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Corvus et Vulpes

von

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In einem dunklen Augenblick

„Willkommen in Anshan“, klang es ihr gleich bei ihrer Ankunft vielstimmig entgegen.

„Der Ausgang befindet sich –“

Jiang Li trat aus dem Kamin, packte ihren Koffer fester und stolperte beinahe, so hart wurde sie von dem nächsten Ankommenden hinter sich nach vorne aus dem Weg gestoßen.

„Mein liebes Mädchen.“

Zhen Juan erwartete sie bereits hinter der Absperrung und nahm sie ohne ein weiteres Wort in die Arme. Jiang Li fühlte, wie ihr wieder die Tränen in die Augen traten, und diesmal ließ sie ihnen ohne schlechtem Gewissens freien Lauf. Die alte Meisterin hielt sie lange fest, strich ihr beruhigend über den Rücken und wartete, bis sie sich wieder so einigermaßen beruhigt hatte.

„Es tut mir so leid.“

„Was ist – Wie geht es ihm?“

Zhen Juan sah sie mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an. Jiang Li begriff.

„Er ist doch nicht – Ich bin zu spät?“

„Vor drei Stunden. Er ist ganz friedlich eingeschlafen. Im Kreis der Familie.“

„Ich bin zu spät.“

Jiang Li flüsterte es tonlos und konnte nicht fassen, was sie da sagte. Unmöglich. Urgroßvater konnte nicht einfach so gestorben sein. Er war doch immer für sie da gewesen, schon seit sie denken konnte –

„Das kann doch nicht sein.“

Zhen Juan nahm resolut ihr Gepäck und führte sie am Arm nach draußen.

„Deine Eltern haben mich darum gebeten, hierher zu kommen und dir beizustehen. Sie waren sehr gefasst. Jetzt musst du auch tapfer sein.“

 

Den Weg zum Anwesen der Mo Niyans legten sie schweigend und per Kutsche zurück. Jiang Li starrte blicklos aus dem kleinen Fenster in den dunklen Abend hinaus und fühlte, wie die Kälte immer mehr Besitz von ihr ergriff. Ihr Körper wurde schwer wie ein Stein und so gefühllos, dass sie am Ende der Fahrt nicht mehr sicher war, ob es sie überhaupt noch gab.

Als die Kutsche stehen blieb, legte ihr Zhen Juan sanft die Hand auf den Arm und führte sie, wie schon zuvor Professor McGonagall, mit sanftem Nachdruck nach draußen. Jiang Li ließ es sich willenlos gefallen und stolperte ungeschickt auf das Haus zu. Gorolo, ihre jüngste Schwester, öffnete nach energischem Klopfen mit rotgeweinten Augen die Tür.

„Urgroßvater ist –“, nuschelte sie undeutlich und brach, noch ehe Jiang Li einen Ton herausbringen konnte, gleich wieder in Tränen aus. Hinter ihr erschien Joogiya und nahm die Kleine mit einem tröstenden Lächeln in die Arme.

„Es ist alles so furchtbar, Jiang Li. Mutter hat dir die Nachricht so schnell wie möglich geschickt, aber am Ende …“

„… war ich doch zu spät, ich weiß“, antwortete Jiang Li patzig und hasste sich im selben Moment dafür. Wie konnte sie sich nur so kindisch über ihre Schwester ärgern, während Urgroßväterchen –

Joogiya schien den spitzen Tonfall nicht zu bemerken, sondern nickte nur sanft und strich Gorolo zärtlich über den Kopf.

„Er ist in seinem Schlafzimmer aufgebahrt. Vater hat mit der Totenwache angefangen; er will alle drei Tage ohne Pause durchhalten, doch ich fürchte, das wird wohl doch etwas zu viel für ihn werden. Es geht ihm nämlich nicht so gut, weißt du?“

„Ach nein, tatsächlich?“

Jiang Li drehte sich rasch um, ohne die Antwort abzuwarten und rannte über den Hof zum Haus ihres Urgroßvaters. Zu ihrem Erstaunen stand Zhen Juan bereits auf der Eingangstreppe und wartete auf sie.

