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Corvus et Vulpes

von

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Fènghuáng

Der Geruch von verwesendem Fleisch wurde immer stärker und schnürte Jiang Li die Kehle zu. Noch immer war kein Laut zu hören, obwohl sie nun schon seit Stunden im Dickicht verborgen wartete. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis er sie entdeckt hatte, und dann musste sie auf der Hut sein. Ein Augenblick der Unaufmerksamkeit konnte sie das Leben kosten.

Ein Zweig knackte. Mit ihren Augen durchbohrten sie die kalte Dunkelheit, doch noch immer geschah nichts. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt.

Als oberste Schwertmeisterin des Hauses Lian gehörte es zu ihren Pflichten, abwechselnd mit ihren Schwestern Nacht für Nacht die Wälder rund um das Badehaus auf der Suche nach gefährlichen Dämonen zu durchkämmen und sie unschädlich zu machen. Da es hier zwar haufenweise magische Wesen, allerdings kaum wirksame Magie gab, musste die Schwertschule Lian für Schutz und Ordnung sorgen.

Der Oger brach mit der Gewalt eines Felssturzes durch die morschen Zweige und knickte Baumriesen wie Zündhölzer. Jiang Li sprang auf und griff nach den beiden Schwertern, die sie auf den Rücken gegurtet trug. Der faulige Atem des Riesen wurde so übermächtig, dass sie kurz entschlossen ein Stück Stoff von ihrem lose fallenden Ärmel riss und sich als Schutz gegen den Gestank um Mund und Nase wickelte.

Es war höchste Zeit. Der Oger kam direkt auf sie zu, brüllte und zerschmetterte mit seinem krallenbewehrten Arm die knorrige Weide, die ihr bisher Schutz geboten hatte.

Den ersten Schlag wehrte sie mehr durch Glück als Fähigkeit ab. Ein Oger mochte zwar dumm sein, aber er war bei Weitem zu gefährlich, als dass man den Fehler begehen durfte, unachtsam zu sein. Eine brennende Wunde am rechten Unterarm erinnerte sie daran.

Röhrend hieb er weiter auf seine Gegnerin ein, musste ihr aber immer tiefer und tiefer in das undurchdringliche Geäst des Waldes folgen, da sie scheinbar vor ihm floh, nur ab und zu leicht zuschlagend, als wollte sie ihn an sich erinnern.

Ihre List gelang. Noch ehe der Oger richtig begriffen hatte, was geschah, hatte er sich bereits im dichten Unterholz verfangen und kam nur noch mit Mühe vorwärts. Jiang Li lächelte. Leise flüsterte sie eine kurze Zauberformel und sah mit Befriedigung zu, wie sich Wurzeln und Äste wie Schlangen um den plumpen Körper des Riesen wanden. Ihre Zeit war gekommen. Triumphierend sprang sie mit einem kräftigen Ruck in die Höhe und schoss vorwärts, die blitzenden Schwerter erhoben. Der Oger erkannte die drohende Gefahr und brüllte vor Wut und Schmerz, als sich die Ranken heftig in sein Fleisch gruben, doch es war zu spät, längst schon konnte er sich nicht mehr rühren. Jiang Li stieß einen wilden Siegesschrei aus und holte wuchtig aus, um ihn den Kopf abzuschlagen, als –

Ein Pfeil traf sie mitten in der Brust und brachte sie zu Fall, direkt vor dem brüllenden Riesen. Der Schwung ließ sie wie ein Bündel alter Kleider gegen die dornigen Ranken prallen, die beide Beine des Ogers gefesselt hielten, und schleuderte sie noch einige Meter weiter. Zusammengekrümmt kam sie schließlich in einem wirren Haufen aus Gras, Blättern und morschem Geäst zu liegen.

Schmerz pochte in ihrer Brust, floss mit jedem verzweifelten Atemzug tiefer durch ihren Körper. Als sie sich langsam auf die Knie rollte, konnte sie weder den rechten Arm noch ihre Beine richtig bewegen, der gefiederte Pfeil stak immer noch fest in ihrem Körper.

