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Corvus et Vulpes

von

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Das ehrenwerte Haus Mo Niyan

Kaum hatten sich alle voneinander verabschiedet, bog eine nur schemenhaft erkennbare Figur aus der Gasse vor ihnen und winkte. Yue You lachte spitzbübisch und schnippte Jiang Li derb gegen die Wange. „Na denn, Li Ming und ich werden uns mal gleich ein Quartier für die Nacht suchen. Auf Wiedersehen und Gute Reise!“ Und noch bevor die dunkle Gestalt sie ganz erreicht hatte, waren die zwei Frauen mit einem letzten Winken auf und davon.

Warum sich ihre Schwestern so rasch verabschiedet hatten, wurde Jiang Li klar, als sie die Person erkannte. Niemand anderes als ihre leibliche Schwester Joogiya, hübsch und zierlich wie immer kam sie auf die kleine Gruppe zu, lächelte freundlich und verbeugte sich zum Gruß. Jähe Eifersucht flammte in Jiang Li hoch, doch sie schaffte es, sich zusammenzureißen. „Liebe Joogiya!“, lächelte sie gespielt herzlich und neigte leicht den Kopf. „Wie lieb von dir, dich extra wegen uns herzubemühen!“

„Ach du liebe Zeit, das mache ich doch gerne!“ Das Schlimme an Joogiya war, dass sie wirklich meinte, was sie da sagte. Noch nie hatte sie von ihren blutsverwandten Geschwistern böse Worte über andere gehört. Sie waren allesamt lieb, nett, hübsch und klug. Wie sie diese Familie hasste.

„Ah, Herr Dumbledore!“ Joogiya hatte den alten Zauberer entdeckt und lächelte strahlend. Er machte einen altmodischen Bückling und küsste gesittet ihre feingliedrige Hand, was von ihr mit leichtem Erröten quittiert wurde. Jiang Li musste an ihre narbigen Arme denken und sah der gesamten Begrüßungszeremonie übellaunig zu.

Der Reihe nach begrüßte Joogiya die Zauberer und als sie schließlich zu Snape kam, glaubte Jiang Li einen Augenblick lang, ihren Augen nicht trauen zu können. Der notorisch gereizte Zaubertranklehrer flirtete ziemlich offensichtlich mit ihrer Schwester, hielt sekundenlang ihre Hand fest und murmelte: „Bei Ihren zarten Händen sind Sie gewiss außerordentlich geschickt im Umgang mit magischen Mixturen … ganz im Gegensatz zu Ihrer Schwester …“.

Joogiya neigte geschmeichelt den Kopf, gab ein paar sanfte Plattitüden zur Antwort und zog dann eine exquisit ziselierte Taschenuhr hervor, die sie einen Augenblick lang stirnrunzelnd studierte. „Wir können uns leider nicht mehr länger in Xi’an aufhalten, Mutter und Vater erwarten uns schon. Ich hoffe, es hat Ihnen hier gefallen!“, meinte sie zum Abschluss fröhlich, bevor sie sich, ohne eine Antwort abzuwarten, auf der Stelle umdrehte und in die Richtung schritt, aus der sie gekommen war. „Bitte folgen Sie mir rasch!“

Jiang Li knurrte wie ein gereizter Hund und zog ihren Zauberstab aus einer der Taschen. Mit einem peitschenden Ruck brachte sie die Gepäckstücke zum Schweben und schlurfte missmutig hinter den anderen her. Snapes Worte hatten sich wie ein heimtückischer Stachel in ihren Stolz gebohrt.

Vor einem hohen, schmalen Gebäude blieben sie stehen und Joogiya drehte sich, wie immer mit einem strahlenden Lächeln, um und wies auf das Haus. „Hier befindet sich eine Außenstelle des Floopulver-Netzwerkes, von der aus man ganz China bereisen kann. Wirklich erstaunlich, nicht wahr?“ „Ja, wirklich erstaunlich“, brummte Jiang Li gehässig aus dem Hintergrund, aber so leise, dass sie außer Lupin keiner hörte. Der allerdings zog es vor, nur indigniert eine Augenbraue zu heben und sich selbst zu beglückwünschen, dass er nicht mit ihr in einem Lehrerzimmer sitzen musste.

