stapfte sie davon. Max grummelte unglücklich. „Ich weiß, Max“, seufzte Ronya. „Ich will ja auch helfen, aber wir müssen weiter.“

Das Tuscheln schwoll an, kaum dass den anderen Trainern klar wurde, dass sie sich wieder in die Höhle aufmachte.

„Noch nicht genug gehabt?“, lachte eins der Mädchen.

Ronya fuhr herum. Ihr Herz schlug ihr fast aus der Brust, aber keiner dieser Trainer war Thea, oder Tommy. Sie brauchte vor ihnen keine Angst zu haben. „Jetzt reißt euch mal zusammen!“, blaffte sie. „Ihr sitzt hier mit zwanzig Leuten und schafft es nicht, an einem mickrigen Trainer vorbeizukommen? Wollt ihr überhaupt nach Erzelingen, oder gebt ihr lieber auf? Ihr macht euch über jeden lustig, der versucht, die Fragen zu beantworten, aber traut euch selber nicht. An eurer Stelle würde ich vor Scham im Boden versinken.“

Sie wartete nicht auf die Reaktion der Trainer. Sie konnte sich die Schreie und Buh-Rufe ausmalen. Aber sie hatte getan, was sie konnte, um die Trainer aufzustacheln, und wer weiß, vielleicht würden sie sich ihre Worte zu Herzen nehmen.

Aber jetzt galt es, diesem Jacob zu zeigen, dass er nicht der einzige Trainer der Welt war, der mal ein Buch gelesen hatte.

Mit einem Bauch voller angestauter Wut stapfte Ronya durch den Höhleneingang ins Dunkel. Und erstarrte.

Jacob war nicht mehr da. Aber viel wichtiger, der Durchgang war nicht mehr da. Eine solide Wand aus Stein blockierte die Höhle.

Ronya – Akt 3, Szene 2

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

„Hallo? Ist da jemand?!“

Ronya klopfte seit geschlagenen fünf Minuten an die Wand, die sich jetzt, da sie direkt davorstand, als Stahl entpuppte. Stahl in Form von Steinen. Sie war sicher, dass hier ein Stahlos lag und gemütlich döste, während sie ihre Fäuste wund hämmerte. Egal, wie viel sie schrie und auf sich aufmerksam machte, das Stahlos bewegte sich keinen Zentimeter. Sybill trug ihren Teil bei, indem sie halbherzig an dem gewaltigen Pokémon kratzte, während Max längst aufgegeben hatte und stattdessen in Ronyas Nähe die Höhle erkundete. Hin und wieder nieste er laut, wenn er seine Schnauze zu tief in eine Spalte steckte.

„So ein Mist“, murmelte Ronya und ließ sich auf den Boden sinken. „Jacob hat das mit der letzten Chance wirklich ernst gemeint.“

Jetzt verstand sie auch, weshalb die Trainer dort draußen die Hoffnung aufgegeben hatten. Wenn diese Gang, Kaiser oder wie sie hießen, ein Stahlos in der Hinterhand hatte—und von der Größe und Beschaffenheit des Stahlkörpers war es mindestens Level 40—dann gab es wirklich kein Durchkommen. Es half alles nichts. Dann würde sie eben nach Kaisers Regeln spielen und bis zum nächsten Tag warten. Aber sie glaubte nicht, dass der Arenaleiter von Erzelingen sehr erfreut über diese Neuigkeiten sein würde.

 

 

Sie erwachte, als ein bulliges, dunkelhäutiges Mädchen mit schwarzem Stirnband und stahlgrauer Trainerschuluniform sie mit ihrem Fuß anstupste.

Ronya sprang wie vom Ariados gestochen auf die Beine. Max, der auf ihrer Brust eingeschlafen war, fiel quiekend zu Boden.

„Aufwachen, Schlafmütze“, sagte sie grinsend. Ihr buschiges Haar formte einen perfekten Kreis um ihr breites Gesicht und ihre Augen funkelten. Obwohl sie stand, war das Mädchen immer noch anderthalb Köpfe größer als sie. Sie sah aus, als würde sie in ihrer Freizeit mit Machomei ringen. Ronya räusperte sich. „Gehörte dir das Stahlos?“, fragte sie. Sie sah an Meghan vorbei in den Gang, aber von dem gewaltigen Stahlpokémon, das gestern hier Wache gehalten hatte, war keine Spur zu sehen.

„Was, neidisch?“ Das Mädchen verschränkte frech die Arme. „Nein, es gehört mir nicht. Aber ich habe andere Pokémon, die mindestens genauso episch sind. Mein Name ist übrigens Meghan Jones und ich bin heute deine Inspekteurin.“

„Ronya“, stellte Ronya sich knapp vor. Meghan war ihr erstmal sympathisch, aber sie hasste den Gedanken, dass sie auch Teil dieser Kaiser-Gruppe war. Trotzdem, sie zweifelte keine Sekunde daran, dass Meghan ihr körperlich in allen Aspekten überlegen war. Jacob hätte sie vielleicht noch zu Boden rangeln können, wenn es darauf angekommen wäre, aber nicht sie. „Bringen wir es hinter uns“, murmelte sie.

Meghan zog die Brauen hoch. „Du klingst ja nicht gerade begeistert. Was, denkst du, ich kann dir keine ordentlichen Fragen stellen? Du wärst nicht die erste, die denkt, ich kann nur schwer heben und hab nichts in der Birne.“

„Darum geht es hier doch nicht“, entgegnete Ronya. „Ich habe einfach keine Lust, mich von irgendwelchen Leuten inspizieren zu lassen.“

„Tja, da musst du jetzt durch“, lachte Meghan herzhaft. „Wie ich sehe, hast du ein Evoli. Mit welchen Fähigkeiten können Evoli geboren werden, und welche hat deins?“

„Angsthase, Anpassung und in sehr seltenen Fällen Vorahnung. Max hier ist mit Anpassung ausgestattet.“

„Nicht schlecht, du musstest nicht mal nachdenken. Vorahnung vergessen die meisten.“

„Weil die Chance, ein Evoli damit zu züchten, verschwindend gering ist. Claire J. White schreibt in ihrem Buch Züchtungsmethoden der Neuzeit, dass Evoli nicht nur die richtigen Eltern mit dieser Fähigkeit haben müssen, sondern noch diverse epigenetische Faktoren dazukommen.“

Je länger sie redete, umso stiller wurde Meghan, bis sie wie eine Statue dastand.

„Wie alt bist du?“, fragte sie schließlich gedehnt.

„Vierzehn.“

„Vierzehn Jahre alt und zitiert J. White, als wäre es ihre Nachtlektüre …“ Meghan atmete hörbar aus und trat zur Seite. „Bitte sehr. Erzelingen ist dort entlang.“

„Das war’s?“ Ronya konnte ihr Glück kaum fassen. Gleichzeitig ging sie nur vorsichtig weiter. Würde Meghan sie gleich von hinten anfallen? Sicher konnte der Test nicht so einfach gewesen sein.

 „Was soll ich dich denn noch fragen? Thomsen, Starling und Riley kennst du doch bestimmt auch, oder?“

Ronya nickte.

„Da siehst du. Und jetzt ab mit dir. Ich würde dich ja begleiten, aber ich muss hier die Stellung halten.“

Meghan schien aufrichtig zu sein. Ronya zuckte mit den Achseln und stapfte los. Dem geschenkten Ponita schaute man nicht ins Maul.

„Hey!“, rief Meghan ihr hinterher, als sie schon fast außer Hörweite war. „Tu dir selbst einen Gefallen und halte dich aus Kaisers Angelegenheiten raus.“

Ohne zu antworten, drehte Ronya sich um und ging weiter. An sich wollte sie sich so wenig wie möglich in diese lokalen Angelegenheiten einmischen. Aber Trainer aufgrund ihres Wissens auszusortieren und von ihrer Reise abzuhalten, das ging zu weit. Sie musste immer wieder an Billys tränenverschmiertes Gesicht denken, und daran, wie schwer ihr selbst der Beginn ihrer Reise gefallen war, weil Thea versucht hatte, sie zurückzuhalten.

 

 

Sie brauchte nur noch zwei Stunden bis in die Bergbaustadt. Erzelingen lag in einer Senke inmitten von felsigem Gebirge, das die blauen Häuser mit Schrägdächern von allen Seiten umringte. Ronya stiefelte die Treppen hinunter, Max dicht auf den Fersen, der neugierig die Luft schnupperte. Es war noch früh am Morgen, und die Straßen leer. In einiger Entfernung konnte Ronya das Dach der hiesigen Arena ausmachen, in der Veit den Kohleorden an würdige Trainer verlieh.

Nur, dass ein Großteil von diesen von Kaiser zurückgehalten wurde. Entrüstung ließ Ronya schneller gehen. Meghan konnte sagen, was sie wollte, sie würde sich ganz sicher nicht aus dieser Angelegenheit raushalten. Sie war vermutlich einer der weniger Trainer, der ohne Ausbildung an der Trainerschule durch die Barrikade in die Stadt kam und die Möglichkeit hatte, etwas gegen diese Ungerechtigkeit zu unternehmen.

Ein Wort zu Veit, und er würde Kaiser sicher das Handwerk legen.

Max nippte an ihrer Hand. Ronya blieb stehen und fand sich direkt vor der Arena wieder. Sie wollte bereits eintreten, da entdeckte sie ein Schild, das an der Tür hing.

 
 

Arena vorübergehend geschlossen

 

 

 

Aha. Das erklärte natürlich einiges. „Dann muss wohl das Pokécenter herhalten“, sagte Ronya zu Max. Während sie die Stadt durchquerten, wurde es langsam wärmer. Die Luft roch nach Erde und dem metallischen Geruch von Kohle und Werkzeug. Südlich des Pokécenters, direkt außerhalb der Stadt, konnte Ronya zum ersten Mal einen Blick auf die Mine werfen. Arbeiter mit Helmen und Picken waren bereits am Werk und fuhren schwere Geräte durch die Gegend. Ein Fließband förderte Erz und Eisen direkt aus der Mine hinaus, welches von den Arbeitern abtransportiert und in riesigen Containern gelagert wurde.

Die elektronischen Türen des Pokécenters öffneten sich, als Ronya und Max auf den Eingang zutraten. Im Inneren entdeckte sie einen jungen Mann mit pinkem, kurzem Haar, der freundlich lächelnd hinter der Theke stand. Ronya wurde automatisch langsamer—sie hatte noch nie eine männliche Schwester Joy gesehen—kam jedoch schließlich am Schalter an. Außer ihr war in dem Pokécenter nur eine alte Dame, die an einer Pokémonpuppe häkelte, und ein Jugendlicher, der scheinbar beim Warten auf die Heilung seines Pokémons auf der Bank eingeschlafen war. Nur seine Schuhe und sein Kopf schauten hinter dem Tisch hervor.

„Ein Zimmer bitte, und eine doppelte Portion Reis mit Pilzen“, bestellte Ronya. „Oh, und dürfte ich den Computer benutzen?“

„Nur zu.“ Der Joy schob ihr einen Zimmerschlüssel und einen kleinen Papierzettel zu, auf dem ein Einmalpasswort stand. „Der Computer ist den Gang entlang rechts. Log dich einfach ein, du hast 30 Minuten, danach kostet es Geld.“

Ronya dankte ihm und machte sich auf den Weg. Kaum, dass sie ihr Postfach öffnete, flutete es panische Mails ihrer Mutter. Schuldbewusst klickte Ronya sich durch jede einzelne durch. Wer hätte denn ahnen können, dass ihre Eltern bereits einen Tag nach ihrer heimlichen Abreise eine Antwort erwartet und danach mit dem Schlimmsten gerechnet hatten?

Was ihre Mutter berichtete, ließ sie noch mehr bereuen, nicht früher mit ihren Eltern in Kontakt getreten zu sein: Thea war nach dem ersten missglückten Versuch, Ronya zurückzuholen, wutentbrannt heimgegangen und danach unausstehlich geworden. Sie und Tommy trafen sich fast jeden Tag und hausten stundenlang in Ronyas altem Zimmer. Darlene war sicher, dass sie etwas ausheckten.

Kurz darauf kam dann die warnende Nachricht: Thea und Tommy waren abgehauen. Diese nur wenige Tage vor dem Zusammentreffen im Polizeipräsidium. Ronya starrte den Text an.

„Ich habe wirklich mein Bestes getan, sie in ihre Schranken zu weisen“, schrieb Darleen in der Nachricht, „aber dieses Mädchen ist nicht zu bändigen. Sie ist ohne alles mitten in der Nacht verschwunden. Ich hoffe nur, dass du bereits weit weg bist und sie dich nicht mehr einholt.“

Wenn Ronya nur ihre Nachrichten durchgelesen hätte, wäre sie gewarnt gewesen. Sicher, sie hätte die letzten Tage nicht mehr mit Amy verbringen können, aber lieber das, als so überstürzt fliehen zu müssen.

„Es hilft alles nichts“, sagte sie nach einigen stillen Minuten zu Max, der unruhig auf ihrem Schoß lag und an ihrem Pulli kaute. „Ich kann mir noch so viele Vorwürfe machen, aber geschehen ist geschehen. Aber ich werde nicht noch einmal so einen Fehler machen. Wir bleiben einige Tage hier, bringen euch drei auf ein ordentliches Level, klären die Sache mit Kaiser, und dann geht es weiter nach Herzhofen.“

Nur weg von hier, und weg von Thea. Max grummelte fröhlich. Ronya strich ihm durchs samtige Fell. Sie konnte es kaum erwarten, ihr richtiges Training zu beginnen.

Mit neuem Elan öffnete sie eine neue E-Mail, tippte Amys Adresse ein, und begann zu schreiben.

Ronya – Akt 3, Szene 3

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Ronya massierte ihren Nacken und klickte auf Enter. Sie hatte Amy nur ein paar Zeilen schreiben wollen, aber dann war aus ihrer E-Mail eine dreiseitige Affäre geworden. Nachdem sie auch ihren Eltern eine lange Nachricht geschrieben hatte, loggte sie sich aus und kehrte in den Aufenthaltsraum zurück, wo der Joy sie freundlich zu einem der Tische nickte, auf dem bereits eine leicht abgekühlte Schale ihres Essens stand. Sogar für Max war eine Schale mit Futter und Wasser bereitgestellt worden.

Einige Minuten mampften sie vor sich hin, bis Ronya ihre Schüssel auskratzte, um auch noch das letzte bisschen Reis zu erwischen. Ihr Hunger endlich gestillt, ging Ronya zur Theke, um zu bezahlen.

„Sag mal“, sagte sie, „wo ist denn Veit? Macht er Urlaub?“

„Urlaub“, schnaubte der Joy und lehnte sich keck vor, Kinn in die Hand gestützt. „Das Wort kennt unser Veit gar nicht. Nein, er ist in den Minen und kümmert sich dort um die Exkavation einer weiteren Ebene. Er ist Arenaleiter, aber zuallererst ist er Bergarbeiter. Ich vermute, dass er erst in ein paar Wochen in die Arena zurückkehrt, aber zumindest kommt er alle paar Tage raus, um Zeit mit seiner Familie zu verbringen.“

Ronya nickte nachdenklich. Sie hatte nicht vor, mehrere Wochen in Erzelingen zu vergeuden, wo Thea ihr vielleicht in diesem Moment schon wieder auf den Fersen war, dann wiederum würde ihre Schwester kaum an Meghan und Konsorten vorbeikommen. Sie konnte also mit dem Training ihrer Pokémon in den Minen beginnen und wenn sie Glück hatte, würde sie Veit über den Weg laufen und ihn vor Kaiser warnen.

„Sind eigentlich weniger Trainer in der Stadt als früher?“, fragte sie.

Der Joy runzelte die Stirn. „Jetzt, wo du es sagst … wir hatten mal mehr Neulinge.“

Ronya lehnte sich vor und senkte ihre Stimme. „Das ist kein Zufall. Es gibt hier eine Gruppe Trainer, eine Art Gang, die—“

Weiter kam sie nicht. Jemand rempelte sie von hinten an, sodass sie fast kopfüber gegen den Joy knallte. „Oh, Entschuldigung!“, rief die Person hinter ihr. „Ich bin noch etwas schwindelig vom Schlafen.“ Ronya sah sich entrüstet um. Der Junge von eben, der die ganze Zeit auf der Bank geschlafen hatte, stand mit gelangweiltem Lächeln direkt hinter ihr und quetschte sie förmlich gegen die Theke.

„Abstand halten!“, fauchte sie ihn an.

Er besah sie schelmisch. „Sicher“, sagte er und trat einen Schritt zurück. Ronya stellten sich die Armhaare auf. Er trug eine stahlgraue Uniform, und ein schwarzes Band um seinen Oberarm. Um seine Hüfte war ein Pokéballgürtel geschnallt, an dem die ersten beiden Positionen leer waren. „Joy, was machen meine Pokémon?“

„Die sind fertig, einen Moment“, sagte dieser und verschwand durch eine Tür nach hinten.

„Du solltest vorsichtig sein, über welche Themen du sprichst“, sagte der schlaksige Junge und sah dabei auf Ronya herab. Er war einen guten Kopf größer, und ähnelte Jacob, den sie in der Höhle getroffen hatte, sehr stark. Vielleicht Brüder?

„Ich wüsste nicht, was es dich angeht, über welche Themen ich spreche“, sagte Ronya, spürte aber, wie ihr Herz instinktiv schneller zu schlagen begann. Die häkelnde Dame war nicht mehr da; sie und das Kaiser-Mitglied waren ganz alleine, und sie musste die Übelkeit hinunterschlucken, als ihre Gedanken zu Tommy abdrifteten, der sie von hinten packte und festhielt.

„War nur ein wohl gemeinter Ratschlag, Rebellin.“ Er kniff die Augen zusammen. „Was ist mit deiner Frisur? Bist du ein Mönch oder so?“

„Sei nicht albern“, sagte Ronya und fuhr sich über das stoppelige Haar. Sie mochte nicht, wie der Junge sie musterte. Plötzlich wurde ihr Pokéball heiß. Sie griff automatisch danach und betätigte dabei versehentlich den Öffnungsmechanismus. Sybill kam herausgeschossen und baute sich mit gesträubtem Fell vor ihr auf. Der Trainer machte einen Schritt zurück, Überraschung und dann Belustigung in seinem Gesicht.

„Wie ich sehe, hast du eine hervorragende Beschützerin“, sagte er gedehnt. „Vielleicht solltest du ihrem Instinkt folgen und hier verschwinden, bevor der Joy zurückkommt.“

Ronya zitterte vor Entrüstung, spürte aber, wie Max an ihrem Finger nippte und sie mitzog, während Sybill sie mit ihrem Sternschweif Richtung Ausgang winkte.

„Bilde dir nichts darauf ein“, drohte sie ihm noch, bevor sie durch die elektronische Tür hinaustrat.

Von drinnen hörte sie nur noch ein Lachen.

 

 

„Was denkt er sich?!“ Ronya konnte vor Wut kaum an sich halten. Sie trat kleine Steinchen gegen die Wand der Mine, in der sie sich verschanzt hatte. Gemeinsam mit ihrem Team stand sie ganz nah am Eingang und versuchte, sich auf das Training zu konzentrieren, aber es fiel ihr unglaublich schwer. Die Begegnung mit dem Kaisermitglied hatte sie sehr mitgenommen. Warum dachte eigentlich jeder, dass man sich mit ihr anlegen konnte, ohne dass sie sich wehren würde? „Damit ist es jetzt vorbei“, sagte sie zu Sybill, die neben ihr saß und gelangweilt eine Pfote leckte. „Danke, dass du mich aus der Situation entfernt hast, aber das nächste Mal werde ich mich nicht so überrumpeln lassen.“ Sybill nahm diese Ansprache mit einem Gähnen hin.

Ronya seufzte. Sie würde Kaiser nichts entgegensetzen können, wenn sie ihr Training nicht endlich ernst nahm. Sie wandte sich wieder dem Kampfgeschehen zu. Abbott übte gerade seine Konfusion an Scharen von Zubat, gegen die er glücklicherweise einen Typvorteil hatte, während Max verzweifelt versuchte, sie mit seinem Tackle zu treffen. Einige Kleinstein lugten hinter Felsen hervor, schienen aber nicht kampfesfreudig zu sein und ließen sie daher in Ruhe.

Es waren bereits einige Stunden vergangen, seit sie in die Minen gegangen war. Einige der Minenarbeiter hatten sie auf die Gefahren in den tieferen Ebenen hingewiesen und ihr sogar einen Helm angeboten, sie aber sonst problemlos durchgelassen. Ronya war nicht die einzige Trainerin. Sie war einigen Kaisermitgliedern begegnet, die sich lachend in die Tiefen der Mine vorgewagt hatten. Hier am Eingang war sie alleine, und das war ihr gerade recht.

Ronya hatte schnell begriffen, dass Theorie und Praxis zwei völlig verschiedene Dinge waren. Sie wusste, welche Typvorteile es gab, welche Attacken ihre Pokémon lernten, aber ein Kampf gegen echte Gegner, in der echten Welt, war eine ganz andere Sache.

Max stolperte über loses Geröll, wenn er einen Tackle auf dem falschen Untergrund startete. Abbott ließ sich von dem Flattern der vielen Zubats aus dem Konzept bringen und seine Konfusion verteilte sich im ganzen Raum, statt gezielt einen Gegner zu treffen. Sybill kämpfte gut, vertraute aber lieber auf ihren eigenen Instinkt und horchte daher nur auf jeden zweiten Befehl. Das Zusammenspiel aus all diesen Faktoren bereitete Ronya Kopfschmerzen.

Aber es machte Spaß. Sie fühlte sich herausgefordert, wie schon lange nicht mehr. Hier konnte sie endlich all ihr erworbenes Wissen anwenden und ausprobieren, das ihr in der schlimmsten Zeit ihres Lebens Kraft gegeben hatte.

„Spring zur Seite Max!“, rief sie Evoli zu, das sich kraftvoll vor dem Luftangriff des Zubats rettete. „Jetzt Konfusion!“

Abbott hob die kleinen Hände und kaum sichtbare, psychische Wellen, trafen auf das herabsausenden Zubat, welches kreischend zu Boden ging. Ronya besaß keinen Pokédex, aber sie konnte anhand der Kraft der Attacken ihrer Pokémon erkennen, dass ihr Training bereits Früchte trug.

Sie lächelte grimmig und tauschte einen Blick mit Sybill, die das Geschehen befürwortend begutachtete. Bald würde sie nicht mehr wehrlos sein.

Ronya – Akt 3, Szene 4

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Es war ihr dritter Tag in Erzelingen, als Ronya Veit zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Der junge Arenaleiter unterschied sich von den zwei anderen Bergarbeitern, die mit ihm die Treppen hinaufkamen, nur durch seinen Helm, der rot statt gelb war. Sein Gesicht und seine graue Uniform waren dreckig, aber seine Augen blitzten hinter der Brille und er wirkte aufgeregt.

Ronya hatte gerade eine Pause vom Training eingelegt und saß etwas abseits auf einem Stein, wo sie hungrig ihr Sandwich verschlang. Max döste einige Meter entfernt. Bei Veits Anblick rutschte ihr sofort das Herz in die Hose; ausgerechnet heute war sie nicht alleine. Nur wenige Minuten zuvor waren Jacob und der Trainer aus dem Pokécenter die Treppen hochgekommen und hatten sich unauffällig in ihrer Nähe niedergelassen.

Die beiden beachteten sie nicht weiter, aber Ronya konnte sich denken, was hier vor sich ging. Sie wurde überwacht. Trotzdem: Hier war endlich ihre Chance, Veit von Kaiser zu berichten, und sie würde sich nicht einschüchtern lassen, nicht schon wieder.

Bevor sie es sich anders überlegen konnte, sprang sie auf und lief auf die drei Männer zu. „Veit! Warte, Veit!“

Der Arenaleiter drehte sich beim Klang seines Namens überrascht um. Ronya spürte die bohrenden Blicke der beiden Kaiser-Jungs in ihrem Rücken, aber sie ignorierte das ungute Gefühl in ihrem Bauch geflissentlich. „Was gibt es?“, fragte Veit sie freundlich.

„Ich muss mit dir über etwas wichtiges reden“, erklärte Ronya, hielt jedoch inne, als Veit nervös auf seine Uhr guckte.

„Es tut mir leid, aber ich bin etwas in Eile“, sagte er und lächelte sie entschuldigend an. „Warum kommst du nicht heute Abend bei meinem Haus vorbei und wir sprechen in Ruhe.“

Ronya zögerte, aber letztlich hatte sie keine Wahl. „In Ordnung“, gab sie sich geschlagen. „Dann bis heute Abend.“

Veit nickte ihr dankbar zu und begann sofort, sich eingehend mit seinen Kollegen zu unterhalten. Ronya blieb stehen, wo sie war. Sie traute sich noch nicht, Kaiser entgegenzutreten, die natürlich wissen mussten, um was es bei ihrem Gespräch gehen würde.

Plötzlich hörte sie hinter sich das Scharren von Schuhen auf Stein und drehte sich um. Jacob sah sie traurig an, sein Bruder mit etwas anderem Gesichtsausdruck. Zufriedenheit? Vorfreude?

Ronya macht instinktiv einen Schritt zurück und pfiff, um Max zu sich zu rufen. Ihr Evoli öffnete schläfrig ein Auge, rappelte sich aber sofort auf und trottete auf sie zu.

„Sie hat es noch nicht verstanden, oder Marcus?“, fragte da plötzlich Jacob. Sein Bruder, Marcus, nickte.

„Scheinbar nicht.“ Und mit diesen Worten stellte er sich Max in den Weg und zückte seinen Pokéball.

Im Nachhinein war Ronya klar, wie sie in diesem Moment hätte reagieren sollen. Max war ihr Pokémon. Sie hätte ihn in seinen Pokéball zurückrufen und anschließend die Beine in die Hand nehmen und aus der Höhle fliehen sollen, um Schutz bei Veit zu suchen.

Was sie aber stattdessen tat, war in Schockstarre zu verfallen und dabei zuzugucken, wie Marcus‘ sein Pokémon rief, das in einem gleißenden roten Lichtstrahl in der Höhle erschien. Das Stahlos, welches vor einigen Tagen den Zugang zu Erzelingen blockiert hatte, lag eingerollt auf dem steinigen Untergrund und schwang bedrohlich den Kopf umher, bis es Max entdeckte und sich zu ihm hinunter beugte.

„MAX!“, schrie Ronya. Der Ernst der Lage war ihr mit einem Schlag klar. Kaiser wollte sie nicht warnen. Kaiser würde ein Exempel an ihr statuieren. Sie griff nach ihrem Pokéball, aber da stand schon Jacob neben ihr und packte ihre Hände, die er ihr grob auf den Rücken drehte. Ronya spürte einen Moment der eisigen Panik, die sich in ihre Magengrube legte, dann schrie sie, schrie und trat und ruckte gegen Jacob, aber er war größer als Tommy, stärker, und schien mehr Erfahrung darin zu haben, jemanden festzuhalten. Seine Hände waren wie Eisen um ihre Gelenke und pressten in ihr Fleisch, bis ihre Knochen knirschten.

Marcus drehte sich zu ihr um, ein grimmiges Lächeln im Gesicht. „Ich habe dich gewarnt“, sagte er. Dann, „Stahlos, Klammergriff.“

„Ich gebe auf!“, schrie Ronya. Tränen schossen ihr in die Augen, als Stahlos sich leicht aufbäumte und fast liebevoll um Max schlang, der vor Angst völlig gelähmt war. Er sprang noch gerade rechtzeitig zur Seite, landete aber auf einer der stählernen Windungen seines Gegners und fand sich plötzlich von allen Seiten umringt.

„Zu spät“, sagte Marcus und drehte sich mit verschränkten Armen zu ihr um, während Ronya schluchzend gegen Jacobs Griff ankämpfte.

„Bitte!“, flehte sie, aber er schüttelte nur traurig den Kopf.

„Lass dir das eine Lehre sein“, sagte er, während Stahlos sich aufbäumte, Max schonungslos in seinem eisernen Griff. Max quietschte und schrie, aber nur sein Kopf und eine Vorderpfote schauten aus den Schlingen der Stahlschlange hervor. „Leg dich nicht mit uns an.“

Sybills Pokéball wurde heiß. Ronya kniff die Augen zusammen. Sie musste den Mechanismus erreichen, egal wie, aber sie kam nicht gegen Jacobs Griff an.

„Wartet!“

Ronya riss den Kopf herum, genau wie Jacob. Meghan kam die Treppen hochgerannt, nackte Panik in ihrem Blick. „Marcus, das ist doch nicht nötig! Lass sie gehen, sie hat ihre Lektion gelernt.“ Sie blieb nur wenige Meter von ihnen stehen.

„Meghan, hilf Max!“, schrie Ronya und verdoppelte ihre Anstrengungen.

„Tu es nicht“, fauchte Jacob. „Du weißt, wer hier der stärkere ist.“

Meghan presste die Lippen zusammen, aber sie griff nach ihrem Pokéball. „Beweis es.“

Ein Impoleon schoss aus dem Ball und baute sich bedrohlich vor ihnen auf. „Tsk“, machte Jacob hinter ihr. Er konnte sein Pokémon nicht rufen, aber er dachte darüber nach, und das nutzte Ronya. Sie konnte den Ball an ihrer Hüfte nicht erreichen, aber sie konnte sich schwungvoll gegen Jacob pressen. Beim zweiten Versuch gelang es ihr, Sybills Ball gegen seinen eigenen Gürtel zu drücken. Der Mechanismus betätigte sich, Sybill schoss aus dem Ball heraus, und rannte blitzschnell aus der Höhle.

„Verdammt!”, fluchte Jacob und zerrte ihren Arm empor. Ein stechender Schmerz schoss durch Ronyas Schulter und sie schrie auf. Ungerührt packte Jacob ihren Gürtel, riss ihn ihr von der Hüfte und schleuderte ihn davon. Dann schlug er etwas gegen ihren Kopf. Ronyas Beine wurden weich wie Pudding und Jacob ließ sie zu Boden fallen, wo sie in einer Staubwolke landete und wimmernd ihren gebrochenen Arm hielt.

„Impoleon, Lake!“, befahl Meghan. Ihr Pokémon holte tief Luft und spie einen gewaltigen Schwall Wasser auf Stahlos, doch plötzlich materialisierte sich vor diesem ein Chelterrar, welches sich aufbäumte und das Wasser mit seinem Körper abfing.

Jabocs Magmar materialisierte sich nur wenige Sekunden später vor ihnen und rannte mit flammenden Fäusten auf Impoleon zu. Chelterrar rappelte sich nach der Wasserattacke auf und ließ Ranken aus dem Baum auf seinem Rücken schießen, die Impoleon packten und ihm seine Energie mit Megasauger entzogen.

Ronya versuchte, sich aufzurappeln, aber ihr Kopf dröhnte und sie konnte nicht klarsehen. Durch ihren Schleier aus Tränen sah sie Meghan, die sich nun höchstpersönlich auf Jacob stürzte, und Marcus, der das Kampfgeschehen mit Washakwilaugen begutachtete. Sein Blick fand ihren. Für einige Sekunden starrten sie einander an.

„Schau genau hin“, sagte er. „Stahlos, drück zu.“

Meghan, die Jacob im Schwitzkasten hielt, riss den Kopf herum. „Lass den Scheiß!“, rief sie. „Ihr Evoli ist maximal Level 10!“

Selbst Stahlos, das Max noch umklammerte, legte verunsichert den Kopf schief. Ronya hatte nur noch Augen für Max. Sie sah, wie er zitterte, wie schwer sein Atem ging, wie er hilflos zu ihr blickte. Sie versuchte, seinen Pokéball zu erreichen, aber ihr Gürtel lag außer Reichweite, irgendwo hinter ihr. Sie hörte alles um sie herum nur noch gedämpft. Ihr Arm pochte, aber sie ignorierte den Schmerz. Sie fing Max‘ Blick auf. „Es wird alles gut werden“, sagte sie, im selben Moment, da Marcus sagte, „Jetzt“.

Die Zeit stand still. Meghan und Jacob kämpften nicht mehr, sie sahen nur mit Grauen zu, wie Stahlos sich leicht schüttelte und dann seine Schlinge enger zog. Es knirschte.

Knackte.

Max gab ein atemloses Quietschen von sich und sackte in sich zusammen.

