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Corvus et Vulpes

von

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Ein unangenehmer Zusammenstoß

Die erste Woche verging wie im Flug. Erstaunt stellte Jiang Li fest, dass der Montag schon wieder mit Riesenschritten heraneilte; glücklicherweise begann ihr Tag da eine Stunde später.

Ihr war aufgefallen, dass sich jeden Tag zur Frühstückszeit auf ihrem Platz eine kleine Süßigkeit fand, die sie bei den anderen Kollegen noch nie gesehen hatte; offensichtlich ein kleiner Morgengruß von den Hauselfen. Jiang Li fand es eine nette Geste, sie schienen sich gemerkt zu haben, wie gerne sie ein Stück Schokolade zum Kaffee aß.

 

Sie hatte sich inzwischen gut in Hogwarts eingelebt, einerseits wurde ihr das Schloss wieder ebenso vertraut wie vor sieben Jahren, andererseits wurde sie sich ihrer Position als Lehrkraft langsam sicherer.

Die Hufflepuffs waren die angenehmsten und freundlichsten der Schüler; man konnte manchen von ihnen lediglich ein wenig übertriebenes Pflichtgefühl vorwerfen, mehr nicht. Gryffindors und Slytherins musste man ab und zu ein wenig an die Kandare nehmen, damit sie nicht allzu übermütig wurden, die Ravenclaws waren meist ein wenig zu eingenommen von ihrer eigenen Intelligenz. Alles in allem war das Resümee aber positiv – bis der erste Mittwoch kam.

Der Tag begann schon zu verdächtig, so kam es Jiang Li jedenfalls im Nachhinein vor. Dohosan Brant, der sie die letzten Tage über mehr oder weniger ignoriert hatte, von kurzen, kühlen Grüßen abgesehen, lächelte ihr am Frühstückstisch strahlend zu und zwinkerte atemberaubend. Sie hob erstaunt die Augenbrauen und neigte zur Antwort leicht den Kopf.

Ein Blick auf den Stundenplan klärte sie wenige Momente danach über den Umstand auf, dass sie in der dritten Stunde nach der Mittagspause auf den berühmten Harry Potter treffen würde.

Selbstverständlich hatte sie – wie alle anderen auch – Geschichten über Geschichten gehört, mochten sie nun wahr sein oder nicht. Fakt war natürlich, dass es ihm im zarten Alter eines Jahres gelungen war, den dunkelsten Hexenmeister seit langer Zeit an den Rand des Todes zu bringen – eine beachtliche Leistung, auch wenn es eigentlich der Verdienst der Mutter gewesen war. Jiang Li seufzte und erhob sich, bis elf Uhr hatte sie eigentlich noch frei, doch sie wollte dem ersten Jahrgang der Gryffindors ein paar Kappas zeigen und dafür war noch einiges vorzubereiten.

Am Besten war es wohl, ihn wie jeden anderen Schüler zu behandeln – sie konnte sich vorstellen, dass es auch ihm so am liebsten sein würde. Vermutlich machten die meisten Leute ein entsetzliches Aufheben um ihn, da würde etwas Normalität sicherlich willkommen sein. 

Auf der Türschwelle zur kleinen Kammer hinter dem Lehrertisch wäre sie beinahe mit Snape zusammengeprallt, der zuerst ärgerlich die Stirn runzelte und gewiss schon einen gehässigen Spruch auf den Lippen hatte, als sie ihn mit kühler Miene und herausfordernd-zynisch gehobener Augenbraue direkt in die Augen sah. Er schluckte und rauschte schweigend vorbei; auf eine Auseinandersetzung wollte er es wohl nicht ankommen lassen.

Jiang Li sah ihm aufmerksam nach und nickte innerlich. Dass Snape den „Jungen, der überlebte“, wie ihn der Tagesprophet nicht müde wurde zu betiteln, bis aufs Blut hasste, war ihr natürlich nicht unbekannt, es kursierten schließlich mehr als genug Witze darüber im Lehrerzimmer.