Sie konnte nicht mehr richtig sehen, ein blutroter Schleier vernebelte allmählich ihr Gesichtsfeld. Trotzdem erkannte sie das Gesicht ihres Mörders, der den Bogen noch in der Hand hielt, mehr als deutlich.

 

„NEEIN!“ Jiang Li erwachte jäh aus ihrem Traum und fuhr halb aus dem Bett; beide Hände hielt sie fest auf ihre Brust gepresst, als steckte der Pfeil noch darin. Ihr langes schwarzes Haar hing wirr um das aufgelöste Gesicht, die schmalen Schultern hoben und senkten sich heftig, als wäre die wilde Jagd kein Traum gewesen.

Der Schmerz wich nur langsam; endlich konnte sie wieder ruhig nach Atem schöpfen und die verkrampften Arme sinken lassen. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn und sie zitterte immer noch. Aber sie lebte; kein Oger hatte sie gejagt und kein Pfeil getroffen, also konnte sie sich wohl wieder schlafen legen. In letzter Zeit waren weder sie noch ihre Schwestern viel zur Ruhe gekommen, denn die halbe Dämonenwelt schien sich gegen sie verschworen zu haben. Kaum eine Nacht verging ohne Alarm, wann und wie sie all den verlorenen Schlaf nachholen sollte, war ihr schleierhaft.

Gerade als sie es sich im Bett einigermaßen bequem gemacht hatte, klopfte es heftig an der Zimmertür und eine wispernde Stimme ertönte. „Herrin, die Großmeisterin befiehlt Euch, unverzüglich aufzustehen! Sie erwartet Euch in der großen Empfangshalle.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, huschten sachte Schritte davon.

Jiang Li seufzte leise auf und erhob sich widerwillig. Die Hauselfen behandelten sie mit Respekt und leiser Furcht, weil sie als unberechenbar galt. Nicht, dass sie das sonderlich störte, aber manchmal wünschte sie sich doch, man würde sie nicht wie einen brodelnden Vulkan behandeln. Sie selbst empfand ihr Benehmen als nicht nennenswert schlimmer als das ihrer Mitschwestern.

Da es sich offensichtlich nicht um ein Dämonenproblem handelte und Jiang Li nächtliche Störungen ohne ersichtlichen Grund hasste wie nichts auf der Welt, warf sie sich nachlässig einen weiten Morgenmantel um die Schultern und verzichtete auf jegliche Toilette. Für die Alte brauchte sie sich wirklich nicht herauszuputzen.

 

Kaum hatte sie die Empfangshalle betreten, wünschte sie sich verzweifelt, wenigstens die Haare gekämmt zu haben. In den bequemen Lehnsesseln am Kaminfeuer saßen, müde und abgespannt aussehend, vier Leute, von denen zwei sie ganz gewiss nicht in diesem Aufzug sehen sollten. Ihre Wangen begannen sich heftig zu röten und plötzlich wurde ihr die Tatsache, dass sie einen schäbigen, alten und dazu noch viel zu großen Morgenmantel trug, peinlich bewusst. Großmeisterin Zhen Juan grinste hämisch und klatschte laut in die Hände. „Meine liebe Jiang Li, da du ja nun endlich geruht hast, uns mit deinem Erscheinen zu ehren“, ihr Grinsen wurde noch um einiges breiter und sie kicherte verhalten und schadenfroh, „möchte ich dich unseren neuen Gästen vorstellen.“

Der älteste Mann in der Runde, dessen langer, weißer Bart über Brust und Gürtel wallte, erhob sich und streckte lächelnd die Hand aus. „Herr Albus Dumbledore dürfte dir ja wohl noch bekannt sein. Ebenso wie Herr Severus Snape“, wieder erhob sich einer der Sitzenden, diesmal jemand, vor dem sich Jiang Li in das tiefste und schwärzeste Mauseloch wünschte, und gab ihr mit einem Lächeln, das dem ihrer Meisterin an Schadenfreude um nichts nachstand, die Hand. Jiang Li verneigte sich und versuchte, ihre Verlegenheit nicht allzu deutlich zu zeigen. Der Reihe nach begrüßte sie die Neuankömmlinge, von denen ihr die letzten beiden als Remus Lupin und Nymphadora Tonks vorgestellt worden waren. Nymphadora untersagte ihnen allen sogleich nach Nennung ihres Vornamens den Gebrauch desselben und bestand mit Nachdruck darauf, nur Tonks und keinesfalls anders genannt zu werden. Jiang Li erklärte sich leicht verwirrt damit einverstanden, da ihr schien, es wäre wohl sicherer, der jungen Frau mit den knallrosa Haaren nicht zu widersprechen.

