47. Kapitel, in dem es eine nächtliche Ruhestörung gibt
Jäh schreckte Hikari aus dem Schlaf, als jemand gegen ihre Tür donnerte. Ihr Herz raste, so sehr hatte sie sich erschrocken. Ihr stockte der Atem, als sie sich aufsetzte und zur Tür starrte. Hatte sie abgeschlossen? Ja, hatte sie. Wer wollte da etwas von ihr?
Angespannt wartete sie ab, doch das Klopfen hörte nicht auf, wurde eher drängender. Hikari griff nach ihrem Handy. Kurz nach drei Uhr in der Nacht, doch das interessierte sie nicht. Mit zittrigen Fingern wählte sie den Notruf, doch dann ertönte von der anderen Seite der Tür eine dumpfe Stimme.
„Kari? Komm‘ schon, mach‘ auf!“ Takeru.
Erleichtert und gleichzeitig wütend sprang Hikari aus dem Bett, drehte den Schlüssel um und riss die Tür auf. „Was zur Hölle?!“
Schon auf den ersten Blick konnte sie sehen, dass er betrunken war. Wie so oft in den letzten Monaten. Mit einer Hand hielt er sich am Türrahmen fest und schwankte trotzdem gefährlich. Seine Augen waren glasig und nur halb geöffnet, sein Haar zerzaust. Seine Jacke war offen und am Kragen des T-Shirts, das er darunter trug, befand sich ein roter Fleck. Lippenstift? Seine Jeans hingen tief und sein T-Shirt war ein wenig verrutscht, sodass sie den Bund seiner Boxershorts und einen Streifen Haut sehen konnte.
„Hi“, murmelte er, legte im nächsten Moment die Hände an ihr Gesicht, zog sie an sich und presste seine Lippen auf ihre.
Der Geruch von Alkohol schlug ihr entgegen, drang ihr in Mund und Nase, benebelte ihr Gehirn. Ein Schauer schoss ihr über den Rücken und im ersten Moment war Hikari zu geschockt, zu überwältigt von der Situation, um sich zu bewegen, doch als sie ihr Bewusstsein zurückerlangte, machte sie sich grob von ihm los und sprang einen Schritt zurück. Takeru stolperte und fiel fast.
Entsetzt starrte sie ihn an, unfähig etwas zu sagen.
Er starrte zurück, oder versuchte es zumindest. Er runzelte die Stirn und kniff die Augen zusammen, als hätte er Schwierigkeiten, sie zu erkennen.
„Bist du irre?!“, fuhr sie ihn schließlich an.
„Ich muss dir was sagen“, nuschelte er mit heiserer Stimme.
„Nein“, erwiderte sie und schüttelte heftig den Kopf.
„Kari, ich…“
„Nein, ich will es nicht hören“, unterbrach sie ihn und hielt sich demonstrativ die Ohren zu. Plötzlich wusste sie, was kommen würde, was er auf einmal zu sagen hatte. Immerhin hatte er sie eben geküsst. Oder es zumindest versucht.
„Es is‘ wichtig“, drängte er, stolperte auf sie zu und griff nach ihren Handgelenken, um ihre Hände von ihren Ohren wegzuziehen.
„Takeru, es ist nach drei Uhr nachts und du bist sternhagelvoll!“, rief Hikari und trat noch einen Schritt zurück. „Das ist wohl kaum der richtige Zeitpunkt, um irgendwas zu sagen.“
„Es is‘ der richtige Zeitpunkt“, beharrte er. „Kari, ich…“
„Geh‘ einfach schlafen, okay? Wir reden morgen.“
„Nein! Es muss jetz‘ sein!“
„Ich will es aber nicht hören!“
„Du musst es hören, weil es das Wichtigste überhaupt in meinem ganzen Leben ist!“
Hikari presste die Lippen aufeinander und starrte ihn an. Dann sollte er es ihr halt sagen. Danach konnte sie ihn in sein Bett schicken und dann war endlich Ruhe. Nur ein paar Minuten, dann war es vorbei.
„Hika“, setzte er an, schwankte und hielt sich mit einer Hand am Schreibtisch fest, „ich muss dir was sagen.“
Inzwischen kaute Hikari angespannt auf ihrer Unterlippe herum und ließ ihn nicht aus den Augen. Sie hatte Angst, dass er noch einmal versuchen würde, sie zu küssen. „Was denn?“
„Ich…“, er senkte die Lider, blickte zu Boden, als würde er dort nach den richtigen Worten suchen, dann sah er sie wieder an. „Ich liebe dich.“
Stille.
Hikaris Herz raste. Sie war fassungslos, obwohl sie seit ein paar Minuten damit gerechnet hatte. Es aus seinem Mund zu hören, war noch einmal etwas anderes. Sie wurde sich der skurrilen Situation bewusst, in der sie beide sich befanden. Er total betrunken, kaum aufrecht stehen könnend, nach Alkohol riechend, gestand ihr lallend seine Liebe; sie im Pyjama, wahrscheinlich zerzauste Haare und müde aussehend, wollte das nicht hören. Zudem war es mitten in der Nacht und sie waren eigentlich beste Freunde.