Ronya bäumte sich auf. Ihr Körper gehorchte ihr nicht, sie konnte nur durch den Staub krabbeln, mit pochendem Schädel, brennendem Arm und verschmierter Sicht. Ihre Hände waren von dem Stein aufgerissen, sie sah alles doppelt, aber das war nicht wichtig.

Max. Sie musste zu Max.

Marcus‘ Blick entgleiste plötzlich, er rief Stahlos und Chelterrar zurück und hob unschuldig die Hände. Ronya konnte durch das Dröhnen und Piepsen in ihren Ohren Stimmen hören, aber sie achtete nicht auf den Wortlaut.

Max. Er lag dort im Dreck, seine Vorderpfoten zuckten, seine Augen waren schmerzvoll zusammengekniffen. Seine Beine lagen schlaff da. Ein wenig Blut mixte sich mit der Erde.

Ronya krabbelte weiter vor, bis sie an seiner Seite im Staub lag und ihn vorsichtig berührte. Max öffnete ein Auge. Er lebte, das war das wichtigste. Ronya zwang sich, an nichts anderes zu denken.

Er lebt. Er lebt.

Sie wollte ihn hochheben, von hier wegbringen, aber sie traute sich nicht, ihn zu bewegen. Stattdessen legte sie behutsam eine Hand auf seinen Kopf.

Plötzlich tauchte Sybill in ihrem Sichtfeld auf. Ihr kleines Sheinux lief auf sie zu legte sich direkt neben Max, um ihn von hinten zu stützen. Sie leckte seinen Kopf. Max schloss die Augen und atmete etwas ruhiger.

Um sie herum wurden die Stimmen lauter. Veit war zurück, umringt von seinem Kernteam, bestehend aus Rameidon, Voluminas und Geowaz. Er blickte fassungslos Marcus und Jacob an, welche von mehreren Männern festgehalten wurden. Meghan diskutierte bereits mit einem der Bergarbeiter und gestikulierte in ihre Richtung. Ronya konnte nicht alles verstehen, aber sie hörte, als das Wort Joy fiel. Der Arbeiter rannte sofort davon.

„Hilfe ist unterwegs“, flüsterte Ronya und strich Max durch den staubigen Pelz. Er erwiderte kraftlos ihren Blick. „Hab keine Angst. Es wird alles gut.“

Ronya – Akt 3, Szene 5

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

25 Level.

Das war die Differenz zwischen Pokémon, ab der Attacken bleibenden Schaden anrichten konnten. Normalerweise wurden Pokémonkämpfe unterhalb dieser Differenz ausgetragen, um Unfälle zu vermeiden. Aber was in der Mine geschehen war, hatte nichts mit einem Pokémonkampf zu tun.

Es war ein Angriff gewesen. Ein Hinterhalt.

Ronya rieb sich durchs Gesicht und starrte an die Decke des Behandlungszimmers, das Joy ihr für die nächste Zeit zur Verfügung gestellt hatte. Sie schlief auf der Notfallliege, wenn sie es mal schaffte, ein Auge zuzumachen. Die meiste Zeit sah sie jedoch ins Leere oder lauschte auf Geräusche von nebenan, wo Max untergebracht war.

Querschnittslähmung, Verlust der Kontrolle über Unterkörper und Hinterbeine. Das war Joys Verdikt. Er hatte die Diagnose ruhig gestellt, genauso wie Ronya sie ganz ruhig angenommen hatte, aber sie hatte ein Gespräch zwischen ihm und Veit belauscht, in dem die beiden völlig außer sich gewesen waren.

Ronya lag da und bewegte ihre Beine nicht. Versuchte sich vorzustellen, wie es für Max jetzt sein musste, ihren Wirbelwind, der immer auf Bäume kletterte und durch die Wiesen sprang.

25 Level. Ihre Gedanken blieben immer wieder an diesem Detail hängen. Das Wachstum eines Pokémons verlief in einer abflachenden Kurve. Die ersten Level und Meilensteine in der Stärke waren schnell erreicht, aber je höher der Level eines Pokémons war, umso länger dauerte es, diesen zu erhöhen.

Marcus‘ Stahlos, das ihm bis auf weiteres wegen Unzurechnungsfähigkeit und schwerer Körperverletzung eines anderen Pokémon abgenommen worden war, befand sich auf Level 42.

Max war Level 12.

Wenn sie früher mit dem Training begonnen, oder zumindest mit der Konfrontation noch einige Tage gewartet hätte, dann wäre Max nicht so hilflos gewesen.

Wenn sie sofort weggerannt wäre, hätte sie Max in Sicherheit bringen können.

Wenn sie auf Meghan gehört hätte, wäre sie nie auf Kaisers Abschussliste gelandet.

Wenn, wenn, wenn.

Die Kreise in ihren Gedanken raubten ihr den Schlaf. Abbott und Sybill litten genauso unter der Situation. Abbott verbrachte jede Minute mit ihr, um sie abzulenken und zu beruhigen, während Sybill Max nicht von der Seite wich. Es würde noch einige Wochen, vielleicht sogar Monate dauern, bis er entlassen werden konnte.

Auch wenn Kaiser nun offiziell aufgelöst und aus Erzelingen verbannt war, wäre Ronya am liebsten sofort aus der Stadt geflohen. Sie wollte Joy nicht sehen, der sein Mitleid hinter einer kühlen Fassade versteckte, wollte nicht von Veit um Entschuldigung gebeten werden oder sich Meghans Versicherung anhören, dass sie nie geahnt hatte, zu was Marcus und Jacob fähig waren.

Ronya verließ das Pokécenter nicht. Sie verbrachte ihre Zeit bei Max, wenn er wach war, oder alleine in ihrem Zimmer. Zwei Tage vergingen, dann drei. Dann eine Woche.

Dann zwei.

Es war morgens. Sie war gerade dabei, zu Max zu gehen, als sich die Tür öffnete und Meghan vor ihr stand. Ihre Augen weiteten sich, als sie Ronya genauer in Augenschein nahm.

„Wie siehst du denn aus?“, fragte sie fassungslos.

Ronya starrte sie nur an. Wie sollte sie schon aussehen? Was für eine dumme Frage. Als ob sie nichts Besseres zu tun hatte, als sich im Spiegel zu begutachten. Meghan schien ihren Blick bemerkt zu haben, denn sie stemmte die Hände in die Hüften und seufzte. Dann stiegen ihr die Tränen in die Augen.

Ronya sah verwirrt dabei zu, wie Meghan sie hastig wegwischte.

„Komm“, sagte sie. „Wir gehen jetzt in dein Zimmer.“

„Ich muss zu Max“, widersprach Ronya, aber Meghan blieb hart.

„Max geht es gut, ich war gerade mit Joy bei ihm. Er schläft noch. Jetzt zier dich nicht so und komm mit.“

Ronya wollte weiter protestieren, aber plötzlich stand Abbott direkt neben ihr und nickte ihr aufmunternd zu. Und so ließ sie sich mehr oder minder gegen ihren Willen von Meghan zu den Gästezimmern im oberen Stockwerk führen. Ihr Zimmer war noch so, wie sie es vor zwei Wochen verlassen hatte. Einige Klamotten lagen verstreut auf dem Boden, ihre Zahnbürste lag auf dem Waschbeckenrand.

Sie erinnerte sich daran, dass sie sich seit zwei Wochen nicht die Zähne geputzt hatte. Sie schnüffelte an ihrer Achsel und verzog sofort die Nase. Der Schweiß von so vielen durchwachten Nächten bedeckte sie. Kein Wunder, dass Meghan sie so schockiert angeguckt hatte. Sie musste stinken.

Sie verspürte einen Moment der Scham, sich nicht besser präsentiert zu haben, aber dann schämte sie sich dafür, dass ihr das überhaupt etwas ausmachte, neben der eigentlichen Scham, die sie wegen Max‘ Zustand verspürte.

Am liebsten hätte sie Meghan aus ihrem Zimmer gebeten, aber das Mädchen kam ihr zuvor und umarmte sie fest von hinten. Ihr breites Kinn lag auf Ronyas rasiertem Kopf auf. „Ich weiß nicht genau, was du gerade durchmachst, aber lass mich dir helfen. Max hat in deinem Herzen gerade Priorität, das verstehe ich, aber du kannst ihm nicht helfen, wenn du dich völlig vernachlässigt. Nimmst du meine Hilfe an?“

Ronya ließ Meghans Wärme in ihre Haut sinken. Es war lange her, seit sie das letzte Mal eine Umarmung gespürt hatte. Ihre sorglosen Tage mit Amy in Jubelstadt kamen ihr so unendlich weit weg vor. Max war damals noch durchs Gras getollt und auf die Bäume geklettert.

Ihre Kehle schnürte sich zu. „Er wird nie wieder in meine Arme springen“, zwang sie hervor.

Meghan drückte sie ein bisschen fester. „Nein, das wird er nicht. Aber du kannst ihn hochheben. Ihr seid immer noch ein Team, und auch wenn er jetzt einige Dinge nicht mehr tun kann und Hilfe braucht, ist das noch nicht das Ende der Welt. Zusammen werdet ihr das schaffen, ganz bestimmt. Und jetzt mache ich dir eine schöne, heiße Dusche an und du wäschst dich, okay? Ich gehe in der Zwischenzeit deine Wäsche waschen und dir etwas zu Essen besorgen. Du hast ziemlich abgenommen.“

Essen. Eine weitere Sache, die Ronya in den letzten zwei Wochen stark vernachlässigt hatte. Aber sie hatte einfach keinen Appetit gehabt.

„Okay“, sagte sie. Ronya war nicht sicher, ob sie laut genug gesprochen hatte, aber Meghan löste sich vorsichtig von ihr und verschwand im Badezimmer, wo sie ihr Shampoo, Duschgel und Seife in die Dusche stellte und diese anschaltete. Ein frisches Handtuch zauberte sie auch von irgendwo hervor.

Ronya nickte ihr zu und ging ins Bad. Während Meghan wegsah, zog sie sich aus, dann fiel ihr Blick auf ihren eingegipsten Arm.

„Ehm“, sagte sie. Meghan schien sofort zu wissen, was los war.

„Warte kurz“, sagte sie und verschwand aus dem Zimmer. Nur wenige Minuten später kehrte sie mit Plastiktüten, Tesafilm und Gummibändchen zurück. Ronya hatte sich in ein Handtusch gewickelt und sah belustigt dabei zu, wie Meghan ihren Gipsarm wasserdicht verpackte.

„Fertig“, sagte diese stolz und grinste Ronya an, die leicht zurücklächelte. Dann ging sie hinaus und schloss die Tür hinter sich. Während Ronya in die Dusche stieg, hörte sie, wie Meghan leise mit Abbott sprach.

„Sie wird schon wieder, Kleiner, mach dir keine Sorgen. Du hast ihr fantastisch geholfen.“

Ronya schloss die Augen.

Als Meghan eine halbe Stunde später mit einem Rasierapparat, einer Schüssel dampfender Suppe und frischer Wäsche zurückkehrte, saß Ronya bereits geduscht und mit geputzten Zähnen in ein Handtuch gewickelt auf dem Sofa. Sie stand neben sich. Es fühlte sich an, als würde all dies jemand anderem passieren. Aber dann stand Meghan hinter ihr, fuhr ihr über den Kopf und begann, ihre Haare nachzuschneiden, und sie fand zu sich selbst zurück. Sie erinnerte sich an ihre Mutter.

Ronya brach in haltloses Schluchzen aus.

 

 

„Ich biege das wieder gerade“, sagte Ronya zu Max, den Joy vorsichtig mit einem Kissen gestützt in ihre Arme gelegt hatte. „Vertrau mir einfach, okay?“ Sie seufzte. „Das sagt sich so leicht, nachdem ich dich nicht vor Stahlos schützen konnte“ —bei dem Namen des Pokémon zuckte Max zusammen und winselte— „aber ich habe einen Plan.“

Max grummelte und schmiegte sich so gut er konnte an sie. Ronyas Finger fuhren durch das weiche, braune Fell. Sie erinnerte sich an ihr erstes Treffen mit Max, wie er in ihrem Rucksack geklettert und fast nicht mehr herausgekommen war.

Sie würde das hinkriegen. Es würde lange dauern, alle Schritte ihres Plans umzusetzen, vielleicht sogar Jahre, aber diese Zeit war es ihr wert. Max war es ihr wert.

Jeden Schmerz und jede Anstrengung. Sie würde ihren Partner nie wieder so im Stich lassen.

 

 

Zwei Tage später stand Ronya vor der Erzelingenmine. Ihr Herz raste. Sybill, die an ihrer Seite lief, fauchte den Eingang an.

Kaiser war fort, das wusste sie. Trotzdem erforderte es jedes bisschen Mut, das sie besaß, um weiterzugehen.

Kaum dass sie in der dunklen Mine war und der Geruch der kühlen Erde in ihre Nase stieg, kamen die Erinnerungen hoch.

Hier war sie von Jacob niedergeschlagen worden.

Dort war Meghans Impoleon angegriffen worden.

Hier hatte Stahlos Max zerquetscht.

Sie kniff die Augen zusammen und atmete tief durch. Sie hatte eine Mission. Sybill presste ihre Flanke eng an ihre Wade.

„Komm“, sagte Ronya und riss die Augen auf. Dann zückte sie einen leeren Pokéball und stieg in die Minen hinab.

Amy – Akt 1, Szene 1

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Amy hatte früh gelernt, dass es Konsequenzen hatte, ihrer Mutter nicht zu gehorchen. Catherine Heartoline erhob selten die Stimme, und ihr rutschte niemals die Hand aus. Aber es bestand nie Zweifel, ob sie gerade zufrieden mit einer gebrachten Leistung war, oder nicht. Ihre stumme Enttäuschung und die herabwürdigen Kommentare begleiteten Amy, seit sie alt genug war, einen eigenen Kopf zu haben.

Deshalb wusste Amy, ohne ein direktes Zeichen ihrer Mutter, dass diese stinksauer auf sie war.

Die Reise zurück nach Septerna City war ereignislos verlaufen. Catherine hatte Tim über das von den Tutoren der Pokémonschule Gelernte gequizzt und seine Kleiderwahl gelobt. Sie ließ sich von ihm über seine Trainingspläne für Lin-Fu berichten und gab ihm Verbesserungsvorschläge.

Amy bedachte sie mit keinem Wort und keinem Blick.

Ihr Haus in Septerna City stand etwas abseits vom Rest der Stadt, so als könnte ihre Mutter es nicht ertragen, zu nah zu normalen Familien zu leben. Der Tannenwald grenzte direkt an ihr Grundstück an, mit einem Garten, der einmal um das Herrenhaus herumging. Catherine hatte das Gebäude von ihren Eltern geerbt und war selbst hier aufgewachsen. Die Flügel der Eingangstür erhoben sich bedrohlich über Amys Kopf. Ihre Mutter und Tim gingen ohne Zögern hinein, aber sie selbst konnte das Gefühl nicht abschütteln, aus der Freiheit zurück in eine Gefängniszelle zu treten.

Es war Tag drei, seit Catherine sie das letzte Mal angesprochen hatte.

„Tim, wasch dir das Gesicht, bevor du deinen Koffer auspackst!“, schalt Catherine ihren kleinen Bruder, als der die Treppen hochging. Amy unterdrückte ein Ächzen, als sie ihr Gepäck im Flur abstellte und den Blick über das unberührte Mobiliar schweifen ließ. Die dekorativen Kissen waren frisch aufgeschüttelt und so auf dem Sofa drapiert, dass man sich nicht traute, sich hinzusetzen. Die Bilderrahmen waren poliert, der Teppich gesaugt und die Gardinen waren frisch gewaschen. Alles sah aus, wie immer. Fehlten nur noch die Preisschilder.

Morbitesse stand an der Treppe, den Staubwedel noch in den Händen, und verneigte sich tief vor seiner Trainerin. Catherine gab ihm einen gutheißenden Blick.

„Ausgezeichnete Arbeit, meine Liebe.“

Morbitesse verneigte sich erneut und glitt ohne einen Laut in das Wohnzimmer, wahrscheinlich, um dort weiter zu putzen. Amy atmete tief durch. Ihre Mutter drehte sich zu ihr um.

„Ich hatte mehr von dir erwartet, Amy“, sagte sie. „Du bist die ältere. Tim sollte sich ein Beispiel an dir nehmen, nicht von deinem Verhalten abgeschreckt werden. So habe ich dich nicht erzogen. Was ist aus meinem guten, gehorsamen Mädchen geworden?“

Amys Bauch spannte sich an. „Aber Mama, ich war doch immer bei den Lektionen da! Und ich habe ständig trainiert, auch wenn ich unterwegs war.“

„Du hast am See rumgeturnt und deine Pokémon gänzlich vernachlässigt. Und was deine Leistung vor den Tutoren angeht … ich musste stark an mich halten, um vor Scham nicht im Boden zu versinken. Mit vierzehn Jahren war ich bereits mit sechs Orden in der Tasche unterwegs.“

„Aber ich—“

„Es reicht mir jetzt mit deinen Ausreden!“ Die Stimmer ihrer Mutter wurde lauter, aber sie fasste sich sofort wieder und rieb sich die Schläfen. „Wegen dir bekomme ich noch eine Migräne. Los, geh nach oben und pack deine Sachen aus. Morbitesse wird gleich die dreckige Wäsche einsammeln, sortiere sie also bitte. Morgen früh um fünf erwarte ich dich im Garten. Vielleicht erinnert dich eine zusätzliche Trainingseinheit daran, wer du bist und was dein Ziel ist.“

Sie verschwand in der rechts abgehenden Küche, wahrscheinlich, um sich eine Tablette gegen ihre Kopfschmerzen zu holen. Amy ging wortlos die Treppen hinauf, den schweren Koffer hinter sich herschleppend.

Wer bin ich denn, dachte sie zornig, und was soll bitte mein Ziel sein?

 

 

Amys Leben spielte sich in Blöcken ab. Am Anfang jedes Monats teilte Amys Mutter ihr und Tim den Stundenplan mit, der ihren Tagesablauf bestimmte. Normalerweise begann ihr Tag mit Fitness und Pokémontraining um sechs Uhr vor dem Frühstück, woraufhin diverse andere Blöcke wie Schulunterricht, Kampfstrategie und Trainingsmethoden folgten, bis Tim und sie abends um acht Uhr in den Feierabend entlassen wurden.

Nach Reisen durften sie normaler Weise ausschlafen und direkt zum Frühstück gehen, aber am nächsten Morgen war Amy wie befohlen pünktlich im Garten. Es war noch stockdunkel, und eine schwarze, ominöse Mauer aus Tannenbäumen ragte vor ihr auf. Der schmale Mond reflektierte auf den Baumwipfeln und brachte das taunasse Gras zum Glitzern. Der Sommer war vorbei, und auch wenn es tagsüber noch warm war, kühlte es nachts stark ab. Amy trug dicke Socken und eine Fleecejacke über ihrem Jogginganzug, aber sie schlotterte trotzdem vor Kälte. Ihre Mutter war nicht da, stattdessen wartete Morbitesse auf sie.

Lady Morb war Augen und Ohren ihrer Mutter, und in den letzten Jahren zu Amys persönlicher Gouvernante mutiert. Sie machte eine auffordernde Bewegung mit ihrem Kopf. Amy seufzte, machte ein paar kurze Dehnübungen, um sich nicht zu verletzen, und lief dann los. Ihr Grundstück war groß genug, dass sie bereits aus der Puste war, nachdem sie zweimal um das gesamte Haus gelaufen war, aber mit Lady Morb als Aufseherin wagte sie es nicht, ihr Tempo zu drosseln. Nach der ersten Stunde erlaubte Amy sich eine kurze Pause und trank eine ganze Flasche Wasser, aber danach ging es sofort weiter. Sie wollte gerade loslaufen, da hob Morbitesse eine Hand. Darin hielt sie Amys Pokégürtel.

Amy wurde es sofort flau im Magen, aber sie ging gehorsam zu ihr und nahm ihn entgegen.

Sie wusste nicht, ob es Ronya aufgefallen war, aber sie hatte ihre Pokémon während der gesamten zwei Wochen mit ihr kein einziges Mal gerufen. Natürlich hätte sie sich leicht erklären können. Sie wollte mal eine Pause von ihrem Training, und ihre Pokémon freuten sich auch darüber.

Aber das war nur die halbe Wahrheit.

Als sie den Mechanismus betätigte, materialisierte sich Mebrana, ihr Starterpokémon. Es sah sie aus großen, traurigen Augen an. Amy wandte den Blick ab, nahm es auf den Rücken und begann, zu laufen.

Mebranas zusätzliches Gewicht ließ Amy bald nach Luft schnappen. Sie wurde immer langsamer, bis sie nur noch einen langsamen Trott schaffte, aber aufzugeben war keine Option. Um kurz vor sieben entdeckte sie ihre Mutter, die in einem plüschigen Morgenmantel auf der Terrasse stand und ruhig eine Tasse Tee trank. Amy brach vor ihr im Gras zusammen. Mebrana streckte zärtlich seine kleine Hand nach ihr aus, um sich zu versichern, dass es ihr gut ging, aber Amy stieß sie weg und rollte sich hechelnd auf den Rücken.

„Stell dich nicht so an, Kind“, sagte ihre Mutter. „Komm, Tim wartet bereits im Lehrzimmer. Heute besprechen wir Typvorteile in verschiedenen Szenarien.“

Der Himmel erstrahlte in Indigo und Pink. Die Sonne ging auf.

Amy wünschte, sie würde wieder untergehen.

Amy – Akt 1, Szene 2

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Mondlicht strahle durch einen Spalt in den Vorhängen und malte einen weißen Streifen auf Amys nackte Füße, als sie auf Zehenspitzen über den dunkelgrünen Teppich des Obergeschosses schlich. Tims Zimmer war nur zwei Türen von ihrem entfernt, aber die Tür dazwischen führte in Catherines Schlafzimmer, deswegen war oberste Vorsicht geboten.

Amy wagte kaum zu atmen, während sie an der hohen Tür vorbeikam. Manchmal patrouillierte Lady Morb nachts die Gänge—es wäre nicht das erste Mal, dass das Geistpokémon plötzlich mit tadelndem Blick neben ihr auftauchte und sie zurück in ihr Zimmer eskortierte.

Aber heute Nacht hatte sie Glück. Morgen war Freitag, der letzte Tag der Woche, bevor ihr Vater aus seinem Atelier in der Innenstadt zurückkommen und das Wochenende mit seiner Familie verbringen würde. Amy zählte bereits die Stunden.

Sie klopfte zaghaft an Tims Tür und wartete geduldig, bis sie von innen das Schlurfen seiner Füße hörte. Das müde Gesicht ihres kleinen Bruders tauchte im Türspalt auf. Amy wedelte hektisch mit der Hand und schlüpfte an ihm vorbei.

Tims Zimmer war das Gegenteil von ihrem eigenen. Seine Kleidung für den nächsten Tag lag sauber gefaltet auf der Kommode und die Lehrbücher standen in Reih und Glied im Regal über seinem Schreibtisch. Amy wartete, bis die Tür hinter ihnen geschlossen war, bevor sie sich auf sein Bett warf. „Na, komm schon“, forderte sie ihn grinsend auf. „Mama kann uns nicht sehen.“

Tim zögerte nur kurz, dann warf er sich neben sie und kuschelte sich in ihre Arme. Amy vergaß manchmal, dass er mehrere Jahre jünger war. Obwohl er genauso hart getriezt wurde wie sie, steckte er das Trainings-Regime sehr viel besser weg. Oder er war besser darin, seine Gefühle zu verbergen. So oder so verhielt er sich zu erwachsen für sein Alter. Amy wünschte, sie könnten tagelang im Garten tollen und durch die Stadt stromern. Mit Gleichaltrigen spielen. Kinder sein.

Aber das war nicht ihr Leben.

„Wie geht es dir?“, fragte Tim sie leise.

„Hey, hey, ich bin die große Schwester, ich sollte mich nach dir erkundigen!“, protestierte Amy.

„Du zuerst.“

Verfluchter, störrischer Bruder … „Nicht so besonders gut“, gestand sie.

„Warum?“

„Wegen Mama. Und wegen Ronya.“ Sie runzelte die Stirn. „Weißt du noch, das Mädchen, mit dem ich mich in Jubelstadt angefreundet habe? Ein paar Tage nach unserer Abreise hat sie mir eine lange E-Mail geschrieben und danach … nichts mehr. Es sind inzwischen zwei Wochen vergangen und sie hat auf keine meiner Nachrichten geantwortet.“

„Vielleicht hat sie viel zu tun? Oder es ist gerade kein Computer in der Nähe“, schlug Tim vor.

„Ja, vielleicht …“ Oder vielleicht hat sie dich vergessen, so wie all die anderen Brieffreundschaften, die du über die Jahre angestoßen hat. Amy schüttelte den Gedanken sofort ab. Ronya hatte ihr mehrere Seiten an Text geschrieben. Sie schien sich genauso nach einer Freundin gesehnt zu haben wie Amy. Sicher würde sie nicht so schnell das Interesse verlieren.

Dann wiederum hatten sie nur zwei Wochen zusammen verbracht. Wie gut kannte Amy sie wirklich? Hatte sie nicht selbst alles Mögliche vor Ronya geheim gehalten, weil sie ihrer eigenen Situation entkommen wollte?

„Und du, Bruderherz? Wir hatten lange keine Zeit mehr zum Reden. Was gibt es neues?“

Timmys aufgeregter Bericht über seinen Fortschritt mit Lin-Fu brach Amy das Herz. Und machte sie wütend. Und sie schämte sich dafür, wütend zu sein. Sie sollte froh sein, dass zumindest einer von ihnen nicht das Gefühl hatte, von all den Erwartungen ihrer Mutter erdrückt zu werden. „Du wirst es noch weit bringen“, flüsterte sie und drückte ihn fest an sich. Tim grummelte, ließ ihre Umarmung aber über sich ergehen.

„Du auch“, sagte er gegen ihre Schulter. „Wir werden beiden Anwärter für die Pokémon Championship, und dann werden wir gewinnen und die Top Vier herausfordern. Dann können wir uns mit dem Titel abwechseln.“

„Das klingt super“, log Amy lächelnd und gab ihm einen Kuss auf den Kopf. „Ich muss wieder los, bei meinem Glück steht Lady Morb bereits vor meiner Tür. Bis morgen, kleiner Bruder. Denk auch mal an etwas anderes als Pokémontraining.“

Er streckte ihr die Zunge raus, als sie sein Zimmer verließ. Amy atmete erst wieder ruhig, als sie sicher in ihrem eigenen Bett lag. Sie sah auf ihren Wecker. Noch 18 Stunden bis Papa wiederkam.

 

 

Catherine Heartoline hatte beschlossen, die letzte Strategielektion der Woche im Garten abzuhalten. Sie trug eine schwarze Hose und längsgestreifte Bluse, ihr Haar war wie immer elegant hochgesteckt. Amy und Tim hatten sich nach ihrer Mittagspause ebenfalls frisch gemacht, waren jedoch für Training gekleidet. Amy trommelte mit den Fingern über die drei Pokébälle an ihrem Gürtel, hörte aber sofort auf, als ihre Mutter eine Augenbraue hob.

„Entschuldigung, Mama“, sagte sie automatisch und setzte ihre gehorsamste Miene auf. „Lass uns anfangen!“

 Ihre Mutter nickte ihr zu und fuhr mit ihrem Vortrag fort. „Wie ich euch bereits erklärt habe, wird der Tag kommen, an dem ihr in einem Pokémonkampf harte Entscheidungen treffen müsst. Manchmal ist es das geringere Übel, euer Pokémon durch eine Attacke oder einen Statuseffekt besiegen zu lassen, wenn es euch Zeit verschafft, in eurer nächsten Aktion einen noch größeren Schaden beim Gegner zu erwirken. Könnt ihr mir ein Beispiel nennen?“

„In einem Doppelkampf“, sagte Tim, bevor Amy überhaupt Zeit hatte, über die Frage nachzudenken. „Wenn mein Pokémon seinen Sweeper-Partner durch eine Attacke wie zum Beispiel Duftwolke oder Rechte Hand unterstützt, und dieser Effekt mehr Wert ist als der Kampfwert des anderen Pokémon, sollte ich es im Falle von Gift, Fluch oder anderen solchen Attacken lieber eine Runde länger drin lassen.“

„Ein gutes Beispiel“, stimmte Amys Mutter zu. „Damit euch das trotz eurer Bindung zu euren Pokémon leichter fällt, habe ich daher heute eine Übung vorbereitet. Ihr werdet eure Pokémon durch Gift besiegen lassen.“ Sie lächelte. „Wer möchte anfangen?“

Amys Hand zuckte in Richtung ihrer Pokébälle, was ihrer Mutter nicht entging. „Die ältere zuerst?“

„Natürlich, Mama.“ Sie ließ die Finger über ihre Pokébälle gleiten. Unwillkürlich musste sie an Ronya denken, an die enge Beziehung zwischen ihr und Max, und später sogar Sybill und Abbott. Wie es wohl war, in seinen Pokémon Partner und Freunde zu haben?

Welche Beziehung hatte sie zu ihren Pokémon? Sengo war ihr von ihrer Mutter zum zwölften Geburtstag geschenkt worden. Das Pokémon mit den besten genetischen Anlagen, das sie beim hiesigen Pokémonzüchter ergattern konnte. Amy hatte versucht, sich mit dem Pokémon anzufreunden, aber das Sengoweibchen war gegen seinen Willen in der Pension gelandet und gegen seinen Willen wieder entfernt worden. Amy hatte keine Ahnung, wie sie Sengos Vertrauen gewinnen sollte.

Milza war ebenfalls ein Geschenk gewesen, aber es hatte davor viel Zeit mit ihrer Mutter verbracht und Amy war sich nicht sicher, ob es sie nicht immer noch als seine richtige Trainerin ansah.

Und Mebrana … Amy schluckte die Tränen hinunter. Quappy, wo bist du jetzt gerade?

„Heute noch, Kind.“

Amy rüttelte sich aus ihrer Starre und griff nach kurzem Zögern Milzas Pokéball. Das graugrüne Stoßzahnpokémon materialisierte sich im Gras und sah sich neugierig um. Es warf Amy einen kurzen Blick zu, dann wandte sich seine Aufmerksamkeit auf Catherine, die derweil ihr eigenes Pokémon rief, ein ausgewachsenes Nidoqueen mit einigen Narben auf dem Brustpanzer.

„Giftspitzen“, befahl sie. Amy und Tim traten instinktiv zurück, als Nidoqueen eine Reihe scharfer Giftnadeln auf den Boden versprengte, die spitz aus dem Gras emporragten und fast nicht sichtbar waren.

„Du musst darauf treten“, sagte Amy zu Milza. Es sah sie ungläubig an, erhielt aber keine gegenteiligen Befehle von ihrer Mutter, daher trat es zaghaft in das giftige Gras. Als die Spitzen seine Füße durchbohrten, zuckte es kurz vor Schmerz, fing sich aber sofort wieder.

Amy sah mit Knoten im Bauch dabei zu, wie Milza alle paar Sekunden zusammenzuckte und seine dunkelgrüne Schuppenhaut einen ungesunden Grauton annahm. Plötzlich stand Amys Mutter neben ihr. „Nimm das.“ Sie drückte ihr eine Sprühflasche mit Gegengift in die Hand.

Das Gegengift fest umklammernd, wissend, dass sie es nicht benutzen durfte, um die Lektion zu bestehen, klebte Amys Blick an Milza, das immer schwächer wurde. Anfangs steckte es das Gift gut weg, aber nach und nach sackte es in sich zusammen. Catherine legte eine Hand auf Amys Schulter. Ihre Finger bohrten sich in Amys Fleisch. Eine Warnung, denn Amys Hände zuckten bereits.

Milza winselte leise und ließ sich auf das Hinterteil fallen, als ihm die Kraft schwand, wodurch sich nur noch mehr Spitzen in seinen Körper bohrten. Ein kurzer Schrei entwich ihm.

Amy riss sich aus dem Griff ihrer Mutter, packte Milza und setzte sich abseits der Giftspitzen in das nasse Gras, wo sie das Drachenpokémon behutsam in die Arme nahm und mit dem Gegengift heilte. Milza Seufzen der Erleichterung löste den Knoten in ihrer Brust. Sie strich dem Pokémon sanft über den Kopf.