Die Gryffindors waren von den Wassermonstern, halb Affe, halb Schildkröte (manche Arten konnten auch zur Hälfte froschähnlich sein), ausgesprochen begeistert und schnatterten den größten Teil der Stunde so aufgeregt durcheinander, dass die gefangenen Wesen völlig aus dem Häuschen gerieten und immer wieder gegen die dicken Glaswände schlugen. Jiang Li musste teuflisch aufpassen, keinem von ihnen womöglich die Gelegenheit zur Flucht zu bieten und dadurch die Kinder unnötigerweise in Gefahr zu bringen.

Mit dem sechsten Jahrgang der Hufflepuffs in der Stunde danach ging sie auf komplexe Verteidigungsmechanismen ein, wie beispielsweise den Patronus- oder effektive Schutzzauber. Einige der Schüler schienen sich besonders gut auszukennen, die beiden Vertrauensschüler und noch zwei, drei andere auch. Dasselbe Phänomen war ihr schon bei einigen der Ravenclaws aufgefallen, in der letzten Stunde am Tag davor, doch hatte sie es eigentlich auf die übliche Art der Ravenclaws geschoben. Sie wusste ja selber noch gut genug, wie oft sie gegenseitig versucht hatten, sich mit vorgelerntem Wissen auszustechen. 

Im Großen und Ganzen war ihr das nur recht so. Die Schüler konnten sich auf diese Weise untereinander helfen und gemeinsam die komplizierten Sprüche ausprobieren; vorsichtshalber hatte sie den Raum schon vorher mit vielen dicken Kissen ausstaffiert, damit keinem von ihnen etwas geschah. Ein gut platzierter Schockzauber konnte den Getroffenen wie einen Stein zu Boden stürzen lassen.

 

Brant saß in der Mittagspause neben ihr und lächelte sie wieder an, diesmal allerdings um eine Nuance kühler als am Morgen. Er nahm sich reichlich von den appetitlich duftenden Steaks und klopfte sich, scheinheilig gequält aufseufzend, auf den straffen Bauch.

„Ich werde in die Breite gehen, das spüre ich schon. Das Essen hier in Hogwarts ist ja so schrecklich deftig!“

Als sie zu seiner Enttäuschung lediglich geringfügige bis gar keine Reaktion zeigte, versuchte er es auf die einfühlsamere Art.

„Wissen Sie, Jiang Li, Sie dürfen mir wegen der letzten Woche wirklich nicht so böse sein. Es ist einfach nur so, na ja, manchmal wissen Sie eben nicht so ganz, wann genug ist.“

Er strahlte sie an, als hätte er bereits genug erklärt und müsste nichts weiter hinzufügen, doch Jiang Li verzog keine Miene, sondern zuckte lediglich unbeeindruckt mit den Schultern. Dohosan lächelte etwas gequälter, sah aber wohl doch ein, dass seine bisherigen Erklärungsversuche zu dürftig für sie gewesen waren (was allerdings selbstverständlich nicht das Geringste mit seiner höchsteigenen Person zu tun hatte) und fuhr mit einem selbstmitleidigen Ächzen fort.

„Sie überspannen den Bogen eben des Öfteren und ich mag diese ewigen Gemeinheiten eben nicht. Abgesehen davon“, er strahlte nun wieder und ließ die ebenmäßigen weißen Zähne blitzen, „geht mir das alles sowieso viel zu schnell. Ich bin nicht der Typ, der sich so leichtfertig auf etwas einlässt.“

Diesen letzten Schlag schluckte Jiang Li ebenfalls schweigend, den Kopf gesenkt und fest auf ihren Teller starrend. Hätte Dohosan ihr Gesicht näher betrachtet, wären ihm vielleicht die gefährlich pulsierende Ader an ihrer Schläfe und der unregelmäßig zuckende Muskel unter ihrem rechten Auge aufgefallen, doch glücklicherweise sah er nicht genauer hin. So war er in der Lage, sein reichliches Mittagsmahl mit Appetit zu genießen.