Wieder ergriff die alte Meisterin das Wort. „Herr Dumbledore hat mich darum gebeten, dir einen Vorschlag unterbreiten zu dürfen, der deine weitere Zukunft betrifft. Ich werde euch hier alleine lassen und erwarte, morgen früh von deiner Entscheidung unterrichtet zu werden.“ Sie erhob sich geschmeidiger, als man es von jemandem ihres Alters erwartet hätte, und verneigte sich elegant. „Ich wünsche eine angenehme Nachtruhe. Die Annehmlichkeiten unseres Badehauses stehen Ihnen ab sofort zur Verfügung. Wenn Sie Wünsche oder Fragen haben, wenden Sie sich bitte vertrauensvoll an mich oder einen der Hausangestellten. Gute Nacht.“ Damit verließ sie nach einer letzten Verbeugung den Raum. Ihre Schritte verhallten langsam auf dem Steinfußboden und ließen eine stumme Versammlung zurück.

Die Reise musste die Vier sehr angestrengt haben; Lupin schien kaum noch die Augen offen halten zu können. Jiang Li wusste, dass man in den Wäldern und rund um Xi’an weder apparieren noch Portschlüssel benutzen konnte. Dafür reichte die Magie nicht aus, die zwar unzählige Monster und Dämonen hervorbringen konnte, aber kein richtiges Abendessen. Mehr als ein paar einfache Sprüche waren nicht möglich. Mit einem leisen Schaudern fiel ihr plötzlich ihr Traum ein. Ranken und Wurzeln konnte sie behexen, aber sonst ... Schutzzauber mussten wie rohe Eier behandelt werden und funktionierten auch nicht immer zuverlässig.

Ihr ehemaliger Lehrer und Schulleiter räusperte sich vernehmlich und lächelte ihr freundlich zu; seine Augen spiegelten das prasselnde Kaminfeuer wieder und strahlten wach und aufmerksam.

„Ich war sehr erstaunt, statt einer Zhen Jiang eine Jiang Li vorzufinden. Beinahe hätte ich schon an meinem Namensgedächtnis gezweifelt und nach Ihnen zu suchen begonnen ...“, begann er liebenswürdig und räusperte sich. Jiang Li hob schnell die Hand und unterbrach ihn. „Verzeihen Sie, Professor, Sie müssen nicht so förmlich sein. Abgesehen davon – “ „Ja, Fräulein Lian, warum heißen Sie nicht mehr Zhen Jiang?“ mischte sich leise und unerwartet Severus Snape ein. Ein mokantes Lächeln spielte um seinen schmalen Mund, als er die Unsicherheit in ihren Augen bemerkte. Sie fasste sich allerdings bemerkenswert schnell und setzte eine kühle Miene auf. „Da ich nun die erste Schwertmeisterin in dieser Ausbildungsstätte bin und somit keine Schülerin mehr, habe ich als Zeichen meiner beendeten Lehrzeit einen neuen Namen erhalten. Hätte ich nun, wie meine Mitschwestern, einen Schüler, würde er oder sie einen Teil meines Namens erhalten, als Zeichen seiner Schülerschaft unter mir als Meisterin.“