Nach der Reihe bekamen sie alle etwas Pulver und Joogiya erklärte jedem Einzelnen noch einmal die Aussprache des Zielortes. Mo Niyan-Residenz. Mo Niyan. Selbst Dumbledore schien Angst vor der Reise zu haben. Trotzdem traten sie alle tapfer in die grünlichen Flammen und ließen sich ins Ungewisse katapultieren.

Jiang Li kam als letzte dran. Sie nahm ihrer Schwester nachlässig das Pulver aus der Hand, winkte ihren Raben zu sich und würdigte sie nicht einmal mehr eines Blickes, als sie mit verächtlicher Stimme „Mo Niyan-Residenz“ ausspuckte und ergeben die Augen schloss. Sekunden später knallte sie hart mit ihren Fußsohlen auf den gemauerten Kaminboden ihres Geburtshauses und holte noch einmal tief Luft.

Als sie die Augen öffnete, sah sie, wie Snape gerade ihrer Mutter mit einem schrecklich gezwungenen Lächeln die Hand schüttelte. Wieder flammte Wut in ihr hoch, doch sie setzte eine eisige Miene auf und zwang sich, sich zu beherrschen.

„Ach, meine liebe Jiang Li!“ Ihre Mutter bemühte sich, eine heitere Miene aufzusetzen und ging auf sie zu, um sie zu umarmen, doch ihre Tochter blieb stocksteif stehen und machte keine Anstalten, ihr entgegenzukommen. Etwas betreten gab sie es schließlich auf und lächelte gequält. „Was hast du denn da am Arm, meine Liebe?“

Jiang Li ging nicht näher auf ihre Eltern ein, sondern begrüßte sie mit kühler Höflichkeit und schnippte dann ungeduldig mit den Fingern. „Ein Hauself soll mein Gepäck wegschaffen und mir eine Eule besorgen, ich habe morgen noch was vor und meinen Raben will ich damit nicht belästigen, er braucht seine Ruhe.“ Der arme, ruhebedürftige Vogel hatte sich inzwischen von ihrer Schulter gelöst und erkundete angriffslustig krächzend die neue Umgebung. Offensichtlich teilte er das Missfallen seiner Herrin, denn er hatte nichts Besseres zu tun, als sich ausgiebig auf einem sicherlich wertvollen Wandleuchter zu entleeren. Ihr Vater tat unwillkürlich einen schnellen Schritt auf ihn zu, sicherlich in der Absicht, das Tier zu verjagen, besann sich dann aber eines Besseren und lächelte matt. „Na ja, eure Reise war ja gewiss sehr anstrengend, da ist so was ja kein Wunder, und viel ist ja nicht passiert …“ Mit einem hastigen Schwung seines Zauberstabes reinigte er den Kerzenarm und wandte sich dann an seine Gäste. „Bitte folgen Sie mir, Ihre Zimmer warten bereits auf Sie. Wenn die Reise Sie nicht zu sehr angestrengt hat, würden wir uns sehr freuen, wenn Sie gemeinsam mit uns ein bescheidenes Nachtmahl einnehmen würden …“

Die kleine Gruppe nahm das freundliche Angebot nur zu gerne an und folgte dem Herrn des Hauses artig. Jiang Li blieb für einen Augenblick mit undurchdringlicher Miene stehen, bemerkte dann den unschlüssigen Blick ihrer Mutter, die gewiss etwas sagen wollte, gab sich einen heftigen Ruck und marschierte steif aus der Empfangshalle. Einige eifrige Hauselfen huschten neben ihr durch die Tür und kümmerten sich um das liegen gebliebene Gepäck. 

 

„Das wäre also wirklich das Elternhaus der guten Jiang Li? Kein Wunder, dass sie so wütend ist. Aus so einem Palast wäre ich auch nicht gerne weggeschickt worden“, äußerte Tonks trocken, als sie sich alle vier in Dumbledores Zimmer getroffen hatten. Jeder einzelne der Räume, die sie zur Verfügung gestellt bekommen hatten, war von beeindruckenden Ausmaßen, doch momentan hatte keiner von ihnen einen Blick dafür übrig. In einer halben Stunde würden sie sich mit der Mo Niyan-Familie zum Dinner treffen.