„Ich hatte wohl zu viel erwartet.“ In der Stimme ihrer Mutter klang keine Wut mit, nur Enttäuschung. „Wie wirst du jemals einen Pokémonkampf bestreiten, wenn du Angst davor hast, deine Pokémon leiden zu sehen?“ Amy presste Milza eng an ihre Brust. Ihr Pokémon sah zwischen ihr und ihrer Mutter hin und her. Seine Kralle presste sich ganz leicht gegen Amys Arm, so als wolle es sich an ihr festhalten.

„Tim, du bist an der Reihe. Ich empfehle dir Lin-Fu. Wenn du deine Bindung zu ihr überwinden kannst, solltest du mit keinem deiner Pokémon Probleme haben.“

Amy stand auf, Milza immer noch im Arm. Ihre Mutter stand mit dem Rücken zu ihr, sodass nur Tim sie sehen konnte. Amy schüttelte vehement den Kopf. Du musst es nicht tun, schrie sie ihn in Gedanken an. Aber Tim nickte nur und griff nach Lin-Fus Pokéball.

Obwohl ihr Herz bei dem Gedanken in ihre Kehle kletterte, hob Amy die Stimme, um endlich etwas zu sagen—

Die Haustür knallte. Schritte hallten ihnen entgegen.

„Hallo?“, rief ihr Papa aus dem Haus. „Seid ihr im Garten?“

Catherine fuhr herum, die Stirn gerunzelt. „Er ist zu früh …“, fluchte sie leiser, dann, lauter „Wir sind hier, Schatz!“

Amy rief Milza zurück und atmete tief durch, um ihr Herz zu beruhigen. Fast hätte sie ihre Mutter angeschrien. In dem Moment kam ihr Papa in den Garten.

Harold Heartoline war einen Kopf kleiner als seine Frau, und doppelt so breit, aber seine Wangen leuchteten vor Freude, seine beiden Kinder wieder zu sehen, und Farbsprenkel bedeckten seine Unterarme und die Jeans. Kaum, dass er sie sah, breitete er die Arme aus.

Amy rannte auf ihn zu, bevor sie wusste, was sie tat. Ihr Papa war zurück, und einige Stunden früher als geplant. Seine feste Umarmung verankerte Amy wie nichts sonst auf der Welt. Sie unterdrückte die Tränen, die jedes Mal hochkamen, wenn sie ihn wiedersah, und ignorierte den warnenden Blick ihrer Mutter, der sich von hinten in ihren Rücken bohrte.

Denk an deine Abmachung, sagte eine kleine Stimme in Amys Kopf. Mama blufft nicht. Ihr gehört das Haus. Sie hat die Kontrolle. Ein falsches Wort, und Papa wird alles verlieren.

Amy – Akt 1, Szene 3

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

 

Die spätherbstliche Sonne wärmte Amys Arme, während sie den Pinsel schwang. Die blaue Ölfarbe war nicht ganz der Ton des Himmels, aber sie war so erleichtert, wieder an der Leinwand zu stehen, dass es ihr egal war. Ihr Vater stand an seiner eigenen Staffelei direkt neben ihr.

Da das Wetter so gut anhielt, hatten sie sich mit dicken Strickpullies etwas abseits vom Haus auf einer kleinen Hügelkuppe mit Blick auf den Rest von Septerna City eingerichtet.

Ihr Papa strich ihr über den Kopf. Die Berührung wärmte Amy mehr als der Tee, den sie in Thermoskannen mitgenommen hatten. „Du hattest wohl eine anstrengende Woche.“

Die Wärme schwand sofort. Amys Magen schlug Saltos. Sie ließ den Pinsel sinken. „Ja, ein bisschen.“

„Ich weiß, dass Catherines Werdegang euch beide sehr beeindruckt hat, aber ihr müsst euer Training nicht so ernst nehmen wie sie damals. Habt Spaß mit euren Pokémon, das ist das Wichtigste. Euer Ehrgeiz wird euch weit bringen, aber nicht, wenn ihr euch schon vor Beginn eurer Reise verausgabt.“

Amy schluckte. „Ja, das stimmt. Danke, Papa.“ Innerlich ohrfeigte sie sich. War ihre Maske so verrutscht, seit sie von Sinnoh zurückgekommen waren, dass ihr Papa ihre echten Gefühle problemlos ablesen konnte? Sie musste ihn irgendwie beruhigen.

„Aber es ist nicht wegen dem Training“, begann sie nach einer kurzen Pause. „Meine Freundin aus Jubelstadt meldet sich nicht zurück. Ich mache mir Sorgen, dass etwas passiert sein könnte.“

„Ah, das erklärt die Ringe unter deinen Augen. Nun, da kannst du nicht viel tun. Du hast ja nur ihre E-Mail, oder?“ Amy nickte. „Dann wirst du dich in Geduld üben müssen. Aber sicher geht es ihr gut.“

So gut wie mir … Amy hatte Ronyas Worte nicht vergessen. Stress in der Familie konnte vieles bedeuten, und aus Amys Erfahrung meist nichts Gutes. Aber sie schaffte es, das Gedankenkarussell abzubrechen, bevor sie zu tief hineinrutschte.

Ihr Papa war da und sie hatte nur noch wenige Stunden mit ihm, bevor er wieder ins Atelier abreisen musste. Amy wünschte, sie könnte einfach mit ihm gehen.

Aber natürlich war das unmöglich. Schließlich war es Tims und ihr größter Traum, in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten und erfolgreiche Protrainer zu werden, die es bis ganz an die Spitze schafften.

Amy starrte auf ihr Ölgemälde. Sie hatte begonnen, einen schillernden Schmetterling zu malen, der in den tiefblauen Himmel schwebte. Ganz plötzlich brannten ihre Augen. Sie drehte sich schnell weg und rieb die verräterischen Tränen weg.

Die Arme ihres Papas schlossen sich um sie. „Es geht ihr gut, Amy, mach dir keine Sorgen. Sie wird sich schon melden, ganz bestimmt.“

Es war nicht der wahre Grund für Amys Tränen, aber das war egal. Sie klammerte sich an ihren Papa und schluchzte haltlos, während er beruhigend über ihr Haar strich.

 

 

Amy stand mit Tim zusammen im Bad, Zahnbürsten im Mund, und machte sie bettbereit. Papa hatten sie bereits Tschüss gesagt. Er würde zwar die Nacht hier verbringen, dann aber am nächsten Morgen in aller Frühe zurück in die Stadt reisen. Mental wappnete Amy sich bereits für den nächsten Tag. Ihre Zeit mit ihrem Vater war so kurz, und wenn sie endete, wollte sie sich am liebsten in ihrem Bett verkriechen und nie mehr aufstehen.

Tim war vor ihr fertig, rubbelte sich noch etwas Wasser durchs Haar und verschwand dann mit einem müden Gute Nacht aus dem Bad. Amy wollte noch duschen. Als sie sich gerade ausgezogen hatte, hörte sie plötzlich erhobene Stimmen durch den Luftschacht.

Amys Herz blieb stehen. Das war noch nie passiert. Sie wusste zwar, dass sie manchmal Dinge aus dem Arbeitszimmer ihrer Mutter über den Schacht hören konnte, aber niemals so, dass sie auch die Worte verstehen konnte.

Sie waren gedämpft, aber das war eindeutig ihre Mutter und ihr Vater. Kurzerhand schloss sie das Bad von innen ab, damit Lady Morb sie nicht überraschte, und kletterte auf den Waschbeckenschrank, wo sie sich halb aufrichtete, um ihr Ohr direkt an den Schacht drücken zu können.

„—sagte, dass das nicht geht.“ Ihre Mutter. Sie schrie nicht, aber es war eine knappe Sache.

„Es geht um ein paar Tage, Catherine! Welchen Unterschied macht es für ihr Training, wenn die beiden Mal etwas länger Pause machen können?“

„Und wovon? Wir waren erst vor zwei Wochen im Urlaub, Harold, die Kinder sind topfit.“

Wovon? Hast du mal mit Amy gesprochen? Sie ist heute völlig zusammengebrochen. Irgendetwas mit ihrer Brieffreundin—“

Amys Herz setzte einen Schlag aus. Sag ihr das noch nicht, Papa!

„—und ich bin mir sicher, dass das intensive Training ihr gerade nicht guttut.“

„Harold. Ich weiß nicht, was sie dir erzählt hat, aber es geht ihr gut genug, um ihr Training durchzuführen. Muss ich dich daran erinnern, dass ich diese Rolle nur eingenommen habe, weil die Kinder mich angefleht haben, sie zu unterrichten und zu Champions zu machen?“

Amy ballte ihre Hände zu Fäusten. Niemand hat dich angefleht!

„Und wie ich bereits mehrmals gesagt habe, respektiere ich ihre Entscheidung, auch wenn ich der Ansicht bin, dass es keine gute Idee ist. Aber als Eltern ist es auch unsere Aufgabe, einzuschreiten, wenn unsere Kinder sich zu viel zumuten oder eine Pause brauchen.“ Amys Blut rauschte in ihren Ohren. „Es beunruhigt mich außerdem sehr, dass ich nur einen Nachmittag mit Amy verbringen musste, um zu merken, wie schlecht es ihr geht, und du, die hier jeden Tag von morgens bis abends mit ihr zu tun hat, davon nichts mitgekriegt hat.“

„Was willst du damit sagen, Harold?“ Catherines Stimme war so eisig, dass Amy ein Schauer über den ganzen Körper raste, aber ihr Papa sprach unbekümmert weiter.

„Ich frage dich, ob du deinen Frust, niemals Champion geworden zu sein, unter Kontrolle hast und nicht den Kindern aufbürdest.“ Amy wünschte, sie hätte halb so viel Mut wie ihr Papa. Wie schaffte er es, bei Catherine so unbewegt und herausfordernd zu sein? Kein Wunder, dass Mama ihn geheiratet hatte. Es gab wahrscheinlich nicht viele Männer, die sich ihr gegenüber behaupten konnten. Auch wenn Amy glaubte, dass ihre Mutter sich in diesem Moment lieber einen solchen Ehemann gewünscht hätte.

„Oh Harold, das ist doch so lange her. Denkst du wirklich, dass mich das noch kümmert? … Also schön. Da du mir offensichtlich nicht mit unseren Kindern vertraust—“

„Das habe ich nicht gesagt—“

„—darfst du selbstverständlich ein paar Tage länger bleiben, um dich von ihrem Wohlergehen zu vergewissern. Solange es dich nicht stört, dass wir unser Training fortführen?“

„Ich bitte sogar darum.“

Amy konnte ihr falsches Lächeln in der Pause, die auf diese Worte folgte, förmlich hören.

„Also gut. Du kannst dich schonmal für deine Arbeit morgen einrichten, ich werde die Kinder informieren, dass du länger bleibst.“

Die Tür schlug zu. Amy kletterte panisch vom Schrank und schaffte es gerade noch, sich in ein Handtuch zu wickeln und die Tür zu entriegeln, bevor ihre Mutter ins Bad platzte. Amy schrumpfte unter dem Blick ihrer Mutter in sich zusammen. Catherines Augen glühten vor unterdrückter Wut.

„Über deinen kleinen Zusammenbruch heute reden wir noch“, sagte sie schneidend. Amy nickte energisch. Sie hatte Angst, irgendetwas anderes zu tun. Catherine seufzte und rieb sich die Schläfen. „Ich bekomme wieder eine Migräne. Amy, dein Vater wird noch ein paar Tage bleiben. Sieh zu, dass du ihn wegen deines Zustandes beruhigst. Sag ihm, dass die Situation mit deiner Freundin sich geklärt hat, oder was auch immer er hören möchte.“

„Ja, Mama.“

„Wir werden bis zu seiner Abreise mit Feiertagstraining weitermachen.“

Feiertagstraining.

Training, das für die Tage konzipiert war, an denen ihr Vater mit ihnen im Haus lebte. Das bedeutete, die ersten zwei und letzten vier Lektionen fielen aus. Aufstehen um 7:30 Uhr zum Frühstück statt um 5:30 Uhr zum Training. Feierabend um 15:00 Uhr statt um 20:00 Uhr nach dem Abendessen.

„So viel Zeit verloren, nur weil du dich nicht zusammenreißen kannst.“ Ihre Mutter schloss kurz die Augen und atmete tief durch. „Ich gehe jetzt zu Tim und informiere ihn darüber, wie viel Training diese Woche wegen dir ausfallen wird. Zum Glück kann ich mich bei ihm darauf verlassen, dass er seine Freizeit für Selbststudium nutzen wird. Er weiß, was seine Bestimmung ist, und macht mir das Leben nicht unnötig schwer.“

„Ja, Mama.“

Catherine nickte und verließ das Bad. Amy rutschte an der Duschwand entlang zu Boden und schlang zitternd beide Arme um sich.

 

Amy – Akt 1, Szene 4

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Zum ersten Mal seit Monaten saßen ihre Eltern gemeinsam am Tisch und frühstückten. Ihre Mutter trank eine Tasse Tee und las in der Zeitung, ihr Vater schlürfte duftenden Kaffee aus einer Tasse, die Amy ihm zum Geburtstag geschenkt hatte. Neben ihr verschlang Tim sein drittes Marmeladenbrot.

Es könnte so ein schöner Morgen sein. Ein ganz normaler Morgen.

Amy rieb sich die Augen und versuchte, nicht am Tisch einzuschlafen. Sie hatte die letzten drei Nächte kein Auge zugetan. Ihren Papa im Haus zu haben war toll, und sie verbrachte so viel Zeit mit ihm wie nur irgend möglich, aber Catherines brodelnder Zorn ließ ihr keine Ruhe. Sie verbrachte Stunden nach dem Zubettgehen damit, in ihren Büchern zu wälzen und alles nachzuholen, was ihre Mutter ihnen tagsüber beigebracht hätte, und den Rest der Nacht wälzte sie sich geplagt von Alpträumen unter der Decke.

Sie wusste, dass sie auf die Dauer nicht so weitermachen konnte.

Noch ein Jahr, dachte sie immer wieder. Sobald sie fünfzehn war, würde ihre Mutter sie endlich auf ihre Pokémonreise schicken. Wenn sie Glück hatte, konnte sie irgendwo untertauchen. Aber wie würde sie ihren Papa wiedersehen? Konnte sie ihm heimlich Nachrichten schreiben, ihm sagen, dass es ihr gutging?

„Amy, Schatz?“

Sie verschluckte sich an ihrem Orangensaft. „J-Ja, Mama?“

„Was halten du und Tim von einem Trainingskampf, solange das Wetter noch trocken ist?“

„Oh ja, das ist eine tolle Idee!“ Amys gespielter Enthusiasmus schien ihre Eltern zu überzeugen, denn sie widmeten sich wieder ihrem Frühstück. Tim warf ihr einen freudigen Blick zu. Natürlich war er wie immer Feuer und Flamme. Amy wünschte, sie hätte den Mut, ihrem Papa alles zu sagen, aber Catherines Drohung saß wie eine Webarak in ihrem Nacken.

„Mama, wann bekomme ich endlich mein nächstes Pokémon?“, drängelte Tim.

Catherine lachte herzlich. „Geduld, mein Schatz. Deine Schwester hat in deinem Alter erst ihr zweites Pokémon bekommen, du bist ihr also weit voraus.“

Drittes Pokémon, dachte Amy und spürte Hitze in ihren Wangen aufsteigen. Sengo war ihr drittes Pokémon gewesen, nicht ihr zweites.

„Ich verstehe ja, dass es nicht geeignet war, deinem Team beizutreten“, sagte ihr Papa plötzlich, „aber hättest du Quappy nicht behalten können? Ich mochte den kleinen Racker.“

Seine Worte rissen Amy den Boden unter den Füßen weg. Die Gabel in ihrer Hand fiel klappernd auf den frisch gewischten Fußboden. Lady Morb tauchte sofort neben ihr auf und wischte die Milch mit tadelndem Blick weg.

„Amy? Amy, was ist los?“

„Du bist zu sentimental, Harold“, warf ihre Mutter ein, als Amy nicht antwortete. Ihr Mund war zu trocken, um zu sprechen. „Schallquapp war nicht für Amy geeignet und das hat sie sofort eingesehen. Wenn sie ihr Ziel, eine berühmte Trainerin zu werden ernsthaft verfolgt, hat sie keine Zeit, sich um Hauspokémon zu kümmern.“

Unter dem Tisch griff Tim nach ihrer Hand und drückte sie fest. Amy lächelte. „Mama hat Recht, Papa. Und Quappy geht es bestimmt gut, wo immer er gerade ist.“

Catherine lächelte sie an. Amy lächelte zurück. Ihr Herz war ein roher Klumpen. Oh, Quappy … ihr bester Freund. Ihr einziger Freund.

Und ihre Mutter hatte ihn ohne ein Wort ersetzt.

 

 

Amy und Mebrana standen am Waldrand und warteten darauf, dass der Übungskampf gegen Tim beginnen konnte. Catherine war noch kurz im Haus, um ein Telefonat entgegenzunehmen und Tim stand abseits und debattierte seine Strategie mit Lin-Fu, das hin und wieder energisch nickte.

Mebrana starrte die beiden an. Hin und wieder schielte es zu Amy empor. Sie ignorierte seine Blicke für eine lange Zeit. Schließlich hielt sie es jedoch nicht mehr aus. Sie ging neben Mebrana in die Hocke und wartete, bis es seinen Schock überwunden hatte und ihr in die Augen sah.

„Es tut mir leid.“ Sie seufzte und fuhr sich durch ihr lockiges Haar. „Es ist nicht deine Schuld, dass Quappy weg ist. Aber immer, wenn ich dich ansehe … muss ich an ihn denken. Und dass er weg ist. Für immer.“ Mebrana ließ den Kopf hängen. Amys Kehle schnürte sich zusammen. Aber sie hatte alles gesagt, was sie sagen wollte. Seufzend stand sie auf und rieb sich den Rücken. In dem Moment rauschte ihre Mutter heran.

„Na los, fangt an, wir haben schon genug Zeit verplempert. Ausgangsposition!“

Tim stellte sich einige Meter von Amy entfernt ins Gras. Er wog nachdenklich einen Pokéball in der Hand, bevor er ihn aktivierte. Heraus schoss umgeben von roten Lichtfunken sein Waumboll. Das hellgrüne Wattebauschpokémon schwebte einige Handbreit über der Wiese und wog sanft in der Brise. Amy dachte kurz nach. Mebrana hatte einen Typnachteil. Es war besser, ihn für Tims drittes Pokémon aufzubewahren. „Los, Milza!“

Ihr grüngrauer Drache materialisierte sich vor ihr. Amy nickte ihm lächelnd zu, als er sich zu ihr umdrehte. Sie bemerkte mit Freude, dass er sich nicht sofort nach ihrer Mutter umgesehen hatte.

„Drachenklaue“, befahl sie, im selben Moment, da Tim seinem Waumboll Charme zurief. Sie hatte bereits damit gerechnet, dass Tim sofort versuchen würde, Milzas hohen Angriff zu senken, daher musste sie davor sie viel Schaden anrichten wie möglich.

Während Waumboll sich sanft wiegte und verschiedene Duftnoten abgab, sprintete Milza auf es zu, sprang empor und schlug mit einer glühenden Pranke auf Waumboll ein, das zurücktaumelte, sich durch den dichten Wattebausch jedoch schnell wieder fing. „Jetzt Drachentanz“, befahl Amy. Milza begann sofort, sich aufzupumpen und tänzelte von einem Bein zum anderen.

„Egelsamen, Waumboll, und dann Gigasauger!“

„Nochmal Drachenklaue.“

Waumbolls Samen flogen in hohem Bogen durch die Luft, aber Milza schaffte es, ihnen zu entkommen und konterte sofort mit seinem Angriff, kam Waumboll dadurch jedoch so nahe, dass es frontal von seinem Gigasauger getroffen wurde. Amy presste die Lippen zusammen. Milza würde den Kampf gewinnen, aber es würde lange dauern.

Ein zweiter Charme traf Milza, das von den Pheromonen so diffus war, dass seine Drachenklaue beim nächsten Angriff fast daneben ging. Und Waumbolls Gigasauger würde den Kampf immer weiter hinauszögern. Sie hasste es, gegen das Pflanzenpokémon zu kämpfen. Sie bevorzugte einen schnellen, kraftvollen Schlagabtausch.

„Milza, zurück.“

Tims Wangen glühten. „Gibst du schon auf, Schwesterherz?“

„Werd‘ nicht hochnäsig, kleiner Bruder.“ Amy warf ihren zweiten Pokéball hoch und rief Sengo, das sofort in Angriffsposition ging. Sengo mochte sie als Trainerin nicht besonders schätzen, aber sie war eine Kämpferin durch und durch und ließ sich kein Kräftemessen entgehen.

„Zermalmklaue!“

„Konter mit Charme und Egelsamen!“

Aber Sengo war zu schnell. Sie schoss vor, schlug zwei Haken und packte Waumboll mit beiden Pfoten, bevor es sich überhaupt für seinen Charme bereit gemacht hatte. Sengo knurrte und quetschte Waumboll zwischen beiden Pranken zusammen. Waumboll kreischte laut. Sein Charme traf, aber der Schaden war angerichtet.

„Nein, Waumboll! Wehr dich!“

„Nochmal Zermalmklaue, Sengo!“

Sengos Krallen bohrten sich tief in seinen Gegner. Amy spürte, wie ihre eigenen Fingernägel sich vor Aufregung in ihre Handflächen drückten. Da war ein ruhiger Ort in ihr, zwischen der Angst vor ihrer Mutter und dem Unwillen, Freude am Pokémonkampf zu empfinden. Wenn sie ausblenden konnte, wo und wer sie war, wenn es nur sie gab und ihr Pokémon und den Gegner vor ihr. Wenn sie zusammen mit Sengo die schiere Wut darüber rauslassen konnte, was ihr angetan wurde.

Als Waumboll besiegt aus Sengos Griff rutschte und zu Boden fiel, fühlte sie so etwas wie Glück.

Sengo drehte sich um, dasselbe Glück in ihren Augen gespiegelt. Ihre Blicke trafen sich—und das Glühen in ihren Augen erlosch.

Amy wusste, dass Sengo bei dem Blick auf sie nur den Verrat ihrer alten Trainerin sehen konnte. Genau wie sie in Mebrana nur Quappys Abwesenheit spürte. Sie waren immer noch Gefangene, jeder auf seine Weise.

Sie waren sich so ähnlich, und doch brachte es sie nicht näher zusammen.

Tims Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „Also gut, dann mache ich weiter mit … Lin-Fu.“

Die einzig logische Option. Lin-Fus Kampftyp würde Sengo Schwierigkeiten machen. Aber davon ließ Amy sich nicht beirren. „Sengo, Schwerttanz.“

Sengo schärfte seine Krallen, während Lin-Fu das Kampffeld betrat. „Meditation“, befahl Tim.

 „Schwerttanz.“

„Nochmal Meditation, Lin-Fu.“

Großer Fehler, kleiner Bruder … „Zermalmklaue, Sengo, los!“

„Scanner!“

Sengos Klauen prallten auf eine unsichtbare Barriere, die Lin-Fu mit einer fließenden Bewegung um sich herum aufbaute.

„Bleib dran, Sengo, nochmal Zermalmklaue!“

„Ausweichen, Lin-Fu, dann Ableithieb.“

Lin-Fu sprang zur Seite, aber Sengo hatte der Kampfrausch gepackt. Sie landete im Gras, änderte im Sprung die Richtung und erwischte Lin-Fu gerade so mit seiner Pranke. Das Kampfkunst-Pokémon wurde zu Boden gerissen und schlitterte mit Sengos Klauen im Nacken durch die Erde. Gras und Erdbrocken spritzten zu beiden Seiten auf Tim und Amys Beine.

Lin-Fu ächzte unter Sengos Gewicht und versuchte, das größere Pokémon abzuschütteln, aber vergebens. „Beende es, Sengo.“

„Wehr dich!“ Tims panische Stimme rüttelte Lin-Fu wach und es erneuerte seine Anstrengungen. Mit einem Ruck warf es Sengo von seinem Rücken, fuhr herum und schleuderte Amys Pokémon eine rotglühende Faust entgegen, die Sengo frontal im Gesicht traf. Sengos Körper zitterte von der Wucht des Schlags. Lin-Fu hatte zwei Meditationen geschafft, sein ohnehin hoher Angriff war gestärkt, und Kampf war effektiv gegen Sengos Normaltyp. „Gib nicht auf, Sengo!“, rief Amy ihr zu. Sengo sah kurz zu ihr hinüber. Das Leuchten in seinen Augen blitzte für einen kurzen Moment auf. Es nickte ihr schwach zu, dann machte es sich zum Angriff bereit. Lin-Fu hatte sich nach dem Ableithieb wieder etwas erholt, aber es sah trotzdem sehr angeschlagen aus. Amy war unschlüssig. Sollte sie Sengo auswechseln? Aber Milza war vom ersten Kampf angeschlagen. Vielleicht würde Lin-Fu es sofort besiegen. So sehr sie nicht darüber nachdenken wollte, es war am sinnvollsten, Sengo im Kampf zu und bis zum K.O. angreifen zu lassen.

Genau wie ihre Mutter ihr beigebracht hatte.

„Sengo, zurück.“ Sie hob ihren Pokéball, aber Sengo fuhr herum und knurrte sie an. „Du … willst weiterkämpfen?“

Sengo nickte vehement mit dem Kopf. Amy stand in Schockstarre da. Sengo wusste, dass sie besiegt werden würde, wahrscheinlich schon in der nächsten Attacke. Es gab keinen Grund für sie, sich für Amy so reinzuhängen.

Lass mich das zu Ende bringen.

Das waren die Worte, die Amy bei Sengos Gesichtsausdruck in den Kopf kamen. Sie schüttelte alle Zweifel ab. „Also gut. Zermalmklaue!“

„Ableithieb!“

Die beiden Pokémon rasten aufeinander zu, rechte Pranken erhoben, und schlugen wie Meteoriten ineinander ein. Der Aufprall der beiden hallte zwischen den Bäumen wider, ein Knirschen und Knacken und Fauchen auf beiden Seiten.

Lin-Fu ging als erstes zu Boden. Sengo stand lange genug aufrecht, um Amy einen selbstgefälligen Blick zuzuwerfen, dann knickten ihre Beine ein und sie brach in sich zusammen.

Amy stieß einen Atem aus, den sie die ganze Zeit angehalten hatte. Tims Schultern sackten herab.

„Lin-Fu …“

„Zeit für das Finale“, murmelte Amy und rief Sengo zurück. Der Pokéball fühlte sich anders in ihrer Hand an, so als würde er plötzlich besser hineinpassen. Sie zögerte einen Moment. „Du warst toll, Sengo“, flüsterte sie. Ihr Blick fiel auf Membrana, das bereits mit resigniertem Blick nach vorne trat.

Die Zeit stand für sie still.

Sie sah Quappy vor ihr, das erste Pokémon, das sie alleine gefangen hatte, genau wie Ronyas Sheinux. Schallquapp hatte mit ihr im Bett geschlafen. Sie hatten zusammen gegessen, zusammen im Garten gespielt, zusammen die Sterne beobachtet. Amy würde tagelang nach seinen Pokéball suchen, weil sie ihn nie benutzte, so unzertrennlich waren sie gewesen.

Und dann hatte ihre Mutter beschlossen, dass sie alt genug für ihr Training war.

Beschlossen, dass Quappys genetische Anlagen nicht ausreichten, um Amy an die Spitze zu bringen. Sie war mit Quappys Pokéball zu einem Gesundheitscheck im Pokécenter gegangen, und Tage später mit einem anderen Schallquapp zurückgekehrt.

Es ist das gleiche Pokémon, nun stell dich nicht so an.

Sei nicht so dramatisch, Amy.

Könntest du nicht etwas mehr wie dein Bruder sein?

Reiß dich gefälligst zusammen, dein Vater wird noch Verdacht schöpfen.

Amys schluckte schwer, während sie Mebranas Rücken musterte. Quappy war fort. Daran würde nichts etwas ändern. Aber Mebrana war hier. Mebrana hatte nicht verdient, dass sie es ignorierte. Es würde Quappy niemals ersetzen.

Aber vielleicht war es Zeit, ihm zumindest eine Chance zu geben.

„Mebrana“, rief sie dem blauen Pokémon zu, dass sich erschrocken zu ihr umdrehte. Sie holte tief Luft. „Du schaffst das.“

Ein Zittern ging durch Mebranas ganzen Körper. Seine Augen füllten sich mit Tränen, aber es wischte sie weg und nickte ihr zu. Amy nickte zurück.

Sie hatte das Gefühl, als wäre ein riesiges Gewicht von ihren Schultern abgefallen.

Amy – Akt 1, Szene 5

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Amy beobachtete Tim dabei, wie er seinen letzten Pokéball unsicher in der Hand wog. Oh, kleiner Bruder … hab mehr Vertrauen! Es tat Amy weh, ihn so zu sehen. Sie kämpften nicht häufig gegeneinander, aber obwohl er so viel mehr Energie und Zeit in sein Training und seine Ausbildung investierte, konnte sie an einer Hand abzählen, wie oft er gegen sie gewonnen hatte.

Natürlich bedeutete das nicht viel. Sie war die Ältere, sie hatte mehr Erfahrung, auch wenn ihre Pokémon ungefähr auf demselben Level waren.

„Schlaf nicht ein, Tim“, schalt ihn Catherine plötzlich. Amy zuckte zusammen. Ihre Mutter hatte sich so lange aus dem Kampf herausgehalten, dass sie ganz vergessen hatte, dass sie neben ihnen stand und jede Entscheidung beobachtete und bewertete.

Tim rüttelte sich aus seiner Starre und aktivierte seinen Pokéball. Sein Rokkaiman materialisierte sich in einem Schauer aus roten Funken. Es verschränkte lässig beide Arme.

„Schaufler, los!“, rief Tim.

„Regentanz Mebrana!“, konterte Amy sofort. Tim biss sich auf die Lippe. Regentanz hätte ihm eine Runde mit freiem Schaden erlaubt, aber nun war Rokkaiman bereits damit beschäftigt, sich mit seinen Klauen in die weiche Erde zu buddeln. Mebrana schloss unterdessen die Augen und konzentrierte sich auf seine Attacke. Einige Sekunden geschah nichts.

Plötzlich traf ein Regentropfen Amy auf der Nasenspitze, ein weiterer lief ihre Wange hinunter. Es dauerte nicht lange, bevor ein gewaltiger Schauer über ihnen niederging. Catherine spannte ihren roten Regenschirm auf und blieb trocken, während Amy und Tim innerhalb von Sekunden bis auf die Unterwäsche durchnässt waren.

Amy beobachtete Mebrana von hinten. Sein Regentanz war noch nie so kraftvoll gewesen. Regen peitschte ihr ins Gesicht. Es hatte sogar einen Wind heraufbeschworen. Durch die zusätzliche Feuchtigkeit beflügelt, tänzelte Mebrana von einem Bein zum anderen. „Wasserring!“, rief Amy ihm zu.

Die Erde unter Mebranas Füßen riss auf. Rokkaiman schoss empor und schleuderte Mebrana durch die Luft. Ihr Pokémon prallte unglücklich auf, rollte sich aber ab und beschwor in derselben Bewegung einen Ring aus Regenwasser, der es umschlang und kontinuierlich regenerierte.

„Lehmbrühe, Mebrana, beende es!“

„Nicht so schnell, Schwesterherz! Zeig es ihrem Pokémon mit deinem Knirscher!“

Mebrana hob seine kurzen Ärmchen. Der Regen, der wie eine Flut auf sie alle herabrauschte, sammelte sich in einer gewaltigen Pfütze unter Mebranas Füßen, wo das Wasser sich mit der aufgewühlten Erde von Rokkaimans Schaufler vermengte.

„Warte noch …“ Mebrana schielte zu ihr, hielt das Wasser aber gehorsam zurück. Das Krokopokémon fletschte die Zähne und rannte auf Mebrana zu.

„Warte …“ Rokkaiman war nur noch einen Meter von Mebrana entfernt und setzte zum Sprung an.

„JETZT!“

Mebranas Lehmbrühe traf Rokkaiman aus nächster Nähe und schleuderte das Krokodil mit der angestauten Wucht des Wassers ans andere Ende des Gartens, wo es gegen eine Tanne knallte und von Wasser umspült besiegt liegen blieb.