Jiang Li hingegen konnte keinen einzigen Bissen hinunterbringen – ihre Hände hatten sich dafür viel zu fest um Messer und Gabel verkrampft und sie musste sich sehr zusammenreißen um Snape, der sich kaum noch das hämische Grinsen verkneifen konnte, die Zehen nicht mit ihrem spitzen Stiefelabsatz zu Staub zu zermalmen.

 

Sogar über eine Stunde später zitterten ihr ganzer Körper immer noch vor lauter Wut über Brant und seine Unverfrorenheit, die ja eigentlich schon fast ans Bemerkenswerte grenzte. Wie konnte er es nur wagen, ihr den Schwarzen Peter für alles zuzuschieben, fast so als hätte sie ihn dazu gezwungen, ihr am ersten Abend ein paar Schmeicheleien ins Ohr zu flüstern! Noch dazu wusste sie ja eigentlich gar nicht, warum er diesen ganzen Aufstand überhaupt erst anzettelte. Na gut, dann entwickelte sich eben nichts zwischen ihnen beiden! Wen kümmerte das schon?

Sie schnaubte zornig, knallte ihre Schreibfeder hin und erhob sich. Da sie dank Brant zu Mittag so gut wie überhaupt nichts zu sich genommen hatte, röhrte ihr Magen peinlicherweise geradezu vor Hunger. Einige der Kollegen sahen schon seit geraumer Weile her, Professor Vector hatte sogar ihren kurzen Wutanfall ganz am Anfang der Stunde mitbekommen, bei dem sie eine Feder zerbrochen und einen halben Meter Pergament zuerst zerrissen und dann in Flammen hatte aufgehen lassen.

Bevor sie sich auf die Suche nach etwas Essbarem machte, steckte sie sich noch rasch eine Chang-shou an, die eigentlich nur für besondere Festlichkeiten reserviert waren. Galatyn hatte ihr nach dem zweiten Chinaflug so fest in die Hand gebissen und beide Krallen tief in ihre Schulter versenkt, dass sie sich in Zukunft gut überlegen würde, wann und aus welchem Grund sie ihm wieder einen so weiten Flug zumuten konnte. Es würde jedenfalls nicht allzu bald sein.

 

Dann war es soweit. Die siebente Stunde nahte heran und Jiang Li machte sich eilends auf den Weg in ihr Klassenzimmer, immer noch auf einer trockenen Brotrinde kauend. Die hatte sie zu allem Überfluss auch noch aus dem schmalen Bord, das eigentlich Snape gehörte – er schien irgendwann vor Urzeiten ein halbes belegtes Brot liegengelassen und vergessen zu haben. Jedenfalls hoffte sie, dass er es bloß vergessen und nicht zur Züchtung irgendeiner neuen Schimmelart verwendet hatte.

Sie schaffte es knapp, noch ehe die ersten Schüler die Klasse betraten, und stellte sich rasch hinter den Lehrertisch. Laut durcheinander schnatternd strömte der sechste Jahrgang der Gryffindors herein; einige der Jungen und Mädchen verstummten sofort, als sie Jiang Li am Pult stehen sahen, andere unterhielten sich dafür umso lauter.

Neuer Lehrer, neues Ausloten der Grenzen. Jiang Li wartete, bis alle mehr oder weniger ruhig geworden waren und sich ihre Plätze gesucht hatten, dann stellte sie sich mit kräftiger Stimme vor und legte sich die Liste mit den Schülernamen zurecht.

„Sie sind der letzte sechste Jahrgang, den ich kennenlerne. Ihr Wissensstand dürfte mit dem der anderen drei identisch sein, darum denke ich, es wäre bei Ihnen auch das Beste, mit den Schutzzaubern anzufangen.“

Plötzlich und ohne Vorwarnung ertönte ein lautes, gelangweiltes Gähnen und übertönte ihre letzten Worte.

