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Das Schicksal der Königin

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Krieg


 

Das Schicksal der Königin
 

Kapitel 1 - Krieg
 

»Ich erinnere mich ...«
 

Der junge Mann schrie vor Schmerz auf, als Iduna ihm das Hemd aufknöpfte. Erschrocken wichen ihre zarten Hände zurück und ein besorgter Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht. Sie sah den Mann an, der die Augen geschlossen hatte und dessen Atem rasselnd ging. Er war leichenblass, nass geschwitzt und schmutzig. Obendrein roch er nach Schweiß, Blut und Tod, dem Gestank des Krieges. Iduna nahm ihn gar nicht mehr bewusst wahr, so sehr war er schon alltäglich geworden. Die Hände des Mannes zuckten unkontrolliert, als würde er wieder und wieder nach Schwert oder Pistole greifen. Iduna hatte Mitleid mit ihm. Die Schrecken des Krieges würden ihn sein Leben lang begleiten. Wie lange auch immer das noch dauern mochte.
 

Sie schaffte es, sein Hemd zu öffnen, ohne ihm weitere Schmerzen zu bereiten und sie zog scharf die Luft ein, als sie seine zerfetzte Brust zu Gesicht bekam. Nur mit Mühe konnte sie den Blick auf die Wunde gerichtet lassen, die von einer Kugel aus nächster Nähe verursacht worden war. Sie musste das Herz nur knapp verfehlt haben. Aber ob das gut war? Ein schneller Tod war gnadenvoller als ein langsamer. Iduna war keine Ärztin. Sie wusste nicht, wie genau es um den Mann stand und welche Chancen er hatte, diese Wunde zu überleben, alles, was sie tun konnte, war, ihm so gut es ging die Schmerzen zu nehmen. Mit Handgriffen, die sie seit Monaten schon ausführte, zog sie eine klare Flüssigkeit in eine Spritze und verabreichte sie dem Mann. Fast augenblicklich wurden seine Zuckungen ruhiger und sein Atem leiser. Mit einem feuchten Tuch wischte sie ihm den Schweiß vom Gesicht und entfernte das Blut auf seiner Brust.
 

»Königliche Majestät!« Iduna wandte ihren Blick von dem Mann ab und sah zu einer in Weiß gekleideten Frau. »Da kommen noch mehr Verwundete!« Besorgt musterte sie die Linie aus Fackeln, die sich den Weg vom Hafen zum Schloss hinauf bewegte. Sie erkannte unzählige Liegen, auf denen Männer regungslos lagen, gezogen von Männern, die selber kaum noch gehen konnten. Viele brachen auf dem Weg zusammen. »Wir werden nicht alle hier versorgen können!«, gab die Ärztin bestürzt zu bedenken und Iduna musste ihr widerstrebend zustimmen. So viel Platz hatten sie nicht zur Verfügung! Das gesamte Schloss war bereits in ein einiges Krankenlager umfunktioniert worden, auf dem Marktplatz unmittelbar vor dem Schloss war kaum noch Platz zum Laufen, so viele Liegen waren dort aufgestellt worden. Die Schule war voll mit Verwundeten. Selbst die Häuser der Bewohner waren teilweise schon überfüllt. Wohin sollte das noch führen? Wohin sollte sie die Verwundeten bringen, wenn es keinen Ort mehr gab, an dem man sie versorgen konnte?
 

»Wir müssen so vielen wie möglich helfen«, sagte die Königin in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Tut, was in Eurer Macht steht. Wir werden niemanden sterben lassen.«
 

Die Ärztin wollte etwas erwidern, besann sich dann aber und machte kehrt, um mit ihren Helferinnen den Männern entgegen zu eilen.
 

»... dass die Königin und der König ...«
 

Der Krieg dauerte nun schon drei Monate und ein Ende war nicht in Sicht. Täglich brachen mehrere Schiffe im Hafen auf und segelten auf das Meer hinaus, dorthin, wo der Krieg stattfand. Irgendwo zwischen Arendelle, dem kleinen, aber reichen Königreich in einer Bucht, umgeben von Bergen und dem Meer, und den Südlichen Inseln, die so weit abgelegen waren, dass sie kaum Einfluss im Weltgeschehen hatten. Sie betrieben keinen Handel und waren nicht sehr wohlhabend und es war allgemein bekannt, dass der König der Südlichen Inseln, Edgar Westergaard, ein Mensch war, mit dem man nicht umgehen konnte. Neid und Egoismus hatten ihn dazu getrieben, einen Krieg gegen Arendelle zu führen. Nun befanden sich die Männer des Landes auf dem Meer und kämpften für ihr Königreich. Iduna, die während der Abwesenheit ihres Mannes das Oberhaupt des Königreiches war, kümmerte sich seitdem um die Zurückgebliebenen, half den Frauen so gut es ging und hatte mit der Versorgung der Verwundeten begonnen, sobald die Ersten von ihnen eingetroffen waren. Seitdem wurden es täglich mehr, die Kapazitäten waren beinahe voll ausgelastet. Hinzu kam, dass ihnen allmählich die Medikamente ausgingen - vor allem die Schmerzmittel waren viel zu schnell zur Neige gegangen. Nun besaßen sie kaum noch etwas und die Ärztin musste entscheiden, welcher Mann die Mittel bekam - welchem geholfen werden konnte und welcher zum Sterben verurteilt war. Wenn der Krieg nicht bald ein Ende fand ...
 

Iduna verließ die improvisierte Krankenstation auf dem Markplatz und machte sich auf durch die engen, dunklen Gassen zum Rande der Stadt. Dort befand sich das Haus einer jungen Frau, mit der Iduna während des Krieges Freundschaft geschlossen hatte. Leise klopfte sie an die Tür und trat ein, als sie die ebenso leise Stimme der Frau vernahm. Agnes saß in einem Schaukelstuhl vor dem brennenden Kamin und hielt ein kleines Bündel auf ihrem Arm. Ihr Blick war auf das kleine Baby gerichtet, während sie es stillte. Nur kurz hob sie den Kopf und lächelte warm, als sie die Königin im schwachen Licht des Feuers erkannte.
 