„Wenn du erlaubst, begleite ich dich. Ich glaube, du hast eine Stütze nötig.“

Jiang Li gestattete es nur zu gern. Fast graute es ihr, über die vertraute Schwelle zu treten, obwohl sie das kleine Haus, das im Gegensatz zum Wohnsitz ihrer Eltern korrekt im traditionellen Mandschu-Stil erbaut worden war, immer sehr gemocht hatte.

Der Wohnraum teilte sich in drei Teile auf: im mittleren befanden sich die Küche sowie die Unterkunft der Hauselfen, rechts und links zweigten sich Wohn- und Schlafraum ab. Die Fenster waren nach Süden und Westen geöffnet, um das Haus im Winter warm und im Sommer kühl zu halten.

Langsam näherten sie sich dem Schlafzimmer, in dem sich bereits ihre Mutter, ihr Vater und einige weitere Verwandte aufhielten.

Soocangga lag friedlich auf dem an der Südseite gelegenen Kang, dem klassischen gemauerten und dadurch beheizbaren Bett, von dem es im Raum drei Stück gab; je eines an der nördlichen, westlichen und südlichen Wand des Zimmers.

Urgroßväterchen hatte üblicherweise im nördlichen Bett geschlafen, seine wenigen Gäste im westlichen. Jüngere Familienangehörige waren stets im Südkang untergebracht worden.

Ihre Mutter blickte auf und kam mit raschen Schritten auf sie zu. Ihr Gesicht war blass und sah angegriffen aus, doch hatte sie sich gut im Griff. Kein Wunder, so kam es Jiang Li flüchtig in den Sinn, war ihr Verhältnis zum Urgroßvater ja eigentlich immer eher kühl gewesen.

„Mein Mädchen …“

Jiang Li rührte sich nicht vom Fleck, sie schaffte es nicht einmal, den Mund zu öffnen und ihre Mutter zu begrüßen. Diese blieb unschlüssig einen halben Meter vor ihr stehen, breitete die Arme aus, ließ sie nach einem Blick in die Augen ihrer Tochter aber wieder sinken.

Keiner der beiden sprach. Jiang Li fühlte, dass ihr gerade ein wichtiger Augenblick entglitt, ein Moment, der ihr helfen konnte, das Eis zu brechen, die Missverständnisse wenigstens teilweise zu beseitigen –

Es gelang ihnen allen beiden nicht. Mit einem traurigen Seufzen schlug ihre Mutter schließlich die Augen nieder und wies mit einer resignierten Geste in das Innere des Raumes.

„Du kannst dich gerne von ihm verabschieden. Inzwischen entschuldige mich und deine Meisterin bitte kurz; wir haben noch etwas miteinander zu besprechen.“

Jiang Li nickte und kümmerte sich nicht weiter um die beiden Frauen, die sich nach draußen entfernten. Mit einem klammen Gefühl im Herzen trat sie an die Seite ihres Vaters, der ihre Ankunft gar nicht zu bemerken schien.

„Vater?“

Sie musste es zweimal sagen, ehe er reagierte und ihr mit geröteten Augen zunickte. Angesichts seiner Schwäche fühlte sie sich selbst eigenartigerweise etwas gefasster. Behutsam ließ sie sich auf beiden Knien neben ihm nieder und legte die Hände auf ihre Oberschenkel.

„Ich bleibe bei dir, Papa.“

Er schniefte und sah sie mit einem bekümmerten Blick von der Seite her an.

„Du bist ein liebes Mädchen. Aber …“

Jiang Li hob leicht die Augenbrauen.

„Das halte ich durch, keine Angst. Ich mache mir eher um dich Sorgen. Joogiya sagt, es geht dir nicht so gut.“

Er schüttelte den Kopf.

„Das ist es nicht, Jiang Li. Es geht um –“, wieder schluckte er verzweifelt, atmete schließlich tief durch und beugte sich nach vorne, damit die Verwandtschaft nicht mithören konnte.

„Großvater hat immer in Ehrfurcht vor dem Althergebrachten gelebt und ist auch so gestorben. Das muss man respektieren, meine Kleine.“

Sie zuckte verständnislos mit den Achseln.