Schlagartig verstummte die gedämpfte Geräuschkulisse, die aus Rascheln, leisem Flüstern und dem Klicken von Federhaltern bestand. Das gesamte Klassenzimmer verstummte; jeder wartete gespannt auf die Reaktion der Neuen.

Jiang Li erstarrte in der einen Sekunde zu Stein und fasste sich in der anderen wieder. Nur keine Nervosität zeigen. Mit beherrschtem Pokerface suchte sie zwischen den Bankreihen nach dem Verantwortlichen und hatte ihn bald gefunden. Es handelte sich zweifellos um Harry Potter; er hatte sich betont entspannt nach hinten gelehnt und starrte sie aus kalten grünen Augen an.

„Mr Potter? Ihr Beitrag zu dieser Stunde?“

Einige der Schüler begannen zu kichern, doch Potter verzog keine Miene. Er blieb weiterhin so respektlos sitzen wie zuvor und schien sich keinen Deut darum zu kümmern, dass er mit einer Lehrperson sprach.

„Als ob Sie uns was Vernünftiges beibringen würden. Wäre ja mal was ganz Neues.“

Diesmal lachte keiner, im Gegenteil; das neben Potter sitzende Mädchen gab ihm einen harten Klaps gegen den Oberarm und zischte offensichtlich wütend in sein Ohr. Dasselbe tat der rothaarige Junge auf der anderen Seite. Jiang Li wurde sofort klar, dass der Rothaarige ein Weasley sein musste; die Familienähnlichkeit war kaum zu übersehen.

Harry Potter schüttelte seine wohlmeinenden Freunde ab und stützte provokant die Arme auf.

„Wann wird sich wohl bei Ihnen herausstellen, wer Sie wirklich sind? Zwei Spitzel von Voldemort und einen vom Ministerium hatten wir ja schon. Oder sind Sie einfach genauso unfähig wie Lockhart …?“ Er lächelte süffisant und sah sie herausfordernd an.

„Mr Potter, Sie scheinen vergessen zu haben, wo Sie sich befinden“, rang sich Jiang Li mit Mühe eine halbwegs gefasste Antwort ab. Sie wusste einfach nicht, wie sie jetzt reagieren sollte. Was bildete sich dieser Junge nur ein?

„Ich fürchte, ich werde Ihr Betragen melden müssen. Bitte richten Sie Professor McGonagall aus, dass ich um eine kurze Unterredung mit ihr ansuche.“

Potter sah sie an und hörte auf zu grinsen. Für einen kurzen Moment nahm sein Gesicht einen so müden, hoffnungslosen Ausdruck an, dass es Jiang Li richtiggehend ans Herz griff, dann gewann wieder die Überheblichkeit die Oberhand. Er zuckte mit den Achseln und stand auf.

„Wenn Sie wollen …“

„Treiben Sie es nicht zu weit, Potter – oder ich überlege mir ernsthaft, ob ich Sie in meinem Unterricht überhaupt noch dulden werde. Für heute ist er für Sie ohnehin vorbei; Sie werden draußen auf Professor McGonagall warten.“

Mit diesen Worten war der überaus berühmte Harry Potter entlassen. Er sollte sich nur ja nicht einbilden, dass ihm sein Bekanntheitsgrad in ihrer Klasse helfen würde.

 

Das braunhaarige Mädchen und der rothaarige Weasley berieten aufgeregt miteinander im Flüsterton, als Potter mit betont gelangweilter Miene nach draußen geschlurft war. Schließlich fasste sie sich ein Herz und hob die Hand. Jiang Li, die vorgab, emsig in den vor ihr liegenden Unterlagen zu blättern, um ihrer Erregung Herr zu werden, sah mit kühler Miene auf.