»... damals voller Freude waren ...«
 

»Königliche Majestät!«, sagte sie leise und Freude schwang in ihrer Stimme. »Wie schön, Euch zu sehen!«
 

Iduna schloss die Tür hinter sich und trat näher. »Guten Abend, liebe Agnes. Wie geht es Euch?«
 

Agnes lächelte selig. »Uns geht es gut. Ich bin nur etwas müde, weil mich Klein-Jack einfach nicht schlafen lässt, aber wer kann denn momentan schon schlafen? Ich wünschte nur, der Krieg wäre endlich vorbei und Nils würde nach Hause kommen und seinen Sohn kennenlernen ... Denkt Ihr, es dauert noch lange?«
 

Iduna erwiderte erst nichts, da sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Sie entschied sich für die Halbwahrheit. »Je länger der Krieg dauert, desto schwieriger wird die Situation. Vielleicht findet dieser schreckliche Krieg bald ein Ende.« Sie beobachtete, wie Agnes den kleinen Jack über die Schulter hob und leicht auf seinen Rücken klopfte, bis dieser einen Rülpser von sich gab und nicht definierbare Laute von sich gab.
 

»Er ist gut drauf. Ich glaube, aus dem kleinen Racker wird einmal ein ganz großer Spaßvogel.«
 

Iduna lachte wehmütig, während ihre Hand automatisch auf ihren runden Bauch wanderte. Ob auch sie einen Jungen zur Welt bringen würde? Einen Erben, der das Königreich übernehmen würde? Sie betete inständig, dass der Krieg bald ein Ende finden würde und dass ihrem Mann, König Agnarr, nichts geschah. Sollte dieser nicht mehr sein ... Was würde dann aus ihr werden? Andere würden kommen, Männer wie Edgar von den Südlichen Inseln, und sie würden sich mit Gewalt nehmen, was schutzlos vor ihnen lag. Und ihr Kind - und Jack, der kleine Sohn Agnes' - würde in einer Welt aufwachsen, die alles andere als sicher war. Oder lebenswert.
 

»Es freut mich zu sehen, dass es euch beiden gut geht.« Iduna musterte den kleinen Jack, der schon jetzt mit seinen großen, blauen Augen neugierig umher sah. Beide, Mutter und Sohn, machten einen glücklichen und gesunden Eindruck, und das erleichterte Iduna in diesen schweren Zeiten. Die Geburt, bei der sie dabei gewesen war, bis sich endlich eine Hebamme gefunden hatte, war nicht ohne Komplikationen verlaufen. Agnes hatte Blut verloren, zu viel Blut, und das hatte selbst Iduna als Unwissende gesehen. Das Leben der beiden stand für eine kurze, aber beängstigende Zeit auf der Kippe - doch beide hatten es geschafft. Beide waren wohlauf. Und wenn Nils, der Vater von Jack, zurückkam, würde er eine kleine, glückliche Familie vorfinden. Dass er es womöglich nicht tat, daran mochte Iduna gar nicht denken. Und auch nicht, dass auch ihr Mann, der König, genauso wie jeder andere ebenso sterben konnte.
 

Jack begann zu zetern und Agnes brachte ihn in sein Bettchen, was für die Königin das Zeichen war sich zu verabschieden. Mit dem Versprechen, bald wieder nach ihr zu sehen, verließ sie das kleine Häuschen und kehrte auf den Marktplatz zurück. Noch immer war der Strom an Verwundeten nicht abgebrochen und unaufhörlich bahnten sie sich ihren Weg durch das ganze Städtchen. Iduna sah nach dem Mann, dem sie erst vor kurzem das Schmerzmittel verabreicht hatte, und war erstaunt darüber ihn wach zu sehen. Er saß aufrecht neben der Liege, auf der sie ihn zurückgelassen hatte und auf der ein anderer Mann lag, der sich vor Schmerzen stöhnend windete. Eine junge Frau kniete neben ihm und versorgte gerade seine Wunden.
 

»Königliche Majestät«, wurde sie von dem Mann angesprochen und sein Akzent verriet, dass er nicht aus Arendelle stammte. Fast schon befürchtete sie, dass sie jemanden von den Südlichen Inseln das Leben gerettet haben könnte, doch als er weitersprach, erkannte sie erleichtert, dass er aus einem ganz anderen Königreich stammte. »Ich verdanke Euch mein Leben. Ihr seid wahrlich genau so, wie Euch Euer Gemahl beschrieben hat: Ein Engel in dunkelster Stunde.«
 

Sie lächelte milde. »Ihr seid aus Zaria.« Zaria war eines der Nachbarkönigreiche Arendelles und seit jeher ein Verbündeter. Durch die Hochzeit Idunas, die aus dem Königshaus Zarias stammte, mit König Agnarr war das Bündnis beider Königreiche stärker geworden und nun war es kein Wunder, dass beide Königreiche gegen einen gemeinsamen Feind in den Krieg zogen. »Hilfe ist Euch in diesem Königreich immer gewiss. Sagt, was geschieht auf dem Meer?«
 

Der Mann wandte bekümmert den Blick ab und ein schmerzlicher Ausdruck schlich sich auf sein Gesicht. »Es ist schrecklich, Eure Majestät. Das ganze Meer ist übersät mit Holz und Leichen. König Edgar kämpft erbarmungslos. Seine Armee macht keine Gefangenen. Unsere Kämpfer schlagen sich tapfer, doch wenn nicht bald ein Wunder geschieht, was uns den Sieg bringt, sieht es wahrlich schlecht aus. Wir werden immer weiter zurückgedrängt. König Agnarr befiehlt seinen Truppen nicht durch die feindlichen Linien zu brechen, weil er keine weiteren Opfer bringen will. Ich befürchte, er wird bald kapitulieren.«
 

»... offen und nah beim Volk ...«
 

Die Arzthelferin, die dem Mann mit halbem Ohr zugehört hatte, sog hörbar die Luft ein und sah den Mann erschrocken an. Auch Iduna konnte nicht glauben, was sie hörte. Kapitulation? Das würde bedeuten ... Ihre schreckliche Vision von König Edgar und seiner Armee, die sich nahmen, was sie kriegen konnten, würde sich verwirklichen. Der König würde nicht mehr sein, und auch sie, als Königin, würde die Krone verlieren. Vielleicht sogar Schlimmeres. Das durfte nicht geschehen! Was würde aus ihrem Volk werden? Würde man die Bewohner am Leben lassen? Oder würde man ihnen das Leben zur Hölle machen? Das konnte sie nicht zulassen. Sie war Königin! Irgendetwas musste sie unternehmen!
 