Tonks pfiff beeindruckt und legte fragend den Kopf schief. „Um Himmelswillen, wie alt bist du – sind Sie eigentlich?“ Ihr maßlos verblüffter Blick entlockte selbst Snape ein feines Lächeln. Jiang Li grinste schließlich etwas verlegen und senkte leicht den Kopf. „Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt. Ja, mir ist klar, das ist sehr jung, aber die Meisterin bescheinigte mir Talent, das mich anscheinend zu diesem schnellen Aufstieg befähigt hat – obwohl ich ihre großen Erwartungen dahingehend schon enttäuscht habe, dass ich bisher keinen Schüler aufnehmen wollte.“ „So, so, und warum nicht?“ wollte die neugierige Tonks gleich weiter wissen und beugte sich gespannt nach vorne. Ohne es zu wissen, hatte sie einen wunden Punkt getroffen und Jiang Li bemühte sich, so schnell wie möglich abzulenken. „Naja, ich fühle mich eben noch nicht soweit“, meinte sie betont leichthin und wandte sich rasch wieder Dumbledore zu. „Professor, Sie wollten doch etwas Wichtiges mit mir besprechen, worum handelt es sich, wenn ich fragen darf?“

Dumbledore nickte und bot ihr mit einer raschen Handbewegung einen der geräumigen Sessel an. Während sie sich langsam setzte, musterte sie die ganze Versammlung noch einmal mit einem schnellen Seitenblick. Tonks starrte immer noch höchst interessiert in ihre Richtung, ihre Haare schienen mit der Zeit einen immer kräftigeren Stich ins Violette anzunehmen. Lupin war in seinem Stuhl zusammengesunken und starrte aus halbgeschlossenen Augen teilnahmslos vor sich hin, während Snape zwar ebenso desinteressiert wirkte, sie in Wahrheit aber ebenso aufmerksam beobachtete, wie Tonks es tat.

„Vielleicht sind die letzten Neuigkeiten über den neuerlichen Aufstieg Voldemorts –“ Jiang Li entging weder Tonks’ noch Snapes obligatorisches Zusammenzucken, „– schon bis hierher gedrungen.“ Sie nickte und setzte sich aufrechter hin. Natürlich blieb Meisterin Zhen Juan immer auf dem Laufenden; täglich schickte sie mehrere Eulen und Raben los, um über alles informiert zu sein. Selbst die letzte Ausgabe des Tagespropheten hatten sie hierher nach Xi’an erhalten, in dem wieder ausführlich und in ängstlichem Ton über den dunklen Magier berichtet worden war.

„Leider muß ich gestehen, dass der Tagesprophet, so reißerisch er auch sein mag, im Großen und Ganzen die Wahrheit sagt. Die Lage ist ernst und spitzt sich von Tag zu Tag weiter zu.“ Dumbledore legte eine kurze Pause ein und betrachtete einen Moment lang seine zusammengelegten Fingerspitzen. „Voldemort schart seine Getreuen um sich und auf beiden Seiten kam es bereits zu Todesopfern. In Zeiten wie diesen, meine liebe Jiang Li, zählt jede Hilfe, die wir bekommen können. Um ehrlich zu sein, es würde mich nicht wundern, wenn Sie meine Bitte vermessen finden, aber Sie sind meine letzte Rettung.“ Jiang Li legte fragend den Kopf schief und wunderte sich, was er wohl so Furchterregendes von ihr wollte. Sie war inzwischen wirklich schon so einiges gewöhnt und ließ sich nur noch schwer erschrecken.

„Ich möchte Sie dringend darum bitten, kommendes Schuljahr in Hogwarts als Lehrerin für das Fach „Verteidigung gegen die dunklen Künste“ anzufangen. Das letzte Jahr war für die Schüler nicht gerade sehr hilfreich, und nachdem Voldemorts Aufstieg nicht mehr zu bremsen ist, brauchen sie den besten Unterricht, den sie kriegen können. Sie müssen sich verteidigen können, etwas anderes kann ich nicht mehr verantworten.“ Er musterte sie über seine blitzenden halbmondförmigen Brillengläser hinweg. „Allerdings bitte ich Sie dadurch natürlich auch, sich in den direkten Wirkungsbereich Voldemorts und seiner Gefolgschaft zu begeben. In die Höhle des Löwen, sozusagen.“