„Was willst du mir damit eigentlich sagen?“

„Nur die Familie, Jiang Li, nur die engere Familie bei der Totenwache …“, er sah, wie sie langsam die Stirn runzelte, und legte ihr beschwörend die Hand auf den Arm, damit sie ruhig blieb, „du kannst natürlich auch drei Tage Wache halten, da spricht gar nichts dagegen, aber nicht bei seinem Kang, du verstehst, sondern in den Vorräumen oder in unserem Haus.“

Es dauerte einen Moment, ehe sie seine Worte in ihrer vollen Tragweite begriff.

Na klar, irgendwie logisch. Wie sie ihren Eltern schon des Öfteren vorgehalten hatte, sie gehörte ja auch nicht mehr zu dieser Familie. Sie war eine Lian.

Jiang Li explodierte.

Lass’ mich!

In ihrem Hals würgte es; sie fegte seine Hand von ihrem Arm, erhob sich hastig und stolperte aus dem Haus, vorbei an ihrer Mutter und Großmeisterin Zhen Juan, beide starrten ihr verwundert hinterher und riefen etwas, wovon sie kein Wort verstand; sie drehte sich nicht um, sondern wollte fort, nur fort in Richtung Waldrand. Keine Sekunde länger würde sie an diesem Ort bleiben, ganz sicher nicht. Ihre Augen füllten sich schmerzhaft mit Tränen und es fiel ihr immer schwerer, zu atmen.

Unglaublich. Nein, bitte nicht. Das kann doch nicht wahr sein. Ich könnte sie alle –

Aber eigentlich war sie gar nicht richtig wütend. Sie war viel zu tief verletzt für oberflächlichen Ärger oder fordernden Zorn. Hatten ihre Wutausbrüche früher denn nicht eigentlich nur dazu gedient, die Aufmerksamkeit ihrer Eltern auf sie zu lenken und ihre Geschwister herabzusetzen?

 

Sie hatte sich schon ein ganzes Stück weit vom Haus entfernt, bevor sie endlich stehen blieb. Schwer atmend drehte sie sich um und starrte in die Dunkelheit hinter sich. Es war bereits nach halb neun Uhr Abend, die Kälte nahm immer weiter zu und ihr wurde plötzlich bewusst, dass sie aus Hogwarts abgereist war, ohne dass irgendjemand außer Dumbledore und McGonagall Bescheid wusste.

In ihrem Wintermantel steckte glücklicherweise noch ein halbvolles Zigarettenpäckchen. Sie fegte Raureif und Erde von einem größeren Stein und ließ sich darauf nieder.

Die Sterne funkelten kühl über ihr, die einen näher und heller, die anderen weit entfernt, zusammengeballt wie blinkende Wolken aus Spiegelscherben. Jiang Li starrte sie an, ohne zu blinzeln, bis sich plötzlich eine tiefe, kalte Ruhe in ihrem Inneren ausbreitete. Ein leichter Wind wehte und trieb kleine Eiskristalle vor sich her, doch sie fühlte nichts, keine Kälte, keinen Ärger, weder Wut noch Schmerz. 

Bei Merlins weißem Bart, sie war immerhin eine Ravenclaw. Nicht Emotionen, sondern Intellekt und Vernunft sollten ihr Denken und Handeln bestimmen – und heute war der beste Zeitpunkt, damit anzufangen.

Während Jiang Li auf dem kalten Stein saß und eine Zigarette nach der anderen in ihren klammen Fingern abbrannte, begriff sie eine Sache, die Yue You, Li Ming und Xiao Hong bereits lange vor ihr und auf ähnliche Art und Weise hatten lernen müssen und die ihren Schülerinnen vermutlich erst noch bevorstand: Egal, ob sie als Kinder oft ihre Eltern hatten besuchen dürfen oder von diesen auch als Familienmitglieder behandelt worden waren, es handelte sich nicht mehr um ihre Familie. Sie gehörten ab dem Zeitpunkt der Adoption einem anderen Clan, einem anderen Leben, einer anderen Gesellschaft an. In diesem Licht betrachtet waren all ihre Vorwürfe und bitteren Anklagen, die Liebe oder Nicht-Liebe ihrer Eltern betreffend, nicht nur intolerant, sondern auch anmaßend. Zeit ihres Lebens, das begriff sie erst jetzt, hatte sie einerseits ständig von anderen Menschen Dinge eingefordert, die ihr nicht zustanden, andererseits aber nicht den geringsten Versuch gemacht, auch einmal die andere Seite zu verstehen.