Sie bemerkte, wie alles um sie herum plötzlich still stand. Jeder blickte sie erwartungsvoll an. Würdevoll hob sie ihr Kinn, als sie zu den Menschen sprach. »Noch ist es nicht so weit gekommen! Unsere Aufmerksamkeit sollte im Moment denjenigen gehören, die unsere Hilfe am dringendsten benötigen. Vertrauen wir dem König. Ich bin mir sicher, er wird tun, was in seiner Macht steht, um das Königreich zu beschützen.«
 

Die Zweifel waren nicht beseitigt, das sah sie in den Gesichtern derer, die sie anblickten. Doch wie konnte sie auch solch derartige Zweifel zerstreuen? Das konnte nur der König und der befand sich unzählige Kilometer von hier entfernt mitten auf dem Meer. Sie würden Geduld haben und sich so gut es ging um die Verletzten kümmern müssen. Vertrauen war das Einzige, was sie im Moment tun konnte.
 

Die Nacht war kalt und stürmisch und Meerwasser wurde bis ins Landesinnere geweht. Iduna schmeckte das Salz, als sie sich über die trockenen Lippen leckte. Seit Tagen schon war das Wetter trüb und grau und spiegelte die Stimmung im Königreich wider. Sie stand in ihrem Schlafgewand auf dem Balkon ihres Gemachs und blickte auf die dunkle See hinaus. Viel zu sehen war nicht, denn es stand kein Mond am Himmel, der etwas Licht hätte spenden können. Irgendwo dort draußen war ihr Mann und kämpfte um das Leben aller. Nachdenklich hatte sie eine Hand auf ihren Bauch gelegt und streichelte nun leicht darüber. Sie war mittlerweile im achten Monat und schon sehr bald würde es so weit sein. Bald wäre sie Mutter. Um sich von den aktuellen Sorgen abzulenken, gestattete es sich die Königin, sich eine Zukunft auszumalen, in der alle in Frieden lebten. Sie schloss die Augen und sie sah einen kleinen Sohn, der durch die schier endlosen Hallen des Schlosses rannte und das Personal auf Trab hielt. Er würde rotblonde Haare haben, genau wie sein Vater, und dafür würde er ihre wunderschönen blauen Augen haben. Wie würde er heißen? Über einen Namen hatten weder sie noch ihr Mann sich bisher Gedanken gemacht. Ob er wohl so heißen würde wie Agnarrs Vater, Fredrik? Sie lächelte. In ihrem Kopf klang der Name passend für ihren Sohn und sie sah ihn strahlen. Wie zur Zustimmung spürte sie einen Tritt gegen die Magendecke und beruhigend strich sie wieder über ihren Bauch.
 

»Fredrik«, sprach sie leise. »Ja, der Name passt zu dir.«
 

Allmählich wurde es ihr zu kalt und sie kehrte in ihr Gemach zurück. Sie schloss die Türen zum Balkon, legte ihren Morgenmantel ab und schlüpfte unter die Bettdecke. Bevor sie das Licht löschte, betrat Gerda den Raum. Gerda war die Haushälterin und schon seit Urzeiten hier. Agnarr hatte ihr einmal erzählt, Gerda wäre schon in seinen jungen Jahren hier gewesen und sie hätte sich seitdem kein bisschen verändert. Sie war eine große Frau mit schmaler Taille und breitem Becken. Sie hatte eine spitze Nase, aber ein freundliches Gesicht und sie war eine der vertrauensvollsten Personen im Schloss.
 

»Wie geht es Euch, Majestät?«, fragte sie mit einem Lächeln, während sie die erkaltete Bettpfanne am Fußende des Bettes hervor holte.
 

»Es geht mir gut, danke, Gerda.«
 

Gerda ging zum offenen Kamin hinüber und holte einige glühende Kohlen mit einer Schaufel heraus, die sie in die Bettpfanne füllte. Sie kam zurück zum Bett und legte die Pfanne wieder unter die Decke, wo sie sofort eine angenehme Hitze produzierte und die kalten Füße der Königin wärmte. Gerda lächelte sie noch immer an.
 

»Macht Euch keine Sorgen, Majestät«, sprach sie mit mütterlicher Fürsorge, als ob sie einem Kind Trost und Mut in einer Gewitternacht spenden wollte. »Ich bin mir sicher, dass unser König schon sehr bald zurückkehren wird.«
 

Iduna lächelte schwach. »Ja. Mit Sicherheit.« Und davor werden die ganzen Männer sterben, weil wir keine Medikamente zur Verfügung haben. Ein Wunder, dass noch keine Krankheiten die Runde machen ..., fügte sie in Gedanken hinzu, sprach es aber nicht aus, da sie Gerda nicht unnötig Sorgen bereiten wollte. Die Haushälterin löschte das Licht auf dem Nachttisch und verließ das Zimmer. Iduna war nicht müde und so lag sie da und starrte in die Dunkelheit. Um nicht erneut an Tod und Verderben zu denken, stellte sie sich abermalig die Zukunft vor. Sie fragte sich, ob sie weitere Kinder bekommen würde. Natürlich würde sie das. Vielleicht würde sie eine Tochter bekommen? Als sie sich ein erdbeerblondes Mädchen mit langen Zöpfen und einem breiten Grinsen vorstellte, wurde ihr ganz warm ums Herz. Ja, ein Mädchen wollte sie auf jeden Fall bekommen. Mit dem Gedanken, dass schon sehr bald Kinderfüße durch das Schloss rannten, fiel sie irgendwann in einen unruhigen und oberflächlichen Schlaf.
 