„Glauben Sie wirklich, Direktor, dass sie eine besonders gute Lehrerin abgeben wird? Sie scheint mir etwas – nun, impulsiv zu sein“, warf Snape dazwischen und lächelte mit feiner Häme. Dumbledore schmunzelte nur. „Mit ihrer Impulsivität habe ich sogar gerechnet, lieber Severus. Seien Sie alle nur unbesorgt, Fräulein Lian wird uns gewiss nicht enttäuschen.“

„Soll sie eigentlich näher in die Belange des Ordens eingeweiht werden?“, fragte Lupin und hustete rau. Die dunklen Schatten unter seinen Augen hatten sich in den letzten Tagen augenfällig vertieft, die Reise zehrte sichtlich an seiner Gesundheit.

„Darüber habe ich mir, ehrlich gesagt, noch keine Gedanken gemacht“, antwortete Dumbledore ernst, doch das kurze Aufblitzen seiner blauen Augen sagte etwas anders.

„Ich möchte noch etwas fragen. Was hat Jiang Li denn nun so Schlimmes gemacht, worüber die Mädchen in der ersten Nacht gestritten haben? Es geht doch um die Monster in dem Wald, wenn ich mich nicht täusche, oder?“ fragte Tonks und gähnte verhalten.

„Soweit ich weiß, ist der Kampfschule ein Amulett abhandengekommen, ich möchte hier allerdings nicht vorgreifen. Fräulein Lian soll Ihnen da Näheres erzählen, wenn sie soweit ist“, erwiderte Dumbledore und wollte sich schon auf den Weg machen, als noch eine Frage auftauchte.

„Morgen früh müssen wir also als Erstes zum Ministerium, was vermutlich den ganzen Tag in Anspruch nehmen wird, wie ich die Bürokratie kenne. Und dann?“

„Dann, liebe Tonks, werde ich mich noch auf den Weg zu einem alten Bekannten machen, und Sie alle können sich hier ausruhen. Die Familie Mo Niyan freut sich sehr, wieder etwas für den Orden tun zu können, daher wird sie allen Ihren Wünschen gewiss gerne Folge leisten.“

 

Unterdessen saß Jiang Li in ihrem Gästezimmer – ihr Zimmer wollte sie es nicht nennen, dafür war sie nicht oft genug hier – und machte sich lustlos für das gemeinsame Abendessen fertig. Während sie mit harten Strichen ihr langes Haar bürstete, dachte sie an ihren letzten Besuch zurück. Damals hatte sie einen heftigen Streit mit ihren Eltern vom Zaun gebrochen und war verfrüht abgereist, mit dem festen Vorsatz, nie wieder einen Fuß in dieses Haus zu setzen. Das war jetzt auch schon zwei Jahre her, wie sie mit kurzem Staunen feststellte. Die Zeit verging manchmal einfach zu schnell.

Obwohl das Zimmer gut beheizt war, fühlte sie immer öfter ein unangenehmes Frösteln. Die Begegnung mit dem Wang-Liang zeigte offensichtlich Nachwirkungen, vermutlich würde sie Fieber oder was Schlimmeres bekommen. Die fünf Male des Dämons waren von Dunkelrot zu bräunlich verblasst, trotzdem aber noch gut erkenntlich. Vermutlich würden die Narben lange brauchen, um zu verschwinden, wenn sie es überhaupt taten. Anders als bei Joogiya hatte ihre Haut nie die Chance bekommen, glatt und ebenmäßig fein zu werden; selbst an Hals und Schläfen trug sie die Spuren kleinerer Kratzer und Abschürfungen.

