Eine Geschichte über Naruto
1. Oktober
Eine Sache, die ich mittlerweile über Naruto weiß, ist, dass er ein überdurchschnittlich positiver Mensch ist – und jedem helfen möchte. Aus diesem Grund sitzen wir gerade auch alle in Sasukes Wohnung (die wie meine geschnitten ist, nur spiegelverkehrt und mit weniger Inhalt versehen) am weißen, runden Küchentisch auf Klappstühlen und trinken Tee.
Ich sollte mich eigentlich auf Narutos grandiose Idee konzentrieren, wie wir Hinata von ihrer Aufzugphobie – die im übrigen auch unter die Klaustrophobie fällt, wie Naruto uns durch seine Internetrecherchen mitteilen konnte – befreien können, aber Inos Worte wollen mir einfach nicht mehr aus dem Kopf und ich frage mich laufend, ob etwas dran sein könnte.
Ich meine, sie hat schon nicht Unrecht damit, dass ich mich bei ihm irgendwie … verklemmt … verhalte und mich bei jeder Aufzugfahrt frage, ob mein Verhalten in seiner Gegenwart so okay sei und wie ich mich ihm gegenüber richtig verhalten soll. Das macht allerdings noch lange kein 'auf ihn stehen' aus. Mal davon abgesehen, dass ich ihn nicht einmal wirklich kenne. Laut Ino übrigens kein Argument, weil man jemanden nicht gut kennen muss, um sich von ihm angezogen zu fühlen.
Womit sie natürlich auch wieder recht hat – und das wurmt mich.
Ich umklammere meine Tasse mit dem Tee fester und versuche krampfhaft nicht in Sasukes Richtung zu schauen, weil ich mir sicher bin, dass ich ihn dann regelrecht anstarren werde, um zu sehen, wie mein Körper und vor allem mein Puls und Magen auf seinen Anblick reagieren.
Mein Gebrabbel als ich hier ankam, nachdem Naruto mich mir nichts, dir nichts, aus meinen eigenen vier Wänden geholt hat, war schon schlimm genug. Das ich wegen einer so blöden Unterstellung unsicher werde, macht mir außerdem sehr zu schaffen. Sollte ich es nicht eigentlich selbst merken, wenn ich mich tatsächlich zu jemandem hingezogen fühle?
»Sakura?« Naruto winkt mit seiner Hand vor meinem Gesicht herum und ich springe fast vom Stuhl.
»Sorry. War in Gedanken noch in der Uni.«
Das würde sogar stimmen, wenn mein Kopf im Moment nicht so voll von Inos Blödsinn wäre. Seit Tagen schon kann ich mich auf keine meiner Vorlesungen konzentrieren, weil mein Gehirn sich einbildet, etwas anderes würde im Augenblick mehr Aufmerksamkeit benötigen. Oder besser gesagt, jemand anderes.
»Okay. Kein Ding, ich fang einfach noch mal an. Also ich habe mir überlegt, wir laufen in den sechsten Stock und fahren dann eine Etage mit dem Aufzug nach oben. Sasuke wartet hier auf uns und du und ich wir steigen mit Hinata zusammen ein, damit sie nicht alleine fahren muss. Und falls was ist, bist du ja als Medizinstudentin zur Stelle.«
Falls was sein sollte, kann ich in einem geschlossenen Raum auch nicht sonderlich viel ausrichten, aber anstatt meine Bedenken zu äußern, nicke ich zustimmend und werfe Hinata einen kurzen Blick zu. Sie wirkt etwas kränklich auf mich.
Ihre Fingerknöchel sind weiß, weil sie die Tasse vor sich so fest umklammert und ihre komplette Körpersprache schreit förmlich, dass sie hier nicht sein möchte.
Als Naruto jedoch zum Aufbruch ruft, erhebt sie sich ebenfalls vom ihrem Stuhl – wenn auch etwas langsamer als wir – und folgt uns in den Gang.
Naruto läuft vorne weg und ist bereits zur Tür raus, bevor wir überhaupt die Küche verlassen haben. Ich seufze und kann nur einmal mehr über seinen Tatendrang den Kopf schütteln, während ich mich frage, ob er sich überhaupt Gedanken gemacht hat, wie Hinata zu dem Ganzen überhaupt steht.
Irgendwie habe ich nämlich so ein bisschen das Gefühl, dass sie es nur ihm zuliebe probieren möchte und eigentlich überhaupt nicht das Bedürfnis verspürt, etwas an ihrer momentanen Situation zu ändern.
Zumal ich damit sowieso eher zu einem Psychiater gehen würde, aber irgendwie will ein kleiner Teil in mir – ein kleiner, aber sehr mächtiger Teil – wissen, was passieren wird. Macht das aus mir einen schrecklichen Menschen?