„Miss Granger?“

Gut, dass es die Namensliste gab. Obwohl seit Schulbeginn natürlich selbst im Lehrerkollegium genügend Geschichten kursierten, in denen es um Harry Potter und seine beiden Freunde ging, wie sie Voldemort nun schon zum wiederholten Male entkommen waren, hätte Jiang Li das Mädchen nicht auf Anhieb erkannt. Da half einem auch das tägliche Studieren des Tagespropheten nicht unbedingt weiter, dachte sie und unterdrückte ein leises Seufzen.

„Bitte entschuldigen Sie Harry, Professor Lian. Er macht gerade eine sehr schwere Zeit durch und –“

„Verzeihen Sie, Miss Granger, aber das steht jetzt wohl wirklich nicht zur Debatte“, gab Jiang Li bissig zurück und strich sich mit einer heftigen Handbewegung das Haar nach hinten. „Wir haben auch ohne Mr Potter schon viel zu viel Unterrichtszeit vergeudet.“

„Aber Harry geht es wirklich schlecht!“, rief Hermione Granger nun um einige Nuancen höher aus und stand mit einem Ruck auf. Ihr Gesicht war gerötet und in den Augen standen Tränen; für einen Augenblick glich ihr Gesichtsausdruck dem ihres hitzköpfigen Freundes.

„Setzen Sie sich, Miss Granger! Wenn Sie Ihrem Freund helfen wollen, dann wäre es jetzt wohl das Beste, so gut wie möglich mitzuarbeiten und nicht noch mehr Ärger anzurichten!“, zischte Jiang Li aufgebracht und runzelte die Stirn. „Sie können auch gleich den Anfang machen. Erklären Sie mir gleich einmal die bekanntesten Abwehrzauber und ihre besonderen Eigenschaften.“

Hermione Granger mochte noch so aufgewühlt und fassungslos sein, diese Aufgabe bewältigte sie mit Bravour. Gryffindor bekam fünf Punkte und Jiang Li fuhr etwas besänftigter fort.

Am Ende der Stunde konnte sie jedenfalls zusammenfassend bemerken, dass in dieser Klasse um die vier bis fünf Schüler entweder außergewöhnlich talentiert oder sehr trainiert waren. Vermutlich Letzteres; kein Wunder, dass Potter dieser Wissensvorsprung so sehr zu Kopf gestiegen war. Dennoch konnte sie sein Verhalten nicht im Entferntesten billigen. Weasley und Granger versuchten nach dem Läuten noch einmal, mit ihr zu sprechen, doch Jiang Li wimmelte sie kurzerhand ab. Es war zwar sehr mutig von seinen Freunden, sich so für ihn einzusetzen, doch aus diesem Schlamassel musste er sich wohl oder übel selbst befreien.

 

Vor dem Lehrerzimmer traf sie auf McGonagall, die sich gerade eingehend mit dem Übeltäter befasste. Er hatte bereits rote Ohren und schien von Sekunde zu Sekunde kleiner zu werden; als sich Jiang Li langsam näherte und damit die Aufmerksamkeit Professor McGonagalls auf sich zog, atmete er hörbar auf.

„Ich muss mich wohl bei Ihnen entschuldigen, liebe Jiang Li“, meinte McGonagall unverblümt und sah ihr geradewegs in die Augen. Ihre Lippen waren zu einem so schmalen Strich zusammengezogen, dass sie de facto gar nicht mehr vorhanden waren; sie sah aus, als hätte man sie gerade gezwungen, einen Liter puren Essig zu trinken.

„Ich verstehe nicht, warum sich Potter so entsetzlich benommen hat. Am Besten wird es wohl sein, wir gehen in mein Büro und besprechen das Ganze.“

Jiang Li nickte ernst und folgte McGonagall und Potter. Glücklicherweise musste sie nicht auf die Pausenzeiten achten; ihr Unterricht für diesen Tag war jetzt zu Ende.