Die Hauselfen hatten vorsorglich ein frisches Gewand auf ihr Bett gelegt. Es handelte sich um ein Qípáo aus kühler bernsteinfarbiger Seide, mit einem Muster aus Kirschblüten, das sich nur durch eine winzige Nuance vom Grundton abhob. Durch die kurzen Ärmel allerdings sah man den frischen weißen Verband; damit würden sie leben müssen. Vielleicht, so dachte sie grimmig, tat es ihren Eltern wenigstens ein bisschen leid, wenn sie sahen, wie ihre erstgeborene Tochter zugerichtet war.

Wie sie Dumbledore ganz richtig erzählt hatte, wusste sie nicht viel über die Vergangenheit ihrer Eltern. Da sie bereits im Alter von drei Jahren zu Meisterin Lian gegeben worden war, hatte es nie viele tiefergehende Gespräche gegeben, bei den kurzen Treffen hatte Jiang Li meistens eher geschmollt oder sich über ihr Leben beklagt. Eine tief sitzende Eifersucht steckte wie ein giftiger Stachel in ihr; man hatte sie vom Thron gestoßen und ihr Herz war voll Bitterkeit und Zorn, keine noch so vernünftige Erklärung konnte sie besänftigen.

Erst nach einer Weile bemerkte sie, dass sie ihre Fingernägel so tief in den rechten Oberarm gegraben hatte, sodass nun fünf halbmondförmige Schrammen wie lächerliche Pendants zu ihren runden Wundmalen am linken Arm wirkten.

 

Als die Gäste den großen Speisesaal betraten, schlug ihnen ein betörender Duft entgegen. Die Hauselfen hatten sich mit dem deliziösen Mahl offensichtlich selbst übertroffen; allen rann das Wasser im Mund zusammen. Außer den beiden Erwachsenen und Joogiya befanden sich auch noch Henkama, der Zweitjüngste und ein schwerhöriger, halbblinder Mann am Tisch. Jiang Li eilte mit einem erfreuten Ausruf auf ihn zu und schlang zärtlich die Arme um seinen faltigen Hals. „Urgroßväterchen! Du liebe Zeit, schön, dass du da bist!“, rief sie eifrig und lächelte so bezaubernd, dass allen im Raum für kurze Zeit ganz warm ums Herz wurde. Ihre Mutter seufzte unhörbar. Sie war von ihrer Tochter noch nie so begrüßt worden.

Der Vater zwang sich zu einem unbeschwerten Lächeln und stellte den alten Mann vor. „Das hier ist der ehrenwerte Soocangga, mein Großvater, er war zu seiner Zeit ein außergewöhnlicher Schwertkämpfer. Allerdings ist er –“ Er räusperte sich kurz und fuhr leicht verlegen fort, „– ein Muggel.“ „Tatsächlich?“ rief Tonks erstaunt aus und schlug dann verlegen die Hand vor den Mund. „Ach du liebe Güte, schon wieder. Dabei hatte ich mir wirklich vorgenommen, mich zusammenzureißen …“ Unter dem vergnügten Gelächter der anderen nickte ihr der alte Mann schelmisch zu, offenbar hatte er verstanden, dass es um ihn ging. Jiang Li flüsterte ihm leise einige Worte ins Ohr, worauf er so herzhaft lachte, dass seine mandelförmigen Augen wie bei einer Katze zu dünnen Schlitzen wurden. Tonks wurde knallrot und ließ vor lauter Verlegenheit ihre Ohren einen halben Meter lang werden. Henkama riss erstaunt die Augen auf und sprach in raschem Mandschurisch mit seinem Vater, der beruhigend lachte und ihm die ganze Sache erklärte. Daraufhin wandte sich der Junge an Tonks und unterhielt sich längere Zeit sehr ernsthaft und interessiert mit ihr.