Ich war so dumm. Es ist, als hätte ich die ganze Welt nur durch einen Spiegel gesehen: Da war ich, und meine Reflexion im nebligen Glas hielt ich für das andere … Habe ich denn jemals andere Menschen wahrgenommen neben mir?

Urgroßväterchen zum Beispiel, so weh der Gedanke auch tat. Vater. Mutter. Die Beweggründe, ihre Erstgeborene fortzuschicken, von einer Fremden adoptieren und aufziehen zu lassen. Es musste so ein wahnsinniges Opfer gewesen sein.

 

Jiang Li legte den Kopf zurück und schloss kurz die Augen. Sie fühlte sich kraftlos und so schwach, dass sie sich nicht einmal sicher war, ob sie den Weg zurück überhaupt schaffen würde. 

Verdammt lange hatte es ja schon gebraucht, bis sie eine der elementarsten Prinzipien ihres Lebens begriffen hatte.

 

***

 

Zhen Juan warf nur einen kurzen, prüfenden Blick auf ihr Gesicht und nickte dann bedächtig.

„Du bist also doch noch zur Vernunft gekommen.”

Jiang Li rieb ihre eiskalten Finger und stellte sich näher an den großen Kamin in der Eingangshalle. Die feinen Eiskristalle, die sich in ihren Wimpern verhakt hatten, begannen in der Wärme zu schmelzen und sickerten langsam über die Wangen nach unten. 

„Ich habe lange nachgedacht.”

„Das wurde ja auch wirklich langsam Zeit. Ich bin sowieso die längste Zeit viel zu geduldig mit dir und deinem unreifen Gehabe gewesen.“

Jiang Li hatte wirklich keine Lust, diese Diskussion weiter zu vertiefen und betrachtete daher einen Augenblick lang ihre Fingernägel. Zhen Juan sah sie mit einem angedeuteten Kopfschütteln an und räusperte sich schließlich einlenkend, während sie die Halle genauer betrachtete.

„Du hast mir eigentlich nie erzählt, warum in eurem Familienwappen der Phönix eingearbeitet ist.“

Ein billiges Ablenkungsmanöver.

„Urgroßväterchen hatte einmal vor vielen Jahren am Fenghuangshan eine Begegnung mit Phönixen. Bei der Gelegenheit ist er auch in Besitz der Harpyienfeder gekommen, die Mutter später in meinen Zauberstab einsetzen ließ, wie du ja weißt.“ Und die vermutlich der Grund dafür ist, dass mein Patronus die Form einer Harpyie annimmt – sofern ich es mal schaffe, ihn hervorzurufen. Letzteres dachte sie allerdings nur; über so persönliche Dinge sprach man nicht leichtfertig. Sie war eigentlich auch nicht in der Stimmung, alte Familiengeschichten zu erzählen, doch die Meisterin beugte sich interessiert nach vorne und ließ nicht locker.

„Das weiß ich natürlich, ja. Aber Genaueres darüber ist mir nicht bekannt.“

Jiang Li seufzte tief und unhörbar auf, zuckte dann aber innerlich die Achseln. Immer noch besser, alte Familiengeschichten zu erzählen, als auf ihr ohnehin schon angeknackstes Selbstbewusstsein noch einen weiteren Dämpfer verpasst zu kriegen.

„Als er noch ein junger Mann war und sich gerade auf dem Heimweg von einer weiten Reise kreuz und quer durch China befand, machte er mit ein paar anderen Wanderern Rast in Dandong. Dort hörte er die eine oder andere Geschichte über den Fenghuangshan, natürlich auch die alte Sage“, Jiang Li wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Ihre Stimme zitterte bereits gefährlich, doch sie konnte sich noch zusammenreißen.