„Rokkaiman!“ Tim rannte zu seinem Pokémon, aber Catherine packte ihren Sohn an der Schulter und hielt ihn zurück. „Ruf es zurück. So einen schändlichen Kampf hatte ich nicht erwartet.“

Die Hand auf Tims Schulter, die sich in das Fleisch krallte, bewirkte, dass Amy mehrere Schritte auf die beiden zugelaufen war, bevor sie wusste, was sie tat. Sie konnte ihre Stimme kaum unter Kontrolle halten. „Lass ihn los!“

„Oh?“ Catherines Blick bohrte sich in Amys. „Du erteilst mir Befehle, Tochter? Eine Woche ohne tagesfüllendes Training und schon verlierst du das bisschen Disziplin, dass ich dir eingebläut habe. Warte, bis dein Vater wieder in der Stadt ist, dann herrscht hier wieder ein anderer Tonfall.“

„Ist schon gut, Amy …“ Tim senkte den Kopf. „Ich hätte nicht sofort losrennen sollen. Als Trainer ist es meine Aufgabe, mich zuerst von dir zu verabschieden und dir meinen Respekt zu zollen.“

„Unsinn.“ Amys Kehle war so trocken wie noch nie, aber ihre Angst um Tim überschattete ihre eigene Angst vor ihrer Mutter. „Du wolltest nachsehen, ob es deinem Pokémon gut geht. Das würde jeder Trainer verstehen und genauso machen.“

„Du weißt scheinbar sehr viel über Traineretikette.“ Catherines Stimme war eiskalt. „Aber Tim hat wie immer Recht. Er war zu überstürzt, genauso wie in diesem Kampf. Aber darüber unterhalten wir uns später. Euer Vater kommt.“

„Da habe ich wohl nur noch das Ende mitbekommen“, sagte Harold, der durch den langsam abflauenden Regen zu ihnen gestapft kam. „Es sah sehr spannend aus.“ Der Schlamm quatschte um seine Schuhe hoch. Amy entging der angewiderte Blick ihrer Mutter nicht, aber er verschwand im Bruchteil einer Sekunde und wich einem künstlichen Lächeln.

Tims Kopf hing beschämt herab. Amy überbrückte schnell die Distanz zu ihm. Am liebsten hätte sie ihren Bruder in den Arm genommen und ihm gesagt, dass Catherines Worte Unsinn waren, dass er sich nicht dafür rechtfertigen musste, Gefühle für seine Pokémon zu haben. Aber sie konnte nichts davon sagen, ohne ihren Papa stutzig zu machen. Stattdessen wuschelte sie ihm durchs pitschnasse Haar. „Kopf hoch, das nächste Mal besiegst du mich bestimmt. Es war echt knapp dieses Mal!“

Catherine presste die Lippen zusammen, sagte aber nichts dazu. Genau wie Amy musste sie an dieser Stelle ihre Zunge hüten. Geschieht ihr Recht.

„Da hat Amy Recht“, sagte ihr Papa und ging zu ihnen, um Tim auf die Schulter zu klopfen. „Niederlagen gehören zum Leben eines Trainers dazu. Das Wichtigste ist, danach Mut zu fassen und sich in den nächsten Kampf zu stürzen.“

„Komm Tim, lass uns hineingehen und dir etwas Trockenes anziehen, danach können wir zusammen mit Amy den Kampf analysieren.“ Catherines Stimme verriet keine Emotionen. Amys Nackenhaare stellen sich auf. Sie hasste es, wenn sie nicht abschätzen konnte, wie wütend ihre Mutter war.

„Das klingt toll!“, sagte sie mit Enthusiasmus. „Lass uns schnell nach Rokkaiman gucken.“

Tim nickte und ließ sich von ihr mitziehen. Mebrana ging eng an ihrer Seite. Amy sah zu dem blauen Pokémon herab. Es strahlte und schlackerte mit seinen kleinen Ärmchen. Amy gluckste und wischte sich schnell ihre Tränen weg. So hätte Quappy wahrscheinlich auch ausgehen, wenn sie seine Entwicklung miterlebt hätte. „Hey, Mebrana.“ Es sah erschrocken zu ihr auf. Amy zwang sich dazu, keine Trauer in ihrem Gesicht zu zeigen. Sie ging vor ihrem Pokémon in die Hocke. „Dein Regentanz war erste Sahne.“

Mebrana begann zu zittern, dann warf es sich in ihre Arme. Amy hielt es fest umklammert, die gummiartige, nasse Haut kühl und vertraut unter ihren Fingern. „Danke, dass du mir vertraut hast“, flüsterte sie.

Amy – Akt 1, Szene 6

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Amy saß im Flur auf einem der dekorativen Sofas und versuchte, Morbitesses strafenden Blick zu ignorieren, mit dem das Gestirnpokémon sie bedachte. Natürlich war ihre Hose ein bisschen dreckig, und ihre Schuhe voll mit Schlamm, aber sie konnte nicht ewig mit geradem Rücken rumstehen und darauf warten, ins Lehrzimmer gerufen zu werden.

Tim und ihre Mutter waren kurz nach ihrer Rückkehr ins Haus dorthin verschwunden, mit der Ansage, dass Amy nach Tim mit der Besprechung dran sein würde, aber die beiden redeten seit über einer Stunde und Amy machte sich langsam Sorgen. Gedankenverloren rieb sie über die Pokébälle an ihrem Gürtel. Sie hatte das dringende Bedürfnis, mit ihren Pokémon zu sprechen, aber Sengo war noch bewusstlos—sie hatte noch keine Gelegenheit gehabt, sie mit der inhäusigen Pokécenterstation zu heilen, und in Lady Morbs Gegenwart wollte sie dieses Gespräch ohnehin nicht führen.

Stühle schrammten über das Parkett. Amy schreckte hoch und Morbitesse hob erwartungsvoll den Kopf. Die Tür öffnete sich und Tim kam herausgeschlichen, Schultern hängend. Als er Amy sah, wandte er schnell den Blick ab und lief zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppen hoch. Amy kniff die Augen zusammen. So hatte sie ihn noch nie erlebt. Mama hat ihn wohl ziemlich zerpflückt.

„Amy!“

„Ich komme schon!“

Amy betrat das Lehrzimmer. Es war mit allem nötigen ausgestattet. Bücherregale füllten die rechte Wand, während die linke mit einem großen Fenster den Blick auf den Garten erlaubte. Zwei Schreibtische mit PCs standen in der Mitte des Raumes, und am Kopfende stand das Pult und der Samtsessel ihrer Mutter. In einer Ecke stand eine Vitrine mit den Orden und Medaillen, die ihre Mutter im Laufe ihrer Karriere gesammelt hatte.

Catherine saß an ihrem Pult und winkte Amy ungeduldig zu sich. Anhand der Schlammabdrücke konnte Amy genau sehen, dass ihr Bruder die gesamte Stunde direkt vor ihr gestanden hatte. Kein Wunder, dass er so schnell nach oben verschwunden war. Aber warum hat er dich nicht angucken wollen?

„Stell dich hierhin, so ist es gut.“ Catherine wartete, bis sie in Position war, bevor sie ihre Hände unter ihrem Kinn faltete und Amy musterte. „Das war ein guter Kampf“, gestand sie. „Ich war tatsächlich ein wenig beeindruckt. Es scheint, als wären meine Lektionen nicht gänzlich an dir vorbei gegangen, auch wenn du dich mit Händen und Füßen gegen dein Training wehrst.“

„Danke, Mama.“

„Nach meiner Analyse mit Tim sind wir jedoch zu dem Schluss gekommen, dass der Kampf etwas unausgeglichen war.“

Amy nickte sofort. „Natürlich. Ich bin die Ältere, ich habe mehr Erfahrung. Tim wird bestimmt bald—“

„Du missverstehst mich.“ Der harte Blick ihrer Mutter lähmte Amy so effektiv wie ein Horrorblick. „Ich bin der Meinung—und nach viel Diskussion hat Tim mir zugestimmt—dass dein Sengo sich als Addition in seinem Team sehr gut machen würde. Lin-Fu würde dafür in dein Team kommen, zumindest bis wir einen adäquaten Ersatz gefunden haben.“

Amys Mund wurde schlagartig trocken. „Aber …“ Ihre Hand schloss sich automatisch um Sengos Ball. „Sengo ist zwei Level schwächer. U-und Tim hat so viele Pläne für Strategien mit Lin-Fu. Die beiden sind so ein gutes Team! Es würde ihm nur schaden, es jetzt auszuwechseln.“

„Dein Sengo hat mit Typ- und Levelnachteil ein Unentschieden gegen Lin-Fu erreicht. Und darüber hinaus hat es sehr gute Kampfinstinkte und Durchsetzungsvermögen gezeigt, was sehr selten ist. Nein, Amy, dies ist die richtige Entscheidung. Tim hat bereits seine Zustimmung gegeben.“

Als wenn du ihm eine Wahl gelassen hättest!

Amy spürte, wie ihr ganzer Körper zu zittern begann, aber sie zwang sich, ruhig stehen zu bleiben. Sie musste das geradebiegen. Sie wollte Sengo nicht abgeben, nicht nachdem sie gerade erst den Anfang einer Beziehung zu ihr aufgebaut hatte, aber dass Tim und Lin-Fu getrennt wurden … das würde sie unter keinem Umstand zulassen.

„Wann soll der Tausch stattfinden?“, fragte Amy.

„Nächste Woche, sobald dein Vater seine Paranoia abgelegt und wieder in die Stadt gefahren ist.“ Sie rieb sich die Schläfen. „Ich kann so nicht arbeiten. Jetzt geh hoch und wiederhole das Material dieser Woche. Wir werden bald extra Lektionen einführen müssen, um die verlorene Zeit wieder wettzumachen.“

Amy wusste, wann sie entlassen war. Sie nickte energisch, drehte auf dem Absatz um und verließ mit langen Schritten das Zimmer. Lady Morb stand noch immer wachsam wie eine Statue neben der Couch und beäugte sie. Was immer sie hier zeigte, würde ihrer Mutter zu Ohren kommen. Sie lächelte Morbitesse an und ging so entspannt wie möglich die Treppen hinauf, wo sie schnurstracks auf Tims Zimmer zusteuerte.

Die Tür öffnete sich erst, nachdem sie mehrmals energisch dagegen schlug. Tim wandte den Blick ab, als sie an ihm vorbeihuschte. Amy nahm ihn bei den Schultern und strich ihm über den Kopf. Seine Augen waren rotumrandet und sein blondes Haar hing ihm unfrisiert in die Stirn. Kissen lagen verstreut auf dem Boden, die Bettdecke lag zerknüllt in einer Ecke.

„Du musst nicht tun, was sie dir sagt!“, platzte es aus ihr heraus. Die angestaute Angst, die Furcht, die Frustration. Tim war bislang immer gut mit dem Druck ihrer Mutter umgegangen, aber jetzt … „Wenn wir uns beide weigern, Sengo und Lin-Fu herzugeben, kann sie nichts tun!“

„Wovon redest du?“ Tim riss sich von ihr los. „Natürlich kann sie das. Sie ist unsere Mutter.“

„Aber wir können sie nicht alles mit uns machen lassen! Tim, bitte.“ Ihr Bruder stand mit dem Rücken zu ihr, Kopf gesenkt.

„Was, wenn sie Recht hat? Wenn Lin-Fu in deinem Team besser aufgehoben wäre?“

„Das ist doch Unsinn!“ Amy zwang sich, nicht zu schreien, aber ihre Stimme war trotzdem lauter als sie es normaler Weise wagen würde. „Mama hat eine Obsession damit, Pokémonteams zu perfektionieren, aber Pokémon sind keine Maschinen. Es macht einen Unterschied, wer ein Team trainiert, und wie die Pokémon zueinander und vor allem zu ihrem Trainer stehen. Vertrauen, Freundschaft, gemeinsame Ziele … das kann man nicht mit Zahlen ausdrücken. Lin-Fu und du, ihr seid ein Team. Das kannst du sie nicht einfach kaputtmachen lassen.“

„Ich liebe Lin-Fu.“ Eine Träne rollte Tims Wange hinunter, aber er wischte sie sofort wütend weg. „Und ich will sie nicht abgeben. Aber wenn Mama sagt, dass das der Weg zum Erfolg ist, werde ich mich ihr fügen. Und es tut mir leid, dass du dafür Sengo abgeben musst, aber ich werde mich gut um sie kümmern. Versprochen.“

„Darum geht es hier doch gar nicht!“ Amys Sicht verschwamm. „Du hast doch keine Ahnung, wie es sich anfühlt, seinen Starter zu verlieren. Ich bin bis heute nicht darüber hinweg, und ich hatte niemals überhaupt die Wahl. Bist du sicher, dass du dir diese Schuldgefühle aufbürden willst, nur damit Mama das Gefühl hat, dein Team um ein Prozent verbessert zu haben?“

„Du bist so naiv, Amy.“ Tim drehte sich zu ihr um. Seine roten Augen starrten sie wutentbrannt an. „Sie hat Erfahrung. Sie kommt aus einer Familie von Pokémontrainern und Strategen. Seit vier Generationen ist jedes Kind in dieser Familie mindestens in die Pokéliga gekommen. Wenn du dich nicht immer querstellen würdest, könntest du so viel stärker sein als jetzt. Stattdessen musst du dich von ihr bestechen lassen.“

„Bestech— du weißt davon?

Tim sah sie traurig an. „Natürlich weiß ich davon. Mama hat mir schon vor Jahren davon erzählt.“

„Aber …“ Amy wusste nicht, was sie sagen wollte. All die Jahre hatte sie nicht nur ihren Vater geschützt, sondern auch ihren Bruder. Sie hatte gedacht, sie könnte den Schein waren, ihm das Gefühl geben, dass in ihrem Haushalt alles okay war. Ihn vor der wahren Natur ihrer Mutter bewahren.

Und nun fand sie heraus, dass ihr Bruder längst von all diesen Dingen wusste, und dass er deswegen auf sie herabsah.

Amy war nicht die Einzige in diesem Haus, die hinter einer Maske gelebt hatte.

Sie schluckte die Wut hinunter, wollte nicht wütend auf ihren Bruder sein. Aber es fiel ihr verdammt schwer.

„Also gut“, sagte sie in die drückende Stille hinein. „Gib Lin-Fu ab, wenn du das für richtig hältst. Aber Sengo bekommst du nicht.“

Sie drehte sich um und ging zur Tür. Tim seufzte entnervt. „Amy, warte—“

Sie knallte die Tür hinter sich zu.

Es war ihr egal, ob Lady Morb oder sogar ihre Mutter sie hörten. Ihre Augen brannten, ihr Brustkorb bebte. Sie konnte kaum atmen.

Oh, kleiner Bruder … sie hat dich in ihren Bann gezogen. Aber ich biege das gerade. Ich lasse nicht zu, dass sie dich verdirbt.

Amy hatte bereits mit dem Gedanken gespielt, als Catherine ihr von ihrem Plan erzählt hatte, aber sie hatte ihre Zweifel gehabt, ob sie wirklich so weit gehen sollte.

Jetzt nicht mehr. Tims Worte glühten wie heiße Kohlen in ihrem Gehirn. Du bist so naiv, Amy.

Sie ballte die Fäuste und stapfte auf das Arbeitszimmer ihres Vaters zu.

Amy – Akt 1, Szene 7

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Das Arbeitszimmer ihres Vaters unterschied sich von dem ihrer Mutter in allen wesentlichen Dingen. Ihr Vater hatte den Schreibtisch direkt an die Wand gerückt, wo er als Ablage für Farbtuben, Pinsel und lose Skizzen diente. Der zusammengerollte Teppich lehnte an der Wand neben dem Bücherschrank und eine Staffelei stand schräg vor dem Fenster.

All dies nahm Amy nur am Rande war. Sie war zwar nicht häufig hier, aber heute schwirrten ihre Gedanken wie ein Schwarm Dusselgur durch ihren Kopf. Ihr Vater saß auf der Couch und blätterte in einem großen Ordner. Als sie die Tür hinter sich schloss, sah er überrascht auf.

„Amy? Das ist ja eine Überraschung. Ich dachte, ihr seid noch am Lernen.“

Amy presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Sie wollte sich umdrehen. Wegrennen. Aber sie zwang sich, stehenzubleiben. Du ziehst das jetzt durch!

Ihr Vater setzte sich gerade hin und legte den Ordner bei Seite. Es war ein Fotoalbum. „Amy? Was ist denn los? Du bist käseweiß. Komm, setz dich hierhin.“ Er bugsierte sie aufs Sofa. „Ich bringe dir etwas zu trinken.“ Amy packte sein Handgelenk und schüttelte stumm den Kopf. Ihr Vater zog die Augenbrauen hoch, blieb aber gehorsam stehen und als sie keine Anstalten machte, etwas zu sagen, seufzte er und setzt sich wieder neben sie.

„Ist es wegen deiner Freundin? Ist ihr etwas passiert?“

Amy schüttelte wieder den Kopf. Ihre Zunge war ein trockener Klumpen in ihrem Mund. Wo soll ich nur anfangen?

„Nein, darum geht es nicht.“ Amy starrte konzentriert auf ihre Finger, die sich in ihre Hose krallten. Sie holte tief Luft. „Papa, wenn es etwas gäbe, was Mama dir verschweigt, würdest du es wissen wollen? Auch, wenn dann etwas Schlimmes passiert?“

„Was für eine Frage, natürlich würde ich davon erfahren wollen.“ Ihr Papa nahm ihre Hand und lächelte sie beruhigend an. „Du kannst mit mir über alles reden. Okay?“

Amy schniefte. Sie drückte seine Hand so fest sie konnte. „Okay.“

 

 

Im Nachhinein konnte Amy nicht mehr sagen, wie das Gespräch verlief. Als sie erstmal mit dem Reden angefangen hatte, sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus. Das Gesicht ihres Vaters wurde blass und später rot vor unterdrücktem Zorn, aber er unterbrach sie kein einziges Mal. Draußen ging langsam die Sonne unter, bis sie zusammen im Dunkeln saßen, das einzige Licht im Zimmer der bleiche Schein des Mondes, der alles in Schattierungen aus Schwarz und Weiß erscheinen ließ.

Amy erzählte ihm alles. Von dem Tag vor ihrem siebten Geburtstag, an dem Catherine all ihre Spielsachen wegwarf und sie dazu zwang, so zu tun, als hätte sie beschlossen, diese zu spenden, weil sie jetzt zu alt dafür war.

Wie ihre Mutter nachts stundenlang hinter ihr gestanden hatte, weil sie mit ihren Hausaufgaben nicht fertig geworden war und sie bis früh morgens wachhielt, um den Stoff aufzuholen.

Sie erzählte, wie ihre Mutter gedroht hatte, Harold zu verlassen und dass er sich mit seiner Kunst niemals über Wasser halten würde. Dass sie versucht hatte, Tim zu beschützen und heute herausgefunden hatte, dass er längst auf der Seite ihrer Mutter war.

Sie berichtete von Quappy, von dem geplanten Pokémontausch, von dem tagelangen Schweigen, wenn Amy sich nicht benahm. Von ihrer Isolation von Gleichaltrigen, ihrer Angst, niemals gut genug zu sein.

„Sengo und Lin-Fu zu tauschen … das ergibt keinen Sinn“, platzte es zwischen Heulschüben aus ihr heraus. „S-sie will nur nicht, dass ich Tim überlegen bin. Ich werde nie genug für sie sein!“

Ihr Vater hielt sie fest, während sie sich ausweinte. Er strich durch ihr Haar. „Du warst so, so mutig, mit mir zu sprechen.“, flüsterte er gegen ihr Haar. „Schlaf heute Nacht hier. Ich bringe dir Decken und einen Kakao und dann ruhst du dich aus. Versuch zu schlafen. Papa kümmert sich um den Rest.“

Harold wickelte sie in so viele Decken, dass sie sich wie ein Folikon fühlte, dann verließ er das Arbeitszimmer. Amy versuchte zu schlafen. Wirklich. Aber nach einigen Minuten hörte sie gedämpfte Stimmen.

Was hast du erwartet? Dass er sie nicht darauf anspricht?

Amy konnte keine Worte ausmachen, aber die Stimmen wurden lauter und lauter, bis die Schreie durch die Wände hallten. Aber so heftig der Streit war, er konnte nicht ewig anhalten. Erschöpft von dem Tag dachte Amy an Tim. Sie fragte sich, ob sie es schaffen würde, ihn wieder auf die richtige Bahn zu bringen. Ob ihr Vater von jetzt an zuhause arbeiten und ein Auge auf die Situation haben würde.

Sie wünschte, sie könnte bei Tim sein und ihm sagen, dass alles gut würde. Aber ein kleiner Teil von ihr konnte nicht vergessen, dass er sie hintergangen hatte. Amy war davon überzeugt gewesen, dass sie beide unter der Fuchtel ihrer Mutter litten, wenn auch jeder auf seine Weise. Aber jetzt … Sie war die einzige gewesen, der die Methoden ihrer Mutter etwas ausgemacht hatten. Sie war die ganze Zeit allein gewesen.

Papa ist auf deiner Seite. Er wird immer für dich da sein.

So drifteten ihre Gedanken, bis sie in einen unruhigen Schlaf fiel.

 

 

Als Amy erwachte, war es immer noch dunkel. Sie rieb sich die Augen und sah sich um. Warum war sie im Arbeitszimmer ihres Papas?

Die Geschehnisse des letzten Tages brachen über ihr zusammen. Sie kämpfte sich aus dem Deckenhaufen und stolperte fast über ihren Papa, der auf dem Teppich vor dem Sofa eingerollt lag und leise schnarchte. Sein Haar war durchwuschelt und eine angebrochene Weinflasche stand auf dem Schreibtisch. Amy legte eine ihrer Decken über ihn, dann schlich sie hinaus auf den Flur.

Alles war still. Die einzigen Geräusche kamen von dem Ticken einer Uhr im Erdgeschoss und dem Flüstern des Windes an einem geöffneten Fenster. Amy stand reglos in der Dunkelheit. Sie traute sich nicht, das Licht anzumachen. Was, wenn ihre Mutter noch wach war? Oder Lady Morb plötzlich hinter ihr auftauchte?

Ihre Hand wanderte unwillkürlich zu den Pokébällen an ihrem Gürtel. Sie musste noch dringend mit Sengo sprechen, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Die Dunkelheit presste von allen Seiten auf sie ein. Das große Haus, das sich nie wirklich wie ihr Zuhause angefühlt hatte, schien sie zu ersticken. Bevor sie darüber nachdenken konnte, drückte sie mit zitternden Fingern den Knopf ihres Pokéballs.

Mebrana materialisierte sich vor ihr und sah sie mit großen, überraschten Augen an. „Hi“, flüsterte Amy. Sie wurde rot. „Ich … ehm … ich hatte Angst.“

Sie starrten einander an. Amy streckte ihre Hand aus. Mebrana nickte entschlossen und ergriff sie. Gemeinsam tapsten sie durch den Flur. Amy lotste sie zu Tims Schlafzimmer. Sie wusste nicht, ob er noch wach war. Wahrscheinlich nicht. Aber sie musste mit ihm reden. Jetzt, wo ihr Vater Bescheid wusste, würde sich ihr Leben dramatisch verändern. Sie musste ihn warnen, bevor er die Nachricht in verzerrter Version von Catherine bekam.

Wahrscheinlich hat er ihren Streit sogar mitbekommen.

Sie wurde langsamer. Mebrana drückte mitfühlend ihre Hand. Amy seufzte und ließ sich mitziehen. An Tims Tür angekommen, klopfte sie zweimal leise und legte ihr Ohr ans Holz. Nichts. Sie klopfte nochmal. Wieder kein Geräusch.

„Komisch“, murmelte sie. „Tim schläft sonst nicht so tief.“

Mebrana deutete auf die Türklinke. Amy nickte. Die Tür öffnete sich ohne einen Laut. Gemeinsam traten sie in das dunkle Zimmer.

Amy brauchte einen Moment, um zu verstehen, was sie sah.

Die Schranktüren hingen offen, die Regalbretter waren leer. Jemand hatte die gesamte Kleidung entfernt. Wo die Bücher auf dem Schreibtisch und im Regal gestanden hatten, lagen nun nur noch ein paar lose Papiere. Das Bett war leer.

Tim war weg.

Amy machte einen Schritt rückwärts, dann drehte sie um und rannte zum Schlafzimmer ihrer Mutter. Ohne Rücksicht auf die Lautstärke riss sie die Tür auf. Ihr bot sich dasselbe Bild.

Ausgeräumte Schränke, ein unbenutztes Bett.

Amy blinzelte die Tränen weg. Sie rannte ins Bad, ins Arbeitszimmer, die Treppe runter ins Lehrzimmer. Einige Räume sahen aus wie immer, aber aus den meisten fehlten Gegenstände. Im Flur fehlten Jacken, Schuhe und Regenschirme. Im Lehrzimmer fehlten einige Bücher und Pokale. Lady Morb war nirgendwo zu finden.

Als die Realität langsam über sie hereinbrach, lief Amy nach draußen auf die Straße. Die Straßenlaternen schienen ein gelbes Licht auf den Asphalt. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte. Dass Catherine und Tim draußen standen und auf sie warteten? Dass ein erklärender Brief auf der Fußmatte lag, oder eine Postkarte mit der neuen Adresse der beiden?

Zwei glitschige Hände nahmen sie bei den Schultern und drückten sie sanft auf den Boden, wo Amy völlig taub sitzen blieb.

„Sie sind abgehauen“, sagte sie zu Mebrana, das sich ihr gegenüber hinsetzte und ihre Hände hielt. „Sie haben mich einfach … zurückgelassen.“

Amy – Akt 2, Szene 1

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

 

Liebe Ronya,

Es ist einiges passiert, seit wir uns zuletzt gesehen haben. Ich habe dir nie die ganze Wahrheit über meine Familiensituation erzählt, und jetzt—

 

Amy ließ die Finger auf der Tastatur ruhen. Um sie herum herrschte Chaos. Halb ausgeräumte Koffer und Kartons stapelten sich bis zur Decke des kleinen Ateliers ihres Vaters und versteckten die zahllosen Topfpflanzen, die überall auf den Regalen standen.

Es war inzwischen zwei Wochen her, seit ihre Mutter das Heartoline-Anwesen ohne jegliche Vorwarnung verkauft und sie beide damit essentiell auf die Straße gesetzt hatte. Ihnen war gerade genug Zeit geblieben, ihre Habseligkeiten zusammenzusuchen und diese mit der Hilfe eines mitleidigen Taxifahrers etappenweise in die Stadt zu fahren.

Amy starrte auf die Leinwand, die hinter mehreren Koffern begraben lag. Seit ihrem Umzug hatte ihr Papa kein einziges Bild gemalt. Jedes Mal, wenn er nach dem Pinsel griff, seufzte er schwer und verließ das Haus.

Wenn er zurückkam, roch er säuerlich und seine Wangen hatten rote Flecken. Amy war froh, dass er sich zumindest nicht im Haus betrank.

Es gab nichts, was sie tun konnten. Sie waren zur Polizei gegangen, hatten jede befreundete Familie und noch so entfernte Verwandtschaft abtelefoniert.

Catherine und Tim waren wie vom Erdboden verschluckt.

Das Eingabefeld in der E-Mail blinkte Amy ungeduldig an.

 

—hat sich die Lage noch verschlimmert. Meine Mutter hat mit meinem Bruder vermutlich die Region verlassen. Ich werde ihn nie wiedersehen—

 

Amy wischte sich wütend die Tränen weg, die ihre Sicht verschleierten.

 

—und sie hat ein für alle Mal bewiesen, dass ich ihr egal bin. Es ging immer nur um Tim, ich war zu schwierig, zu faul, zu alles.—

 

Sie trat gegen das Tischbein. Ihre Schultern bebten vor unterdrückten Schluchzern. Ihr Blick fiel auf Ronyas E-Mail, auf das Postfach, gefüllt mit Emails von Amy, Amy, Amy.

 

—Aber warum erzähle ich dir das überhaupt. Du hast es sehr klar gemacht, dass ich dir genauso wenig bedeute wie jedem anderen. Seit Wochen antwortest du nicht auf meine Emails. Wahrscheinlich siehst du die Nachrichten im Posteingang und rollst die Augen. „Amy schon wieder, wann kapiert sie es endlich?“ Keine Sorge, jetzt habe ich es kapiert. Das ist die letzte Nachricht, die du von mir erhalten wirst. Leb wohl.

 

Den letzten Punkt setzte Amy so energisch, dass das Klicken im kleinen Raum widerhallte. Sie hielt den Mauszeiger über Senden. Es wäre so einfach. Ein Klick, und sie würde ihre begonnene Freundschaft mit Ronya im Keim ersticken. Das hat sie doch schon längst getan!

Aber trotzdem konnte sie sich nicht dazu durchringen. Ihre Wut, die sie durch die E-Mail begleitet hatte, war mit dem Setzen des letzten Satzzeichens verraucht.

In dem Moment klingelte es an der Tür.

Amy atmete tief durch. Vielleicht war es nur der Postbote. Oder ein Nachbar, der sich Mehl leihen wollte. Bitte lass es nicht der Vermieter sein.

Sie waren zwar erst vor zwei Wochen vollständig eingezogen, aber der Vermieter hatte ihre Familiensituation mitbekommen, da die Miete nicht mehr mit dem Konto ihrer Mutter verbunden war und nun klingelte er jeden zweiten Tag und er fragte ihren Papa nach seinem Einkommen und wann er die nächste Zahlung tätigen wolle, diese sei schließlich schon überfällig.

Nur nicht er.

Sie entriegelte die Türkette und öffnete die Tür.

Ein Polizist mit stahlgrauem Bart stand vor ihr. Über seiner Schulter hing ihr betrunkener Papa. Amy hasste sich für die Scham, die sie bei dem Anblick empfand. Papa hatte allen Grund, traurig zu sein. Und du nicht?

Der Polizist hatte den Mund bereits geöffnet, mit dem hilflosen Blick eines Mannes, der eine Schimpftirade vorbereitet hatte, welche aber nicht für einen Teenager bestimmt war. Er räusperte sich.

„Ihr Vater?“

Amy nickte. „Können sie ihn hereinbringen?“

„Selbstverständlich.“ Er spähte an ihr vorbei. „Auf … das Sofa dort hinten?“

„Nein“, sagte Amy und trat zur Seite. „In die Dusche.“

Ein grimmiges Lächeln formte sich in seinem Gesicht. „Mit Vergnügen.“

Es dauerte einige Minuten, bis der Polizist ihren Papa durch das Chaos des überfüllten Ateliers manövriert und in dem zu kleinen Badezimmer in der Dusche abgesetzt hatte. Als er sich aufrichtete, ächzte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Amy fragte sich, wie weit er ihn schon getragen hatte, bevor sie hier angekommen waren. Da ihre Mutter sie nie in die Stadt gelassen hatte, kannte sie keine Geschäfte oder Kneipen in der Nähe.

„Danke, dass sie ihn heimgebracht haben“, sagte sie an der Haustür, bevor der Polizist die Treppen hinuntergehen konnte. „Wenn er nicht bald heimgekommen wäre, hätte ich mir große Sorgen gemacht.“

„Jederzeit, Miss.“ Auf der Treppe blieb er noch einmal stehen und drehte sich zu ihr um. „Mein Name ist Officer Jordan. Wenn Sie Probleme haben, oder er Ihnen Angst macht … zögern Sie nicht, in unserer Zentrale anzurufen und nach mir zu fragen.“

Amy brauchte einen Moment, bevor sie begriff, was er andeutete. „Das wird nicht nötig sein, danke.“

„Ich hoffe nicht, Miss. Auf Wiedersehen.“

Amy kehrte mit klopfendem Herzen in das Atelier zurück. Die Kartons, die vollgestellten Möbel, die unbemalte Leinwand … alles drückte plötzlich auf sie ein. Sie war allein. Ihre Mutter hatte sie verlassen. Ihr Bruder war freiwillig mit ihr gegangen. Und nun versank ihr Papa, die einzige Person in ihrem Leben, auf die sie sich noch verlassen konnte, im Suff.

Sie stapfte ins Bad und blieb vor der Dusche stehen. Sie erkannte ihren Papa kaum wieder. Sein Haar glänzte fettig, sein Bart wirkte ungepflegt und er hatte Schmutzflecken auf seinem Hemd. Keine Farbkleckse wie sonst, sondern verschüttetes Bier. Er schwitzte, sein Gesicht war fleckig und er stank nach kaltem Rauch.