Ich verscheuche den Gedanken und konzentriere mich wieder auf unser Vorhaben, bei dem ich mir wirklich die Frage stelle, wie Naruto es geschafft hat, Sasuke davon zu überzeugen, dass er mitmacht.
Meiner Meinung nach passt das überhaupt nicht zu ihm – also ich meine, wenn ich an der Umsetzung schon so meine Zweifel habe, wird er sie doch erst recht haben, oder nicht?
Ich starre auf seinen Rücken, in der Hoffnung, dass er den Blick nicht spürt, und überlege, ob ich ihn darauf ansprechen soll. (Nur nicht auf meine Körperreaktionen konzentrieren!)
Bevor ich aber zu einer Entscheidung komme (und ja, die Tendenz ging eher zu nein), halten wir vor dem Treppenhaus und Naruto dreht sich zu uns um.
»Gut. Jeder weiß, was er zu tun hat. Also los.«
Sein Gesicht hat einen entschlossenen Ausdruck angenommen und er öffnet uns schwungvoll die Tür. Bei diesem Anblick muss ich leider gestehen, dass in mir doch tatsächlich so etwas wie Zuversicht aufkeimt. Hinata scheint es ähnlich zu gehen, denn sie läuft an mir vorbei und betritt bestimmten Schrittes als erstes das Treppenhaus.
Ich folge ihr und erhasche mich dabei, wie ich zu Sasuke hinüber schiele, der seinerseits Naruto einen Blick zuwirft, in dem sich irgendetwas spiegelt, das ich nicht deuten kann.
Was mich aber verwundert ist die Tatsache, dass er doch tatsächlich versucht etwas mit seinen Augen zu sagen. Ich wüsste wirklich gerne was, weshalb ich meinen Kopf drehe, um zu sehen, wie Naruto reagiert. Aber alles, was sich ändert, ist, dass er nur noch entschlossener wirkt und ich es aufgeben kann, zu versuchen es nachzuvollziehen – dafür müsste ich wohl ein Teil ihrer Männerfreundschaft sein.
Mit einem letzten Blick, den ich einfach nicht unterdrücken kann, zurück zu Sasuke, betrete ich nun auch das Treppenhaus und laufe hinter Hinata die Stufen hinunter und in den Flur des sechsten Stocks, in dem gerade eine ältere Dame mit ihrer Tochter (oder Enkelin?) vor einer der Türen steht und diese aufschließt.
Bevor wir an ihnen vorbeikommen, sind sie bereits in der Wohnung verschwunden und wir sind allein.
Hinatas Gang wird langsamer je näher wir dem Aufzug kommen und sie bleibt einige Meter vor ihm stehen, anscheinend hat ihre Zuversicht sie nun wieder verlassen.
»Wir müssen das nicht machen«, sage ich zu ihr, als ich mich neben sie stelle. Zum Glück sind Narutos Schritte noch ein Stück von uns entfernt, sodass er meine Aussage nicht hören kann. Wobei ich ehrlich sagen muss, dass ich gar nicht weiß, wie ernst es mir damit ist. Der kleine, interessierte Teil in mir, warnt mich nämlich davor, zu versuchen es Hinata auszureden, während meine vernünftigere Seite zumindest hören will, dass sie dem allen auch wirklich zustimmt – egal aus welchen Gründen.
»D-doch. Das … das wird schon klappen.«
Also sonderlich überzeugend klingt sie nicht, aber immerhin hat sie jetzt einen ähnlichen Gesichtsausdruck aufgesetzt wie Naruto einen Stock weiter oben.
Irgendwie ist das süß und wenn sich die Gelegenheit ergibt, muss ich unbedingt mal weiter nachforschen, was denn genau zwischen den beiden eigentlich läuft.
»Bereit?«, fragte Naruto, als er zu uns aufgeschlossen hat und macht anschließend die letzten vier Schritte zum Aufzug, um auf den Knopf zu drücken.
»J-ja«, antwortet Hinata, mit ihren Händen zu Fäusten geballt. Na dann.
Die Türen öffnen sich und Naruto betritt das Innere des Fahrstuhls. Er dreht sich zu uns um, drückt mit einer Hand gegen die Eisentür, um sie offen zu halten und bedenkt Hinata mit einem ernsten Blick.
Ich schaue ebenfalls zu ihr und sehe in kurzer Zeit eine Menge Gefühle über ihr Gesicht huschen, bevor sie losgeht und mit einem letzten, tiefen Atemzug ebenfalls in die Kabine tritt.
Na das lief ja schon mal ganz gut.
Ich folge den beiden und übernehme die ehrenvolle Aufgabe auf den Knopf mit der sieben zu drücken. Die Türen schließen sich und der Aufzug beginnt sich zu bewegen.
