56. Kapitel, in dem Bier neue Türen öffnet
„Oh mein Gott, sie ist so wahnsinnig süß“, hauchte Hikari und wiegte das winzige Mädchen in ihren Armen hin und her. „Wie kann ein Baby nur so süß sein?“
„Naja, sie hat sich ja auch zehn Tage länger Zeit gelassen“, antwortete Sora lachend und betrachtete liebevoll ihre kleine Tochter in Hikaris Armen.
„Sie sieht aus wie du“, sagte Takeru an Yamato gewandt. Er stand neben Hikari und strich der kleinen Yuki behutsam über den Kopf. „Naja oder zumindest wie die Babyfotos von dir.“
„Ja, die haben wir echt gut hinbekommen, nicht wahr?“ Grinsend legte Yamato Sora einen Arm um die Schultern und zog sie an sich.
„Ich kann mich auch nicht beschweren“, stimmte Sora ihm zu und warf ihm einen kurzen verliebten Blick zu. Obwohl ihr die Strapazen der Geburt noch anzusehen waren – immerhin war Yuki vor gerade einmal zwanzig Stunden auf die Welt gekommen –, wirkte sie wie der glücklichste Mensch der Welt. Kein Wunder, dachte Hikari. Sie hatte Yamato und nun auch noch ein Kind von ihm. Wenn das kein perfektes Leben war… Obwohl sie sich seltsam fühlte, konnte sie nicht von sich behaupten, dass sie eifersüchtig war. Nein, sie gönnte sowohl Sora als auch Yamato das Glück, das sie gerade genossen, von Herzen. Und dennoch… er würde eben für immer der Junge bleiben, in den sie jahrelang verliebt gewesen war und dessen Zurückweisung ihr das Herz gebrochen hatte.
„Ich will sie auch mal halten. Sie ist schließlich meine Nichte“, bestimmte Takeru und streckte die Arme aus. Vorsichtig gab Hikari Yuki an ihn weiter und er nahm sie so behutsam auf den Arm, als wäre sie ein rohes Ei. Yuki selbst schien davon nicht besonders viel mitzubekommen. Sie schlief einfach vor sich hin und ließ sich nicht im Geringsten stören. Offenbar war auch sie erledigt von der Geburt.
Hikari beobachtete, wie Takeru die Kleine an sich drückte und leise murmelnd mit ihr sprach. Er hauchte ihr einen Kuss auf den dunklen Haarflaum und in seinen Armen sah sie noch winziger aus, als sie sich bei Hikari angefühlt hatte. Bestimmt würde Takeru auch einen guten Vater abgeben. Der Umgang mit einem Baby stand ihm einfach unheimlich gut.
„Wie war eigentlich die Geburt? Tat es sehr weh?“, fragte Hikari und wandte den Blick von Yuki ab.
Sie saßen zu viert auf dem Teppichboden in Yamatos und Soras Wohnung, die die beiden jetzt seit drei Monaten bewohnten. Sie war klein und hatte nur zwei Zimmer, doch den frisch gebackenen Eltern reichte sie vollkommen aus.
„Oh, es war in Ordnung“, antwortete Sora lächelnd. „Zehn Stunden hat es gedauert und die Schmerzen waren auszuhalten. Man vergisst sie irgendwie ganz schnell, wenn man das Baby dann im Arm hält.“
Hikari seufzte und fing Yamatos Blick auf, der sie vielsagend ansah. Dann sah er zu Takeru und wieder zurück zu Hikari und lächelte. Sie runzelte verwirrt die Stirn, doch in diesem Moment lenkte Yuki die Aufmerksamkeit auf sich, indem sie ein glucksendes Geräusch von sich gab. Wenige Sekunden später fing sie an zu weinen. Oder zu schreien? Auf jeden Fall schien sie nicht zufrieden zu sein.
„Ich glaube, sie hat Hunger“, meinte Sora und streckte die Hände nach Yuki aus. Takeru gab sie ihr zurück und Sora ging aus dem Raum.