„Bitte setzen Sie sich, Jiang Li“, kam es von McGonagall, als sie in ihrem Büro angelangt waren und gleich darauf in weitaus schärferem Tonfall:

„Worauf warten Sie, Potter? Schlagen Sie keine Wurzeln, sondern kommen Sie gefälligst her!“

Harry Potter gehorchte stumm und setzte sich etwas unbeholfen auf den zweiten Sessel, der vor dem schweren Schreibtisch stand. Auf seinen blassen Wangen blühten kreisrunde, rote Flecken und er atmete flach und schnell.

„Dürfte ich vielleicht auch gleich erfahren, was Sie dazu bewogen hat, Professor Lian gleich in der ersten Stunde auf diese unverschämte Art und Weise anzupöbeln? Was glauben Sie eigentlich, an welcher Schule Sie sich befinden …? Ich bin wirklich schwer von Ihnen enttäuscht, Mr Potter. Nichts, aber auch wirklich gar nichts gibt Ihnen das Recht, sich so ungezogen zu verhalten – ich werde Ihnen natürlich Punkte abziehen und eine Strafarbeit verabreichen müssen …“

Sie schnaubte erregt durch ihre spitze Nase und tastete nach der Brille, die sie um den Hals trug. Ihr Zorn schien wirklich nahezu grenzenlos zu sein; selbst aus dem immerzu korrekten Haarknoten schienen sich vereinzelt einige der tiefschwarz schimmernden Haarsträhnen gelöst zu haben. Jiang Li duckte sich leicht und schluckte schwer. So aufgebracht hatte sie McGonagall noch nie erlebt. Jetzt tat ihr der Potter-Junge direkt leid.

„Nun, Minerva … Ich möchte mich selbstverständlich nicht einmischen, aber ich denke, es wäre nützlicher für Potter, wenn er keine Strafarbeit im herkömmlichen Sinne zu absolvieren hätte, sondern seinen Mitschülern hilft. Er ist ja wirklich ein großes Stück weiter als die meisten der anderen, von daher“, sie musterte den schmalen Jungen neben sich und blickte dann wieder zu McGonagall, „denke ich doch, dass es seinen Übermut ein wenig kühlen wird, wenn er merkt, wie schwierig es manchmal sein kann, jemandem etwas beizubringen.“

Hatte sie sich getäuscht, oder war da gerade der Hauch eines Lächelns über McGonagalls strenges Gesicht gehuscht? Schwer zu sagen, denn als sie genauer hinsah, runzelte die Hausvorstehende der Gryffindors die Stirn so grimmig wie eh und je.

Professor McGonagall ließ sich Zeit mit der Antwort, während es Jiang Li so vorkam, als würde sie von Harry Potter verstohlen aus den Augenwinkeln gemustert. Vielleicht hatte er inzwischen eingesehen, dass sein Urteil über ihre Person doch ziemlich vorschnell gewesen war.

„Sie plädieren also gegen Strafarbeit, liebe Jiang Li … möglicherweise ist Ihr Vorschlag wirklich eine Überlegung wert“, begann McGonagall nach einem harschen Räuspern und fixierte Potter dabei so streng, dass er gleich wieder um zehn Zentimeter schrumpfte, „Das Beste in diesem Fall wird wohl sein, dass ich Gryffindor zwanzig Punkte wegen Mr Potters schlechtem Betragen abziehe und die Strafarbeit nicht in Kraft tritt, solange er sich in Ihrem Unterricht bemüht und seinen Kollegen hilft. Eine ehrliche Entschuldigung erwarte ich mir selbstverständlich auf der Stelle.“ Mit diesen Worten schloss sie und blickte Potter mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Harry Potter murmelte einige kleinlaute Sätze, bei denen man schon sehr genau hinhören musste, um sie überhaupt zu verstehen. Natürlich war ihm das alles furchtbar und bis ins tiefste Innere peinlich; Jiang Li konnte sich in diesem Augenblick nur allzu gut an ihr eigenes sechzehnjähriges Ich erinnern. Oft hatte sie schon eine einfache Frage bei Flourish & Blotts überfordert.