„Tut mir leid, Papa“, sagte Amy, machte die Dusche an und drehte sie auf die kälteste Stufe. Ihr Papa quietschte und schlang die Arme um sich, als eiskaltes Wasser über seinen Kopf und den Rest seines Körpers prasselte.

„A-Amy! Was soll das?“

„Das sollte ich dich fragen!“ Amy ging vor ihm in die Hocke und wartete, bis er ihr trotz der Kälte in die Augen sah. Er wirkte wach und ansprechbar. Gut. „Ich brauche dich! Der Vermieter schmeißt uns raus, wenn wir nicht bald die Nachzahlung machen und du verbringst jede freie Minute damit, in Kneipen dein Leid zu klagen und dich zu betrinken? Wenn du nicht malst, haben wir kein Einkommen. Dann sitzen wir in ein paar Wochen auf der Straße und Mama hat gewonnen.“

„Catherine … Tim … sie hat ihn einfach mitgenommen. Sie hat ihn entführt.“

Amy schossen die Tränen in die Augen. „Ich vermisse ihn doch auch, verdammt!“, schrie sie. „Aber Tim wollte mit ihr mitgehen. Sie hatte ihn zu lange unter Kontrolle! Er hat drei starke Pokémon, wenn er wirklich nicht hätte mitgehen wollen, wäre es zu einem Kampf gekommen und der hätte uns auf jeden Fall aufgeweckt. Tim ist freiwillig bei ihr. Ich hoffe, dass wir ihn wiederfinden, aber jetzt müssen wir erstmal unser Überleben sichern, verstehst du nicht?“

Ihr Papa starrte sie an. Dann breitete er die Arme aus und begann zu weinen. „Oh, Amy. Es tut mir so leid. Ich bin ein schrecklicher Vater.“

Sein strenger Geruch, die Flecken, das kalte Wasser, nichts davon hielt Amy auf. Sie warf sich in seine Umarmung. „Du bist der beste Papa der Welt. Jeder macht Fehler, aber jetzt müssen wir uns zusammen aufrappeln. Ich bin den Schulkindern weit voraus, ich wette ich könnte Nachhilfe anbieten und etwas Geld verdienen und … und dir beim Malen helfen. Notfalls kann ich auch Pokémonkämpfe austragen und Orden sammeln, das bringt etwas Geld—“

„Nein!“ Ihr Papa krallte seine Finger in ihr Haar, bis es schmerzte. „Keine Orden. Du siehst, was es aus deiner Mutter gemacht hat. Ich will nicht, dass du in dieselbe Falle tapst. Nein, wir kommen schon durch. Ich bringe uns durch. Von jetzt an male ich, bis mir der Arm abfällt.“

Als Amy etwas später alleine in das Atelier trat, drang das Geräusch der jetzt warmen Dusche durch die Tür zu ihr. Sie fühlte sich aufgewühlt, aber gestärkt. Zusammen würden sie das schon durchstehen, fieser Vermieter hin oder her. Ihr Blick fiel auf den PC, an dem sie vor kurzem noch die E-Mail an Ronya abgetippt hatte. Sie presste die Lippen zusammen und setzte sich an den Schreibtisch. Als sie das Postfach öffnete und ihre Nachricht erneut las, fühlte sie sich elend. Wie hatte sie so etwas fast abgeschickt? Ronya hatte sie vielleicht vergessen, aber ihre gemeinsame Zeit in Jubelstadt, ihre Freundschaft … das war echt gewesen. Amy löschte die Nachricht und kehrte in das leere Postfach zurück. Nur dass es nicht mehr leer war.

Ronya hatte geantwortet.

Amy – Akt 2, Szene 2

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Amy konnte ihren Augen kaum glauben. Ronya hatte ihr geschrieben! Jetzt gerade, vor nicht mal fünf Minuten. Sie öffnete die E-Mail mit zittrigen Fingern. Wie lange war ihre Reise nach Jubelstadt nun schon her? Sechs Wochen? Sieben? Es war so viel in der Zwischenzeit passiert, dass es sich viel länger anfühlte. Aber warum hatte Ronya so lange nicht geantwortet? Wenn sie Amy vergessen hätte, wäre niemals eine Antwort gekommen. Es musste also auch in ihrem Leben etwas passiert sein.

Amy schluckte schwer und begann zu lesen.

 

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Liebe Amy,

Es tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Nach meiner letzten Mail ist viel passiert.

Ich werde dir die Details ersparen, aber ein Stahlos hat Max schwer verletzt und jetzt ist er querschnittsgelähmt. Max ist psychisch ziemlich mitgenommen (ich auch) und es wird eine ganze Weile dauern, bis wir wieder okay sind, aber zusammen werden wir das hinkriegen. Sybill trainiert sich ihre Pfoten wund, um ihn nächstes Mal besser beschützen zu können. Max‘ Verletzung hat sie sehr mitgenommen. Sie hat Schuldgefühle (ich auch … mal wieder).

Ich habe in den Minen bereits ein junges Onix gefangen, mit dem ich ihn langsam in Kontakt bringen werde. Morgen ist der erste Tag. Ich bin nervös, aber Max ist stark. Er ist bereit, und Wyatt ist das ruhigste und gutmütigste Pokémon, das mir je untergekommen ist. Es hat Wochen gedauert, ein Pokémon mit seinem Temperament zu finden, aber jetzt bin ich guter Dinge, dass Max lernen wird, seine Angst zu überwinden. Wenn Wyatt sich irgendwann in ein Stahlos entwickelt, bin ich sicher, dass sie unzertrennlich sein werden. Mein Ziel ist es, sobald wie es Max‘ Gesundheit zulässt, nach Ewigenau zu reisen. Eine Freundin, die ich hier kennengelernt habe, hat sich bereiterklärt, uns dorthin zu eskortieren. Ich hoffe, dass in den Kräuterläden dort etwas verkauft wird, das Max‘ Genesung hilft, aber vor allem will ich in den Ewigwald.

Um Max wieder Selbstvertrauen in seinen Körper zu geben, haben wir gemeinsam beschlossen, ihn zu einem Folipurba zu entwickeln. Sie haben den höchsten Verteidigungswert aller Evoli-Entwicklungen, sein Kampfstil eignet sich sehr, um aus der Ferne anzugreifen und es hat viele defensive Attacken wie Synthese oder Gigasauger, sodass Max sich selbst heilen kann. Unser Ziel ist es, ihn wieder ans Kämpfen zu gewöhnen und so stark zu machen, dass niemand ihm mehr Schaden zufügen kann.

Bestimmt hast du dich gewundert, warum ich so lange nicht auf deine Nachrichten geantwortet habe. Die Wahrheit ist, dass es mir zu schlecht ging. Ich konnte Max lange nicht alleine lassen, und dann habe ich zwei Wochen in den Minen gecampt … Aber als ich heute zurück ins Pokécenter gekommen bin, habe ich all deine Nachrichten gelesen. Ich wollte dir nicht so viele Sorgen bereiten, aber vielleicht verstehst du jetzt, warum ich nicht antworten konnte. Nimm es mir bitte nicht übel. Du bist die beste Freundin, die ich je hatte, und ich will dich ganz sicher nicht verlieren.

Aber genug von mir. Was hat sich in deinem Leben verändert? Du hast angedeutet, dass die Dinge gerade nicht so gut laufen. Erzähl mir davon. Wir können vielleicht nicht zusammen in einem Baum sitzen oder auf der Wiese am See liegen, aber ich will trotzdem für dich da sein. Ich hoffe auf eine Antwort von dir, egal wie lange es dauert.

 

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[LEFT]Deine Freundin Ronya[/LEFT]

 

[LEFT] [/LEFT]

Querschnittsgelähmt. Das war das einzige Wort, das zu Amy durchdrang. Sie musste Ronyas E-Mail dreimal lesen, bevor sie verstand, was die Worte ihr sagen wollten. Sie saß immer noch wie erstarrt vor dem Monitor, als ihr Vater in ein großes Handtuch gewickelt aus der Dusche kam und über ihre Schulter schaute.

„Oh, hat dir deine Freundin endlich zurückgeschrieben?“

„Papa …“ Amy rutschte zur Seite, unfähig in Worte zu fassen, was gerade in ihr vorging. Sie erinnerte sich an Max, das hyperaktive Evoli mit einem Hang zum Rennen und Klettern. Jetzt nicht mehr.

Beim Klang ihrer Stimme wurde ihr Vater sofort ernst. Er scrollte durch Ronyas E-Mail und presste Amy nach wenigen Sätzen mit einem Arm an sich. „Das ist furchtbar“, sagte er. „Aber ich bin froh, dass sie sich wieder stark genug fühlt, dir zu schreiben. Sie hat das dunkle Tal verlassen.“ Er starrte nachdenklich auf den Bildschirm, dann schüttelte er traurig den Kopf. „Ein vierzehnjähriges Mädchen hat mehr Kontrolle bewiesen als dein alter Herr.“

„Er wird nie wieder toben, oder spielen, oder kämpfen …“

„Aber, aber …“ Er deutete auf die Sätze. „Da steht es doch. Ronya wird Max helfen, seine Angst zu überwinden und ihn wieder ans Kämpfen gewöhnen. Und wer sagt, dass man ohne seine Beine keinen Spaß mehr haben kann? Als Tim und du noch kleine Babys wart, konntet ihr euch ohne Hilfe keinen Zentimeter fortbewegen, aber das hat euch nicht vom Spielen und Lachen abgehalten. Was Max geschehen ist, mag schlimm und ungerecht sein, aber ich bin sicher, dass er mit Ronyas Hilfe darüber hinwegkommt. Und das nächste Mal, wenn ihr euch seht, wirst du das mit eigenen Augen sehen.“

Amy schniefte. „Meinst du wirklich?“

„Auf jeden Fall.“ Er küsste ihren Kopf. „Jetzt hol dir ein Taschentuch und etwas zu trinken und schreib ihr zurück. Ich werde hier etwas Ordnung schaffen, und dann geht es ans Malen. Willst du mir dabei helfen, sobald du hier fertig bist?“

Amy nickte energisch. Ihr Papa hatte Recht. Mitleid würde weder Max noch Ronya weiterhelfen.

Sie begann zu tippen.

 

 

Die nächsten Wochen vergingen für Amy wie im Flug. Nachmittags gab sie Nachhilfe für einige Kinder im Gebäude, danach malten sie bis spät in die Nacht, und frühmorgens trug sie Zeitung aus, bevor sie schließlich total erschöpft einschlief. Wenn sie zwischendurch Zeit fand, beantwortete sie Ronyas E-Mails und tauschte sich mit ihr aus. Statt der extrem langen E-Mails schrieben sie sich nun kurze Texte, dafür teilweise mehrmals am Tag.

 

Josh, dieser kleine Junge, den ich unterrichte, hat einfach so ein EI AUF MEINEM KOPF AUFGESCHLAGEN!

 

Max ist heute zum ersten Mal auf Wyatt geritten. Er hat so gestrahlt. Dieser kleine Racker ist jede Mühe wert.

 

Was soll ich unserem Vermieter heute unter die Zeitung legen? Ohhhh, vielleicht Papas alte Socken! Die stinken schön eklig!

 

Meghan hat mich heute zum Sternegucken mitgenommen und wir haben eine Sternschnuppe gesehen … Hast du schonmal eine Sternschnuppe gesehen? Was würdest du dir wünschen?

 

Ich mache mir Sorgen um Tim. Hoffentlich lässt er sich nicht immer weiter von Mama kontrollieren. Was, wenn ich ihn wirklich nie wieder sehe?

 

Wir reisen morgen früh ab. Ich schreibe dir vorher noch eine Nachricht und dann werde ich erstmal nicht erreichbar sein. Ich vermisse dich jetzt schon.

 

Amy las die Nachricht mehrmals durch. Sechs Wochen waren einfach so dahingeschmolzen. Wie lange würde Ronya wohl nach Ewigenau brauchen? Sie rief sich die Karte von Sinnoh in Erinnerung. Ewigenau lag auf direktem Wege nördlich von Erzelingen, aber sie konnte nicht abschätzen, wie lange Ronya und Meghan für die Strecke brauchen würden.

„Sie reist morgen ab“, sagte sie zu ihrem Papa, der am Fenster an seiner Staffelei stand und malte. Seine fertigen Gemälde türmten sich langsam. Es war ihm zwar gelungen, einige zu verkaufen, aber ohne Mamas Kontakte war es schwer, Abnehmer zu finden. Sie hielten sich gerade so über Wasser, aber Amy sah der nächsten Rechnung bereits mit Furcht entgegen. Lange konnte es nicht mehr gutgehen.

„Das ist schön“, sagte er. „Wie geht es Maxwell?“

„Er hat sich mit Wyatt angefreundet und etwas zugenommen. Ronya sagt, dass sie ihn zu sehr verwöhnt und er bald auf Diät muss, wenn er so weitermacht.“

Er lachte herzlich. „Ich bin wirklich froh, dass du auf deiner Reise so eine gute Freundin gefunden hast, Amy.“

Amy dachte schmunzelnd daran, wie sie sich in einer Mülltonne versteckt hatte, um ihrer Mutter zu entgehen und Ronya sofort für sie gelogen hatte. Damals war ihre Freundschaft geboren. „Ich auch, Papa. Ich auch.“

Ich werde dich wiedersehen, schwor sie sich. Egal wann, egal wie. Wir werden uns wiedersehen.

Amy – Akt 2, Szene 3

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

 

Der kalte Wind, der unter Amys Jacke fuhr, roch nach Herbst. Unter die blaugrünen Tannenwipfel, die sich hinter einigen Häusern von Septerna City in den dunklen Himmel reckten, mischten sich rot und gelb belaubte Buchen und Erlen, deren Äste an einigen Stellen schon kahl waren.

Es war früher Morgen, und Amy trug, mit einem Bollerwagen bewaffnet, Zeitungen aus. Sie hatte ihre Runde bereits zur Hälfte abgeschlossen. Das Zeitungsaustragen brachte für die anstrengende Arbeit und die unbequeme Uhrzeit wenig Geld ein, aber Amy durfte nicht wählerisch sein, und wenn sie ehrlich war, genoss sie die Ausrede, so lange wach bleiben zu dürfen. Ihr Vater schlief längst. Wenn sie heimkam, würde er wahrscheinlich gerade aufstehen.

Sengo lief neben ihr und warf gelangweilt Zeitungen auf Türschwellen. „Du sollst sie vorsichtig hinlegen“, schalt Amy ihr Pokémon. Sengo warf ihr einen kritischen Blick zu. Sie hatte die letzten paar Male vielleicht auch etwas zu viel Schwung in ihren Wurf gepackt … „Na gut, aber nur heute.“ Sie fröstelte. „Es ist aber wirklich kalt.“

Sie hatte begonnen, ihre Pokémon regelmäßig aus ihren Pokébällen zu lassen und auch außerhalb von Training und Kämpfen Zeit mit ihnen zu verbringen. Mebrana war weiterhin jederzeit außer sich, wenn es von ihr gerufen wurde, aber Sengo zeigte seit einigen Wochen sehr wenig Begeisterung für irgendetwas. Noch weniger als früher, musste Amy gestehen. Sie war davon ausgegangen, dass ihre Beziehung sich nach dem Kampf gegen Tim verbessern würde, vor allem, nachdem sie Sengo von dem Plan ihrer Mutter berichtet hatte, sie einem anderen Trainer zu geben, und wie sie sich dagegen gewehrt hatte. Aber seitdem war ihre Beziehung eingefroren. Amy wusste langsam nicht mehr, was sie noch tun sollte. Selbst Milza, bei dem sie so lange gegen die Loyalität für ihre Mutter hatte ankämpfen müssen, schien sich mit der neuen Situation komplett arrangiert zu haben.

„Sengo“, sagte Amy, während sie mit dem Bollerwagen weiter die Straße entlangruckelte. „Habe ich irgendetwas falsch gemacht? Bist du böse auf mich?“

Sengo schnaubte und schüttelte ihren Kopf. „Was ist es dann? Bist du nicht froh, dass wir aus diesem Haus raus sind, weg von meiner Mutter?“

Sengo zuckte mit den Achseln. Frustriert wandte Amy den Blick ab und wurde schneller. Bei Mebrana hatte sie manchmal das Gefühl, seine Gedanken lesen zu können, so offen war es mit seinen Gefühlen, und auch Milza konnte sie meist gut verstehen. Aber Sengo blieb für sie so undurchschaubar wie ein Block Granit. „Ich weiß ja, dass du nicht reden kannst“, sagte sie nach einigen Minuten, in denen Sengo ihre Zeitungen noch lustloser wegwarf als davor. „Aber kannst du wenigstens versuchen, mit mir zu kommunizieren? Ich will, dass wir ein gutes Team werden, egal wie lange es dauert. Kannst du mir nicht einen Vertrauensvorschuss geben?“

Sengo blieb stehen, den Kopf gesenkt. Sie knurrte. Oh je … Amys erster Instinkt war es, einen Schritt zurück zu machen, aber sie zwang sich, stehen zu bleiben. Sengo würde sie niemals verletzen.

Sie beobachtete, wie Sengo seine klauenbewährten Pranken vorstreckte und anstarrte. Amy wartete geduldig, bis Sengo den Kopf hob und eine Pfote zur Faust ballte und in ihre andere Handfläche schlug. Sie sah flehend zu Amy. Bitte, versteh mich doch!

Amy spürte die Worte in ihrem Herzen. Plötzlich sah sie Sengo klar vor sich. Wieso war sie nur so blind gewesen? Das eine Mal, als sie wirklich ein Team gewesen waren, war im Kampf gegen Tim. In einem Kampf, den sie beide unbedingt gewinnen wollten, als Sengo alles geben musste, als Amy ihre Entscheidung, lieber besiegt zu werden als aufzugeben, akzeptierte und sich voll und ganz hinter sie stellte.

„Oh, ich bin so ein Idiot!“ Sie sprang auf Sengo zu, die einen überraschten Schritt zurück machte, und schlang ihre Arme um den weißen Nacken. „Du willst kämpfen, nicht Zeitung austragen. Du langweilst dich zu Tode, seit unser Training aufgehört hat, oder?“

Sengo nickte.

Amys Gedanken rasten. All die Jahre, und sie begriff erst jetzt, was es bedeutete, ein Pokémonteam zu haben. Es ging nicht nur um Typ-Synergien oder hohe Level, wie ihre Mutter es Tim und ihr beigebracht hatte, oder ihre eigenen Gefühle. Es ging darum, jedes Pokémon so zu akzeptieren wie es war, und es dementsprechend zu fördern. Mebrana war sensibel und einfühlsam. Es brauchte Liebe, und davon abgesehen war es ihm egal, ob es Kämpfe bestritt oder quengelnde Kinder bei den Hausaufgaben betreute. Milza war loyal und folgsam, ein Pokémon, das seinen Trainer erst respektieren musste, bevor es gehorsam war, aber danach konnte man sich kein besseres Teammitglied wünschen. Und Sengo … Sengo war unnahbar und eine Einzelgängerin, aber am Ende des Tages war sie eine Kämpferin, die durch gemeinsame Herausforderungen Vertrauen fasste.

Milza und Mebrana mochten den Wandel in ihrem Lebensstil ohne Probleme verkraftet haben, aber Sengo verkümmerte.

„Es tut mir leid“, flüsterte Amy in Sengos weiches Fell. „Ich weiß, dass Papa nicht möchte, dass ich trainiere, aber zusammen kriegen wir das hin, Sengo. Ab morgen fangen wir an.“

Sengo presste sie eng an sich. Amy wünschte, sie könnte den Gesichtsausdruck ihres Pokémons sehen, aber sie würde nie im Leben freiwillig diese Umarmung unterbrechen. Als Sengo sie wieder absetzte, wirkte ihre Miene etwas entspannter.

Amy wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Sengo schnaubte. „Ich weine nicht, du weinst!“ Sie drehte sich verlegen weg. „Und jetzt los, wir haben noch einen ganzen Packen Zeitung auszutragen, und—“

Ein Windstoß erfasste besagten Packen Zeitungen und riss eine Handvoll Exemplare mit sich, die zerfleddert auf der Straße landeten. „AHHH!“ Amy rannte los, um die Zeitungen einzusammeln, bevor sie wegflogen. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Sengo dem ihr nächsten Exemplar nachhechtete. Nach einer Minute panischem Hin- und Herlaufen hatten sie alle Zeitungen wieder im Bollerwagen.

„Puh, das war knapp.“ Amy wischte sich den Schweiß von der Stirn. Da fiel ihr Blick auf eine der aufgeschlagenen Seiten. Es war ein kleiner Randartikel auf Seite 17.

 
 

 

Stratos-Atelier öffnet die Tore

 

Stratos City, die Stadt, über der glückliche Wolken dahinziehen, ist bekannt für ihr modernes Flair und ihre künstlerische Ader. Das berühmte Stratos-Atelier, ein Ort für Künstler, ihre Gemälde und Skulpturen auszustellen, veranstaltet zum ersten Mal seit seiner Eröffnung vor 15 Jahren einen Tag der offenen Tür. Künstler aus ganz Einall sind eingeladen, hinter die Kulissen zu blicken, mit erfahrenen Kuratoren und Galeristen ins Gespräch zu kommen und ihre Kunst vorzustellen. Die besten Künstler und Künstlerinnen werden in der Ausstellung „Vom Winde verweht“ vorgestellt, die am 1. Dezember stattfinden wird. Es gibt—

 

Weiter las Amy nicht. Sie ließ die Zeitung sinken. „Das ist es, Sengo“, flüsterte sie und starrte in die Ferne, nach Westen, wo hinter den Wäldern die Himmelspfeilbrücke wartete. „Wir müssen nach Stratos City.“

Amy – Akt 2, Szene 4

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

 

 

[LEFT]„Auf gar keinen Fall.“[/LEFT]

„Papa!“ Amy wedelte mit der inzwischen zerfledderten Zeitung vor seinem Gesicht herum. „Das ist deine Chance, dich selbstständig mit Käufern und Galeristen zu verknüpfen!“

„Ich habe einige Anfragen in der letzten Woche bekommen, von Kontakten hier in Septerna City. Wir haben keinen Grund, nach Stratos City zu gehen.“

„Du hast eine Anfrage bekommen“, korrigierte Amy ihn. „Und die letzten zwei sind schon ins Wasser gefallen. Lass es uns doch wenigstens versuchen.“

Ihr Papa ließ sich aufs Sofa plumpsen. Dunkle Ringe untermalten seine Augen. Genau wie Amy hatte er sich in letzter Zeit abgerackert, aber bei ihm hinterließ das größere Spuren. „Dein Vertrauen in meine Fähigkeiten ist wirklich schön, Amy“, flüsterte er schließlich. „Aber Stratos City … das ist eine Stadt für die wirklich talentierten Künstler. Selbst, wenn wir alles zusammenpacken und meine Gemälde dort vorstellen, selbst wenn wir uns die hohe Miete dort leisten könnten, werde ich sehr wahrscheinlich nicht für die Ausstellung ausgewählt werden. Es ist zu riskant, Amy.“

Amy ließ die Zeitung sinken. Sie hatte ihren Papa noch nie so niedergeschlagen gesehen. Es musste ihm viel abverlangt haben, ihr in ihrer jetzigen Situation diese Zweifel mitzuteilen. Sie setzte sich neben ihn. „Ich weiß einfach, dass es klappen wird. Ich habe das im Gefühl. Aber wenn du wirklich nicht bereits bist, mitzukommen, dann lass wenigstens mich gehen. Ah!“ Sie unterbrach seinen Einwand. „Ich wäre nächstes Jahr sowieso alleine losgezogen, und Stratos City wäre meine erste Station gewesen. Das Pokécenter kostet nicht so viel, wenn man einer Trainerlizenz hat, und ich habe drei starke Pokémon, die mich beschützen. Mir kann quasi nichts passieren.“

Er sah sie lange an. Plötzlich schloss er sie in seine Arme. „Oh, Amy. Wann ist mein kleines Mädchen nur so groß geworden.“ Er seufzte. „Also gut. Mir ist zwar nicht wohl bei dem Gedanken, alleine hier zu bleiben, aber es ist weniger riskant als unsere Wohnung aufzugeben und ins kalte Wasser der Großstadt zu springen. Ich gebe dir meine zwei besten Bilder mit, die solltest du noch irgendwie transportieren können, und dann kannst du sie bei dem Atelier vorstellen. Wenn alles gut läuft und sie mich annehmen, komme ich nach und wir suchen uns ein kleines Apartment in der Stadt. Und wenn sie die Bilder ablehnen, kommst du so schnell wie möglich zurück und wir überlegen uns einen anderen Plan.“

„Deal!“

„Aber versprich mir eins, Amy.“ Er legte seine Hände auf ihre Schultern und sah ihr in die Augen. „Halte dich von Protrainern und vor allem von der Arena fern. Du kannst dort bestimmt leicht Geld verdienen, aber das ist es nicht wert.“

Amy nickte. „Versprochen. Keine Arena, keine Orden.“

 

 

Zwei Tage später betrat Amy den Ewigenwald. Die riesigen Tannen standen so dicht, dass nur einzelne Lichtstrahlen ihren Weg auf den weichen Waldboden fanden. Sie holte tief Luft und atmete die knackig kalte Luft ein. Die Luft roch süßlich, nach Harz und zertretenen Nadeln. Während sie den Pfad entlang ging, den großen Rucksack mit den dreifach in Wachspapier und Pappe verpackten Gemälden auf ihrem Rücken, wanderten ihre Gedanken flüchtig zu Ronya.

Es war ironisch, dass sie auf zwei unterschiedlichen Kontinenten lebten, und zur selben Zeit in einem ähnlichen Gebiet unterwegs waren.

Ewigwald und Ewigenwald. Oh Ronya, ich hoffe du kommst gut an! Ihr Vater hatte ihr befohlen, sich an die befestigte Straße zu halten. Diese führte auf direktem Wege von Septerna City zur Himmelspfeilerbrücke, einige Stunden Richtung Westen und dann ungefähr die doppelte Länge nach Norden, aber Amy konnte nicht anders, als ein wenig vom Weg abzukommen.

Dichtes, duftendes Gras wuchs abseits des Pfades auf den Lichtungen und säumte die Waldwege, alte umgestürzte Bäume bildeten natürliche Barrieren und Brücken. Es war wunderschön.

„Ich wünschte, Papa könnte hier mit mir malen“, sagte sie zu Mebrana, das hinter ihr hertrottete und sich aufgeregt umguckte. Schallquapp gab es hier im Wald zu Hauf. Amy wurde bewusst, dass sie sehr wenig über Mebranas Herkunft wusste. „Quappy wurde hier im Wald geboren“, sagte sie zu Mebrana, das sofort hellhörig wurde und sie besorgt musterte. „Ich habe es damals eigenhändig gefangen, als es noch klein war. Was ist mit dir? Wurdest du in der Wildnis geboren?“

Mebrana schüttelte langsam den Kopf. Es sog die Gerüche des Waldes gierig ein. Amy wartete geduldig, bis es zu ihr aufschloss. „Wahrscheinlich kommst du aus einer Pension“, mutmaßte sie. „Mama wäre nie selber losgegangen, um ein geeignetes Pokémon zu fangen. Sicher hat sie in einer Pension nach einem Pokémon mit guten Werten gesucht und ist auf dich gestoßen.“

Mebrana nickte nachdenklich. „Kennst du deine Eltern?“, hakte Amy nach. Ein Schulterzucken war die einzige Antwort. Amy seufzte und legte eine Hand auf seinen Kopf. „Jedenfalls bin ich froh, dass unsere Wege sich gekreuzt haben. Ich kann sie natürlich nicht ersetzen, aber ich bin jetzt deine Familie, genau wie Sengo und Milza.“

„Hey, du da!“

Amy erschrak bei dem Schrei fast zu Tode. Sie sah auf und entdeckte vor sich auf der Straße einen jungen Trainer, der bereits grinsend einen Pokéball in der Hand hielt. Er trug trotz des kalten Wetters eine kurze Hose und sein schwarzes Haar stand in alle Richtungen ab. „Ich habe gestern den Grundorden ergattert und suche jetzt nach einem Sparring-Partner. Was sagst du?“

„Kein Interesse.“ Amy versuchte, an dem Jungen vorbeizugehen, aber er stellte sich ihr in den Weg.

„Die Frage war rhetorisch gemeint.“ Er deutete auf Mebrana. „Du hast ein Pokémon, das heißt, dass du gegen mich kämpfen musst, wenn du weiterkommen willst. So sind die Regeln.“

Amy starrte ihn an. „Was für Regeln? Ich will einfach nur in die nächste Stadt.“

„Es gibt ungeschriebene Regeln für Trainer. Wenn du außerhalb der Stadt bist, hast du gegen andere Trainer zu kämpfen. So will es das Gesetz.“ Er verschränkte selbstzufrieden die Arme.

Amy hatte langsam genug von seinem Gefasel. „Du hast sie doch nicht mehr alle. Ich gehe jetzt hier durch.“

„Und wenn ich den Weg nicht freimache?“ Es begann ein kurzes Hin und Her, in dem Amy zur Seite ging und der Junge ihren Bewegungen folgte. Nach etwa einer Minute hatte sie genug.

„Also gut, du willst kämpfen?“, fauchte sie und griff nach ihrem Pokéball. „Dann zeig mal, was du kannst. Los, Sengo!“ Ihr Pokémon schoss geradezu aus dem Pokéball.

Der Junge grinste so breit, dass Amy glaubte, seine Zähne müssten ihm gleich aus dem Mund fallen. Er zückte seinen Pokéball. „Ein Normaltyp? Denkst du wirklich, darauf wäre ich nach Aloe nicht vorbereitet? Los, Kiesling!“

Das kleine Steinpokémon materialisierte sich in einem roten Lichtstrahl vor Sengo, das in freudiger Erwartung auf den Kampf mit den Klauen klapperte.

„Fang mit Steinwurf an“, rief der Junge.

„Zermalmklaue“, befahl Amy kühl.

Kiesling hopste auf der Stelle. Zwei Steinbrocken lockerten sich am Wegesrand und schossen auf Sengo zu. Sengo wich beiden ohne Mühe aus, sprang in der selben Bewegung auf Kiesling zu und schlug von beiden Seiten mit seinen Pranken auf das Steinpokémon ein, das vor Schmerzen quietschte. Amy kniff ein Auge zusammen—sie hasste es bis heute, anderen Pokémon Schmerzen zuzufügen. Aber da war der Kampf schon vorbei. Sengo ließ das besiegte Pokémon zu Boden fallen und knurrte in Richtung des Trainers, als der zitternd nach seinem zweiten Pokéball griff.

„Sengo ist übrigens Level 34“, informierte Amy ihn zuckersüß. „Nur zur Info.“

Der Junge ließ die Hand sinken. „Ach Mann!“ Wütend rief er sein Kiesling zurück. „Du bist viel stärker als Aloe. Was machst du überhaupt hier? Jemand auf deinem Level sollte schon in Marea City oder sogar Panaero City sein.“

Entrüstet rief Amy Sengo zurück. „Ich wohne hier. Außerdem wollte ich gar nicht gegen dich kämpfen, du hast mich dazu gedrängt.“

Er kratzte sich seufzend den Kopf. „Ist ja gut, ich bin selber schuld. Aber du hast mich fair besiegt.“ Er kramte in seiner Hosentasche und förderte 500 Pokédollar zu Tage, die er ihr reichte. „Hier. Mein Name ist übrigens Brandon.“

Amy schüttelte sofort den Kopf. „Nein, nein, das kann ich nicht annehmen.“

„Natürlich kannst du das, so will es das Gesetz! Der Verlierer gibt dem Gewinner einen Teil seines Geldes. Es ist nicht viel, aber je stärker die Trainer werden, desto mehr Gewinn springt dabei rum. Ich wette, bei deinem Level bist du schon total reich. Also, bis dann!“ Er lief an ihr vorbei Richtung Ausgang, zurück nach Septerna City.

„Reich …“, flüsterte Amy und nahm das Geld entgegen. Sie starrte die grünen Scheine an. Es waren nur 500 Pokédollar, aber das war so viel Geld, wie sie mit einer Stunde Nachhilfe verdiente. Der Kampf hingegen hatte nicht mal zwei Minuten gedauert.

Die Worte ihres Papas kamen ihr wieder in den Sinn. Halte dich von Protrainern und vor allem von der Arena fern. Du kannst dort bestimmt leicht Geld verdienen, aber das ist es nicht wert.