»... nie waren die Tore verschlossen ...«
 

Im Nachhinein konnte Iduna nicht mehr sagen, was sie hatte wach werden lassen. Ob es nun ein Geräusch gewesen war oder nur ein seltsames Gefühl - Fakt war, auf einmal war sie wach und sie stand vor der Tür zu ihrem Balkon, sah den Fjord, den Hafen, das Städtchen. Scheinbar ruhig lag alles zu ihren Füßen, nichts rührte sich dort in der Dunkelheit. Dennoch öffnete sie die Tür und ging auf nackten Sohlen in die Kälte hinaus. Ihr Blick wanderte auf das Meer hinaus und tief in ihrem Inneren spürte Iduna, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte dieses unangenehme Gefühl im Magen, dass gleich etwas unsagbar Schlimmes passieren würde. Oder vielleicht schon passiert war. Sie bekam es mit der Angst zu tun. Ob Agnarr etwas passiert war? Nervös nestelte sie an ihrem Nachtkleid. Nein, das glaubte sie nicht. Agnarr, der König, ihr Gemahl, er würde nicht sterben. Doch was war es dann? Ein dumpfes Donnern ertönte, wie ein Blitzschlag in weiter Ferne. Zuerst fiel es Iduna gar nicht weiter auf. Erst, als sie ein zweites Donnern hörte und anschließend ein drittes, da meldete sich ihr Argwohn. Was war das? Ein Gewitter auf offener See bestimmt nicht, das klang anders. Und man würde die Blitze sehen. Ein viertes Donnern war zu hören - und Iduna riss schockiert die Augen auf, als urplötzlich eines der kleineren Schiffe im Hafen Feuer fing. Das Feuer loderte hell auf und in seinem Schein erkannte Iduna endlich, was den Donner verursacht hatte: Es war ein Dreimaster. Wie von Geisterhand tauchte das riesige Schiff vor dem Hafen auf. Es feuerte Kanonenkugeln auf das Königreich. Sie hörte die Menschen schreien, die sich auf den Kais befanden und von den Kugeln umgerissen wurden, als diese darüber hinweg fegten.
 

Vollkommen fassungslos starrte die Königin nach unten und sie konnte nicht glauben, was sie dort sah. Erst, als die ersten Häuser getroffen wurden, erwachte sie aus ihrer Schreckstarre und setzte sich in Bewegung. Sie musste sofort aus dem Schloss hinaus! Es war nur eine Frage der Zeit, ehe das Schiff auch das Schloss unter Beschuss nehmen würde, denn das war nun einmal der Sitz des Königs. Im Gehen warf sie sich den Morgenmantel um und eilte aus dem Zimmer. Sofort kam ihr Gerda entgegen, die außer sich war.
 

»Majestät!«, rief sie mit angsterfüllter Stimme. »Wir werden angegriffen!«
 

»Gerda! Ich brauche deine Hilfe! Versammel alle Menschen hier im Schloss und führe sie durch den Tunnel hinter der großen Halle nach draußen! Versteckt euch dort, solange wie es nötig ist!«
 

Gerda war den Tränen nahe, doch die Frau nickte tapfer und schluckte ihre Tränen hinunter. Dann eilte sie davon und schrie aus Leibeskräften alle Leute zu sich, die sich im Schloss befanden. Die Königin rannte die große Wendeltreppe nach unten und schickte jede Menschenseele, der sie begegnete, in Richtung des großen Saales. Draußen vor dem Schloss, als sie auf dem Kai stand, der den Marktplatz mit dem Schloss verband, sah die das Schiff aus nächster Nähe. Sie kannte die Flagge. Es war ein Schiff von den Südlichen Inseln. Das war unmöglich! Wie hatte es die Linie durchbrechen können? War ihr Mann doch ...? Sie zwang sich den Gedanken beiseitezuschieben und besann sich auf das aktuelle Problem: Sie musste die Menschen in Sicherheit bringen. Denjenigen auf dem Kai rief sie zu, ins Schloss zu fliehen und im großen Saal nach Gerda zu suchen. Jeder kam ihrem Befehl nach. So schnell sie ihre Beine trugen, rannte sie über den Kai bis hin zum Marktplatz, die Schüsse der Kanonen dröhnten in ihren Ohren und gingen ihr durch Mark und Bein.
 

Die Wolken hatten sich mittlerweile verzogen und ein gespenstischer Vollmond tauchte das Szenario in ein schauriges Licht. Iduna musste aufpassen, wohin sie trat, denn über den gesamten Kai verteilt lagen Trümmerteile. Große und kleine Brocken Gestein, gesplittertes Holz und zu ihrem Leid auch einige Leichen, die durch das Mondlicht erst so richtig grotesk aussahen. Für eine Sekunde blieb sie stehen und sah gebannt auf die starren Gesichter der Frauen, die dort lagen. Ein Fehler, wie sich herausstellte, denn mit einem Mal sauste eine Kanonenkugel nur knapp an ihrem Gesicht vorbei. Iduna spürte den Windstoß und vor Schreck taumelte sie ein paar Schritte zurück. Um ein Haar hätte es sie erwischt! Sie sah zu dem Schiff auf dem Meer. Im Mondschein erkannte sie einzelne Personen an Deck. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass ein einzelnes Schiff die Linie durchbrechen und unbeschadet nach Arendelle gelangen konnte. In ihrem Kopf machte sich erneut die Panik breit, ihrem Mann konnte etwas zugestoßen sein, doch sie zwang sich, realistisch zu denken und logische Schlussfolgerungen zu ziehen. Hätte es den König wirklich erwischt, würde dann tatsächlich nur ein einziges Schiff Arendelle unter Beschuss nehmen? Würde nicht viel eher die gesamte Flotte hier auffahren mitsamt König Edgar? Doch das hier war nur ein einzelner Dreimaster und womöglich noch nicht einmal das größte Schiff in der Flotte Edgars. Also war ihr König wohl noch wohlauf, was aber nicht die Frage klärte, warum dennoch ein Schiff durch ihre Linien brechen konnte. Die Königin setzte sich wieder in Bewegung, wich großen und kleinen Hindernissen aus und ignorierte das gelegentliche Ziehen in ihrem Unterleib. Schnell erreichte sie den Marktplatz und sie atmete kurz auf, als sie sich im Schutz der umliegenden Häuser befand. Dann sah sie sich um. Sämtliche Anwohner hatten sich hier versammelt und halfen den Verletzten, die nicht mehr laufen konnten.
 

