9. Kapitel, in dem Hikari sich verknallt
„Na los, mach‘ den Mund auf. Ich will’s sehen“, forderte Hikari ihn auf und sah ihn erwartungsvoll an.
Takeru runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Seit gestern hatte er eine feste Zahnspange im Mund, die ein ziemlich schmerzendes Druckgefühl auf seinen Zähnen verursachte und sein Lächeln verunstaltete. Er hatte sich gestern Abend im Spiegel gesehen und einen Schock bekommen, als ihm statt Zähne nur Metall entgegenblitzte. Doch sein Kieferorthopäde hatte darauf bestanden, dass er eine trug. Sein Unterkiefer stand zu weit hinten und zwischen seinen oberen Schneidezähnen hatte sich eine Lücke gebildet und auch sonst gab es den ein oder anderen schiefen Zahn. Takeru war das alles nicht wichtig gewesen, doch trotzdem hatte er nun dieses Ding im Mund und musste zwei Jahre lang damit herumlaufen, was ihn schon am ersten Tag unsagbar nervte.
„So schlimm ist es gar nicht, T.K.“, sagte Yamato gelassen.
„Und außerdem, was soll’s. Heute gucken dich alle an, morgen sieht es keiner mehr und fertig. Und in zwei Jahren bist du das Ding doch wieder los“, fügte Taichi schulterzuckend hinzu.
Schließlich seufzte Takeru und öffnete widerwillig den Mund, um Hikari seine Zahnspange zu zeigen. Sie musterte ihn, dann lächelte sie aufmunternd.
„Sieht echt nicht so schlimm aus“, meinte sie.
Takeru, Hikari und ihre Brüder hatten den Samstagnachmittag gemeinsam im Park auf der Wiese verbracht und das schöne Sommerwetter genossen. Es kam mittlerweile recht selten vor, dass sie zu viert etwas unternahmen, da Taichi und Yamato oft keine Lust auf ihre jüngeren Geschwister hatten, doch heute war es anders. Da Takeru sich wegen seiner Zahnspange mies fühlte, hatten sie ihn wieder ein wenig aufmuntern wollen.
„Echt mal. Und wenn dir irgendeiner blöd kommt, kannst du immer noch mit deinen großen Brüdern drohen“, sagte Taichi und grinste überheblich.
Große Brüder. Mehrzahl. Ja, es hatte sich schon von Anfang an so angefühlt, als hätte er zwei große Brüder. Und Hikari war so etwas wie seine Schwester. Das hatte sich mal geändert, während er ein paar Jahre nicht in Odaiba gewohnt hatte, doch jetzt waren sie wieder wie Pech und Schwefel. Heute würde er bei ihr übernachten, weil sie noch gemeinsam Musik hören wollten. Hikari hatte eine neue CD bekommen, die sie ihm unbedingt zeigen wollte.
„Jap. Dann machen wir sie fertig und sie werden sich wünschen, nie geboren worden zu sein“, stimmte Yamato seinem besten Freund zu.
„Ähm, also übertreiben braucht ihr es nicht“, meinte Takeru, doch Hikari lachte amüsiert und fuhr sich durch das kurze Haar.
„Ich übertreibe nicht, ich helfe ihnen nur beim Verstehen“, sagte Yamato schulterzuckend, woraufhin Hikari noch mehr lachte. Er lächelte spöttisch. „Ist alles okay mit dir? Kommst du klar?“
Sie nickte und kriegte sich endlich wieder ein, schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und zupfte schon wieder an ihrem Haar herum. Eigentlich tat sie das nur, wenn sie nervös war. Zum Beispiel, wenn sie in der Schule nach vorn an die Tafel musste, um eine Aufgabe vorzurechnen, kurz vor einem ihrer Ballettauftritte vor der ganzen Schule oder im Wartezimmer beim Zahnarzt. Doch warum war sie jetzt nervös? Skeptisch hob Takeru eine Augenbraue und musterte sie.
Später am Abend lagen sie in Hikaris Bett, jeder einen Ohrstöpsel im Ohr und hörten sich die neue CD aus Hikaris Discman an. Dabei redeten sie über ganz belanglose Sachen und starrten die Zimmerdecke an. Nichts Wichtiges, sondern einfach ein normaler Abend für sie beide.
„Jetzt kommt mein Lieblingslied“, verkündete sie aufgeregt und drehte die Lautstärke höher. Leise sang sie mit und bewegte die Hände im Takt der Musik, als würden sie tanzen, ganz ohne ihr Zutun. „Ich glaube, ich frage Matt mal, ob er das auf der Gitarre spielen kann. Stell‘ dir vor, er singt dieses Lied! Das muss unglaublich gut sein.“
„Wieso? Der Sänger klingt doch ganz cool“, erwiderte Takeru verständnislos. Ja, er mochte es auch, wie sein Bruder Gitarre spielte und sang, doch Hikari schwärmte ja geradezu von ihm.
„Ja, schon. Aber Matts Stimme ist noch besser.“ Sie sang ein besonders emotionales Stück des Refrains mit. „Ja, er sollte das definitiv mal singen.“
Takeru musterte sie stirnrunzelnd von der Seite. Dieses verträumte Lächeln auf ihren Lippen, der seltsame Ausdruck in ihren haselnussbraunen Augen… Das passte gar nicht zu ihr. Er kannte sie so gut, doch es war das erste Mal, dass er sie so sah.