„Mann, ich kann’s nicht glauben“, seufzte er und lehnte sich mit dem Rücken gegen das Sofa, vor dem er saß.
„Ich glaube, Mama und Papa auch nicht“, murmelte Yamato grinsend. „Die müssten auch gleich hier sein.“
„Kommen sie zusammen?“, fragte Takeru.
„Ja.“
Hikari sah seine Augen aufleuchten. Obwohl Hiroaki und Natsuko sich immer besser verstanden, hatten sie noch keine Beziehung miteinander angefangen. Hikari wusste, dass Takeru die ganze Zeit genau darauf wartete, während Yamato nicht daran glaube, dass es passierte. Beide hatten viel mit ihrer Arbeit zu tun und so schafften sie es nicht allzu oft, sich zu treffen und Hikari wusste auch nicht, ob sie überhaupt ein Interesse am jeweils anderen hatten. Vielleicht waren sie auch einfach nur daran interessiert, eine gute freundschaftliche Basis wegen ihrer Söhne und ihrer neugeborenen Enkelin zu haben. Für Takeru jedoch sah die Sache anders aus.
Wenige Minuten später tauchten sie in der Wohnung auf und so verbrachten sie den Nachmittag alle gemeinsam, bevor Hikari und Takeru sich am frühen Abend auf den Weg zurück ins Wohnheim machten.
Am Abend traf Hikari sich mit Momoko und Kazumi in einem Studentenclub. Sie wollten sich einfach eine angenehme Tanznacht machen und nach hübschen Kerlen Ausschau halten. Zumindest Momoko und Kazumi wollten nach Kerlen Ausschau halten. Hikari wollte einfach nur ein bisschen Spaß haben und sich nur um sich selbst kümmern. Seit sie mit Takeru geschlafen hatte, hatte sie nichts mit einem anderen Jungen gehabt und auch nicht das Bedürfnis danach verspürt. Lieber kümmerte sie sich um ihr Studium und verbrachte Zeit mit Freunden.
Sie redete mit Momoko und Kazumi darüber, dass ihr langjähriger Schwarm Yamato jetzt ein Baby hatte und sie stießen darauf an, dass sie deswegen nicht eifersüchtig war.
„Wurde auch höchste Zeit, dass das mal aufhört“, kommentierte Momoko.
Sie trafen ein paar Kommilitonen, plauderten ein wenig und stürzten sich dann auf die Tanzfläche. Die Musik war gut, die Stimmung der Clubbesucher ausgelassen. Schnell wurde es auf der Tanzfläche so voll, dass man aufpassen musste, nicht mit jeder Bewegung jemanden anzurempeln, doch das war Hikari egal. Sie sang die Lieder mit, die sie kannte, und schaltete den Kopf ab.
Hin und wieder gesellte sich jemand zu ihnen, den eine von ihnen kannte. Manche begrüßten sie nur kurz, andere blieben für einen kurzen Plausch. Doch ganz egal, wer kam, er begrüßte stets nur diejenige der drei Freundinnen, die er kannte. Den anderen wurde keine Beachtung geschenkt. Bis auf einen Jungen. Er umarmte Kazumi und wandte sich dann lächelnd an Momoko und schließlich an Hikari, um ihnen zuzunicken. In dem Moment nippte Hikari gerade an ihrer Bierflasche und verschluckte sich. Sie hustete und lachte schließlich peinlich berührt. Der Junge grinste amüsiert und beugte sich zu ihr.
„Nur, weil ich dich angucke, brauchst du nicht gleich so nervös zu werden“, rief er über die Lautstärke der Musik hinweg.
„Bescheidenheit gehört nicht zu deinen Stärken, oder?“, erwiderte Hikari und hob eine Augenbraue.
„Wie kommst du denn darauf?“, fragte er und sah sie gespielt verständnislos an.