»Hört mir zu!«, rief die Königin über das Donnern der Kanonenkugeln hinweg. »Ihr müsst vom Wasser weg! Folgt dem Pfad ins Landesinnere! Helft denen, die nicht mehr laufen können! Beeilt euch!«
 

Als hätte sie einen Stein ins Rollen gebracht, mobilisierten sich sämtliche Bewohner, halfen einander und stützten sich gegenseitig, als sie durch eine der Gassen gingen. Zu einer Gruppe junger Frauen, die die Nachhut bildete, sagte sie: »Ihr! Ihr müsst mir helfen! Wir müssen den anderen einen Vorsprung geben und ihnen Rückendeckung verschaffen! Folgt mir!«
 

Die Frauen zögerten keine Sekunde, warfen sich herum und rannten hinter Iduna her. Sie führte die vier Frauen einen Schleichweg zum Hafen hinab und ließ sie hinter der Mauer in Deckung gehen. Dort befanden sich fünf Schießscharten, hinter denen fünf Kanonen standen. Sie würden dem Schiff alles um die Ohren pfeffern, was sie zu bieten hatten!
 

Aus dem Wachturm an der Ecke holte sie die erste Kanonenkugel und reichte sie an die erste Frau. »Weitergeben!«, kommandierte sie und die Frau gehorchte. Es folgten noch drei weitere Kugeln und die letzte behielt Iduna bei sich. Sie stopfte sie in die Kanone, zündete die Lunte mit der Fackel an, die eine der Frauen mit bei sich trug, und hielt sich dann die Ohren zu, kurz bevor auch schon die erste Kanonenkugel auf ihrer Seite abgefeuert wurde. Schnell hintereinander wurden die Kugeln durch die Luft geschossen und alle fünf trafen das Schiff in den Rumpf. Sie hörten das Holz splittern und Männer schreien. Die Frauen jubelten auf und Iduna machte sich sofort daran die nächste Ladung Kugeln zu verteilen. Als sie die erste Kugel anhob, fuhr ihr ein stechender Schmerz durch den Magen und sie keuchte auf. Sie ließ die Kugel fallen und legte beide Hände auf ihren runden Babybauch. Erneut durchfuhr sie ein Schmerz und dieses Mal war er so heftig, dass sie auf die Knie sank. Zwei der Frauen kamen zu ihr in den Wachturm und gingen besorgt neben ihr zu Boden.
 

»... warum also ...«
 

»Majestät!«
 

»Was habt Ihr?«
 

Die Schmerzen in ihrem Bauch kamen nun im schnellen Rhythmus und sie musste sich stark auf die Zunge beißen, um nicht laut aufzuschreien. Der einzige Gedanke, den sie fassen konnte, war: Mein Baby. Doch sagen konnte sie nichts, sie atmete heftig ein und aus, verzog das Gesicht vor Schmerz und Anstrengung und presste die Hände auf ihren Bauch, als ob sie den Schmerz dadurch loswerden konnte. Es ist zu früh! Eine der Frauen schien zu erkennen, was mit der Königin los war, und aufgeregt rief sie: »Das Baby! Die Wehen müssen eingesetzt haben! Seht!« Die Frau deutete auf den Boden, wo sich eine blutige Pfütze gebildet hatte. Iduna war keine Expertin, was Geburten betraf, doch sie war dabei gewesen, als Jack geboren worden war, und so wusste sie, dass kurz bevor es losging, Unmengen an Flüssigkeit ausgeschieden wurden. Nein. Nicht hier. Nicht jetzt! Es war zu früh! »Wir müssen sie in Sicherheit bringen!«
 

Die andere Frau sagte: »Geh du! Wir bleiben hier und lenken das Schiff ab! Wenn du dich beeilst, dann holst du vielleicht schnell die anderen ein!«
 

Die Frau, die Iduna zu den anderen und damit auch zu einer der Ärzte bringen sollte, sah sich hektisch in dem Turm um. Dann zog sie einen alten Wagen aus dem Chaos hervor, zog sich ihr Oberteil aus, knüllte es zusammen und warf es auf den Wagen. Danach verfrachteten sie gemeinsam die Königin auf den Wagen, die ihren Kopf auf das Oberteil legte und sich vor Schmerzen krümmte. Die Frau zog den Wagen mit größter Vorsicht aus dem Turm und die Mauer entlang und den nächsten Abgang hinunter. Der Weg war holprig und es ließ sich nicht vermeiden, dass die Königin bei jedem Stein unsanft hin- und hergeworfen wurde. Mittlerweile schrie sie vor Schmerzen.
 

Die junge Frau ächzte und stöhnte vor Anstrengung, ihr gelang es aber, den Wagen die Böschung hinauf und auf den Marktplatz zu gelangen. Auf den gepflasterten Wegen kam sie nun besser voran, und so holten sie relativ schnell die Gruppe Flüchtlinge ein, die sich weit ins Landesinnere zurückgezogen hatte. Als man sie erkannte, kamen sofort zwei Ärztinnen auf sie zugerannt und nahmen ihr die stöhnende und sich windende Königin ab. Sie erkannten sofort, was Sache war und so konnten sie schnell und gezielt die Geburt des Thronfolgers vorbereiten. Iduna schwitzte, schrie und heiße Tränen liefen ihr über die Wangen. Wie sehr hatte sie sich gewünscht, ihr Mann könnte in diesem Moment bei ihr sein. In diesem Moment, in dem ihr erstes Kind geboren wurde. Doch sie war allein, sie musste diese höllischen Schmerzen allein über sich ergehen lassen. So weinte sie nicht nur wegen der Schmerzen, sondern auch vor Trauer und Kummer.
 