„Ich liebe dich, Hika“, wiederholte er. „So sehr, dass es manchmal weh tut. Ich kann nur noch an dich denken. Wenn ich die Augen schließe, seh‘ ich nur dich. Du bist alles für mich. Meine Welt. Mein Leben. Ich kann nicht ohne dich, ich will dich immer bei mir haben. Ich will diese ganzen anderen Weiber nich‘. Niemand kommt an dich ran. Niemand. Du bist alles, was ich mir wünsche. Was ich mir immer gewünscht hab‘. Was ich mir je wünschen werde. Ich würde alles für dich tun, ich würd‘ mein Leben für dich geben. Und ich… ich…“, er seufzte, „ich weiß nicht‘, was ich noch sagen soll.“
Hikari erwiderte nichts. Noch hallte das, was er gesagt hatte, zu sehr in ihrem Kopf wider und versuchte, in ihr Bewusstsein vorzudringen. Sie hatte seine Worte zwar gehört aber nicht verarbeitet. Wie Fetzen schwirrten sie in ihrem Kopf herum. Mein Leben. Meine Welt. Alles für mich.
„Ich dachte, du solltest es wissen“, nuschelte er.
Noch immer starrte sie ihn an. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie langsam verstand. Er hatte ihr gesagt, dass er sie liebte. Er! Sie! Er liebte sie!
Nein, er war doch nur betrunken. Betrunkene erzählten viel, wenn die Nacht lang war. Das war sicher nicht die Wahrheit. Das konnte gar nicht die Wahrheit sein.
Gerade, als sie etwas erwidern wollte, würgte er plötzlich, krümmte sich und übergab sich auf den Fußboden.
Hikari machte ein angewidertes Geräusch und sprang noch einen Schritt zurück, um nichts abzubekommen. Takeru würgte ein paarmal, dann ließ er sich nach hinten auf den Boden fallen und saß wie ein Häufchen Elend vor ihrem Bett und hielt sich den Kopf. „Sorry. Mir is‘ schlecht.“
„Was du nicht sagst.“ Sie versuchte angestrengt, nicht durch die Nase zu atmen, da sie sich sonst sehr wahrscheinlich auch übergeben müsste.
Takeru bewegte sich nicht mehr, sondern saß einfach nur mit hängendem Kopf dort. Hikari machte einen langen, umständlichen Schritt auf ihn zu, um nicht in sein Erbrochenes zu treten, und packte ihn am Arm.
„Na los, ich bring‘ dich rüber“, sagte sie und zog an seinem Arm, doch er bewegte sich nicht. Er war wie ein nasser Sack. „Jetzt komm‘ schon! Ich kann dich nicht tragen.“
Keine Reaktion.
„T.K.! Los!“ Sie zerrte mit aller Kraft und endlich bewegte er sich, stand langsam und schwankend auf. Sie stützte ihn und brauchte dabei all ihre Kraft, da er sich nahezu mit seinem ganzen Gewicht auf sie lehnte. Langsam führte sie ihn zur Tür hinaus und den Gang entlang.
„Hätt‘ auch bei dir schlafen können“, murmelte Takeru.
Sie ignorierte ihn und lehnte ihn vorsichtig gegen die Wand, als sie an seiner Tür ankamen. Sie schob eine Hand in seine Hosentasche und kramte nach dem Schlüssel für sein Zimmer.
„Was machst du da?“, nuschelte Takeru.
„Deinen Schlüssel suchen.“
„Andere Tasche.“
Hikari seufzte und schob die Hand verlegen in die andere Hosentasche.
„Du muss‘ weiter zur Mitte hin“, meinte er grinsend.
Hikari lief knallrot an. Als wäre es nicht so schon peinlich genug, in seiner Hose herumzuwühlen, machte er nun auch noch dämliche Witze darüber. Endlich bekam sie den Schlüsselbund zu fassen und zog ihn heraus. Sie schloss die Tür auf und bugsierte Takeru zu seinem Bett, wo er sich fallen ließ und sich nicht mehr bewegte.
Hikari zog ihm die Schuhe aus und stellte sie ordentlich auf dem Boden neben dem Bett ab. Dann zögerte sie. Sollte sie ihm die Jeans auch noch ausziehen? Ohne schlief es sich zumindest besser. Und er bekam es wahrscheinlich sowieso nicht mehr mit. Er lag auf dem Rücken, einen Arm über die Stirn gelegt, die Augen geschlossen.
Mit zittrigen Fingern griff sie nach seinem Hosenbund und machte sich vorsichtig am Knopf zu schaffen. Wenn sie es ganz behutsam machte, merkte er es vielleicht gar nicht. Sie öffnete den Knopf und zog den Reißverschluss herunter. Dann griff sie die Hose am Bund und zog sie vorsichtig herunter. Es erforderte einiges an Kraft und Mühe, doch schließlich schaffte sie es, ihm die Hose auszuziehen.
„Ich krieg‘ sowieso keinen mehr hoch“, nuschelte Takeru und Hikari zuckte zusammen. Er hatte die Augen noch immer geschlossen und wirkte auch sonst nicht sehr wach.
„Ich will nur, dass du besser schlafen kannst“, antwortete Hikari und faltete seine Jeans ordentlich zusammen, bevor sie sie auf seinen Schreibtischstuhl legte. Dann griff sie nach dem Putzeimer, der neben dem Schreibtisch stand, und stellte ihn Takeru neben das Bett. Sie wandte sich zum Gehen um, doch er griff nach ihrer Hand, sodass sie ihn ansah.
„Geh‘ nicht“, wisperte er, den glasigen Blick auf sie gerichtet.
„Schlaf‘ einfach“, erwiderte Hikari und entzog ihm ihre Hand, was nicht schwer war, denn sein Griff war nicht besonders fest. Ohne sich noch einmal umzudrehen, ging sie mit zittrigen Knien zur Tür, schaltete das Licht aus und ließ ihn allein.
Nun musste sie nur noch sein Erbrochenes in ihrem eigenen Zimmer aufwischen, bevor auch sie wieder schlafen gehen konnte. Was für eine Nacht.