„Er hat sie mir sehr oft erzählt, als ich noch ganz klein war:

Einmal, vor vielen, vielen Jahren, als es China in der jetzigen Form noch gar nicht gab, da hatte sich auf dem Gipfel dieses Berges ein Phönix sein Nest gebaut. Er lebte in Frieden und Einklang mit seiner Umgebung, und alle Tiere bewunderten das wunderschöne Wesen, bis eines Tages ein Riese erschien und die Ruhe störte.

Als der Riese nämlich den Phönix erblickte, entschloss er sich, ihn zu töten; vielleicht war er hungrig oder er war eifersüchtig auf die Schönheit des Wesens, wer weiß? Jedenfalls, der Riese stand bald vor einem großen Problem; es war ihm zwar gelungen, das Nest des Phönix zu zerstören, doch näherte er sich ihm zu sehr, so lief er Gefahr, bei lebendigem Leibe gebraten zu werden, denn der Phönix strahlte eine furchtbare Hitze aus, heißer noch als eine Fackel.

Also musste sich der Riese eine andere Möglichkeit überlegen und schließlich kam er auch auf einen vermeintlich guten Gedanken: Er fertigte sich einen Pfeil an, mit dem er über große Entfernungen auch die kleinsten Ziele treffen konnte.

Doch als er sich niederkniete und den Phönix ins Visier nahm, stand er vor einer zweiten großen Schwierigkeit: das Federkleid des Tieres funkelte hell wie die Sonne. Sooft der Riese es auch versuchte; er wurde geblendet, konnte nicht richtig zielen und jeder der abgeschossenen Pfeile verschwand irgendwo im blauen Himmel.

Am Ende packte ihn die blanke Wut; er entschloss sich, so lange wie nötig in das helle Licht zu starren, egal, wie sehr es ihn auch schmerzte und in die Augen schnitt. Er nahm alles in Kauf, nur um endlich den Phönix töten zu können.

Doch als er schließlich den Pfeil von der Sehne schnellen ließ, da schlug der Phönix einmal mit seinen flammenden Schwingen und das Geschoß verfehlte sein Ziel; stattdessen wurde durch die Wucht des Schusses ein riesiges Loch in den Gipfel geschlagen, das noch heute dort zu sehen ist.

Der Riese hatte sein Augenlicht verloren, während dem Phönix nicht einmal ein Härchen gekrümmt worden war; besiegt und gebrochen verließ er den Berg und kam nie wieder, während der Phönix sein Nest in einer verborgenen Höhle neu erbaute.“

Ohne Vorwarnung blitzte die Erinnerung an die vielen Male, an denen sie die Geschichte gehört hatte, in ihrem Gedächtnis auf, während sie noch in knappen Worten erzählte. Der Urgroßvater hatte sie, während er mit bedächtiger Stimme erzählte, immer auf dem Schoß sitzen und mit einem alten Pferdegeschirr spielen lassen.

„Na ja, jedenfalls … er hielt das alles natürlich für ausgemachten Unsinn, so wie es die meisten Muggel tun. Da es aber Oktober war, rieten ihm die Einheimischen dazu, den Fenghuangshan auf jeden Fall zu besuchen, denn jedes Jahr zu dieser Zeit färben sich die Ahornblätter rot und der Berg ist eine einzige Augenweide in Rot, Gelb und Grün …

Um es kurz zu machen, Urgroßväterchen befolgte ihren Rat, stieg mit drei seiner Reisekollegen auf den Fenghuangshan und bewunderte gerade die Farbenpracht, als plötzlich ein Sturm aufkam. Er und seine Begleiter flüchteten eilends nach unten, doch er blieb mit dem Bein in einer Wurzel hängen und fiel, während die drei anderen nichts bemerkten und ihn liegen ließen. Das Bein war gebrochen, er konnte sich kaum noch bewegen und das, als zu allem Überfluss auch noch ein schweres Gewitter über den Berg hereinbrach. Blitze zuckten, das Donnergrollen kam immer näher und Urgroßvater war völlig schutzlos …

Unvermittelt wurde ein Baum ganz knapp neben ihm getroffen und ging explosionsartig in Flammen auf. Urgroßvater fürchtete bereits um sein Leben, als plötzlich wie aus dem Nichts ein Phönix erschien.