Jiang Li aß sehr wenig, denn ihre Wunde schmerzte immer noch sehr unangenehm, abgesehen von den Kälteschauern, die sie in immer kürzeren Abständen heimsuchten. Außer mit ihrem Urgroßvater unterhielt sie sich mit niemandem; sich von ihm ihren schlechten Zustand nicht anmerken zu lassen nahm ihre Aufmerksamkeit voll und ganz in Anspruch. Auch er kostete nur von den herrlichen Speisen und nahm sie dann beiseite. „Hör zu, Donggo, ich …“ Nach einer kurzen Pause fiel ihm dann wohl ein, dass sie schon längst eine Schwertmeisterin war und seit ihrem dritten Lebensjahr ihren Geburtsnamen nicht mehr trug, denn er hüstelte verlegen und legte ihr die Hand auf den Arm. „Jiang Li, wollte ich sagen. Wie wär’s, wenn dir dein alter Urgroßvater ein kleines Geschenk macht?“

Sie musterte ihn aufmerksam, nickte dann aber. „Urgroßväterchen, du musst mir doch nichts schenken. Du – “ „Papperlapapp“, gab er abwinkend zurück und erhob sich langsam. „Komm mit, Donggo, es ist eine Überraschung. Ich wollte es dir schon lange geben, aber du lässt dich bei deinem Uropa ja so selten blicken.“

Schweigend und ohne auf die erstaunten Blicke der anderen zu achten folgte sie ihrem Urgroßvater durch eine schmale Seitentür nach draußen und über einen kleinen steinernen Pfad zu seinem Häuschen, in dem er im Schatten des Herrenhauses lebte. Es gefiel ihm hier besser als in den großen Räumen, hatte er schon mehr als einmal erklärt. Jiang Li vermutete, dass er sich inmitten der Hektik und Geschäftigkeit des Herrenhauses nicht wohlfühlte. Er war schon steinalt und hatte seinen Tag in feststehende Rituale unterteilt, die er auf die Sekunde genau einhielt.

Sie musste im schlichten Empfangszimmer warten, während er aufgeregt in seine Privatgemächer hastete und dort eine Weile zu kramen begann. Des Öfteren erklangen Papierrascheln, Gepolter und leises Fluchen. Dann kehrte der alte Mann mit triumphierender Miene zurück.

„Hier, Donggo,“ er war ganz aufgedreht, „was sagst du dazu?“ Sie nahm die längliche Holzschachtel entgegen und betrachtete sie einen Moment stirnrunzelnd, bevor sie den leicht gewellten Deckel der Führung entlang beiseiteschob. Dann entfuhr ihr ein leiser Aufschrei.

„Du liebe Zeit! Urgroßväterchen! Für mich?“ Er lächelte stolz und nickte heftig. „Ja, ja, das waren noch Zeiten, als dein Uropa noch ein ganzer Kerl war!“

In der dunkel gebeizten Holzkiste befand sich ein langes, schlankes Schwert mit einem schwarzen Griff. Als Jiang Li die Waffe ehrfürchtig in die Höhe hob, erkannte sie, dass der irisierende schwarze Stein aus Hetian-Jade bestand, aus den Kunlun-Bergen Xinjiang Uygurs, einer autonomen Provinz im Nordwesten Chinas.

Die Klinge war perfekt ausbalanciert. Als Jiang Li den Finger zwischen Schwertblatt und Griff legte, hielt sich beides bewundernswert ebenmäßig im Gleichgewicht. Sie lachte und warf es mit einem kräftigen Ruck in die Höhe, um es dann geschickt mit der Rechten aufzufangen.

„Es ist wundervoll“, lächelte sie begeistert und gab ihrem Urgroßvater einen zärtlichen Kuss auf die Wange. „Vielen, vielen Dank! Aber warum, verzeih’ mir die Frage, hast du es nicht Vater geschenkt?“

„Pah, dein Vater“, erwiderte der Alte und schüttelte, von einem Moment zum anderen brummig geworden, den Kopf. „Hatte nicht genug Kampfgeist, der Bursche. Ich hab’ es gleich gesehen und mir gedacht, zaubern kann er zwar, aber nicht kämpfen. Nein, Donggo, ich kann vielleicht nicht mit einem Zauberstab herumfuchteln, aber ob einer zum Schwertkämpfer was taugt oder nicht, sehe ich allemal. Und bei dir war das eben so der Fall, das konnte ich gleich sehen, schon wie du noch ganz klein warst und gerade erst zu krabbeln begonnen hast.“

„Soso.“ Jiang Li wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, sondern strich lieber noch einmal bewundernd über die hauchdünne, gleichwohl aber rasiermesserscharfe Klinge. Der schwarze Jadegriff fühlte sich warm und angenehm an, als wollte er gleich zum Ausprobieren einladen. Eine wahrhaft gefährliche Waffe.