Unvermittelt schloss sich eine Hand um ihre und drückte fest zu. Erstaunt und froh zugleich über diesen Halt öffnete sie die Augen und erkannte Agnes, die nun ihrerseits erwiderte, was Iduna bei der Geburt von Jack geleistet hatte. Auch Agnes hatte sich gewünscht, mit ihrem Mann gemeinsam diesen Augenblick zu erleben, geblieben war ihr letztendlich nur die Königin, die ihre Hand gehalten hatte, während sie alles gegeben hatte. Nun waren die Rollen vertauscht und Iduna war auf den Halt angewiesen, den ihr Agnes bot. Ihre braunen, warmen Augen waren auf sie gerichtet und sie sprach mit einer so ruhigen Stimme zu der Königin, dass sie sich tatsächlich beruhigte. Und so kam es, dass kurze Zeit später ein kläglicher Schrei ertönte und das Baby von sich aus verkündete, dass es lebte. Iduna war völlig kraftlos und fertig und froh, es endlich hinter sich zu haben. Noch immer hielt sie Agnes' Hand fest umklammert und sie atmete schwer.
 

»Herzlichen Glückwunsch, Majestät!«, sprach eine der Ärztinnen, die vorsichtig damit begann, die Königin von Schweiß und Blut zu säubern. »Es ist ein Mädchen!«
 

Ein Mädchen, wiederholte Iduna in Gedanken. Für einen kurzen Moment war sie enttäuscht, keinen Prinzen zur Welt gebracht zu haben, doch als man dieses unglaublich kleine Wesen in ihren Arm legte, eingehüllt in ein weiches Tuch, mit zerknautschtem Gesicht, da konnte sie nicht anders als ihre Tochter zu lieben.
 

»Sie ist wundervoll!«, hauchte Agnes gerührt und mit einem Mal erhob sich ein Jubeln von den Menschen, die nun um sie traten, um die kleine Prinzessin zu sehen.
 

Iduna weinte vor Glück und sie drückte ihre Tochter an sich. »Majestät, wir sollten die Prinzessin unbedingt untersuchen. Sie ist zu früh. Wir müssen sichergehen, dass alles mit ihr in Ordnung ist!« Die Ärztin entnahm ihr das Mädchen und mit einem Mal war der Königin, als hätte man ihr einen Teil ihres Körpers genommen. Agnes legte ihr beruhigend die Hände auf die Schultern.
 

»Ihr wird es gut gehen, Majestät. Ihr solltet Euch ausruhen.«
 

Sie wurde in ein bequemeres Lager gebracht und behutsam zugedeckt. Agnes war neben ihr, berichtete ihr, dass das Schiff, welches Arendelle angegriffen hatte, versenkt worden war, was die Königin mit einem erleichterten Seufzer zur Kenntnis nahm. Agnes hatte Jack auf dem Arm, der sie mit einem Finger im Mund sabbernd ansah. Sie hatte eine Tochter. Eine wundervolle, kleine Tochter. Als hätte Klein-Jack ihre Gedanken gehört, begann er breit zu grinsen. Erneut sah sie die Zukunft vor sich. Sie sah ihre Tochter, eine atemberaubende Schönheit, und sie sah Jack, den frechen Spaßvogel. Sie malte sich aus, wie die Zwei Freundschaft schlossen und, obwohl sie wusste, dass das nicht passieren würde und auch gar nicht möglich war, sich ineinander verliebten. Sie sah die Szene vor sich, in der Jack vor ihr und dem König kniete und um die Hand ihrer Tochter anhielt. Sie sah die Tränen in den blauen Augen ihrer Tochter. Und das glückliche Lächeln. Und mit so einem Lächeln schlief die Königin ein.
 

Es dauerte ganze vier weitere Wochen, ehe der Krieg zwischen Arendelle und den Südlichen Inseln endlich offiziell als beendet galt. Die kleine Prinzessin war wohlauf und gesund, obwohl sie zu früh auf die Welt gekommen war. Die Ärzte hatten ihr Bestes getan, um ihr Leben zu bewahren und es war ihnen gelungen. Arendelle hatte eine Prinzessin und damit eine Thronfolgerin. Iduna hatte zu keiner Zeit Zweifel daran, dass König Agnarr sie als Erbin akzeptieren würde.
 

Die frohe Nachricht vom Ende des Krieges erreichte Iduna erst am späten Nachmittag des Tages. Sie befand sich auf dem Marktplatz bei den Verwundeten, so wie es alle Frauen taten, die hier lebten. Ihre Tochter, die noch keinen Namen hatte, wurde im Schloss von Gerda behütet, die die kleine Prinzessin sofort ins Herz geschlossen hatte. Sie ist die Tochter, die ich niemals hatte, hatte sie in trauriger Melancholie gesagt, aber dabei gelächelt. Im Moment war sie diejenige, die der Thronerbin die Liebe gab, die ihr Iduna gerade nicht schenken konnte, da es ihre Aufgabe als Königin war, ihr Volk zu beschützen. Und das kam noch vor ihrer Pflicht als Mutter.
 

Vor knappen zwei Wochen war ein Schiff eingetroffen, welches lebenswichtige Medikamente und Versorgungsmittel an Bord hatte. Der kleine, dünne Mann, der sich als Duke von Weselton vorgestellt hatte und repräsentativ für das Königreich Weselton stand, hatte verkündet, das Volk des Reiches hätte alles an Medikamenten und Utensilien gespendet, was sie entbehren konnten. Zusätzlich zu den Spenden waren auch einige Ärzte angekommen, die sich nun ebenfalls um die Verwundeten kümmerten. Zwar hatte das nicht die Platzfrage gelöst und viele mussten noch immer mitten auf der Straße liegen, weil sie so viele Liegen gar nicht aufbringen konnten, aber immerhin war es ihnen nun möglich, viel mehr Leben zu retten.
 

Der Duke von Weselton hatte der Königin zu ihrer erfolgreichen Geburt gratuliert und auch der zukünftigen Königin geschworen, das Handelsabkommen nicht zu brechen. Weselton würde immer an der Seite Arendelles stehen, ganz gleich, was komme. Anschließend hatte er sich mit seinen zwei Leibwächtern verabschiedet - allerdings nicht, ohne sich vorher noch einmal ausreichend zu stärken. Nach Weselton waren es ganze drei Tage, wenn man einen guten Wind hatte. Zum Vergleich: Nach Zaria, dem unmittelbaren Nachbarn von Arendelle, war es ein halber Tag, wenn der Wind es gut meinte, und zu den Südlichen Inseln, die wirklich ganz im Süden waren, war man eine ganze Woche unterwegs. Mindestens. Doch wenn man Pech hatte und der Wind drehte, oder ganz abflaute, dann verzögerte sich die Reise meistens auf unbestimmte Zeit. Wer konnte schon vorhersehen, wie der Wind stehen würde?
 