Zuerst dachte Urgroßvater natürlich, er hätte vor lauter Angst den Verstand verloren, doch der Phönix war Wirklichkeit. Er legte seinen Kopf auf das verletzte Bein und begann zu weinen; kurz darauf konnte Urgroßvater wieder aufstehen. Er rannte aus der Gefahrenzone und verkroch sich in eine Höhle, in der er das Unwetter einigermaßen geschützt überstehen konnte. Der Phönix schien zuerst verschwunden, doch als sich Urgroßvater umdrehte, sah er in der Dunkelheit hinter sich vereinzelte Lichtflecken. Als er darauf zuging, erkannte er, dass es sich hier wohl um den Nistplatz von drei oder vier Phönixen handeln musste; die Tiere duldeten ihn schweigend in ihrer Nähe, was ja eigentlich nicht so üblich ist.“

„Seltsam, dass man ihm nicht gleich die Obliviatoren auf den Hals gehetzt hat – ein Muggel, der soviel weiß …“, warf Zhen Juan mit neugieriger Stimme ein und zog erstaunt die Augenbrauen hoch.

„Na, das kannst du mir glauben – natürlich musste, oder besser gesagt, wollte das Ministerium sofort eingreifen – doch, verstehst du, es war ganz eigenartig, denn die Phönixe verhielten sich ganz und gar nicht so, wie sie es sonst normalerweise tun. Kein Phönix bleibt ruhig auf seinem Platz sitzen, wenn er in freier Wildbahn auf einen Menschen trifft. Doch bei Urgroßvater, wie gesagt, schienen sie seltsamerweise Vertrauen gefasst zu haben. Zu einem Muggel.

Daher wurde er erstmal in Gewahrsam genommen und seine Erinnerung intakt gelassen. Und während dieser Zeit haben er und meine Urgroßmutter sich anscheinend kennengelernt – keine Liebe auf den ersten Blick, aber sie wurden sich mit der Zeit sympathisch. Unterdessen hatte sich das Ministerium auch dazu durchgerungen, Urgroßvater vor die Wahl zu stellen, entweder sein Gedächtnis verändern und ihn in die Muggelwelt zurückkehren zu lassen oder ihm ein Leben unter Magiern, als eine Art Squib etwa, zu ermöglichen.

Er entschied sich für Zweiteres, da ihn die Welt der Zauberer einfach schon so fasziniert hatte – abgesehen davon konnte er, wie gesagt, aus irgendeinem Grund gut mit Phönixen umgehen.

Diese Fähigkeit ist uns übrigens geblieben“, meinte Jiang Li ernst und tastete mit roten Augen nach einem Taschentuch. „Gleich in meiner ersten Zeit in Hogwarts, als ich Fawkes, den Phönix des Direktors, zum ersten Mal sah, entwickelte sich zwischen uns eine eigenartige Vertrautheit, und jedes Mal, wenn ich ihn sehe, kommt er sofort zu mir und lässt sich von mir in den Armen halten. Es ist ganz seltsam aber – zurück zu Urgroßvater.

In der Höhle des Phönixberges fand er auch noch eine seltsame Feder – die Handschwinge einer Harpyie, wie sich später herausstellte. Wie die Harpyienfeder dorthin gekommen ist, stellt für die Experten immer noch ein Rätsel dar – ein völlig untypischer Ort für dieses Wesen. Aber sie lag dort, und jetzt – jetzt ist sie das Herzstück meines Zauberstabes“, schloss Jiang Li schließlich mit leiser Stimme und blinzelte heftig, während ihr langsam die Tränen immer höher in die Augen stiegen. Zhen Juan schwieg gedankenvoll und nickte ein paar Mal vor sich hin.

„Deswegen also ein Muggel als Kapazität in der magischen Tierpflege“, meinte sie nach einer Weile freundlich und hob erschrocken den Kopf, als Jiang Li mit einem polternden Ruck auf die Beine sprang und mit einem würgenden Keuchen zu schluchzen begann.

„Komm her, Mädchen –“

Sie nahm Jiang Li in die Arme und hielt sie lange fest.

 

***

 

Drei Tage später fand das Begräbnis statt. Jiang Li hatte diese Zeit in einem seltsamen Schwebezustand verbracht, zwischen stechender Trauer und kurzen Momenten, in denen sie sich mit der unabänderlichen Tatsache des Todes abzufinden begann.