Er würde nicht wollen, dass sie das Geld annahm. Aber es war, wie der Junge gesagt hatte. Sie würde einer Menge Trainer auf ihrem Weg nach Stratos City begegnen, und jeder würde erwarten, dass sie kämpfte. Ich werde niemanden herausfordern, versprach sie sich, während sie das Geld in ihrem Rucksack verstaute. Aber wenn sie darauf bestehen, gegen mich zu kämpfen, wäre es dumm, das Preisgeld nicht anzunehmen.

Ihr schlechtes Gewissen hielt nicht viel von diesem Plan, aber sie ignorierte das Ziehen in ihrem Bauch. Sie musste nur an ihren Papa denken, der spätabends am Schreibtisch über Rechnungen brütete, um zu entscheiden, welche er noch aufschieben konnte, und an sein aufgedunsenes, tränenüberströmtes Gesicht unter der kalten Dusche, um sich in ihrer Entscheidung gerechtfertigt zu fühlen. Je mehr Geld sie verdienen konnte, bevor sie überhaupt in der Stadt ankam, umso besser.

Amy – Akt 2, Szene 5

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

[LEFT]„Du bist ja nicht sehr weit gekommen“, sagte Brandon, der mit hinter dem Kopf verschränkten Armen hinter ihr her schlenderte. „Ich dachte, bis ich dich wieder eingeholt habe, hast du längst Stratos City erreicht. Da wolltest du doch hin, oder?“

Amy warf ihm von ihrem Sitzplatz auf einem moosbewachsenen Baumstumpf einen bitterbösen Blick zu. Sie gab es ungern zu, aber sie hatte sich total verkalkuliert. Der Ewigenwald war voll mit Trainern, die sie herausforderten. Anfangs war das noch ganz praktisch gewesen. Sie hatte ordentlich Geld verdient und Sengo war endlich ausgelastet, aber dadurch war sie am ersten Tag kaum vorangekommen. Tag zwei war nur noch schlimmer gewesen. Trotz ihres Levelvorteils gegenüber den anderen Trainern hatten sich ihre Pokémon nach den kontinuierlichen Kämpfen ziemlich verausgabt, aber sie wollte nicht zurück ins Pokécenter gehen und ihren gesamten Fortschritt zu Nichte machen, also hatte sie versucht, abseits vom Pfad den Trainern auszuweichen. Das hatte gut geklappt, bis sie von einer Herde Strawickl tiefer in den Wald gejagt wurde, in ein Dickicht aus Brennnesseln gefallen war und sich anschließend komplett verlaufen hatte.

Und dann hatte Brandon zu ihr aufgeschlossen. Amy war sich fast sicher, dass er ihr aufgelauert hatte.

„Es gab ein paar unvorhergesehene Schwierigkeiten“, sagte sie zähneknirschend.

„Na ja, bald sind wir aus dem Wald raus. Gib deinen Pokémon ein paar Tränke und weiter geht’s.“

„Tränke?“

Brandons Mund fiel auf. Er deutete auf sie, dann auf ihren gewaltigen Rucksack. „Du hast keine Tränke dabei? Gar keine? Hast du sie etwa schon alle aufgebraucht?“

„Nein, ich hatte nie welche dabei.“ Sie wurde rot. „Ich habe doch gesagt, ich bin keine professionelle Trainerin.“

„Bei dem Level deiner Pokémon muss ich dir widersprechen, aber holla, du bist wirklich nicht gut vorbereitet. Als nächstes willst du mir noch sagen, dass du keine Pokébälle dabei hast.“ Er lachte.

Amy lachte nicht.

Brandons Lachen erstickte. „Du hast keine POKÉBÄLLE dabei?“

„Mach dich nur lustig, ich bin immer noch stärker als du.“

„Ausgeruht vielleicht, aber jetzt … Oh Mann.“ Brandon schüttelte den Kopf. „Das habe ich wirklich noch nie erlebt. Du bist wie ein Chef-Koch, der noch nie in seinem Leben ein Ei zubereitet hat. Die Ausrüstung ist die Basis eines Protrainers. Wie willst du jemals von Stadt zu Stadt kommen, wenn du nicht die richtigen Items dabeihast?“

„Meine Ausbildung war etwas … kämpferischer.“

Brandon hockte sich ihr gegenüber. Er sah sie traurig an. „Kämpfen ist aber nicht alles. Überlebensfähigkeiten, Orientierung, Achtsamkeit, Vorbereitung, Teamwork … das gehört alles dazu.“ Er stand auf und begann breit zu grinsen. „Zum Glück hast du jetzt mich.“

Amy schüttelte den Kopf. „Bitte, du musst wirklich nicht—“

„Doch, doch, ich bestehe darauf—“

„Es ist absolut nicht nötig—“

„Nichts würde mich glücklicher machen—“

Sie redeten einige Sekunden übereinander, dann brachen sie beide in Lachen aus. Amy wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Also gut, tu was du nicht lassen kannst. Aber ich gehe auf direktem Weg nach Stratos City, nur dass das klar ist.“

„Klaromato. Die Nesseln waren auch auf direktem Weg dorthin, oder?“

„Ach, halt den Mund.“

Amy gab es nicht gerne zu, aber es tat gut, Brandon dabei zu haben. Er bot sogar an, ihr einige Tränke zu geben, aber Amy fühlte sich unwohl damit, diese anzunehmen, nachdem sie schon sein Geld einkassiert hatte. Ein bisschen Stolz hatte sie dann doch. Mit der Hilfe seiner Karte fanden sie recht schnell den Weg zurück zum Pfad und erreichten noch am selben Abend den Waldausgang.

Es war schon dunkel, aber das machte die Aussicht, die sich ihnen bot, nur umso spektakulärer. Eine gigantische Hängebrücke, mit einer Beleuchtung wie ein Sternenmeer, erstreckte sich vor ihnen über das schwarze Wasser.

Der salzige Wind rauschte an ihnen vorbei und riss Amys Haar in alle Richtungen. Neben ihr starrte Brandon mit offenem Mund in die Ferne. „Wahnsinn“, flüsterte er.

„Ein Meisterstück der Architektur“, stimmte Amy zu. Sie hatte die Brücke bereits einige Male aus der Ferne gesehen, wenn sie mit ihrer Mutter in andere Regionen geflogen war, aber sie nachts aus der Nähe zu sehen war unvergleichlich. Sie riss sich von dem Anblick los. „Komm“, sagte sie zu Brandon. „Wir können noch ein paar Stunden laufen, bevor wir uns schlafen legen.“

Der schüttelte sich. „Klar, ja, okay.“ Er schielte zu ihr. „Hast du denn überhaupt ein Zelt—“

„Uuuuuund weiter geht’s“, rief Amy fröhlich und lief los.

„Hey, warte auf mich! HEY!“

 

 

Nach einer sehr windigen Nacht und viel Gespött über Amys nicht vorhandene Ausrüstung erreichten sie Stratos City am frühen Mittag. Der Wind war kalt, aber die Sonne hatte noch Kraft, sodass Amy eher zu warm war. Sie hatten die Skyline der Stadt bereits von oben auf der Brücke bewundert, aber nun machten sie ihre allerersten Schritte in den Trubel der Großstadt.

Amy hatte gedacht, dass sie nach Jubelstadt in Sinnoh nichts mehr schockieren würde, aber Stratos City war eine völlig andere Liga. Die Hochhäuser blockierten die Sicht auf den Himmel, bis Amy den Kopf in den Nacken legen musste, um die Wolken zu sehen. Das hektische Treiben der Stadtbewohner und Trainer umhüllte sie von allen Seiten. Sie fühlte sie wie ein loses Blatt in einer Flussströmung. Es waren so viele Menschen, Graffitikünstler, Musikanten, Skateboarder, Trainer, Business-Leute, Eltern mit Kinderwagen … es war absolutes Chaos.

Brandon drängte sich ganz eng an sie, während sie zusammen versuchten, sich durch die Menge zu kämpfen. Nicht weit von der Brücke konnten sie das Kreischen von Wingull am Hafen hören, und einige rote Neonschilder zeigten den Weg zum hiesigen Pokécenter.

„Also, wo geht es hin?“, fragte Brandon. „Da ich weiß, dass du keine erfahrene Trainerin bist, gebe ich dir den Tipp, dass Pokécenter sehr nützlich sind.“

„Danke, das wusste ich auch.“

Brandon machte ein sehr überraschtes Gesicht, woraufhin Amy ihm sofort mit der flachen Hand einen Klaps auf den Kopf verpasste. „Mach dich nur lustig.“

Er streckte ihr die Zunge heraus. „Es macht zu viel Spaß, um aufzuhören. Aber ernsthaft, du solltest ins Pokécenter. Deine Pokémon haben seit drei Tagen keine Erholung gehabt. Wenn du hier trainieren und die Arena herausfordern willst, musst du topfit sein.“

„Ich sagte doch, die Arena interessiert mich nicht.“

„Wer trainiert seine Pokémon auf über Level 30, wenn ihn die Arena nicht interessiert?“, fragte Brandon. „Hauspokémon hast du nicht, das ist mal klar. Dein Sengo ist eine Maschine.“

„Warum bist du so besessen davon, ob ich ein Protrainer bin oder nicht?“, fuhr Amy ihn an. „Langsam nervt es wirklich. Ich habe keine Lust, mich hundertmal zu wiederholen. Du hast keine Ahnung, wie gefährlich es sein kann, sich nur darauf zu fokussieren. Lass mich damit einfach in Ruhe.“

Brandon hob abwehrend die Hände, aber seine Miene war wütend. „Tut mir leid, habe ich da einen Nerv getroffen? Wenn dich meine Art so sehr ärgert, sollten wir vielleicht lieber getrennter Wege gehen.“

„Fein“, knurrte Amy. Sie konnte nur an ihre Mutter denken, an Tim, an das Versprechen an ihren Vater. „Geh ruhig zuerst zum Pokécenter. Ich schaue mich in der Stadt um.“

„Gut.“

„Sehr gut.“

Brandon sah sie noch einen Moment länger an, so als hoffte er, dass sie ihre Worte zurücknehmen würde, aber Amy verschränkte nur die Arme. Er nickte und verschwand innerhalb von Sekunden in der Menge.[/LEFT]

Amy – Akt 3, Szene 1

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Das Neonschild des Pokécenters war deutlich über den Köpfen der Passanten zu erkennen, aber Amy ignorierte es geflissentlich. Sie wusste sehr wohl, dass ihre Pokémon eine Pause brauchten, aber sie war jetzt in der Stadt. Hier galten andere „Regeln“, wie Brandon sie nennen würde. Trainer forderten einander nicht einfach so heraus, und sie hatte nicht vor, die Arena zu besuchen. Ihre Pokémon konnten sich noch eine Weile in ihren Bällen ausruhen. Sie würde noch früh genug im Pokécenter vorbeikommen, um sich dort ein Zimmer zu mieten.

Zuerst wollte sie das Atelier auskundschaften. Die Gemälde ihres Papas waren schwer, und die Riemen ihres Rucksacks schnitten ihr dadurch unangenehm in die Schultern. Nach drei Tagen tat ihr der Rücken weh.

Das Stratos-Atelier befand sich auf einer der Hauptstraßen, die wie Sonnenstrahlen ins Zentrum der Großstadt führten. Es war nicht weit vom Pokécenter entfernt, trotzdem dauerte es fast eine Stunde, bis Amy dort ankam. Sie verlief sich einige Male, und die Wegbeschreibungen der Passanten, die sie fragte, reichten von hilflosen Schulterzucken der Touristen zu konfusen Beschreibungen der Einheimischen, die nur für jahrelange Stadtbewohner verständlich waren, und teilweise völlig falschen Informationen, die Amy einmal durch die halbe Stadt lotsten, bevor sie endlich völlig genervt vor dem Atelier zum Stehen kam.

Es war ein schmales Gebäude, eingequetscht zwischen seinen Nachbarn, mit modischem, orangefarbenen Eingang und großen Glasfenstern, die den Blick auf diverse abstrakte Gemälde freigaben. An der Eingangstür hing ein Schild mit den Öffnungszeiten.

Heute war Ruhetag.

„Oh, so ein Mist“, fluchte Amy und drückte die Nase gegen die Glastür. Sie hatte kein Glück. Innen war, bis auf die Beleuchtung der Gemälde, das Licht aus und sie konnte niemanden sehen. Sie nahm die Öffnungszeiten genauer in Augenschein. Das Atelier war scheinbar an allen anderen Tagen von 9:30-12:00 Uhr und von 15:00-17:30 Uhr geöffnet.

Über den Zeiten hing ein weiteres Schild, mit den Informationen zum Abgabeschluss für Gemälde, die an der Ausstellung im Dezember teilnehmen wollten. Amy rechnete schnell in ihrem Kopf nach.

Noch zwei Tage, dachte sie erleichtert. Dienstag und Mittwoch.

Für heute hatte sie aber scheinbar keine Möglichkeit, die Gemälde abzugeben. Mit schmerzenden Schultern drehte Amy sich um und trottete Richtung Pokécenter. Zu ihrer linken und rechten quetschten sich die Geschäfte und Marktstände aneinander, aber hier und da führten schmale Gassen in die Dunkelheit, nicht unähnlich zu denen in Jubelstadt, als sie sich in einer Mülltonne versteckt hatte.

Sie kannte sich genug mit großen Städten aus, um zu wissen, dass sie dort nichts zu suchen hatte. Auf halber Strecke kam sie an einem Eiscafè vorbei, in dem riesige Waffeln mit bunten Eissorten verkauft wurden. Die Schlange reichte fast bis zum Atelier zurück.

Amy sah hungrig auf die Eiskugeln, und dachte an das Geld, das schwer in ihrer Hosentasche lag. Früher wären die paar tausend Pokédollar ein kleines Taschengeld gewesen, aber seit ihre Mutter sie auf die Straße gesetzt hatte, war das Geld ein halbes Vermögen. Wie gerne sie die Eiscreme probiert hätte … aber sie riss sich zusammen. Sie würde jedes bisschen Geld brauchen, um in Stratos City unterzukommen und den Rest würde sie zu ihrem Papa zurückbringen.

Als sie an der nächsten Gasse vorbeikam, hörte sie ein Wimmern. Amy blieb stehen, die einzige in der Woge aus Menschen und Pokémon, die genervt einen Bogen um sie machten, und spähte in die Dunkelheit.

Einige Figuren hoben sich gegen die Schatten ab. Zwei, nein, drei. Jemand saß auf dem Boden. Amy kniff die Augen zusammen. War das etwa … Brandon?

Bevor sie wusste, was sie tat, lief sie bereits in die Gasse, auf die Figuren zu. Es dauerte einige Sekunden, bevor ihre Augen sich an das schwache Licht gewöhnten, gerade genug Zeit, um zu den drei Gestalten aufzuschließen. Sie hatte sich nicht vertan. Brandon saß auf dem Hosenboden und hielt schützend sein bewusstloses Kiesling in den Armen. Die anderen beiden Personen, ein Junge und ein Mädchen, waren einige Jahre älter als Amy, siebzehn oder achtzehn vielleicht. Sie trugen schwarze Mäntel und schwere Stiefel. Die junge Frau hatte kurzes, blondes Haar und trug einen schwarzen Rucksack, das schwarze Haar des Mannes fiel in zahlreichen Zöpfchen in sein Gesicht. Als die beiden Amy bemerkten, bauten sie sich bedrohlich auf.

Brandons erleichterter Blick fiel auf sie. „Amy …“

„Was ist passiert?“, fragte Amy. Angst schloss sich wie eine Faust um ihren Magen.

„Ich wollte kämpfen, aber sie haben mich fertig gemacht. Sie haben mein ganzes Geld genommen und Kiesling ist schwer verletzt.“

Amy fuhr zu den beiden Angreifern herum. Ihre Angst verwandelte sich sofort in Wut. „Was soll das?! Er schuldet euch nicht alles. Lasst ihn gehen.“

Die Frau beobachtete sie gleichgültig. Ihr Blick wanderte an Amy vorbei, und sie nickte.

Ein Ruck ging durch Amys ganzen Körper als irgendetwas, oder jemand, sie von hinten zu Boden riss. Hände griffen nach ihrem Rucksack, zerrten ihn weg. Amy kreischte und schlug um sich, aber es half nichts. Sie konnte gerade noch sehen, wie eine dritte dunkle Gestalt mitsamt ihrem Rucksack und den Gemälden ihres Papas wegrannte.

„STOPP!“ Amy griff nach ihren Pokébällen und rief sofort alle drei. Sengo nahm die Situation mit einem Blick zur Kenntnis und schoss davon, dem Dieb hinterher. Milza und Mebrana bauten sich schützend vor Amy und Brandon auf.

Amy sah panisch Sengo hinterher, die von einem Jiutesto gegen eine Hauswand geschleudert wurde und reglos zu Boden sank. Der Dieb verschwand um eine Ecke, Amys Rucksack und Gemälde im Arm.

Amy schrie. Sie rannte los, aber rotes Licht explodierte hinter ihr. Brandon krabbelte panisch rückwärts, sein besiegtes Kiesling immer noch im Arm, und bevor Amy sich umdrehen konnte, flog Milza an ihr vorbei und krachte gegen eine überlaufende Mülltonne. Es blieb reglos liegen.

Sie starrte ihr Pokémon an. Drehte sich langsam um. Mebrana stand mit ausgebreiteten Armen vor einem zwei Meter großen Deponitox und einem schwebenden Kastadur. Die beiden Trainer sahen sie herausfordernd an.

„Eins hast du noch“, stellte die Frau fest. „Ich hatte etwas mehr Widerstand erwartet, aber so ist das manchmal. Gib uns dein Geld und wir lassen euch laufen.“

Kastadurs grüne Stacheln wuchsen bedrohlich und pulsierten mit einem goldenen Licht, das immer heller wurde. Deponitox rülpste. Ein Gestank nach verrottendem Essen wehte Amy entgegen.

„Mebrana, Lehmbrühe“, befahl sie, aber bevor ihr Pokémon angreifen konnte, schoss ein Strahl aus purer Sonnenenergie auf Mebrana zu und traf es frontal in den Bauch. Der Solarstrahl schleuderte es in die Gasse, wo es in der Nähe von Milza und Sengo liegen blieb.

Brandon zitterte neben ihr. „Amy? Amy?“

Amy starrte ihre besiegten Pokémon an. Es war ihre erste Niederlage, die nicht gegen ihren Bruder war, und selbst die waren extrem selten gewesen. Es fühlte sich nicht gut an. Überhaupt nicht gut.

Der Mann trat vor und streckte eine Hand aus. Sein Kastadur schwebte bedrohlich an seiner Seite. „Das Geld, Kleine. Ich werde mich nicht wiederholen.“

„War in dem Rucksack“, flüsterte Amy und deutete in die Richtung, in der die dritte Person weggerannt war. „Ihr habt alles mitgenommen.“ Er musterte sie einige Sekunden, dann zuckte er mit den Achseln. „Habt einen schönen Tag, ihr zwei.“

Kaum, dass sie weg waren, ging Amy neben Brandon auf die Knie. Sie wischte sich wütende Tränen weg. „Was ist mit Kiesling? Muss es ins Pokécenter?“

Brandon nickte. Sie starrten einander an. Ihre Worte von vorhin, die sich im Moment so gerechtfertigt angefühlt hatte, hinterließen nun einen bitteren Nachgeschmack. Amy schniefte. „Es tut mir leid, Brandon“, sagte sie. „Ich wollte dich nicht so anfahren. Du warst nur besorgt um mich. Was ich gesagt habe, war nicht fair. Wenn wir uns nicht getrennt hätten, wenn ich auf dich gehört hätte, wäre das alles nicht passiert.“

Sie starrte auf ihre leeren Hände. Die Gemälde … Sie hatte doch nur bis Mittwoch, um sie einzureichen!

Brandon lächelte sie müde an. „Mir tut es auch leid. Du hast mehrmals gesagt, dass du keine Orden sammeln möchtest, aber ich bin trotzdem darauf herumgeritten. Ich weiß selber, dass ich manchmal nervig sein kann.“

Amy stand auf und half ihm auf die Füße. Dann riefen sie ihre Pokémon zurück. „Lass uns erstmal zum Pokécenter gehen.“

„Sie haben unser ganzes Geld geklaut …“ Brandon schüttelte sich. „Wie sollen wir unsere Zimmer bezahlen?“

Amy klimperte mit dem Geld in ihrer Hosentasche. Brandons Augen wurden groß. „Du hast ihn angelogen?!“

Sie grinste. „Ein bisschen.“ Aber während sie zum Pokécenter trotteten, wurde ihr Herz schwerer und schwerer. Zwei Tage. Wenn sie es nicht schaffte, die Gemälde bis dahin zurückzuholen, war alles verloren.

Amy – Akt 3, Szene 2

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Das Pokécenter war überfüllt, als sie endlich ankamen. Trainer saßen in Grüppchen an den Tischen im Gemeinschaftsraum, spielten Karten oder tauschten sich angeregt über Kampfstrategien aus. Einige pflegten ihre Pokémon, andere verputzten die Reste vom Abendessen. Amy schnupperte. Es roch nach Pizza. Ihr Magen grummelte bei dem fettigen Geruch sofort. Sie musste wieder an das Eis denken.

Reiß dich zusammen!

Mit Brandon im Schlepptau steuerte sie schnurstracks auf die Theke zu, hinter der eine betagte Schwester Joy sie freundlich anlächelte. „Abend, Liebes. Was kann ich für euch tun? Braucht ihr eine Unterkunft?“

Amy nickte. „Zwei Nächte bitte. Ein Zimmer.“ Sie schob das Geld über den Tresen. Die Joy sammelte es seelenruhig ein und zählte die Münzen einzeln in die Kasse. „Wir würden außerdem gerne unsere Pokémon heilen“, fuhr Amy fort, als sich der Zählprozess immer weiter in die Länge zog.

„Aber sicher, gebt mir einfach eure Pokébälle und setzt euch kurz hin.“

Brandon und Amy ließen ihre Bälle bei der Schwester und pflanzten sich in eine Ecke mit zwei freien Plätzen. Zwei Mädchen tuschelten, während ein Junge neben ihn einen pinken Pullover strickte.

„Also, was ist der Plan?“, fragte Amy. Brandon seufzte.

„Ich kann meinen Bruder in Rayono City anrufen, aber ich weiß nicht, ob er Zeit hat, uns zu helfen.“

„Dein Bruder?“ Amy runzelte die Stirn. Wovon redet er? „Wie soll er uns denn helfen?“

„Er ist ein ziemlich starker Trainer“, erklärte Brandon und fuhr sich durch das strubbelige, schwarze Haar. „Sogar stärker als du. Er ist vor ein paar Jahren losgezogen, aber hat seine Reise unterbrochen. Jetzt verbringt er die meiste Zeit in Rayono City.“

Amy winkte ab. „Ruf ihn meinetwegen an, aber das löst unser Problem nicht. Meinst du, wir sollten zur Polizei gehen?“

„Polizei?“, schaltete sich der strickende Junge überrascht ein. „Seid ihr etwa auch bestohlen worden?“

Amy sprang ihm fast auf den Schoß. „Auch? Von wem redest du? Was weißt du über diese Diebe?“

Er rutschte ein wenig zur Seite. Amy schämte sich sofort für ihren Ausbruch. Verlegen setzte sie sich gerader hin. „Tut mir leid. Was wolltest du sagen?“

„Dann ist es euch also auch passiert … das macht zwanzig Opfer seit letzter Woche, mich eingeschlossen. Ich bin übrigens Oliver.“

„Hi Oliver, ich bin Amy, das ist Brandon.“ Sie schüttelten seine Hand. „Du hast recht, wir sind eben beide ausgeraubt worden.“

Brandon beugte sich vor. „Wo haben sie dich überfallen, Oliver?“

„In einer der Gassen zwischen Stratos Street und Trend Street. Ich bin neu in der Stadt und wollte jeden Winkel erkunden.“ Er ließ den Kopf hängen. „Das war ein Fehler. Sie haben mich aus dem nichts angegriffen und mir mein ganzes Geld und meine Items gestohlen. Meine Pokémon hatten keine Chance.“

 „Gibt es schon Theorien, wer diese schwarz gekleideten Trainer sind?“, fragte Amy aufgeregt. „Oder was ihr Beuteschema ist? Gibt es irgendwelche Gemeinsamkeiten zwischen den Opfern?“

„Keine Theorien, außer dass die Trainer ziemlich stark sind“, erklärte Oliver. „In dieser Stadt sind hauptsächlich Anwärter für den zweiten Orden unterwegs, die haben keine Chance gegen die Gruppe. Von den Beschreibungen der anderen Opfer sind es mindestens sechs verschiedene, aber meist greifen sie nur mit zwei oder drei gleichzeitig an. Und diejenigen, die von ihnen beklaut werden … tja, Trainer wie du und dich. Anfänger, Neulinge in der Stadt. Jungs und Mädchen, ganz gemischt.“ Seine Hand wanderte zu seinem Pokégürtel. „Wenigstens waren es keine Pokémondiebe. Ich wüsste nicht, was ich dann getan hätte.“

Amy und Brandon tauschten einen Blick. Das klang überhaupt nicht gut. Amy sah auf die Uhr, die über Joys Tresen hing. Es war noch früh am Tag, gerade einmal zwei Uhr. Sie hatte keine Zeit zu verlieren. „Danke für die Infos“, sagte sie zu Oliver, der höflich nickte und sich wieder seinem Pullover widmete. Sie stand auf und ging zurück zum Tresen. Brandon folgte ihr. Schwester Joy kehrte gerade mit ihren Pokébällen im Arm zurück.

„Ich gehe jetzt zur Polizei“, flüsterte Amy Brandon zu, bevor Joy in Hörweite war. „Kommst du mit?“

Brandon nickte. „Einen Versuch ist es wert. Lass mich aber zuerst meinen Bruder anrufen.“

Amy nickte ungeduldig. „Okay, aber beeil dich. Ich warte hier.“

Während Brandon sich zu den Telefonen leiten ließ, befestigte Amy ihre Pokébälle wieder an ihrem Gürtel und beobachtete das Treiben der anderen Trainer. Unter ihnen war sehr wahrscheinlich weitere Opfer. Wenn sie mit den anderen sprechen konnte, würde sie vielleicht neue Hinweise finden. Vielleicht konnte Oliver ihr später sagen, wer sonst noch überfallen wurde.

Nur noch zwei Tage.

 

 

Eine halbe Stunde später stapften sie und Brandon durch die vollen Straßen zur Polizeistation. Schwester Joy hatte ihnen mit einem traurigen Lächeln den Weg geschildert.

Amy schielte in jede Gasse, an der sie vorbeikamen, versuchte verzweifelt, die Silhouette der Diebe auszumachen, aber vergebens. „Hör auf damit“, sagte Brandon nach einigen Minuten. „Was willst du tun, wenn du sie dort siehst? Auf sie zustürmen? Selbst mit unseren geheilten Pokémon weiß ich nicht, ob wir stark genug wären. Hast du das Deponitox gesehen? Urgh.“ Er schüttelte sich vor Ekel.

Amy umklammerte die Bälle an ihrem Gürtel. Deponitox war mindestens Level 36, und das Kastadur wahrscheinlich noch unter Level 40, sonst hätte es sich bereits entwickelt. Wenn sie davon ausging, dass alle Pokémon der mysteriösen Diebe in diesem Levelbereich waren, wäre ein Kampf tatsächlich schwierig, vor allem bei sechs Trainern.

Plötzlich tauchte in ihrem Sichtfeld ein großes, weißes Gebäude auf. „Schau, da ist die Polizeistation!“, rief Amy und wich damit geschickt Brandons Frage aus.

Innen war es klimatisiert, mit künstlichen Pflanzen in Kübeln, weißen Wänden und Plastikstühlen im Wartebereich. Amy fackelte nicht lange und ging sofort zur Rezeption, Brandon direkt hinter ihr.

„Entschuldigen Sie“, sagte sie zu der jungen Frau mit Hornbrille, die dort saß und in irgendetwas auf ihrem PC vertieft war. Als Amy auf den Bildschirm schielte, sah sie ein Kartenspiel. Solitaire? Sie räusperte sich und stellte sich auf die Zehenspitzen, um größer zu wirken. Wenn sie von ihrer Mutter etwas Nützliches gelernt hatte, dann war es, mit Autorität zu sprechen. „Wir würden gerne einen Diebstahl melden.“

„Diebstahl?“, fragte die Frau und nahm Amy in Augenschein. „Möchtest du eine Anzeige machen?“

Amy nickte. „Ja, bitte.“

Ihre Finger klackerten über die Tastatur. Hinter ihr begann ein Drucker zu röhren. Sie drückte ihnen zwei Papierböge in die Hand, zusammen mit Kugelschreibern. „Füllt diese Formulare bitte aus und gebt sie danach hier wieder ab.“

Amy sah auf das Papier. Nach der Angabe ihrer Personalien gab es zahlreiche Fragefelder. Was wurde gestohlen, wie viel, wo und wann. Irgendwie hatte sie erwartet, dass ein Detektiv sich mit ihnen zusammen an einen Tisch setzen und diese Einzelheiten persönlich berichten lassen würde. Sie schüttelte den Gedanken ab. Das hier war nicht Septerna City, sondern eine Großstadt. Hier galten andere Regeln. Zusammen mit Brandon setzte sie sich ins Wartezimmer, wo sie mit einer alten Dame mit Gehstock alleine waren.

Amy füllte das Dokument so ausführlich wie möglich aus, während Brandon neben ihr ein-Wort-Antworten auf fast alle Fragen hinkritzelte. Nach fünf Seiten mit allen möglichen—aus Amys Sicht unnötigen—Fragen, waren sie endlich fertig und gaben die Bögen wieder an der Rezeption ab.

Die Frau heftete sie in einen Ordner und widmete sich wieder ihrem Kartenspiel. Amy lehnte sich vor. „Wann können wir mit Ergebnissen rechnen?“

„Wie bitte?“ Die Frau sah verdutzt zu ihr. „Welche Ergebnisse?“

„Na, wegen dem Diebstahl“, sagte Brandon neben ihr. „Wir haben Anzeige erstattet, wann kriegen wir unsere gestohlenen Sachen wieder?“

„Nun, habt ihr eine Versicherung?“

Versicherung?

„Ihr habt keine?“ Sie seufzte. „Nun, dann kann euch euer Eigentum leider erst wieder zurückgegeben werden, wenn die Diebe gefasst wurden.“

„Ja, aber genau das wollen wir doch!“, protestierte Amy. Sie wollte wirklich nicht lauter werden, die Rezeptionistin machte nur ihren Job, aber es viel ihr verdammt schwer, ruhig zu bleiben. „Mir wurden zwei sehr wertvolle Gemälde gestohlen, die ich in zwei Tagen zurückhaben muss.“

„In zwei Tagen?“ Die Frau riss die Augen auf. „Es tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber das wird nicht passieren. Wir sind hier in Stratos City. Diebstähle passieren jede Woche zu hunderten. Wir haben alle Hände voll zu tun mit Fällen vor einigen Monaten. Allein der Weg dieser Dokumente, die ihr ausgefüllt hat, von hier über verschiedene Instanzen bis zu einem Polizisten dauert mehrere Tage. Ich fürchte, du wirst deine Gemälde nicht rechtzeitig zurückbekommen.“

Amy sank zurück auf ihre Hacken. Sie fühlte sich klein.