Jiang Li verschlug es einen Moment lang die Sprache. Lehrerin in Hogwarts! Das war ja unglaublich, selbst in ihren kühnsten Träumen hätte sie nicht einmal daran zu denken gewagt ... aber – „Professor Dumbledore, was macht Sie so sicher, dass ausgerechnet ich diesem Auftrag gewachsen bin? Es gibt doch sicherlich weitaus geeignetere Leute, derentwegen Sie auch nicht extra nach China hätten zu kommen brauchen.“ Sie wollte noch mehr fragen, doch er schnitt ihr mit einer hastigen Geste das Wort ab. „Glauben Sie mir, wir haben diese Entscheidung oft und oft erwogen und kamen schließlich gemeinsam zu diesem Ergebnis. Es ist einfach – “, er seufzte und hob kurz und verzweifelt die Hände. „Jiang Li, meine Güte, wir brauchen ganz einfach jemanden, der sowohl mit Magie wie auch mit Waffen umgehen kann. In manchen Situationen ist das ganz einfach nötig, und wir wollen auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. Noch dazu sind Sie vertrauenswürdig, dessen bin ich mir gewiss.“

Sie nickte kurz und senkte leicht den Kopf. Noch störte sie etwas an der ganzen Sache, es handelte sich nur um eine Kleinigkeit, aber –

„Wer ist „wir“ in diesem Zusammenhang?“

Selbst Lupin schien wieder munterer zu werden und rückte in eine geradere Haltung. Tonks hörte auf zu zappeln und Snape verengte seine schwarzen Augen beinahe unmerklich zu schmalen Schlitzen. Die ganze Atmosphäre in der Halle nahm einen gespannteren Unterton an und begann zu knistern. Die feinen Härchen auf ihrem Unterarm richteten sich auf, während Jiang Li aufmerksam nach der Ursache der Veränderung suchte. Sie brauchte nicht lange zu warten.

Plötzlich erschien mit einem lauten Knall ein kreiselnder Flammenwirbel dicht über ihren Köpfen und eine wundervolle Melodie ertönte, die ihr unerwartet die Tränen in die Augen trieb. Ein Blitz aus Rot und Gold schoss aus den Flammen und kam erst knapp unter der Decke zur Ruhe; Jiang Li sprang auf, ohne auf irgendetwas anderes zu achten und streckte beide Arme weit aus. „FAWKES! Los, Fènghuáng, komm zu mir!“

Der schöne Phönix gehorchte und schwebte immer tiefer, bis er sich schließlich sanft auf ihrem rechten Oberarm niederließ und mit seinem gebogenen Schnabel beinahe zärtlich ihre Wange berührte. Es war, als wären sie alte Freunde und in gewissem Sinne stimmte das auch, ebenso wie es überhaupt nicht zutraf. Natürlich, sie hatte Fawkes des Öfteren in Dumbledores Büro gesehen, wie es eben so kam, und natürlich hatte sie ihn bei diesen Gelegenheiten oft bestaunt, wie er da so auf seiner Sitzstange saß, und später, als sie schon mutiger wurde, vorsichtig gestreichelt. Der Phönix hatte solche Zärtlichkeiten stets ruhig geduldet, doch ihre heftige Reaktion auf ihn verwunderte sie jetzt selbst und stürzte sie in Verlegenheit. Lieber gar nicht daran denken, was die anderen jetzt über sie denken mussten ... Jiang Li ließ sich langsam in die Hocke nieder und hob die Arme. Fawkes war nahezu schwanengroß und nicht gerade leicht, also gab sie ihm einen aufmunternden Klaps und sah zu, wie er sich wieder graziös in die Luft erhob und neuerlich zu singen anhub. Die düstere Melodie griff ihr ans Herz und erinnerte an Kampf und Tod.