Auch Galatyn war eingetroffen, gleich am nächsten Tag nach ihrem nächtlichen Zusammenbruch, und hatte ihr einen Brief von Severus Snape mitgebracht. In wenigen Zeilen drückte er ihr sein Mitgefühl aus, man merkte, dass er darin nicht sehr geübt war, doch es war ein aufrichtiges Schreiben. Sie antwortete ihm ebenso kurz, dankte ihm, sie konnte ihre Gefühle ja genauso wenig ausdrücken wie er. Trotzdem wusste, oder hoffte sie jedenfalls, er würde verstehen und hinter ihre holprigen Worte blicken.

 

Am Morgen des Begräbnisses stand Jiang Li mit ihrer Meisterin und einigen anderen langjährigen Bekannten ihres Urgroßvaters in einer der hinteren Reihen, etwas entfernt von der engsten Familie und den üblichen Verwandten. Sie alle waren von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet und trugen ein breites, weißes Band um den linken Oberarm, im Gegensatz zur Verwandtschaft, die ausnahmslos in weiße Trauerkleidung gehüllt erschien.

Zhen Juan war mit den Riten der Mandschu nicht vertraut und bekam daher ganz große, verwunderte Augen, als der Tote aus dem Fenster nach draußen getragen wurde. Jiang Li hörte mit halbem Ohr der gewisperten Konversation zu, die sich daraufhin zwischen ihr und einem alten Mann entspannte.

Die Türen sind für die Lebenden, meine Gute. Darum darf ein Leichnam das Haus auch nur durch das Fenster verlassen.

Unglaublich.

Es ist auch nicht wünschenswert, dass jemand auf dem westlichen oder nördlichen Kang verstirbt –

Die Priesterin, von der das Begräbnis geleitet wurde, hob gebieterisch den Arm und brachte so die Leute zum Verstummen. Leise formte sich die Menschenmenge zu einer geordneten Reihe und zog in schweigender Prozession hinter dem Sarg her, der sich langsam in Richtung Friedhof bewegte. Lediglich das laute, wimmernde Jammern der eigens dafür angemieteten Klagefrauen und -männer durchschnitt die frostige Luft.

Jiang Li schleppte sich wie betäubt vorwärts und konnte sich nur mit Mühe davor bewahren, in ungehemmtes Weinen auszubrechen. So etwas gehörte sich nicht, es wäre ein Zeichen haarsträubender Unhöflichkeit, sowohl dem Toten als auch der Familie gegenüber.

 

Und dann war alles vorüber. Der Sarg wurde in der Erde versenkt, es ging wieder zurück zum Anwesen, die Trauergäste wurden bewirtet und der Aufbruch nahte. Die Koffer standen bereits in der Eingangshalle bereit. Einer nach dem anderen sprach noch einmal sein tiefes Beileid aus, nahm unter endlosen Verbeugungen eine Prise Floo-Pulver aus der großen Schale, die Joogiya mit einem traurigen Lächeln in beiden Händen anbot, und verschwand schließlich durch den Kamin. Jiang Li kam als Letzte an die Reihe, sie hatte sich bewusst im Hintergrund gehalten.

Ihre Eltern waren ruhig geworden und sahen sie mit müden, bekümmerten Augen an. Vielleicht erwarteten sie sich noch ein paar verabschiedende Vorwürfe von ihrer ältesten Tochter. Sie konnten ja nicht wissen, dass Jiang Li den ganzen Sachverhalt endlich begriffen hatte.

„Ich hab’ dich lieb, Mama“, sagte sie zu ihrer eigenen Überraschung und nahm ihre Mutter fest in die Arme, ebenso ihren Vater und wenig später auch noch Gorolo, Henkama und nach kurzem Zögern selbst Joogiya. Dann nahm sie ihr Gepäck, etwas Pulver aus der Schale und lächelte ihrer Familie noch einmal zu. 

„Lebt wohl.“

In diesem Moment wurde ihr klar, dass sie dieses Haus nie wieder betreten würde. Eine Ära war unwiderruflich zu Ende gegangen.



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