Brandon nahm ihren Arm. „Komm, lass uns abhauen“, flüsterte er, dann, etwas lauter, „Danke für ihre Hilfe. Nicht!“

Er bugsierte sie nach draußen, wo sie sich nebeneinander sie auf den Bordstein setzten. Amys Atem ging zu schnell. Trotzdem hatte sie das Gefühl, nicht richtig Luft zu kriegen. Plötzlich spürte sie Brandons Hand auf ihrem Unterarm. „Atme tief durch, okay? Komm, mach es mir nach.“

Einige Minuten lang atmeten sie gemeinsam im Takt, bis Amy sich wieder etwas beruhigt hatte. Sie ballte die Fäuste. „Das war so naiv“, murmelte sie wütend. „Was habe ich mir gedacht, dass die Polizei alles stehen und liegen lässt und diese Trainer innerhalb von vierundzwanzig Stunden dingfest macht? Denen ist doch egal, ob ein paar Kindern ihr Taschengeld weggenommen wurde.“

„Es war eine gute Idee, zur Polizei zu gehen“, entgegnete Brandon. „Je mehr Opfer dieser schwarzen Trainer sich bei ihnen melden, desto ernster müssen sie die Gefahr nehmen. Selbst, wenn wir unsere Sachen nicht zurückbekommen, werden sie vielleicht trotzdem aufgehalten.“

„Nein, du verstehst nicht.“ Amy umklammerte ihre Knie. „Diese Bilder … mein Papa hat sie gemalt.“

„Oh! Ist er … tot?“

„Was? Nein, das meinte ich nicht.“ Sie legte den Kopf auf die Seite, sodass sie Brandon ansehen konnte. „Wir haben … große Geldprobleme zu Hause. Ich dachte, wenn ich seine Bilder bei dem Atelier vorstelle und sie für eine berühmte Ausstellung angenommen werden, dann könnten wir neue Käufer finden und uns über Wasser halten. Aber der Einsendeschluss ist in zwei Tagen. Wenn ich die Bilder bis dahin nicht wiederhabe, ist es vorbei. Dann muss ich nicht nur nach Hause zurück und ihm sagen, dass wir weiter jeden Monat um unsere Existenz bangen müssen, sondern auch, dass ich seine besten Bilder verloren habe. Er hätte sie an jemand anderen verkaufen können. Ich habe ihn dazu überredet, dieses Risiko einzugehen, aber ich habe alles nur schlimmer gemacht.“

„Aber es ist nicht deine Schuld“, sagte Brandon. Er sah zu Boden. „Du bist nicht alleine in eine dunkle Gasse gegangen und hast zwielichtige Gestalten zum Kampf herausgefordert. Das war ich. Du bist mir nur zu Hilfe gekommen, nachdem du schon entschieden hattest, nicht mehr mit mir zu reisen, und dir wurde etwa viel Wertvolleres gestohlen als mir. Es ist meine Schuld, dass du jetzt in dieser Situation bist. Es tut mir leid, Amy.“

Amy nahm seine Hand und drückte sie freundschaftlich. „Hey, du hast genauso wenig Schuld an dieser Sache. Du hast mich nicht gezwungen, dir zu helfen, und überhaupt sind diese schwarzgekleideten Trainer diejenigen, die sich entschuldigen sollten.“

„Aber was machen wir jetzt?“, fragte Brandon. „Die Frau bei der Polizei hat sich sehr eindeutig ausgedrückt. Es kann Monate dauern, bis diese Gruppe gefasst wird.“

„Ganz einfach“, sagte Amy und rappelte sich auf. Sie reichte Brandon ihre Hand. „Wir müssen sie selber zur Strecke bringen.“

Amy – Akt 3, Szene 3

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Gesagt, getan.

Es dauerte ein wenig, bis Brandon nicht mehr versuchte, sie von ihrem Plan abzuhalten, aber danach ging alles ganz schnell. Amy würde eine Karte der Stadt erwerben, je detaillierter, desto besser, und sich in den Geschäften in der Nähe ihres Überfallsorts nach Informationen umhören, während Brandon sich bei den Opfern im Pokécenter kundig machte.

Eine Karte der Stadt zu finden, stellte sich als schwieriger heraus als erwartet, aber nach einer Stunde Suche hielt Amy endlich ihren Fund in den Händen. Sie kaufte direkt einen roten Filzstift dazu und markierte mit der Hilfe des Verkäufers den Ort, an dem sie und Brandon angegriffen worden waren.

Die Gassen waren nur schwer auf der Karte zu erkennen, aber sie gaben Amy zumindest ein Gefühl dafür, in welche Richtung der schwarze Trainer mit ihren Gemälden davongerannt sein könnte.

Bei den Geschäften hatte sie weniger Glück. Niemand wusste etwas von dunkel gekleideten Dieben oder besonders starken Trainern. Wenn überhaupt wurde sich über einige Raufbolde mit Lederjacken in der zwielichtigen Slim Street beklagt, deren Beschreibung aber nicht zu der Gruppe passte, die Amy suchte.

Nach zwei Stunden ergebnisloser Fragerei gab Amy sich frustriert geschlagen und kehrte ins Pokécenter zurück. Sie entdeckte Brandon, der in ein Gespräch mit einem jungen Mädchen vertieft war und sich auf einer Serviette Notizen machte. Amy bestellte etwas zu essen und setzte sich in eine ruhige Ecke, wo sie wartete, bis Brandon zu ihr stieß.

„Oliver hat mich den Trainern vorgestellt“, sagte er und ließ sich auf den Stuhl fallen. Bei dem Anblick der käsetriefenden Pizza fiel er sofort darüber her. Amy nahm unterdessen die Serviette und las seine Notizen durch.

„Keine riesigen Summen“, stellte sie fest. „Aber für die Trainer alles was sie hatten.“

Brandon nickte und schluckte einen großen Bissen Pizza hinunter. „Ein paar tausend Pokédollar hier, ein paar Tränke da. Aber Oliver meinte, dass allein letzte Woche zwanzig Trainer bestohlen wurden.“

„Und ich wette mit dir, dass es noch viel mehr Opfer gibt, von denen wir nicht wissen.“ Amy biss nachdenklich in ihre Pizza. „Oliver wurde auch hier bestohlen, oder?“ Sie deutete grob in den Kartenbereich zwischen den beiden östlichen Hauptstraßen. Brandon nickte.

„Ich habe ihn noch etwas genauer befragt, und er hat sich an das Eiscafé erinnert. Also war es wahrscheinlich sogar dieselbe Gasse.“

Amy machte ein zweites Kreuz, direkt neben das erste. „Okay, du diktierst, ich male.“

Brandon sah schweren Herzens seine angebissene Pizza an, nahm dann aber die Serviette in die Hand und begann vorzulesen. Je mehr Kreuze Amy machte, desto deutlicher wurde das Muster.

Bis auf ein oder zwei Ausnahmen hatten alle Diebstähle auf der östlichen Seite der Stadt stattgefunden, genauer gesagt im direkten Umkreis von Stratos Street.

„Meinst du, sie haben dort ein Hauptquartier?“, fragte Brandon mit verrenktem Hals.

„Möglich.“ Amy starrte die Karte an. „Oder es ist das Gebiet, das sich für sie am meisten lohnt. Denk dran, das Pokécenter ist direkt hier an der Ecke von Stratos Street. Es ist der Anlaufpunkt für neue Trainer.“

Brandon fing ihren Blick auf. „Das perfekte Jagdrevier“, flüsterte er.

„Die Orte der Verbrechen haben wir damit festgelegt“, sagte Amy. „Als nächstes die Täter. Oliver meinte, die Beschreibungen würden auf mindestens sechs Trainer hindeuten. Hat sich das bestätigt?“

Brandon nickte und zeigte ihr sein Gekrakel auf der Serviette. „Eine blonde, kurzhaarige Frau und ein Mann mit Dreads. Die zwei kennen wir schon. Ein dickeres Mädchen mit einem Zopf, überraschend jung. Dann sind da noch ein sehr großer Junge mit roten Haaren und Sommersprossen und eine hübsche Frau mit extrem viel Makeup. Und eine letzte Person, die niemand so richtig zu Gesicht bekommen hat.“

Amy machte eine Liste am Rand der Karte und wies den schwarzen Trainern jeweils Nummern zu. Auf das Kreuz, das ihren eigenen Überfall markierte, schrieb sie eine 1 und 2. „Die dritte Person, die meinen Rucksack mitgenommen hat ... es war eine normal große Person. Das schließt das Kind und den Rotschopf aus.“

„Die Make-Up Frau oder der Unbekannte“, stimmte Brandon zu. „Ebenfalls interessant: Manchmal nehmen sie nur das Geld mit, aber bei einigen der Opfern wurde einfach der komplette Rucksack gestohlen, Schlafsack und alles.“

Amy starrte die Karte an. Sie schrieb 6? neben die 1 und 2. „Lass uns jeden Fall durchgehen“, sagte sie. „Vielleicht finden wir irgendein Muster.“

Sie brüteten den Rest des Abends über der Karte. Am Ende ihrer Arbeit waren die Straßen und Gassen so mit Kreuzen, Zahlen und Symbolen übersät, dass ihr ursprünglicher Inhalt fast nicht mehr erkennbar war. Aber Amy las darin wie in einem Buch.

„Hier“, sagte sie und deutete auf eine Stelle nicht weit von ihrem eigenen Überfallsort entfernt. „Hier. Und hier.“

Brandon nickte nachdenklich. „Du könntest Recht haben. Aber um das herauszufinden, müssten wir es untersuchen.“ Er hob den Blick. „Aus der Nähe. Das wird gefährlich, Amy.“

„Ich habe keine andere Wahl“, sagte sie. „Ich brauche diese Gemälde. Aber ich verstehe, wenn du nicht mitkommen möchtest. Dein Bruder kommt sicher bald, und du hast schließlich nur etwas Geld verloren.“

Brandon presste die Lippen zusammen. „Nein, ich habe dir das eingebrockt, also helfe ich dir auch. Ich weiß zwar nicht, wieviel Kiesling und ich dir nützen werden, wenn ein Kampf losgeht, aber wir bleiben bei dir. Nochmal ausrauben können sie mich nicht.“

Amy grinste ihn dankbar an. Er grinste zurück. „Weißt du Brandon, am Anfang hast du mich echt auf die Palme gebracht, aber ich bin froh, dich getroffen zu haben.“

„Trotz allem?“, fragte er grinsend.

„Seien wir ehrlich, wenn du nicht gewesen wärst, säße ich wahrscheinlich heute noch in einem Busch Nesseln.“

„Ha! Das stimmt. Du hättest es nie alleine nach Stratos City geschafft.“

Amy lachte, wurde aber plötzlich ernst. Was hatte Brandon ihr im Ewigenwald beigebracht? „Kämpfen ist aber nicht alles“, flüsterte sie.

„Was hast du gesagt?“

„Shushh!“ Ihre Gedanken rasten. „Überlebensfähigkeiten, Orientierung, Achtsamkeit, Vorbereitung, Teamwork … das gehört alles dazu. Verstehst du?!“

„Nur Bahnhof“, gestand Brandon. Er hielt eine Hand auf ihre Stirn. „Hast du von dem ganzen Nachforschen Fieber bekommen?“ Sie schüttelte seine Hand ab.

„Du hast mir das erklärt. Stark sein ist gut und schön, aber es wird dir nicht in jeder Situation helfen.“

„Jaaaa, so etwas habe ich gesagt. Aber wie soll uns das helfen?“

„Sie können Kämpfen, und ich wette, sie haben auch die anderen Eigenschaften. Teamwork, Orientierung und Überlebensfähigkeiten insbesondere. Aber wenn wir ihnen das wegnehmen, wenn wir sie überraschen, voneinander trennen, wenn wir sie verwirren … dann können wir sie schlagen.“

Amy spürte eine Woge aus Tatendrang, wie warmes Licht, das ihren ganzen Körper flutete.

„Brandon, wir gehen jetzt shoppen.“

Amy – Akt 3, Szene 4

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

 

 

Am Ende ihres Kaufrausches war Amys neuer Rucksack randvoll mit allen möglichen und unmöglichen Gegenständen und Items, die ihr zwischen die Finger gekommen waren. Brandon lief hinter ihr, die Rechnung laut vorlesend.

„Fluchtseile, Supertränke, Schutz … soweit so gut, Amy, aber was willst du bitte mit dem anderen Zeug? Die Taschenlampe verstehe ich ja noch, aber Kreide? Speiseöl? Mehl?

„Lass mich nur machen, okay?“ Amy sah in den Himmel. Inzwischen war es dunkel, aber dank der hell erleuchteten Stadt konnte sie nur eine Handvoll Sterne erkennen. „Komm, wir müssen uns beeilen.“

Brandon kratzte sich am Kopf, nickte aber und holte zu ihr auf. „Da du weißt, was für eine hirnrissige Idee dein sogenannter Plan ist, werde ich mich nicht wiederholen, aber bei dem kleinsten Anzeichen von Schwierigkeiten zischen wir ab, okay?“

„Ja, natürlich.“ Amy beschleunigte ihre Schritte. Trotz des Gewichts war der Rucksack lange nicht so schwer wie die Gemälde von ihrem Papa. Ich werde sie wiederfinden, dachte sie energisch. Ich muss einfach!

Nach etwas Fußweg erreichten sie Trend Street. Trotz der späten Stunde waren noch viele Passanten unterwegs. Schön gekleidete Paare suchten Restaurants auf, um den Abend ausklingen zu lassen und aus einer Karaokebar plärrten dumpfe Pop-Songs. Der Eiscremeladen war bereits geschlossen, aber Amy nutzte das Aushängeschild als Wegweiser. Sie bog rechts in die Gasse ab und trat in die Schatten.

Es dauerte nicht lange, bis sie den Ort des Überfalls erreichten. Hier hatten die zwei Trainer gestanden und sie verhöhnt, dort auf dem dreckigen Pflaster hatte Brandon gehockt, und hier … Amy drehte sich um 180° und folgte der Quergasse nach Süden, wo der dritte Trainer mit ihren Bildern entlang geflohen war.

„Hier lang“, flüsterte sie und ging los. Hinter ihr hörte sie die vorsichtigen Schritte von Brandon.

„Habe ich schon erwähnt, dass ich das hier für eine Schnapsidee halte?“

„Nur zehnmal. Jetzt reiß dich zusammen! Willst du mir nun helfen oder nicht?“

„Natürlich helfe ich dir“, grummelte er. „Ich weiß einfach nicht, warum wir hier ausgerechnet nachts hinkommen müssen. Es ist gruselig.“

„Gerade weil es Nacht ist“, sagte Amy. Auf Brandons verdutzten Blick hin fiel ihr auf, dass sie ihren Gedankengang nie richtig erklärt hatte. Sie räusperte sich. „Die Opfer, die du befragt hast. Sie konnten sich alle an das Aussehen der Trainer erinnern, oder?“ Brandon nickte. Amy drehte sich zu ihm um und ging schnell einige Schritte rückwärts. „Stell dir vor, du würdest mich nicht kennen und ich würde dich überfallen. Du bist panisch. Es ist stockduster, so wie jetzt. Denkst du wirklich, du könntest dich daran erinnern, ob ich Sommersprossen habe, oder Make-Up trage, oder ob mein Haar rot ist oder eine andere Farbe? Die Details sprechen dafür, dass die Sonne noch schien. Dann ist es hier zwar dunkel, aber nicht so finster wie jetzt. Daraus ergibt sich, dass alle Diebstähle tagsüber stattgefunden haben.“

„Wow, Amy …“ Brandon grinste sie schamlos an. „Du bist ja richtig schlau!“

„Ach, halt doch den Mund!“

„Nein, wirklich! Hey, warte doch!“ Brandon lief ihr hinterher, als sie ihre Schritte beschleunigte. „Sorry, das kam falsch rüber. Ich meine es ernst. Das ist wirklich schlau. So weit hatte ich gar nicht gedacht. Du denkst also, wir werden ihnen heute nicht mehr über den Weg laufen?“

Versöhnt wandte Amy sich Brandon zu. „So lange wir nicht geradewegs in ihr Versteck stolpern, sollten wir keine Probleme haben. Und zur Not haben wir ja das hier dabei.“ Sie tätschelte den fetten Rucksack.

„Ja, unser … eh, Mehl wird es diesen Schurken richtig zeigen.“

„Du bist unverschämt und unerträglich, Brandon.“

Er lachte. „Sag doch sowas nicht, ich werde ganz rot.“

Amy schüttelte verzweifelt den Kopf. Wenn doch nur Ronya hier wäre! Mit ihrer besten Freundin hätte sie auch einen weit weniger flauen Magen. Sie mochte Brandon gut zugeredet haben, aber ihre Vermutung mit der Tageszeit konnte genauso gut ein Zufall sein. Vielleicht waren die anderen Gassen besser beleuchtet, vielleicht hatte der Feuerschein eines Pokémons die Angreifer erleuchtet. Aber sie musste sich einfach an einer Theorie versuchen, sonst würde sie noch tagelang rumsitzen und mit sich selbst debattieren. Auch wenn es ein Risiko war, sie musste herausfinden, wohin der Dieb geflohen war.

Nach einigen Minuten fanden Brandon und sie sich in einer Sackgasse wieder. Frustriert sah Amy die Hausfassaden empor. Es gab weit und breit keine Hintertüren, und die Gasse hatte sich zwar zwischen den Gebäuden entlanggeschlängelt, war aber nie abgezweigt. Der Dieb musste hier lang gekommen sein.

„Das war wohl ein Schuss ins Lee— AU!“

Amy fuhr bei Brandons Aufschrei herum. „Was ist passiert?!“

„Nichts, nichts, alles gut.“ Brandon hüpfte auf einem Fuß, bis er sich an einer Steinwand mit diversen Regenrinnen abstützen konnte. „Bin nur gestolpert.“

Amy kniete sich hin, um zu sehen, worüber Brandon fast gefallen war. Im Dunkeln war es schwer zu erkennen, aber da war ein Gullideckel in den Betonboden eingelassen. Und die Kante ragte leicht nach oben. Jemand hatte ihn nicht richtig geschlossen.

„Bingo! Brandon, du hast ihr Versteck gefunden!“

„Hab‘ ich das?“

Amy nickte ihm triumphierend zu. „Deshalb hat niemand sie jemals kommen oder gehen sehen. Sie verstecken sich in der Kanalisation.“

Gemeinsam hoben sie den Gullideckel an. Amy zückte ihre frisch erworbene Taschenlampe und leuchtete in das dunkle Loch. Eine Metallleiter führte nach unten, wo schwarzes Wasser durch einen Kanal floss. Ein schmaler Betonpfad auf beiden Seiten ließ gerade genug Raum, um dort alleine entlang zu gehen. Ein unangenehmer, modriger Geruch stieg ihr entgegen.

Sie rümpfte die Nase, klemmte die Taschenlampe unter ihren Gürtel, mit dem Lichtstrahl nach unten, und begann hinabzuklettern. „Pass bloß auf, Amy“, warnte Brandon, der ihrem Abstieg von oben sehr misstrauisch zuguckte. „Rutsch bitte nicht aus. Ich will nicht runterklettern und dich retten müssen.“

„Ich bin froh, dass du deine Prioritäten hast“, sagte Amy, aber da traf ihr Fuß schon auf festen Grund. Sie leuchtete um sich. Eine gewölbte Decke folgte über ihrem Kopf dem Pfad des Wassers, das geradlinig nach links und rechts führte. Sie ließ ihren Lichtstrahl über den Fußpfad gleiten.

Es dauerte nur wenige Minuten, bevor sie etwas Interessantes fand. Ein welkes Brennnesselblatt lag einige Meter entfernt auf der rechten Seite, und nur wenige Meter davon entfernt entdeckte sie in einer leichten Einsenkung des Bodes etwas Matsch, den ein Schuh weitergetragen hatte.

„Doppel-Bingo“, flüsterte sie. Sie folgte der Richtung der Schuhabdrücke, bis sie an eine Kreuzung mit einem anderen Zweig der Kanalisation kam. An einer Seite entdeckte sie eine Leiter, die nach oben führte, aber die Fußspuren deuteten nach rechts. Sie machte eine winzig kleine Markierung mit der Kreide, die sie gekauft hatte, und ging weiter.

Plötzlich hörte sie Schritte hinter sich. Panisch fuhr sie herum und leuchtete mit der Taschenlampe direkt auf … „Brandon!“, fuhr sie ihn an. Ihr Herz klopfte wie wild. „Willst du, dass ich einen Herzinfarkt kriege?“

„Du hast nicht mehr auf meine Rufe geantwortet“, verteidigte er sich sofort. „Ich wollte sichergehen, dass du nicht zu weit gehst. Hast du etwas gefunden?“

Amy seufzte und atmete tief durch. Sie zeigte auf die Fußspuren. „Unser schwarzer Trainer ist auf jeden Fall hier entlanggekommen.“

Brandon zog ihre bemalte Karte hervor und Amy leuchtete darauf, damit sie etwas sehen konnten. Er zeichnete mit dem Stift eine gestrichelte Linie. „Hier sind wir ungefähr“, stellte er fest.

Amy begutachtete die Linie. Sie führte nach Nordosten, weiter ins Jagdgebiet der schwarzen Trainer. „Ich wette, ihre Basis ist irgendwo hier unten. Wenn wir sie finden, während sie unterwegs sind, können wir das Diebesgut vielleicht zurückstehlen, bevor sie etwas merken.“

„Und wie willst du das anstellen? Wenn sie die Kanalisation benutzen, um ungesehen durch die Stadt zu kommen, könnten wir ihnen jederzeit über den Weg laufen.“

„Alleine schaffen wir das nicht“, stimmte Amy zu. „Deshalb brauchen wir Verstärkung.“

Amy – Akt 3, Szene 5

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Brandon sah sie kurz verdutzt an, dann schien er zu verstehen. „Aha, jetzt wird ein Schuh draus. Das hättest du mal früher sagen können.“

Amy strahlte ein letztes Mal in die Dunkelheit. Wie gerne würde sie jetzt sofort losziehen und nach der Basis der Diebesbande suchen! Aber Brandons Worte hallten immer wieder in ihrem Kopf nach. Wenn sie sich im Ewigenwald besser vorbereitet hätte, wäre sie den meisten Problemen auf ihrer Reise entwichen. Ronya wäre das nicht passiert, dachte sie plötzlich und spürte eine erneute Woge Schmerzen in der Brust. Sie vermisste ihre Freundin. Ob sie inzwischen in Ewigenau angekommen war? Amy hatte keine Zeit gehabt, ihre E-Mails zu überprüfen, so viel war seit ihrer Ankunft in Stratos City vorgefallen. Hoffentlich ging es ihr und Max gut.

„Alles okay, Amy?“ Brandon sah sie ehrlich besorgt an. „Machst du dir Sorgen wegen der anderen?“

Sie schüttelte ihre Gedanken ab. „Nein, ist schon okay. Ich vermisse nur meine beste Freundin. Sie ist super schlau und immer auf alles vorbereitet. Mit ihr wäre das hier ein Klacks.“

„Tja, dann musst du sie wohl stolz machen und es alleine schaffen.“ Er grinste. „Jetzt komm, hier unten stinkt es und es ist kalt. Morgen geht es richtig los, und wir haben noch viel zu tun.“

Als sie endlich wieder im Pokécenter ankamen, war es bereits neun Uhr abends. Trotzdem trollten sich noch einige Trainer im Gemeinschaftsraum, spielten Karten, futterten Snacks aus dem Automaten oder trugen frische Wäsche die Treppe hoch zu ihrem Zimmer. Amy schnupperte an ihrem eigenen Oberteil und rümpfte sofort die Nase. Sie hatte auch schon besser gerochen. Zum Glück waren alle Pokécenterzimmer mit Duschen ausgestattet.

Neben ihr reckte Brandon den Hals. „Siehst du Oliver irgendwo?“

Amy sah sich um, schüttelte aber den Kopf. „Vielleicht ist er schon schlafen gegangen. Egal, dann müssen wir ihn eben wecken. Erkennst du sonst jemanden wieder?“

Brandon nickte und deutete auf einige der Trainer. „Die dort hinten habe ich interviewt. Und da sind auch noch welche, neben der Rezeption beim Bücherregal.“

„Okay, du trommelst sie zusammen, ich kümmere mich um Oliver. Wir treffen uns in unserem Zimmer.“

Er nickte entschlossen und steuerte auf eins der Karten spielenden Grüppchen zu. Amy fragte bei Schwester Joy nach Olivers Zimmernummer und fand sich wenig später vor der entsprechenden Tür wider. Sie klopfte an. Nichts geschah. „Oliver!“, rief sie und klopfte energischer. „Oliver, mach bitte die Tür auf!“

Die Tür schwang auf und traf sie fast ins Gesicht. „Vorsicht!“, kreischte sie. Oliver, in Pyjamas gekleidet und mit einer schäumenden Zahnbürste im Mund, sah sie entrüstet an. „Waff denn?!“

„Wir müssen ganz dringend mit dir sprechen“, sagte sie. „Es kann leider nicht bis morgen warten. Kommst du gleich in unser Zimmer? Wir sind Nummer 14.“

 Er schluckte die Zahnpasta hinunter und musterte sie eindringlich. „Meinetwegen. Aber es ist besser wirklich so wichtig, wie du sagst.“ Er knallte ihr die Tür vor der Nase zu.

„Das lief doch super“, murmelte Amy, konnte ihre Aufregung aber nur noch schwer unterdrücken. Jetzt wo es dunkel und spät war, lief sie zur Höchstform auf. Mit Schwester Joys Hilfe stattete sie noch einigen anderen Opfern einen Besuch ab und fand sich schließlich eine halbe Stunde später mit Brandon und dreizehn anderen Trainern in allen möglichen Stadien der Bekleidung und Müdigkeit eingezwängt in ihrem Zimmer wider.

Zufrieden sah sie die ungewöhnliche Truppe an. Sie warf Brandon einen anerkennenden Blick zu. Nicht alle Opfer waren vertreten, aber mehr als die Hälfte. Das war schon ein Erfolg.

„Tut mir leid, dass wir euch so spät noch belästigen“, begann sie und musste unwillkürlich schlucken. Sie hatte noch nie vor so vielen Menschen gesprochen, schon gar nicht, wenn sie etwas von ihnen wollte und sie davon überzeugen musste. Ihre Mutter hätte die Trainer bestimmt in Windeseile kleinlaut gemacht, eingeschüchtert und dazu genötigt, alles für sie zu tun, aber so war Amy nicht und so wollte sie auch nicht sein. Es musste anders gehen! Sie holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Als sie weitersprach, zitterte ihre Stimme nur bei den ersten paar Wörtern. „Ich heiße Amy, und das hier ist Brandon. Genau wie ihr sind auch wir von den dunkel gekleideten Trainern ausgeraubt worden. Und wir haben herausgefunden, wo sie sich verstecken.“ Ein Raunen ging durch die Gruppe. Hier kam der Knackpunkt. „Jetzt wollen wir unser Eigentum zurückholen. Morgen geht es los. Wer ist dabei?“

Wäre es Sommer, hätte sie draußen die Grillen zirpen gehört. „Nur nicht alle auf einmal“, lachte sie verlegen. Ihr brach der Schweiß aus. Wenn sie die Trainer nicht dazu überreden konnte, ihr zu helfen, waren die Chancen, die Bilder zurückzubekommen, fast null. „Ich weiß, ich überrumpele euch hier ein bisschen, aber ihr wollt eure Sachen doch auch zurück, oder?“

„Na ja, klar“, sagte Oliver, der immer noch im Schlafanzug an einer Wand lehnte und sich die Schläfen rieb. „Aber das letzte Mal, dass ich denen über den Weg gelaufen bin, hatte ich nicht den Hauch einer Chance. Genauso wenig wie du und Brandon. Warum denkst du, dass wir plötzlich irgendetwas gegen sie ausrichten können?“

Amy sah von einem zum anderen. Ein Mädchen mit kurzem, schwarzen Haar erinnerte sie an Ronya. Sie hatte ein Buch im Arm und über ihrer Schulter hing ein schläfriges Floink. Der Gedanke an ihre Freundin gab ihr neue Kraft. Wenn Ronya es schaffte, sich von der Querschnittslähmung ihres Pokémons zu erholen und einen Schlachtplan zu dessen Rehabilitation zu starten, konnte sie wohl ein paar gute Argumente vorbringen. „Dein Floink kann bestimmt Smog, oder?“, fragte sie. Das Mädchen schreckte auf und presste das Buch enger an sich. „J-ja, Funkel hat es vor kurzem gelernt.“

„Und du“, fuhr Amy fort und deutete auf einen tuschelnden Trainer mit einem Bluzuk, das über ihm schwebte. „Ich wette, dein Bluzuk kann jede Menge richtig nervige Attacken, hab` ich Recht?“, unterbrach sie ihn. „Superschall, Schlafpuder, oder Stachelspore vielleicht?“

Er wirkte ertappt, grinste aber bei ihren Worten. „Oh ja, darin ist Joker ein Pro.“

Oliver ließ die verschränkten Arme sinken und sah nachdenklich auf seinen Pokéball. „Du willst nicht gegen sie kämpfen“, sagte er langsam. „Du willst sie sabotieren.“

„So lange wie möglich“, stimmte Amy zu. Sie war heilfroh, dass Oliver verstanden hatte. Nein, er hatte nicht nur verstanden. Er war selbst auf ihren Plan gekommen. Das war noch viel besser. Obwohl er ruhig war, schien er etwas älter als die meisten Trainer zu sein, und machte dein Eindruck eines besonnenen Anführers. Wenn sie ihn überzeugen konnte, hatte sie mit dem Rest der Trainer vielleicht auch eine Chance. „Plan A ist Verwirrung stiften, Ablenkungsmanöver starten, und Chaos verbreiten. Dann können wir unsere gestohlenen Sachen heimlich zurückholen. Wenn sie mich dabei erwischen, werde ich nicht am Kämpfen vorbeikommen, aber je mehr von euch mir helfen, sie fernzuhalten, umso unwahrscheinlicher wird das. Deshalb brauchen Brandon und ich eure Hilfe. Wenn eure Pokémon irgendwelche nervigen Attacken kennen oder anderweitig Chaos stiften können, macht mit und helft uns. Helft euch, euer Eigentum zurückzuholen!“

Der Junge mit dem Bluzuk lachte laut auf. „Oh Mann, ich bin sowas von dabei. Sie haben mir schon alles abgenommen, was irgendeinen Wert hat. Nicht mal meine Trainer-ID haben sie verschont. Ich musste gestern eine neue bei Schwester Joy beantragen und mir von meinem Freund frische Unterhosen leihen. Die können mir gar nichts mehr, und ich will mich an diesen Dieben rächen. Du bist auch dabei, oder Joker?“ Bluzuk fiepte und schwebte aufgeregt hin und her.

„Ich werde auch helfen“, sagte das wie Ronya aussehende Mädchen. Sie fing Amys Blick auf. „Angst habe ich zwar schon, aber so wie ich das verstanden habe, willst du nicht, dass wir gegen sie kämpfen, sondern aus der Ferne Statusattacken machen. Das wird gutes Training für Funkel sein, damit er lernt, mit Smog umzugehen. Und wenn der Plan gelingt, umso besser.“

„Was ist mit dir, Oliver?“, fragte Amy.

„Arghh …“ Er strubbelte sich durchs Haar. „Ich will wirklich, wirklich nichts mit diesen Schurken zu tun haben. Ich hatte tagelang Albträume von dem Überfall. Aber wenn selbst Leah bereit ist, zu helfen … dann mache ich mit. Ich kann bestimmt etwas zum Erfolg der Mission beisteuern, und je mehr wir sind, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass einem von uns etwas passiert, während wir alleine sind.“

„Super!“ Amy schwebte auf Wolke sieben. Das waren drei Trainer mehr, damit konnte sie schon arbeiten. Vor allem auf das Bluzuk freute sie sich. Das Käferpokémon lernte so ziemlich alle Statusattacke, die man sich vorstellen konnte.

„Was ist mit dem Rest von euch?“, fragte Brandon neckend. „Wollt ihr euch von euren Kollegen abhängen lassen? Wir werden natürlich versuchen, alles Diebesgut zurückzubringen, aber wer mithilft, bekommt seine Sachen auf jeden Fall. Wer weiß, wie viel da unten in ihrer Basis liegt und wie viel wir zurücklassen müssen …“

„Jetzt wird es unfair“, grummelte ein großer, sehr schmaler Junge mit blondem Haar. „Ich hatte mich schon mit dem Verlust meiner seltenen Sammelkarten abgefunden, aber der Gedanke, dass sie hätten gerettet werden können und ihr sie nicht mitbringen konntet … nein, das ertrage ich nicht. Ihr habt meinen Beistand, für was auch immer er nützlich sein wird.“

Begeistert sah Amy dabei zu, wie sich nach und nach Trainer für die Sache aussprachen.

Nach einer weiteren Stunde Diskussionen und Besprechungen, saßen sie und Brandon alleine in ihrem Zimmer. „Elf machen mit, zwei sind raus“, sagte Brandon und ließ sich rückwärts ins Bett fallen. „Das lief erstaunlich gut.“

Amy nickte. Ihre Gedanken schwelgten bereits bei dem Moment, wenn sie in der Basis ankommen und die Bilder ihres Papas in Händen halten würde.