Jiang Li dankte ihrem Urgroßvater noch einmal von ganzem Herzen und begab sich danach gleich auf ihr Zimmer. Es war zwar ein Ausbund an Unhöflichkeit ihrer Familie und den Gästen gegenüber, dennoch nahm sie mögliche Tadel in Kauf und legte sich nach einer raschen Katzenwäsche hin. Ihr war so kalt, dass sie trotz der warmen Überdecke zitterte und schlimmer als während des Wang-Liang-Angriffes fror.

Das Gift hatte Li Ming aus zwar aus dem Körper vertrieben, der Heilungsprozess setzte aber nicht minder schmerzhaft ein. Die ganze Nacht hindurch schüttelte es sie so heftig, dass ihr die Zähne klapperten; sie tat kein Auge zu. Kalter Schweiß tropfte auf das leinene Kissen und machte die ganze Sache noch um einiges unangenehmer. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und wollte das Bett verlassen, als ihr die Beine den Dienst versagten und sie wie ein schwerer Mehlsack zurück unter die Decke plumpste.

Zum Glück hingen hier, anders als in Hogwarts, keine Gemälde herum, die die ganze peinliche Sache mit Sicherheit hämisch kommentiert hätten. Jiang Li seufzte. In weniger als zwei Wochen würde sie ihre alte Schule wieder sehen und einen ganzen Haufen Kinder unterrichten. Jetzt, da sie sich nicht in den Schlaf flüchten konnte, ging ihr die ganze, viel zu übereilt getroffene Entscheidung wieder und wieder im Kopf herum.

Ihre Mutter hatte laut der Großmeisterin mit Nachdruck darauf bestanden, dass ihre älteste Tochter eine Schulkarriere in England hinter sich zu bringen habe, ebenso wie sie selbst und ihre eigene Mutter. Zweisprachig erzogen wurden sie sowieso alle miteinander, sowohl Jiang Li wie auch ihre leiblichen Geschwister hatten von ihrem ersten Augenblick an Englisch gelernt. Außerdem hatten sich auch beide Elternteile tatkräftig gegen Voldemort zur Wehr gesetzt, mussten also wohl engere Beziehungen zu Großbritannien haben, als Jiang Li bewusst gewesen war. Ohne Dumbledores Erscheinen hätte sie garantiert nie über diesen Sachverhalt nachgedacht.

Hoffentlich kam sie mit den anderen Lehrkräften zurecht. Vor Snape hatte sie ohnehin Angst, noch dazu war diese Reise nicht gerade dazu geeignet gewesen, ihre Schokoladenseite hervorzuheben. Die Vier hielten sie sicherlich für eine ziemlich verquere Person, die sich nicht einmal vor Fremden einigermaßen gut benehmen konnte. Haltung zu bewahren fiel Jiang Li ohnehin sehr schwer; wenn sie etwas in Rage brachte, vergaß sie alle guten Manieren, obwohl sie sonst eigentlich relativ zurückhaltend war. Sie hatte es nie geschafft, freundlich und einnehmend zu wirken, dafür hatte sie oft zu viel Angst vor den Menschen. Gegen einen Dämon zu kämpfen war leichter, da waren die Positionen von Anfang an klar.

Sie seufzte schwer. Vermutlich lag alles an ihrer unglücklichen Neigung, jede Person, die sie nicht kannte, sofort in ein „Freund-Feind“ Schema einzuteilen. Schon in der Schule hatte sie sich damit schwer getan, Freunde zu finden, das alte Lied eben. Noch dazu war die Meisterin furchtbar wütend gewesen, weil sie nicht wie ihre Mutter und Großmutter nach Gryffindor gekommen, sondern für Ravenclaw ausgewählt worden war.