Königin Iduna gab gerade die Information an einen Arzt weiter, dass sich auf der noch immer zerstörten Kaimauer ein Verwundeter befand, der im Schlaf schrie und unnatürlich schwitzte. Der Arzt erhob sich von dem Lager, neben dem er sich niedergelassen hatte, und ging in Richtung Kai davon, während die Königin über den ganzen Platz lief, sich hier und da hinkniete, um kleinere Versorgungen vorzunehmen und stumm den zusammenhanglosen Erzählungen der Männer lauschte.
 

»... waren eines Morgens die Tore verschlossen ...«
 

»Majestät!«, wurde sie kurz darauf gerufen und es war der Arzt, der gerade erst aufgebrochen war. Er war völlig außer Atem. »Da ... Ich ... Dort ...« Der Arzt schien nicht zu wissen, was er sagen sollte und beruhigend legte die Königin ihm eine Hand auf die Schulter. Äußerlich blieb sie kühl, um den Arzt ebenfalls zur Ruhe zu bringen, doch innerlich war sie nervös. Was war geschehen, dass der arme, tapfere Arzt so aus dem Häuschen war? »Schiffe!«, war das einzige, was er herausbrachte und wies mit ausgestrecktem Arm in Richtung Hafen. Iduna zuckte erschrocken zusammen.
 

»Schiffe? Was für Schiffe? Wie viele?«
 

»Dutzende, Majestät! Der König! Er ist wieder da!«
 

Mit einem Mal fiel die ganze Anspannung von ihr ab und sie ließ einen großen Seufzer los. Sie raffte ihren Rock und eilte zur Kaimauer, sprang über die Gesteinsbrocken, die noch immer dort verstreut lagen, den Blick auf das Meer gerichtet. Und tatsächlich: Dort hinten näherte sich eine Flotte, doch die rot-goldene Flagge, die sich stechend vom grauen Himmel abhob, signalisierte ihr, dass der König auf dem Weg nach Hause war - und dass sie gesiegt hatten. Iduna hätte vor Glück weinen können. Jetzt würde alles gut werden. Ihr Mann kehrte zurück! Und so, wie es aussah, nicht nur der ihrer. Sie betete, dass auch Agnes' Mann unter den Überlebenden war. Einige der Frauen waren ihr gefolgt und starrten nun wie die Königin mit Freude und Erleichterung auf die weißen Segel, die sich behände auf und ab bewegten.
 

»Es ist vorbei!«, rief die eine.
 

»Sie sind zurück«, eine weitere.
 

»Wir haben gesiegt«, die Dritte. Und in Windeseile wusste es das gesamte Königreich. Nacheinander fuhren die Schiffe im Hafen ein, begleitet vom Jubel und Applaus all jener, die den Krieg über an Land geblieben waren und sich um Verwundete und Tote gekümmert hatten. Sie hörte viele Frauen ab und zu die Namen ihrer Männer rufen und sie sah jedes Mal mit Freude zu, wie sich dann einer aus der Menge auf den Schiffen löste und in die Luft sprang, um auf sich aufmerksam zu machen. Sie konnte das Glück und die Erleichterung der Frauen verstehen, denn auch ihr ging es nicht anders. Auf dem ersten Schiff, das einfuhr, stand König Agnarr am Bug und winkte seinem Volk. Still und heimlich waren Iduna ein paar Tränen in die Augen getreten, doch es hatte keiner bemerkt, als sie sie verstohlen fortwischte.
 

Sie beobachtete von der Mauer aus, wie der König als Erster das Schiff verließ, gefolgt von seinen beiden Leibwächtern. Anschließend trat ein alter Mann auf den Steg. Sein Haar war bereits weiß, ebenso wie sein Bart. Um sein Haupt schlängelte sich eine feine, goldene Linie, die Iduna aber aus der Ferne nicht näher erkennen konnte. Wer das sein mochte? Die Männer schlugen ohne Umschweife den Weg ins Schloss ein und kamen den Weg zur Mauer hinauf, auf der Iduna stand, während sich nun die Frauen auf die Stege drängten, um ihre Männer in Empfang zu nehmen. Iduna sah zu, wie sich ein Paar in die Arme schloss, weinte, sich küsste, auf den Boden sank und alle anderen ignorierte - für diesen Moment gab es nur sie beide. Sie sah auf und ihr Mann, der König, kam mit seinen Begleitern auf sie zu. Aufrecht stellte sich die Königin hin, ließ sich ihre kaum zu bändigende Freude nicht anmerken und verneigte sich respektvoll vor ihrem Mann. Seine Haare waren länger geworden. Er war schmutzig und sein Gesicht war hart geworden. Ansonsten schien er gesund zu sein. Er sah sie lächelnd an, nickte ihr zu, ging aber weiter, ohne sie in die Arme zu nehmen oder etwas zu sagen. Es verletzte sie, auch wenn sie wusste, dass das zur Etikette gehörte. Sie schloss sich den Männern mit etwas Abstand an und folgte ihnen in das Schloss hinein.
 

»... und warum warteten wir ganze achtzehn Jahre ...«
 

Der König unterhielt sich mit dem alten Mann und Iduna konnte immer noch nicht sagen, was dieser goldene Ring um seinen Kopf zu bedeuten hatte. Kaum hatten sie die Schlosstore passiert, trennten sich die Wege des Königspaares. Sie wusste, dass sie nicht in das Arbeitszimmer des Königs gehörte, solange er ihr nicht ausdrücklich befahl, dort hinzugehen. An der großen Treppe blieb sie stehen und sah den Männern hinterher, bevor sie sich abwandte und in ihr Gemach ging, in dem Gerda bereits auf sie wartete und eine weinende Prinzessin auf dem Arm hatte.
 