„Sag mal, bist du in ihn verknallt oder so?“, fragte er und bemühte sich um einen lässigen Tonfall.
Er beobachtete ihre Reaktion genau. Ertappt drehte sie den Kopf von ihm weg, ihre Wangen färbten sich rosa und ein Grinsen schlich sich auf ihre Lippen und zeigte ihre Zähne.
„Vielleicht“, antwortete sie geheimnisvoll, was für Takeru ein eindeutiges Ja war.
„Was?“, erwiderte er entgeistert. „Ist das dein Ernst? Matt?“
„Mann, T.K.!“ Sie spielte nervös mit ihren Fingern. „Jetzt sag‘ das doch nicht so komisch. Ich bin dreizehn, also kein Kind mehr. Darf ich da nicht mal verknallt sein?“
Takeru zögerte. „Doch, aber… Matt?“
„Naja, er ist schon ziemlich süß“, murmelte Hikari verlegen.
Genervt wandte Takeru den Blick von ihr ab und versuchte, sich auf die Musik zu konzentrieren. Warum störte es ihn eigentlich so, dass Hikari seinen Bruder süß fand? Es konnte ihm doch genau genommen egal sein. Aber nein, stattdessen fühlte es sich an, als wäre sein Herz plötzlich ein Stein. Kalter, grauer Stein. Er war wütend. Er wollte sie verletzen.
„Ich glaube, er hat eh bald ‘ne Freundin“, sagte er herablassend.
Nun drehte Hikari sich zu ihm um und sah ihn mit großen Augen an. „Glaubst du? Woher willst du das wissen?“
„Als ich letztens bei ihm war, hat er dauernd SMS an ein Mädchen geschrieben. Sora oder so“, erzählte Takeru scheinbar gleichgültig.
Hikaris Lächeln verblasste. „Was hat er ihr denn geschrieben?“
„Woher soll ich das wissen? Ich hab‘ nicht mitgelesen.“
„Weißt du, wie sie aussieht? Geht sie auch auf seine Oberschule?“
Takeru stöhnte. „Keine Ahnung, Mann. Frag‘ ihn doch.“
„Ähm, nein?“, rief Hikari, so als wäre es völlig abwegig, überhaupt mit Yamato zu reden. Sie zögerte eine Weile, schien über irgendetwas nachzudenken. „Kannst du ihn nicht fragen?“
Takeru hob eine Augenbraue. „Nee. Ich will das überhaupt nicht wissen.“
„Wieso denn nicht? Er ist dein Bruder.“
„Eben.“
„Aber das muss dich doch interessieren. Komm‘ schon, ich hab‘ dir letztens auch erzählt, dass ich Tai und dieses Mädchen beim Rumknutschen gesehen habe.“
„Und das wollte ich auch nicht wissen.“
„Dafür warst du aber voll interessiert.“
„War ich gar nicht.“
„Warst du wohl. Ist jetzt auch egal. Bitte frag‘ Matt mal nach dieser Sora aus für mich, okay?“
„Nee, keine Lust.“
„Bitte.“
„Nein.“
„Bitte, bitte, bitte, bitte, bitte, bitte, bitte, -“
„Na schön!“
Sie strahlte ihn an und kuschelte sich an ihn. „Du bist der Beste.“
„Jaja“, murrte er.
„Nein wirklich“, betonte Hikari. „Aber sag‘ mal, wen findest du denn aus der Schule süß?“
„Was? Süß?“ Er war verwirrt. Wen fand er denn eigentlich aus der Schule süß? Darüber hatte er noch nie nachgedacht. Bisher hatte sich sein Leben einfach um seinen Alltag gedreht: Schule, Hausaufgaben, seine zerrüttete Familie, Basketball und Hikari. Er hatte noch gar keine Gelegenheit gehabt, irgendjemanden süß zu finden. „Gar keinen.“
Hikari machte ein enttäuschtes Gesicht. „Wie langweilig. Nicht mal Kanako?“
Kanako war das coolste Mädchen in der Klasse. Sie hatte die größten Brüste, die strahlendsten Augen, das süßeste Lächeln und erzählte jedem, wie gut ihr siebzehnjähriger Freund küssen konnte. Sie war den anderen, vor allem den Jungs, weit voraus, wodurch sie den Ton angab und es schaffte, dass jedes Mädchen in der Klasse mit ihr befreundet sein wollte. Selbst Hikari. Takeru jedoch war sie einfach nur unheimlich.
„Nee“, antwortete er entschieden.
„Also echt keine?“, hakte Hikari verständnislos nach. Anscheinend war auch sie schon weiter als er, denn immerhin dachte sie schon über ihre Mitschüler des anderen Geschlechts nach.
„Nein, keine“, bestätigte Takeru kopfschüttelnd.
„Naja, jetzt mit der Zahnspange hättest du es eh ganz schön schwer bei den Mädels“, erwiderte sie und lächelte schelmisch.
„Ach, halt‘ doch die Klappe!“, grummelte er und schlug sie mit einem Kissen.