Hikari lachte und musterte ihn unverhohlen. Er war kein Japaner, sondern offensichtlich europäischer Abstammung. Sein Haar war strohblond, heller als das von Takeru, und nach der aktuellen Mode geschnitten: an den Seiten kurz, oben länger und mit etwas Gel in Form gebracht. Dunkle Wimpern umrahmten leuchtende, eisblaue Augen. Er hatte einen verschmitzten Gesichtsausdruck und sah alles in allem ziemlich gut aus.
„Weiß auch nicht. War so eine spontane Vermutung“, antwortete sie schulterzuckend.
Er grinste und hielt ihr seine Bierflasche entgegen, sodass sie anstoßen konnte. Als sie ihre Flasche klirrend gegen seine stieß, hob er überrascht die Augenbrauen.
„Du trinkst Bier?“, fragte er beeindruckt. „Ich kenne echt nicht viele Mädchen, die Bier mögen.“
„Bin mit einem Haufen Jungs aufgewachsen“, erklärte Hikari locker.
Der Kerl nickte. „Alles klar, verstehe.“ Er lächelte Hikari noch einmal zu und verschwand dann wieder in der Menschenmenge. Seinem blonden Haarschopf konnte man noch eine Weile hinterhersehen.
„Wer war denn das?“, fragte Hikari an Kazumi gewandt.
„Der heißt Willis und studiert auch BWL“, antwortete sie. „Ich dachte, du kennst ihn. Ihr habt doch gerade gequatscht.“
„Er hat mich angesprochen“, erklärte Hikari schulterzuckend und grinste schief.
„Er ist süß, oder?“, mischte Momoko sich kichernd ein. „Vielleicht sucht er ja für heute Nacht noch einen Schlafplatz.“
Hikari seufzte und schüttelte den Kopf. Nein, für solche Geschichten war sie nicht zu haben. Sie könnte niemals mit einem völlig Fremden schlafen, den sie wenige Stunden zuvor in einem Club kennen gelernt hatte.
Sie tanzten eine Weile weiter, dann entschuldigte Hikari sich bei ihren Freundinnen, weil sie auf die Toilette musste. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, sich zur Toilette zu quetschen und dann noch eine weitere Ewigkeit, bis sie dran war. Auf dem Rückweg zur Tanzfläche hielt sie an der Bar an, um sich ein neues Bier zu bestellen. Wie witzig, dass es Willis aufgefallen war. Hikari konnte sich noch gut an ihr erstes Bier erinnern. Damals hatte sie es ziemlich eklig gefunden, doch in Gegenwart von Takeru und ihren Brüdern war ihr nichts anderes übrig geblieben, als ebenfalls Bier zu trinken. Sie hatte einfach dazugehören wollen.
Sie wartete an der Bar, bis sie dran war, und bestellte dann ein weiteres Bier. Sie griff nach der Flasche und wollte sich umdrehen, um zurück auf die Tanzfläche zu gehen, stieß jedoch prompt mit jemandem zusammen.
„Entschuldige“, rief sie und hob den Kopf.
„Du schon wieder.“ Es war Willis, der zu ihr herunter grinste.
„Oh, hi.“ Ein wenig verlegen strich sie sich eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Schon wieder Bier“, kommentierte er mit einem Blick auf die Bierflasche in ihrer Hand. „Ich hole mir auch eins. Hast du Lust, dich irgendwo hinzusetzen?“
„Ähm… klar“, antwortete sie schulterzuckend.
Während sie darauf wartete, dass er sich ebenfalls ein Bier bestellt hatte, nippte sie an ihrer eigenen Falsche und stand etwas abseits der Bar. Er wollte sich irgendwo hinsetzen und mit ihr reden! Auf eine seltsame Art und Weise war Hikari nervös. Ihre Hände fühlten sich schwitzig an und sie trat auf der Stelle. Sie hatte wirklich Lust, mit ihm zu quatschen. Und das, obwohl sie eigentlich nur mit Momoko und Kazumi hatte tanzen wollen. Aber irgendwie zog er sie an.