»Sie ist ganz unruhig geworden, als es draußen plötzlich so laut geworden ist«, sagte Gerda mit einem liebevollen Blick auf Idunas Tochter. »Das kennt sie noch nicht. Ich habe sie gerade gefüttert, sie müsste gleich einschlafen. Wir sind wirklich sehr müde.« Gerda sah Iduna an. »Es ist erfreulich, dass dieser scheußliche Krieg endlich vorbei ist. Und habt Ihr gesehen? Sogar König Edgar ist hier! Ich hätte nie gedacht, dass sich der König der Südlichen Inseln persönlich hier zeigen lassen würde.«
 

»König Edgar?«, fragte Iduna nach, als sie ihre Tochter aus Gerdas Armen nahm. Sie protestierte nicht. Der alte Mann mit dem goldenen Reif war König Edgar? Der, der ihrem Königreich den Krieg erklärt hatte? Der war nun hier? Warum? Was dachte sich ihr Mann dabei? Vielleicht hatten sie Frieden geschlossen ...
 

Iduna wiegte die Prinzessin hin und her, die inzwischen aufgehört hatte zu weinen. Stattdessen sah sie ihre Mutter mit ihren großen, blauen Augen an und klammerte sich mit ihrer winzigen Hand an ihrem Zeigefinger fest. »Meine wunderschöne Tochter«, lächelte Iduna verträumt und bekam nur am Rande mit, wie sich Gerda aus ihrem Gemach entfernte. »Dein Papa ist wieder da!«, informierte sie die Prinzessin, auch wenn diese noch gar nicht verstand, was sie da sagte. »Und schon bald wirst du ihn kennenlernen.« Die Prinzessin quengelte etwas vor sich hin, doch schließlich schlief sie ein, auf dem Arm von Iduna, die sich von diesem Anblick gar nicht losreißen konnte. Mit aller Vorsicht, die sie aufbringen konnte, legte die ihre Tochter in das Babybett und deckte sie zu. Dann setzte sie sich in den Schaukelstuhl neben das Bett, sodass sie noch immer das schlafende Gesicht des Babys sehen konnte. Sie war perfekt.
 

Erst einige Zeit später, mittlerweile war der Mond über dem Meer aufgegangen und sein silbernes Licht schien in das Zimmer der Königin, öffnete sich die Tür zu ihrem Gemach und der König trat ein. Iduna sah nicht auf, noch immer beobachtete sie ihre Tochter. Das leise »Iduna« jedoch, das ihr Mann aussprach, ließ sie sich erheben und sich zu Agnarr umdrehen. Er hatte sich inzwischen gewaschen und neue Kleidung angezogen. Seine Haare waren gestutzt. Doch seine Haltung war gebeugt, ein halbes Jahr Krieg hatte seine Spuren hinterlassen. Als er die Arme ausbreitete, konnte sich Iduna nicht länger zurückhalten und stürzte nach vorne. Sie schlang seine Arme um seinen Bauch, vergrub ihre Nase an seiner Brust und genoss das Gefühl, das seine Finger hinterließen, während sie ihren Körper ertasteten. Wie froh sie war, ihn endlich wieder umarmen zu dürfen! Ihn zu spüren und zu wissen, dass er nun da war, in Sicherheit, bei ihr! Vor Glück fing sie an zu weinen.
 

Agnarr nahm ihr Gesicht in die Hände und küsste die Tränen fort. Dann lehnte er seine Stirn gegen ihre und er lächelte. »Ich bin so froh, dass es dir gut geht«, flüsterte er. »Als ich gehört habe, dass Arendelle angegriffen worden war ... Ich hatte keine ruhige Minute mehr.«
 

»Du hast davon gehört?« Sie spürte, wie er nickte.
 

»Einer der Soldaten, der danach zu uns zurückkehrte, hat davon berichtet.« Agnarr schluckte. »Er meinte ... Das Baby ... Geht es ... Ich meine, ist es ...«
 

Iduna lächelte, nahm ihren Mann bei den Händen und zog ihn mit sich zum Kinderbett, in dem die kleine Prinzessin friedlich schlief. »Darf ich vorstellen? Die zukünftige Königin von Arendelle.«
 

Agnarr starrte gebannt auf das Baby, so als könne er nicht glauben, was er da sah. »Königin? Dann ist es ...«
 

»... ein Mädchen, ja«, beendete sie den Satz ihres Mannes. Gespannt wartete sie auf seine Reaktion. Ob er wirklich glücklich sein würde mit einem Mädchen? Sie hoffte so sehr, er wäre nicht so verbissen und traditionsversessen wie seine Vorfahren, die nur in Jungen einen wahren Thronerben gesehen hatten.
 

»Das ...«, begann Agnarr, stockte, und Stück für Stück wuchs das Grinsen auf seinem Gesicht. »Das ist wunderbar!«, rief er aus, packte seine Frau an den Schultern und drückte sie fest an sich. »Wir haben eine Tochter! Eine wunderschöne, echte, gesunde Tochter!«
 

»Nicht so laut«, lachte Iduna leise, die sich wirklich freute, dass sich ihr Mann freute. Nur die Prinzessin freute sich nicht, denn sie wachte auf und begann zu schreien. Iduna löste sich von ihrem Mann und holte das Mädchen aus dem Bettchen. Danach legte sie es vorsichtig in Agnarrs Arme, der sich gar nicht mehr zu atmen traute, aus Angst, dem Baby wehzutun.
 

»Wie wollen wir sie nennen?«
 

Der König schwieg lange und sah auf das Baby herab, welches er langsam hin und her wiegte. Dann schließlich, als die Königin schon fast nicht mehr mit einer Antwort rechnete, sagte er: »Elsa. Einfach nur Elsa.«
 

Iduna küsste die Prinzessin auf die flaumige Stirn. »Herzlich willkommen, Elsa.«
 

»... bis wir die Königsfamilie wieder sehen durften?«



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Lady-Mint
2015-08-13T09:08:21+00:00 13.08.2015 11:08
Ich bin echt begeistert bis jetzt. Du hast einen schönen Schreibstil! So flüssig, eine gute Wortwahl. Ich würde moch wirklich freuen wenn du diese Geschichte fortsetzt!
Antwort von:  HellyKitto
14.08.2015 11:36
Danke für deinen Kommentar!
Nächstes Kapitel kommt Sonntag :)


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