Dann war er nach einem würdevollen Nicken vonseiten McGonagalls schneller draußen als der Wind; die Türe schwang noch Sekunden danach und klappte schließlich leise zu.

Auch Jiang Li wollte sich nun verabschieden und Professor McGonagall wieder zu ihrem Unterricht gehen lassen, doch die resolute Dame hielt sie zurück.

„Bleiben Sie bitte noch einen Augenblick, Jiang Li.“

Sie seufzte müde und holte eine längliche Blechdose aus ihrem Pult hervor. Darin befanden sich drei oder vier Sorten köstlich duftender Kekse.

„Bitte bedienen Sie sich. Ich möchte noch gerne kurz über Potter sprechen.“

Während sich Jiang Li nach kurzem Zögern für ein Weinbrandröllchen entschied, räusperte sich McGonagall wieder und ordnete etwas fahrig ihr Haar.

„Ich möchte jetzt natürlich nicht den Eindruck erwecken, dass ich den Jungen unrechtmäßig in Schutz nehmen will, nur weil er eben ist, wer er ist. Selbstverständlich hat er Strafe verdient und sollte er sich nicht ordnungsgemäß benehmen, kann er sich auf eine saftige Arbeit gefasst machen.“

Jiang Li saugte unauffällig die Sahne aus dem Röllchen und runzelte leicht die Stirn. Hermione Granger hatte vorhin doch auch schon etwas zur Entschuldigung des Jungen zu sagen versucht.

„Da Sie ebenfalls Mitglied im Orden sind, kann ich es Ihnen ohne Vorbehalte anvertrauen. Es ist ja auch kein Geheimnis, nur denke ich, dass Sie in China nichts oder nur am Rande davon mitbekommen haben. Jedenfalls: wussten Sie, dass Sirius Black der Taufpate des kleinen Potter war …?“

Als Jiang Li lediglich unschlüssig den Kopf hin und her wiegte (ob davon im Tagespropheten etwas gestanden hatte, wusste sie jetzt wirklich nicht, außerdem schmeckten die Kekse einfach viel zu gut), nickte sie gedankenvoll.

„Jetzt wissen Sie es ja. Vor drei Jahren brach Black aus Azkaban aus, damals noch für schuldig gehalten, die Presse war ja regelrecht hysterisch und trat mit seinem Patenkind in Kontakt. Harry hat sich emotional sehr stark an ihn angeschlossen, verständlich, nachdem seine beiden Eltern ja tot sind und die Muggel-Verwandtschaft … aber gut.

Sirius Black kam letztes Jahr ums Leben“, fuhr sie mit leiserer Stimme fort und rückte wieder an ihrer Brille.

„Es ist sehr hart für Harry, diesen Verlust zu überwinden oder ihn überhaupt erst einmal zu akzeptieren. An so einer Wunde leidet man oft Jahre und manchmal heilt sie niemals.

Nochmals: Ich will hier keine Entschuldigung für schlechtes Benehmen aussprechen. Ich dachte nur, Sie sollten davon wissen.“

„Sie meinen also, er hat so reagiert, weil er trauert?“

„Das wollte ich damit sagen, ja.“

„So wird die Sache für mich um einiges klarer“, meinte Jiang Li nach einigen Sekunden beiderseitigen Schweigens forsch und stand mit einem Ruck auf. Professor McGonagall kramte mit gesenktem Kopf in einigen Papieren herum; Jiang Li vermutete, sie wollte damit lediglich ihre Rührung verbergen. Was sie selbst von der ganzen Geschichte halten sollte, wusste sie noch nicht so recht. Natürlich tat ihr Potter leid, aber –

„Ich werde es ihm nicht nachtragen. Wenn er sich in der nächsten Stunde anständig benimmt, ist die Sache für mich vergessen und wir machen einen Neuanfang. Es wird ihm daraus kein Schaden erwachsen, das verspreche ich.“

Damit verabschiedete sie sich, nickte McGonagall noch einmal abschließend zu und trat aus dem Büro.



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