Scheinheilig hatte Jiang Li damals so getan, als verstünde sie den Entschluss des Sprechenden Hutes gar nicht, doch in Wirklichkeit hatte sie ihm die Entscheidung förmlich abgepresst. Noch heute erinnerte sie sich gut an die pfeifende Stimme. „Und du bist dir sicher, dass du nicht nach Gryffindor willst? Nein? Vielleicht Slytherin? Auch nicht? Gut. Was dann?“

Ravenclaw… das Haus der „Klugen“. So jedenfalls hatte sie immer davon gehört, daher war es ihr größter Wunsch, dorthin zu kommen. Gryffindor für die Mutigen, die Edlen, die Starken. Aber mutig zu sein bedeutete ihr nichts, sie wollte allen beweisen, dass sie – entgegen der landläufigen Meinung – sehr wohl etwas im Kopf hatte. Von Schwertkämpfern dachte man ja meistens, was sie an Bizeps zuviel hätten, fehlte dafür im Hirn, doch sie hatte allen das Gegenteil bewiesen. Nicht Jahrgangsbeste, nein, aber im oberen Drittel. Sogar im oberen Viertel, und das hieß was, sogar in den schweißtreibenden letzten Jahren mit den ganzen Abschlussprüfungen.

Sie schüttelte mit Entschlossenheit die drückenden Gedanken ab und suchte sich eine kühlere Stelle des Polsters. Wenn sie ganz ehrlich war, hatte das Leben in der Kampfschule auch seine guten Seiten und sie würde ihre Schwestern vermutlich bald vermissen. Irgendwie tat sie es jetzt schon. Die Meisterin hätte ihr gewiss ein kräftiges Mittel gegen das Fieber und die elende Schwäche geben können, hier wollte sie nicht fragen.

Als sie vor zwei Jahren das letzte Mal hier gewesen war, hatte sie ihren Eltern heftig vorgeworfen, dass sie von ihnen im zarten Alter von drei Jahren nach Shaanxi gegeben worden war. Diese hatten ihr zu erklären versucht, dass die Zeiten damals schlechter gewesen waren, sie sich Sorgen um die Zukunft ihres Kindes gemacht hatten, da sie Dumbledore und Hogwarts schon immer nahe gestanden hatten. Sie hatten Voldemort kein Ziel bieten wollen, man wusste ja nie, worauf es die Todesesser abgesehen hatten.

Trotzdem konnte Jiang Li nicht verzeihen. Ihre sämtlichen anderen Geschwister hatten ohne Probleme bleiben dürfen, und Joogiya war, als Voldemort verschwand, gerade mal drei gewesen.

Als sie dieses Argument ins Rennen geführt hatte, blieb ihr Vater stumm und starrte zu Boden; die Mutter bemühte sich, eine passende Antwort zu finden. Sie hätten es schlicht und einfach nicht übers Herz gebracht, noch eins der Kinder fortzugeben. Das müsse sie verstehen.

Jiang Li verstand, sie verstand sogar sehr gut, doch der schwelende Zorn ließ sich dadurch trotzdem nicht besänftigen. In dieser Situation war sie ausgerastet, hatte zu brüllen begonnen und erklärt, alle Entschuldigungen wären sinnlos, denn dank der Adoption von Großmeisterin Zhen Juan hatten sie sie ohnehin verloren. Jiang Li war seit 22 Jahren offiziell die Tochter der Familie Lian und hatte weder Ansprüche auf ihren Geburtsnamen noch auf irgendwelches Erbe der Familie Mo Niyan.

Nachdem ihre Eltern daraufhin schwiegen, hatte sie sich auf dem Absatz umgedreht, ihre Koffer gepackt und war eine halbe Stunde später abgereist, ohne jemals wieder zurückkehren zu wollen.

Im Nachhinein taten ihr die unüberlegten Worte leid. Natürlich hatten sich ihre Eltern Sorgen um sie gemacht, das war wohl klar. Trotzdem konnte sie nichts gegen das Gefühl des Ausgestoßenseins tun, es überkam sie immer, wenn sie ihre Blutsverwandten sah, wie sie lebten, unbeschwert und ohne zu wissen, wie es war in einem Wald voller Monster und Dämonen und ohne Zauberkraft.

Gegen Morgen fiel sie doch noch in einen unruhigen Schlaf.



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