„Aber etwas wollte ich noch wissen, Amy. Jetzt, wo die anderen weg sind.“

Amy sah zu ihm herunter. „Schieß los.“

„Du hast die ganze Zeit von Plan A gesprochen. Was ist mit Plan B?“

Amy seufzte und ließ sich neben ihm ins Bett fallen. Sie war nicht sicher, ob sie heute Nacht schlafen konnte. „Das sehe ich dann, wenn es soweit ist.“

Amy – Akt 3, Szene 6

7 Jahre vor Team Shadows Gründung

 

Am nächsten Morgen fand sich Amys Truppe im Gemeinschaftsraum des Pokécenters zusammen. Amy gähnte ausgiebig und rieb sich schläfrige Tränen aus den Augen. Sie war extra früh aufgestanden, um noch Zeit für eine Dusche zu haben, auch wenn sie vermutete, dass sie am Ende des Tages nach Kanalisation und Rauch stinken würde. Brandon hingegen wirkte quietschfidel.

„Wieso bist du so fit?“, fragte sie vorwurfsvoll. „Du warst doch gestern Nacht viel nervöser als ich, und ich habe fast kein Auge zugetan.“

„Schlafen kann ich immer“, entgegnete Brandon stolz. „Einmal bin ich—“

„Amy?“, unterbrach Oliver ihn, als er sich zu ihnen stellte.

Amy nickte ihm zur Begrüßung zu. „Was gibt es, Oliver?“ Bitte bekomm jetzt keine kalten Füße, ich brauche jeden einzelnen von euch!

„Ich, ehm, wollte nur sagen … Es tut mir leid, dass ich gestern etwas ungehalten war, aber ich weiß es wirklich zu schätzen, dass du versuchst, all unsere Sachen zurückzubekommen. Leah … in ihrem Rucksack war das einzige Bild ihrer verstorbenen Oma, das sie besitzt. Sie war am Boden zerstört, nachdem sie überfallen wurde. Die Chance, das Bild zurückzubekommen, bedeutet ihr alles.“

„Leah …“ Amy sah an Oliver vorbei zu dem Mädchen mit den kurzen Haaren und dem Floink auf der Schulter. Sie sah nicht wirklich wie Ronya aus, ihre Gesichtszüge waren weicher, ihr kurzes Haar war länger und die Augenfarbe anders, aber trotzdem fühlte Amy sofort eine Verbindung zu ihr. „Wir werden das Bild wiederfinden“, sagte sie eindringlich. „Versprochen.“

Oliver nickte und ging zurück zu dem Rest der frisch rekrutierten Trainerbande. Amy rubbelte ihre Wangen, um sich wachzurütteln. „Aaaalso gut, Brandon, wir dürfen niemanden enttäuschen. Es gibt Bilder, Omas und Sammelkarten zu retten. Lass uns gehen.“

„Was? Jetzt schon?!“ Er stolperte hinter ihr her, während sie Richtung Ausgang stapfte und den anderen Trainern bedeutete, ihr zu folgen. „Was ist mit meinem Bruder, wollten wir nicht auf ihn warten? Was ist mit Frühstück?

„Dahinten steht ein Snack-Automat. Und deinem Bruder kannst du einfach eine Nachricht bei Schwester Joy hinterlassen“, winkte Amy seine Einwände ab. Sie hatten keine Zeit, auf Brandons Bruder zu warten. Er war nicht mal sicher, ob er kommen würde, geschweige denn wann. Es konnte heute, oder morgen, oder Ende der Woche sein. „Er wird uns schon finden.“

„Klar, natürlich, ich schreibe ihm einfach die Adresse des Geheimverstecks in der Kanalisation auf!“

Amy reckte ihm einen Daumen entgegen und kicherte, als sie ihn hinter sich fluchen und zurückrennen hörte.

Trotz ihrer Drohung warteten sie und die restlichen Trainer vor dem Pokécenter, bis Brandon zu ihnen aufschloss. Brandon warf ihr einen strafenden Blick zu. „Ich hoffe wirklich, er kommt auf die Idee, bei Schwester Joy nachzufragen. Ich sage dir, er ist wirklich stark.“

„Ganz genau, und weil dein Bruder so ein erfahrener Trainer ist, wird er sich schon zurechtfinden. So!“ Sie klatschte in die Hände und wandte sich den Trainern zu. Schläfrige, nervöse und aufgeregte Gesichter blickten ihr entgegen. Sie lächelte grimmig. „Es geht los. Danke für eure Hilfe, ich weiß das wirklich zu schätzen und ich werde euch nicht enttäuschen.“ Sie sah zu Leah, als sie das sagte. Leah sah sie überrascht an, aber nach ein paar Sekunden verwandelte sich die Überraschung in ein Lächeln.

Sie sieht süß aus, dachte Amy. Dann fiel ihr auf, was sie da gerade gedacht hatte. Ihr wurde schlagartig heiß und kalt. Sie räusperte sich energisch und sah schnell von Leah weg.

„A-also, wie ich gestern bereits erklärt habe, teilen wir uns in mehrere Gruppen auf. Richard und Chloe sind Köderteam 1, Percy und Vanessa sind Köderteam 2. Ihr stellt euch bei den Gullis östlich von Trend Street und Stratos Street auf und täuscht vor, gute Opfer zu sein. Inszeniert einen Kampf gegeneinander, tut so, als hättet ihr euch verlaufen oder verletzt, was immer euch liegt. Wenn wir Glück haben, reicht das schon, um sie aus der Kanalisation zu locken.“

Die vier nickten ihr zu und stellten sich nebeneinander auf. Amy hatte sie für die Köderteams ausgewählt, weil ihre Pokémon am wenigsten für Ablenkungsmanöver geeinigt waren, und Percys kleine Statur machte ihn zu der perfekten Zielscheibe. Sie hatten die vier mit leeren Rucksäcken ausgestattet, die aber so prall mit Plastikflaschen und Papier ausgestopft waren, dass sie aus allen Nähten platzten.

„Als nächstes das Invasionsteam“, fuhr Amy fort. „Das wären Brandon, Oliver und meine Wenigkeit. Wir sind dafür verantwortlich, das Versteck der schwarzen Trainer in der Kanalisation zu finden und das Diebesgut zurückzubringen. Mit uns kommen die Ablenkungsteams 1, 2 und 3. Leah und Greg, Jimmy und Karl, Melanie und Zeke. Ihr kommt mit uns mit in die Kanalisation. Team 1 bleibt bei uns als Verstärkung, Team 2 und 3 stiften Verwirrung in unterschiedlichen Richtungen. Auch wenn sie in der Kanalisation verteilt sind, sollten wir sie so von ihrer Basis weglocken können.“

„Wir zeigen es diesen Waschlappen!“, rief jemand in die Runde. Amy machte eine beschwichtigende Geste. „Ich freue mich über den Enthusiasmus, aber bitte spielt nicht den Helden.“ Sie sah sich ernst in der Runde um. „Wenn es zu heiß wird, wenn ihr in Gefahr seid oder Angst bekommt, geht kein Risiko ein und lauft weg. Ihre Aufmerksamkeit auf euch gelenkt zu haben, ist schon die halbe Miete. Passt bitte auf euch auf.“

„Hört, hört“, lachte Greg. Sein Bluzuk Joker hielt sich an seinem Haar fest, so als säße er auf einem Motorrad und Bluzuk müsste sich festhalten, um nicht wegzufliegen. „Ich haue nicht ab, egal was passiert. Diese Diebe können mich mal!“

Amy gab auf. Sie tauschte einen letzten Blick mit Brandon. Er zuckte mit den Achseln, so als wollte er sagen, dass ihm auch nichts mehr einfiel, was es zu sagen gäbe. „Gut, dann gehen wir los. Köderteam 2, wir sehen euch heute Abend im Pokécenter. Der Rest kommt mit mir.“

Sie bildeten eine lustige Karawane, wie sie mit elf Trainern und fast derselben Zahl Pokémon eng gequetscht durch die gefüllten Straßen von Stratos City marschierten. Amy bildete die Vorhut zusammen mit Brandon, Oliver hatte sich für die Nachhut bereiterklärt. Amy versuchte, ihre Nervosität unter Kontrolle zu halten, aber je näher sie der Gasse kamen, in der sie und Brandon gestern überfallen worden waren, desto zusammengeschnürter fühlte sich ihr Brustkorb an. Hatte sie ein Recht, so viele Trainer zu ihrem nicht gerade ausgereiften Plan zu überreden, nur weil sie unbedingt ihre Gemälde zurückhaben wollte? Was, wenn jemandem etwas passierte? Was, wenn—

„Hey.“ Sie sah zur Seite, nur um Leahs Gesicht direkt vor sich zu sehen. Ihre Augen waren ein stürmischen grau, das nach innen hin zu blau wurde. Ihr Mund wurde trocken und sie sah hektisch zurück nach vorne.

„H-hey Leah!“ Viel zu laut!

„Ich wollte mich bei dir bedanken“, sagte Leah. Sie lehnte sich vor, so als wollte sie Amy ins Gesicht sehen, aber Amy wich ihrem Blick stoisch aus. „Bei den Sachen, die mir gestohlen wurde, war ein Bild von meiner verstorbenen Großmutter dabei.“

„Ich weiß“, sagte Amy, bevor sie nachdenken konnte. „Oliver hat es mir eben erzählt.“

„Oh!“ Leah sah ebenfalls nach vorne. „Dann weißt du es schon.“ Sie schwiegen eine Weile. Amy wünschte, sie könnte einfach im Boden versinken.

Sie wollte sich dir anvertrauen, und du würgst sie mit „Ich weiß“ ab!

Nach einer Weile fuhr Leah jedoch fort, so als hätte Amy sie nie unterbrochen. „Sie hat mich aufgezogen, weil meine Eltern keine Zeit für mich hatten. Letztes Jahr hatte sie eine Lungenentzündung und hat es nicht geschafft. Ich vermisse sie sehr.“ Sie zog die Nase hoch. Amy schielte zur Seite.

Oh nein, sie war kurz davor, zu weinen. Was sollte sie tun? Was sollte sie tun?!

Bevor sie es sich anders überlegen konnte, legte sie einen Arm um Leahs schmale Schultern und zog sie während des Gehens an sich. „Hey, nicht weinen. Wir finden dein Bild. Wir finden es. Vertrau mir einfach, okay?“

Leah schniefte und nickte und ließ sich in Amys halbe Umarmung sacken. Sie gingen die ganze Zeit weiter, aber durch den Ansturm der Menge von allen Seiten war Amy recht sicher, dass hinter ihnen niemand das Gespräch mitbekommen hatte. Ihr Blick fiel zu Brandon, der direkt neben ihr lief und sie mit hochgezogenen Augenbrauen unverschämt angrinste. Am liebsten wäre Amy ihm an die Gurgel gesprungen, aber sie hielt immer noch Leah fest.

Nach einer Weile erreichten sie die Gasse und sie löste ihren Arm. Leah wirkte wesentlich gefasster. Ihre Augen glänzten zwar etwas, aber sie strahlten auch Entschlossenheit und Siegeswille aus. „Du wirst mal eine richtig gute Trainerin werden“, sagte Amy zu ihr und wischte eine Träne aus ihrem Augenwinkel. Leah beobachtete ihre Hand, als sie diese zurückzog.

„In dir steckt sehr viel Trauer, Amy“, sagte sie und strich ihr eine blonde Locke aus der Stirn. „Was immer du dort unten suchst, wir finden es auch, okay? Mach dir keine Sorgen.“

Plötzlich stand Brandon direkt neben ihnen. „Ladies, wenn ihr euer Flirten kurz pausieren könntet, wir sind da.“

„Wer flirtet?!“, fauchten Amy und Leah gleichzeitig. Amy zog sehr viel Genugtuung daraus, dass Leah genauso rot war wie sie. „Verdammt, Brandon, als Freund bist du ein absoluter Alptraum, weißt du das?“, grollte Amy und stapfte an ihm vorbei in die dunkle Gasse. Hinter sich hörte sie nur Brandons wildes Keckern und Leahs Schimpftirade. Sie führte die Trainer durch die vielen Windungen zu dem Gulli, den sie gestern gefunden hatten. Erleichtert stellte sie fest, dass er noch genauso leicht verschoben war, sie ihn gestern zurückgelassen hatten. Noch war niemand herausgekommen.

„Da sind wir“, sagte sie zu der versammelten Mannschaft. Ihr Blick glitt zu Percy und Vanessa. „Ihr bleibt hier oben. Sobald ca. 30 Minuten vergangen sind, könnt ihr euer Theater starten.“

Percy, der schlaksige Junge von gestern, nickte ihr zu. „Wir werden euch nicht enttäuschen.“

Amy hob den Deckel an und kletterte hinunter in den dunklen Schlund der Kanalisation.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallo ihr Lieben :D

Da bin ich wieder! Ich hoffe, die alten Hasen unter euch haben sich gut von Abbys Abenteuern erholt und sind bereit für eine Pokémon Fanfiction der etwas anderen Art ;) Den Neueinsteigern wünsche ich viel Spaß und hoffe, dass ihr diese neun Trainer trotz ihrer Eigenarten schnell ins Herz schließt.

Die Hauptstory Abbygails Abenteuer müsst ihr nicht gelesen haben, um hier mitzukommen, aber beide Geschichten hängen zusammen, reinzuschauen schadet also nicht. Seid aber gewarnt, dass die Team Shadow Thematik in Abbys Abenteuern erst relativ spät aufgegriffen wird, ihr braucht also langen Atem. In welcher Reihenfolge ihr die Geschichten lest, ist dabei selbstverständlich euch überlassen :)

Da dies hier nur der Prolog ist, mit dem ich Abbys Geburtstag (den 10. August) feiern möchte, gibt es zusätzlich das richtige Update am Samstag. Die Reihenfolge der Kapitel wird streng chronologisch sein und beginnt mit einem neunjährigen Zeitsprung in die Vergangenheit.

Aber genug gefaselt, ich habe schon viel zu viel verraten :D
Ich freue mich, euch alle begrüßen zu dürfen, und wünsche euch eine tolle Zeit mit Prelude of Shadows!

-yazumi-chan Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallo ihr Lieben!

Erstmal vielen Dank für eure Geduld. Es war mir sehr wichtig, meine Daemon-Trilogie dieses Jahr noch fertigzustellen und da musste PoS leider hinten anstehen. Ab jetzt sollte es allerdings wieder regelmäßig vorangehen. Falls ihr dieses Jahr nichts mehr von mir hört, wünsche ich euch allen erholsame Weihnachtstage und einen guten Rutsch ins Neue Jahr.

Eure yazumi-chan Komplett anzeigen

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Von:  Lady_Ocean
2023-04-26T11:57:24+00:00 26.04.2023 13:57
Ich bin die ganze Zeit schon gespannt darauf, wer wohl Brandons Bruder ist. Und jetzt betont er schon wieder so, dass der sehr stark ist. Ich rechne fast schon mit einem ganz großen Fisch. Arenaleiter oder vielleicht Top 4 sogar. Bis "Champ" will ich mal nicht pokern. ^^° Ich hoffe nur, dass er rechtzeitig ankommt, um bei der ganzen Aktion noch eine Hilfe zu sein. Es ist ja wirklich recht wackelig, was dieses Amateur-A-Team da geplant hat (und wofür das Öl? Schmierfallen legen, damit alle ausrutschen?). Ich hoffe, der Überraschungseffekt gibt ihnen den nötigen Vorteil.
*hihi* Mit Amy und Leah haben sich ja zwei gefunden. Und Brandon amüsiert sich köstlich. Ich bin nun aber auch neugierig, ob die zwei nach diesem Abenteuer den Kontakt halten, vielleicht sogar ein Stück weit zusammen weiterziehen (später hat man von Leah allerdings nichts mehr gehört, also wird es wohl so oder so eine temporäre Verbindung bleiben), oder ob sich ihre Wege direkt nach dieser Aktion schon wieder trennen. Aber erst mal muss diese Aktion überstanden werden. Ich hab schon richtiges Herzklopfen.

Wo Kerstin-san grad einen Kommentar zu dem Frühstück gelesen hat: Das hat mich an einen ähnlichen Kommentar gelesen, den ich neulich in einer Fanfic hatte: "Einen Krieg kann man verschieben, aber niemals ein Mittagessen." - Wie passend! XD
Antwort von:  Lady_Ocean
26.04.2023 13:58
Argh, ich brauch 'ne Korrektur-Funktion. "Wo Kerstin-san grad einen Kommentar zu dem Frühstück geschrieben hat" wollte ich schreiben.
Und apropos Fehler. Ziemlich am Anfang fehlt ein "Leid". Da heißt es: "Es tut mir, dass ich gestern etwas ungehalten war" :)
Antwort von:  Kerstin-san
26.04.2023 16:48
Vielleicht geh ich da auch zu sehr von mir aus xD Ich muss morgens frühstücken, komme was wolle. Nur wenn ich super krank bin, lasse ich vlt. mal ein Frühstück ausfallen, aber alleine schon kreislauftechnisch brauch ich morgens immer was im Magen.
Antwort von:  Lady_Ocean
27.04.2023 07:23
Mir ist mein Frühstück aber auch heilig. XD Also ich weiß, wo dein Gedanke herkommt. ^^ Und grad wenn 'ne superwichtige Prüfung oder irgendsowas ansteht, würde ich das nicht ausfallen lassen.
Aber als ich jünger war, hatte ich das auch, dass ich bei extremer Nervosität nix runterbekommen habe.
Von:  Kerstin-san
2023-04-22T06:43:03+00:00 22.04.2023 08:43
Hallo,
 
haha, "es gibt Omas zu retten". Amy ist wirklich noch nicht ganz wach, was? xD
 
Also ohne Frühstück würde ich auch nicht losziehen, weiß doch keiner wie lange sie unterwegs sein werden (es sei denn sie haben dran gedacht Proviant mitzunehmen) und sie müssen ja wahrscheinlich auch rennen etc. Auf leeren Magen nicht ganz so gut. Was, wen so was nachher den entscheidenden Unterschied macht? Da hilft wahrscheinlich auch ein kurzer Stop am Snackautomaten nicht (obwohl der natürlich besser als nichts ist).
 
Amy und Leah sind in ihrer peinlichen Verlegenheit echt süß. Ich musste etwas kichern, als sie Brandon so synchron angefahren haben.
 
Ein Fehlerchen hab ich noch gefunden: "Amy zog sehr viel Genugtun daraus" Genugtuung müsste es wohl heißen.^^
 
Und irgendwo war die Rede davon, dass sie zu elft durch die Stadt ziehen, aber müssten es nicht eig. 13 Trainer sein (2 Köder- und 3 Ablenkungsteams zu je 2 Personen sowie das dreiköpfige Invasionsteam)?
 
Liebe Grüße
Kerstin
Antwort von:  yazumi-chan
22.04.2023 10:58
Fehlerteufel ist korrigiert, danke dir!

Es sind elf Trainer, weil eins der Köderteams in die andere Richtung geht. Sie trennen sich quasi direkt am Anfang.
„Gut, dann gehen wir los. Köderteam 2, wir sehen euch heute Abend im Pokécenter. Der Rest kommt mit mir.“
Antwort von:  Kerstin-san
22.04.2023 18:55
Ahhh, okay, danke für die Aufklärung :)
Von:  Lady_Ocean
2023-04-10T03:19:17+00:00 10.04.2023 05:19
Klasse, dass so viele Trainer mitmachen. Das erhöht ihre Chancen wirklich. :D Team Rocket haben es Jahre später mit ihrem Großangriff ähnlich gemacht. Ihre Pokémon waren im finalen Kampf deutlich schwächer als die der Shadows, Areanaleiter und der anderen Trainer, die sich ihnen gestellt haben, aber ihre schiere Masse und ihre Statusattacken waren einfach überwältigend. Das sollte man nicht unterschätzen. Vor allem, wenn die angreifenden Pokémon, so wie bei Amys Plan, sich versteckt halten und dadurch gar nicht so leicht außer Gefecht zu setzen sind. Hauptsache, die zwei Trainer, die nicht mitmachen, halten sich wirklich einfach nur raus und es ist nicht ein Maulwurf unter ihnen (oder unter den 11 Leuten, die mitmachen), der sie an diese Diebesbande verpfeifen könnte.
Und sag mal, müsste bei Mebrana nicht auch die Entwicklung anstehen? Level 36, hab ich grad gesehen (gegoogelt). Es ist doch schon auf Level 34 oder 35 ungefähr, oder? Falls es hart auf hart kommt und Amy doch wieder kämpfen müsste, könnte sie durch Mebranas Weiterentwicklung einen entscheidenden Vorteil erlangen.

Und die Sammelkarten! XD Was diese Diebe nicht alles mitgehen lassen. Die reißen sich echt alles unter den Nagel, was kein Pokémon ist, was? Mal sehen, wie viel von den geklauten Dingen noch in deren Versteck lagern. Hoffentlich viel.

Oh, und interessant fand ich auch zu Beginn Amys kurzen Gedanken dazu, dass sie nachts zu Hochtouren aufläuft. Nachtschwärmerei war also schon immer ihr Ding. Dann hatte sich ihr natürlicher Schlafrhythmus vielleicht auch gar nicht so sehr mit dem spartanischen Trainingsprogramm ihrer Mutter gebissen. Das wäre wenigstens ein kleines Trostpflaster. Ich bin gespannt, wann sie ihren Schlaf-Wach-Rhythmus gänzlich umstellt. Skus Training, das Abby, die nachts überhaupt nicht gern wach ist, so viel Mühe gemacht hat, wäre für Amy garantiert ein Kinderspiel gewesen. ^^
Von:  Kerstin-san
2023-04-07T16:38:09+00:00 07.04.2023 18:38
Hallo,
 
Plan A lief bis jetzt doch viel besser als erwartet. Ich kann total verstehen, dass Amy super nervös ist, aber ich fand, dass sie das echt gut gemacht hat. Dass Oliver sofort verstanden hat, was ihr Plan ist und direkt zwei andere Trainer einverstanden waren zu helfen, hat sicher den Weg für die anderen, da noch zögernden Trainer geebnet.
 
Übrigens musste ich etwas über den Jungen mit seinen Sammelkarten schmunzeln, der bei dem Gedanken, dass die Rettung seiner heiligen Karten zum Greifen nah ist, aber dann doch scheitern würde, weil Amy & Co wichtigere/andere Sachen mit zurücknehmen, eingeknickt ist. Ich fand das total sympathisch :)
 
Liebe Grüße
Kerstin
Von:  Kerstin-san
2023-03-30T17:31:39+00:00 30.03.2023 19:31
Hallo,
 
uhhh, der Spannungspegel steigt. Ich hab echt etwas die Luft angehalten, weil ich damit gerechnet habe, dass jeden Moment eine Attacke aus dem Hinterhalt kommt. Na ja, erstmal vertagt. Etwas in Sorge bin ich ja wegen der Bilder, die Amy sucht. Wenn die wirklich in der Kanalisation zwischengelagert worden sind, ist die feuchte Umgebung da unten sicherlich auch Gift für sie.
 
Ich bin sehr neugierig, wie Amys zahlreiche Einkäufe von Nutzen sein werden - die Genialität ihrer Hilfsmittel sehe ich nämlich (wie Brandon) momentan auch noch nicht.
 
Liebe Grüße
Kerstin
Von:  Lady_Ocean
2023-03-30T04:19:10+00:00 30.03.2023 06:19
Boah, ich hab so viel Schiss, dass die zwei jederzeit entdeckt und wieder aus dem Hinterhalt überfallen werden. Dann haben sie gar nichts gekonnt. T_T Sie sind hier auf fremdem Boden. Die Diebe können sich hier wahrscheinlich notfalls sogar ohne Taschenlampe bewegen, weil sie die Wege in- und auswendig kennen. Amys Taschenlampe hingegen ist schon von weitem zu sehen. Und auch wenn das Wasser der Kanalisation wahrscheinlich ein wenig herumgluckert, wird man sie sicherlich gut hören können. Also falls irgendwer von diesen sechs Dieben in der Nähe ist, haben sie schlechte Karten. Ich frage mich, ob Amy noch weiter gehen will, um evtl. deren Lager zu finden, wo die Bilder ihres Vaters sein könnten, oder ob sie sich sofort auf den Rückweg macht, um Verstärkung zu holen (aber wen? Die anderen bestohlenen Trainer? Der Arenaleiter? Brandons Bruder ist noch nicht da und die Polizei kannst du vergessen). Und ich bin gespannt, wofür sie das Mehl und das Speiseöl noch braucht! :D Mit Öl den den Boden rutschig machen? Aus dem Mehl Mehlbomben fertigen? Den gesamten Plan hat Amy Brandon jedenfalls noch nicht erzählt, sonst wäre er bezüglich Mehl, Öl und Kreide nicht genauso ratlos wie ich. ^^°
Und: Ich hoffe, Amy denkt dran, dass diese Trainer sicherlich auch Tränke haben werden. Vielleicht sogar ein paar Beleber. 'ne ganze Menge Diebesgut jedenfalls. Also selbst wenn sie ihnen 1:1 auflauern kann, bedeutet das längst nicht, dass ihre Ausrüstung ausreicht, um deren Pokémon tatsächlich zu besiegen.
Von:  Kerstin-san
2023-03-22T16:06:30+00:00 22.03.2023 17:06
Hallo,
 
Amy und Brandon würden gute Polizisten abgeben, so strukturiert wie die beiden hier vorgehen und alle Hinweise zusammenpuzzeln, um ein genaues Bild der Lage zu bekommen.
 
Mir geht richtig das Herz auf, wie gut die beiden sich auf einmal verstehen und sich gegenseitig unterstützen. Gut, dass Amy noch einige Pokédollar parat hat - ich nehme an, die werden jetzt sehr gut investiert.
Wäre vlt. eine Überlegung wert einige andere Trainer mit ins Boot zu holen oder wenigstens zu informieren und jemanden zu instruieren zur Polizei zu gehen, wenn Amy und Brandon sich bis Zeitpunkt X nicht mehr melden. Schon klar, dass die Polizei einen richtig schlechten Eindruck hinterlassen hat, aber so ganz ohne Backup fände ich das doch sehr gewagt.
 
Liebe Grüße
Kerstin
Von:  Lady_Ocean
2023-03-22T03:31:53+00:00 22.03.2023 04:31
Einfach Wahnsinn, wie strategisch Amy ihre schwierige Lage angeht und wie viele Informationen sie allein durch das Befragen der anderen TrainerInnen herausbekommen konnte. Und dass sie nun sogar Ideen hat, wie sie das Teamwork und die Orientierung der anderen Bande torpedieren können, um sich die nötigen Vorteile in einem gerechten Pokémonkampf zu verschaffen. Ich bin gespannt, worauf Amy hinauswill. Und ob sie das zu zweit packen können oder ob sie dafür noch weitere Hilfe brauchen werden. Ob sich nach dieser bitteren Erfahrung noch andere Nachwuchs-Trainer dazu überreden lassen, solch ein Wagnis einzugehen, da wäre ich mir nicht so sicher. Das sind ja alles noch Anfänger gewesen, die diese in Schwarz gekleideten Diebe ausgeraubt haben. Wenn Amy die Hilfe der anderen Trainer allerdings nicht braucht, um in einem direkten Kampf noch einmal gegen sie anzutreten, sondern nur indirekt, um z. B. mit Rauchwolke oder Sandwirbel die Sicht zu verschleiern, mit Giftwolke für Gestank zu sorgen, jemanden mit Gesang oder Hypnose müde zu machen oder so (aus dem Verborgenen heraus) - DANN könnte ich mir vorstellen, dass einige, deren Pokémon die notwendigen Attacken beherrschen, durchaus mit von der Partie wären.

Was mir im Punkt "Überraschungseffekt" grad noch einfiel: Bei dem Überfall auf Amy kamen die Angriffe wie aus heiterem Himmel. Die Pokémon müssen also schon außerhalb ihrer Bälle gewesen sein. Sonst hätte das rote Licht und dieses typische Surren, wenn sich der Ball öffnet, den Angriff angekündigt und Amy und ihre Pokémon hätten zumindest ein bisschen Zeit gehabt zu reagieren.
Antwort von:  Lady_Ocean
30.03.2023 06:20
Oh, und danke, dass du uns sogar extra vorgewarnt hast, dass du nach diesem Akt erst mal eine Pause bis zum Sommer machen wirst! ^^ Ich wünsche dir auf jeden Fall ganz viel Erfolg für die Dinge, die gerade bei dir anstehen, und dass du danach mit Feuereifer an PoS weiterschreiben kannst! :D
Von:  Lady_Ocean
2023-03-19T23:16:35+00:00 20.03.2023 00:16
Durch das spartanische Pauken ihrer Mutter hat Amy auch wahnsinnig viel Theoriewissen angesammelt. Beeindruckend, wie sie anhand ihres kurzen Kampfes das Level von Kastadur und Deponitox so gut einschätzen konnte. Und es beruhigt mich ein wenig, wenn Amy das so sieht. Das sind immer noch wahnsinnig hohe Level für ein paar Rüpel, die abseits der etablierten Strukturen trainieren, aber man sieht ja immer wieder, wie weit es solche Leute bringen können und dass einfach viel von einem Grundverständnis fürs Kämpfen und für die Partner-Pokémon abhängt. Wenn die Pokémon dieser Diebesbande nicht jenseits Level 40 sind, hat Amy, wenn sie sich auf einen Kampf vorbereiten kann, vielleicht wirklich eine Chance. Beim letzten Mal haben sie sie eiskalt mit Amys Typennachteilen erwischt, aber beim nächsten Mal wird ihr das nicht passieren. Allerdings löst das nicht das Problem, dass es außer ihr weit und breit niemanden gibt, der halbwegs an dieses Level rankommt. Brandon wird ihr in einem Pokémonkampf keine große Hilfe sein können. Brandons Bruder vielleicht. Der soll laut Brandon ja sogar noch stärker sein als Amy. Wer weiß, was ihn damals dazu bewogen hat, seine Reise abzubrechen. Vielleicht waren das auch ziemlich besondere bittere Umstände. Aber erst mal muss besagter Bruder zu ihnen kommen. Und das rechtzeitig. Und selbst dann sind sie nur zu zweit gegen sechs. Und Amy hat jetzt auch gar nicht die Zeit, mit ihrem Team noch mal intensiv zu trainieren. Zwei Tage sind einfach zu wenig und sie muss erst einmal Anhaltspunkte finden, wo diese Diebe hin sind. Sie haben echt schlechte Karten ... :/
Und die Polizei ist so was von gar keine Hilfe. Damit war zu rechnen gewesen, aber es ist trotzdem enttäuschend. Eine Option wäre vielleicht noch der hiesige Arenaleiter. Die sorgen in ihren Städten ja normalerweise auch für Recht und Ordnung. Ich frage mich, ob einer von den anderen, die seit vergangener Woche ausgeraubt wurden, sich mal an ihn gewandt hat. Oder ob sie da vielleicht gar nicht dran gedacht haben oder es von vornherein aufgegeben haben, weil es nur um Geld- und Sachdiebstahl ging, nicht aber um Pokémondiebstahl.
Von:  Kerstin-san
2023-03-18T10:22:17+00:00 18.03.2023 11:22
Hallo,
 
bezüglich krimineller Banden kann Amy sich jetzt ja mit Ronya zusammentun... Irgendwie traurig, dass die scheinbar so häufig auftauchen und reihenweise ihre Opfer finden, ehe sich jemand für ihr Treiben interessiert.
Amy geht jedenfalls sehr analytisch und strukturiert vor: Polizei informieren; gleichzeitig so viele Opfer wie möglich ausfindig machen, um die Bande besser einschätzen zu können und mehr über sie zu erfahren etc.
Generell merkt man, dass sie es gewohnt ist, auf sich allein gestellt zu sein: Sie findet die Vorstellung, dass ihnen Brandons Bruder helfen könnte ja sehr weit hergeholt. Ich weiß natürlich nicht, wie schnell der in der Stadt sein kann, aber wenn er jetzt nicht gerade ewig braucht, ehe er dort eintrifft, ist es meiner Meinung nach sicherlich nicht verkehrt, ihn um Hilfe zu bitten. Er scheint immerhin ein starker Trainer zu sein.
 
Tja, die Mühlen der Bürokratie mahlen wohl auch in der Pokémonwelt eher langsam. Arme Amy, sie ist wegen der Bilder echt fertig (was nur allzu verständlich ist), aber gerade deswegen auch voller Tatendrang. Bin ja sehr gespannt, wo sie ansetzen will, um die Kriminellen ausfindig zu machen.
 
Liebe Grüße
Kerstin


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