Schweigend folgte sie ihm sekundenlang mit den Augen und kehrte erst wieder in die Wirklichkeit zurück, als Dumbledore leise hüstelte und ihr wieder den Sessel anbot. Plötzlich fühlte sie sich munterer und aufgekratzter als die ganzen letzten Wochen hindurch, obwohl sie schlecht geträumt und so gut wie nicht geschlafen hatte. Sie setzte sich wieder, beugte sich leicht nach vorne und fixierte Dumbledore energisch. „Warum machen Sie sich wohl die Mühe, mich zu viert aufzusuchen, mit einem Metamorphmagus, einem Fènghuáng und meinem ehemaligen Zaubertranklehrer im Gepäck? Und einem – “ Sie brach mitten im Satz ab und näherte sich mit plötzlichem Misstrauen Lupin, der ihr mit einem müden Lächeln entgegensah. Ihre Augen weiteten sich ungläubig, als sie ihn genauer unter die Lupe nahm. Ein Leben lang in Xi’an, auch wenn es durch die Schuljahre in Hogwarts unterbrochen worden war, prägte einen Menschen und machte ihn aufmerksamer. „Sie – Sie sind ein Lángrén! Unglaublich! Ehrlich gesagt, in Menschengestalt habe ich selten einen zu Gesicht bekommen ... “ Schlagartig fiel ihr ein, dass ein Werwolf es vielleicht als ein wenig taktlos empfinden konnte, wenn sie so daherredete. Immerhin hatten sie und ihre Mitschwestern schon so einige seiner Artgenossen auf dem Gewissen.

Lupin schien es allerdings nicht viel auszumachen, er zuckte nur entschuldigend die Achseln und grinste freudlos. „Sie erschrecken wenigstens nicht.“ Jiang Li biss sich verlegen auf die Unterlippe und wandte sich wieder Dumbledore zu, der inzwischen seine Fingernägel betrachtet hatte. „Nun?“

Fawkes schwebte wieder herab und ließ sich knapp neben Dumbledore nieder, lodernd und funkelnd, als wären die Flammen im Kamin zum Leben erwacht.

„Nun, meine Liebe, warum wir die ganzen Mühen, hierher zu kommen, auf uns genommen haben, hat einen einfachen Grund: Während Voldemort seine Truppen zu formieren beginnt, sucht der Orden des Phönix ebenfalls nach Mitstreitern, wie schon vor sechzehn Jahren. Vielleicht haben Sie sogar schon davon gehört –“ Er hielt für einen kurzen Moment inne und warf ihr einen wachsamen Blick zu. „Ihre beiden Eltern zählten damals ebenfalls zu den Mitgliedern.“

„Ja, die Meisterin hat mir allerdings davon erzählt. Sie erwähnte, dass meine Eltern in einem Geheimbund tätig waren, den Namen wusste ich allerdings nicht, um ehrlich zu sein.“ antwortete sie steif und setzte sich aufrechter hin. Ihre Eltern waren ein heikles Thema für sie, wie Dumbledore sehr wohl wusste. Aber traurigerweise, gestand sie sich ehrlich ein, kannte er die beiden sicherlich bei Weitem besser als sie.

„Verzeihung, aber da dieses Thema zu umfangreich ist, um schnell erläutert zu sein, sollten wir es für heute vielleicht dabei belassen und zu Bett gehen“, warf Lupin plötzlich ein und erhob sich, während Tonks eifrig nickte und Snape leicht indigniert die Augenbrauen hob. Allerdings schien auch er nicht wirklich etwas dagegen zu haben, denn er wirkte ebenso erleichtert wie die anderen beiden, als Dumbledore nachdenklich nickte und höflich ihre Zustimmung abwartete. Natürlich war es ihr recht. Morgen, oder besser gesagt, heute war bei Weitem noch genug Zeit um alles genauestens zu besprechen. Mit einer leichten Verbeugung verabschiedete sie sich von der Gruppe und wollte gerade allen eine gute Nacht wünschen, als die Flügeltüren der Halle mit einem energischen Ruck aufbarsten. Jiang Li fürchtete im ersten Augenblick einen Dämonenangriff und sprang sofort in Kampfposition, ihren kleinen Dolch, den sie so gut wie immer bei sich trug, im Anschlag.

Herein stürmten allerdings weder Oger noch sonstige Dämonen, sondern eine wütende, blutig-ramponierte Xiao Hong, ihre erschöpfte und ebenfalls verletzte Schülerin im Schlepptau. Ohne sich auch nur einmal umzusehen, steuerte sie zielgerade auf Jiang Li zu.



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