Mit einem Bier in der Hand tauchte er vor ihr auf und sie suchten sich ein freies Zweiersofa, das voller undefinierbarer Flecken war. Hoffentlich nur verschüttete Getränke.
„Ich bin übrigens Willis“, stellte er sich nun lächelnd vor.
„Hikari“, erwiderte sie.
„Hübscher Name“, kommentierte er und nickte anerkennend.
„Ähm… danke. Woher kommst du eigentlich?“
„Ich bin aus Denver, Colorado. Aber wir sind vor ein paar Jahren hierher gezogen“, erklärte er.
„Oh, vor ein paar Jahren erst? Du hörst dich an wie ein Muttersprachler“, erwiderte sie überrascht.
„Ich bin zweisprachig aufgewachsen. Ich habe eine japanische Großmutter“, sagte er abwinkend.
„Wow, wie cool“, fand Hikari und war beeindruckt.
„Ach, genug von mir. Erzähl‘ mal was von dir. Was studierst du denn?“
Sie redeten und lachten und redeten und lachten und merkten gar nicht, wie die Zeit verging. Zwischendurch kamen Momoko und Kazumi vorbei und warfen Hikari vielsagende Blicke zu und grinsten sie an. Hikari wusste genau, was sie dachten, doch sie ging gar nicht darauf ein. Mit Willis war es einfach so nett. Sie quatschten über alles Mögliche und je mehr Bier sie tranken, desto lockerer wurden die Gespräche. Sie hatten ihre Flaschen längst geleert, als sie sich entschlossen, gemeinsam zurück auf die Tanzfläche zu gehen.
Sie kamen nicht bis zu Momoko und Kazumi durch, da es inzwischen, falls das überhaupt möglich war, noch enger geworden war. So berührten sie sich ebenfalls fast beim Tanzen und stießen auch ständig gegen andere. Die Musik war nicht nach Hikaris Geschmack. Zu viel Elektro. Doch das war ihr egal. Sie tanzte einfach und konzentrierte sich sowieso nur auf Willis. Sie sahen sich in die Augen, während sie sich zum Rhythmus der Musik bewegten. Hikari spürte, wie sie von hinten noch mehr in seine Richtung gedrängt wurde, sodass ihr Körper gegen seinen stieß.
Ihr wurde noch heißer. Es war sowieso schon unerträglich warm und stickig in dem Club und jetzt war sie Willis auch noch näher als nötig. Seine Hand schob sich auf ihren Rücken und zog sie näher an sich. Ihre Körper schmiegten sich eng aneinander, ihre Bewegungen passten sich an die des anderen an.
Etwas verlegen hob Hikari den Kopf, um ihn anzusehen. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen und in seinem Blick lag nicht die Spur von Verlegenheit. Seine freie Hand strich ihr Haar nach hinten, legte sich in ihren Nacken und dann verwickelte er sie plötzlich in einen Kuss. Zuerst etwas zurückhaltender, dann inniger und leidenschaftlicher. Hikari fühlte sich zwar ein wenig überfahren, doch sie ließ sich trotzdem darauf ein. Seine Lippen waren weich und es fühlte sich gut an. Die Hand in ihrem Rücken rutschte ein wenig tiefer und legte sich auf ihren Po. Dieser Willis ließ aber auch nichts anbrennen. Hikari wusste nicht, wohin mit ihren Händen und legte sie an Willis‘ Taille ab. Er intensivierte den Kuss daraufhin noch und sie konnte ihn in ihrem Mund schmecken.
Sie hatte das hier noch nie gemacht: einfach so in einem Club mit einem Typen knutschen, den sie eben erst kennen gelernt hatte. Das war überhaupt nicht ihr Ding. Aber irgendwie fühlte es sich gerade richtig an und Willis war wirklich süß. Sie hatten sich so gut unterhalten und er war so witzig und charmant. Außerdem wurde es allerhöchste Zeit, dass Hikari endlich ein paar Erfahrungen sammelte. Vielleicht würde ja zwischen ihr und Willis auch etwas Ernstes entstehen.