…
Nach unten.
Sofort drehe ich mich zur Seite, um zu beobachten wie Hinata reagiert.
Um ehrlich zu sein, habe ich etwas vergleichbares noch nie gesehen. Hinatas sowieso schon helles Gesicht wird aschfahl, sie beginnt am ganzen Körper zu zittern und stoßweise zu atmen. Der Fahrstuhl hält nicht im fünften Stock und Tränen beginnen sich in ihren Augen zusammeln.
Wenn wir jetzt noch Jäger und Sammler wären, würde Hinata wohl versuchen so schnell wie möglich zu rennen, weil ihr das ganzes Blut in die Beine gerutscht ist, aber da wir das nicht mehr sind und es sich hierbei um einen engen, geschlossenen Raum handelt, bleibt sie einfach starr stehen und rührt sich nicht mehr.
»Naruto wir müssen sie hier rausbringen«, sage ich und versuche mit meinem ruhigsten Sanitäterton zu sprechen.
»Ja … und beruhigen.« Ich sehe die Angst in seinen Augen und überlege fieberhaft was wir tun können, damit Hinata aus ihrer Bilderbuchpanik geholt wird.
Das Problem ist, ich kann sie im fahrenden Aufzug schlecht bitten sich auf den Rücken zulegen, obwohl die Enge vorteilhaft für das Beine hochlegen wäre. Wir müssen also warten, bis er endlich gehalten hat – was spätestens im Erdgeschoss der Fall sein wird.
»Hinata«, versucht Naruto sie unterdessen anzusprechen und umfasst mit seinen Händen ihre Schultern. Ich habe schon Angst, dass er sie schütteln möchte und will dazwischen gehen, als er einfach vorsichtig ihre Arme hoch und hinunter fährt, als würde er sie wärmen wollen.
»Hinata ...« Sie reagiert, wenig überraschend, nicht auf seine Stimme, sondern wirkt wie in einer Trance, ihr Zittern wird immer schlimmer und wenn wir nicht bald hier rauskommen, wird sie noch beginnen zu hyperventilieren.
»Naruto, wir müssen auf jeden Fall ...«, beginne ich, verschlucke den restlichen Teil des Satzes aber regelrecht, als ich sehe, was er als Nächstes tut.
Ohne mir irgendwie die Möglichkeit zu geben, mich darauf vorzubereiten oder mich wegzudrehen, presst er seine Lippen auf ihre und küsst sie verzweifelt.
Es vergehen ein, zwei Sekunden, bevor Hinatas Körper sich noch weiter versteift und ich richtig sehen kann, dass sie vor Schreck die Luft anhält und ihre Augen sich weiten.
Erneut vergehen ein paar Augenblicke und der Kuss verwandelt sich in etwas, das ich nun wirklich nicht länger mit ansehen muss – in etwas reales, lang ersehntes.
Narutos Arme umschlingen Hinatas Hüfte und sie legt ihre Hände auf seine Schultern, während ich mich zur Seite drehe und die Anzeige der Stockwerke beobachte. Im Moment befinden wir uns im ersten und müssten gleich … ah.
Ein leises Bing ertönt, die Türen gehen auseinander und davor wartet eine braunhaarige Frau um die dreißig mit ihrem kleinen Sohn an der Hand. Als sie Naruto und Hinata – die natürlich immer noch knutschen – entdeckt, heben sich ihre Augenbrauen skeptisch und sie wirft mir einen fragenden Blick zu.
»Luft anhalten soll bei Panikattacken helfen«, erkläre ich ruhig und füge an meine Begleiter gerichtet hinzu: »Leute, wir sind unten angekommen und Hinata lebt noch. Ihr könnt aufhören.«
Die beiden springen bei diesen Worten regelrecht auseinander und starren sich ein paar endlos lange Sekunden an. Geistesgegenwärtig stelle ich mich zwischen die Türen, um diese daran zu hindern, sich wieder zu schließen und warte geduldig darauf, dass sie an mir vorbei den Aufzug verlassen.
Hinatas Gesichtsfarbe könnte mittlerweile nicht weiter von weiß entfernt sein, so rot wie sie ist und Narutos dämliches Grinsen steckt mich beinahe an.
Ich weiß ja nicht, wie lange die beiden schon umeinander herumtanzen, aber das einzige, was mir gerade einfällt, ist ein 'Na endlich!'.
»Entschuldigen Sie die Verzögerung«, sage ich an die Frau gewandt und gebe endlich den Aufzug frei, um den beiden zu folgen.
Sie stehen einen Meter voneinander entfernt und werfen sich immer wieder verstohlen Blicke zu. Ich seufze innerlich und gehe auf sie zu.
»Sag mal Naruto, woher wusstest du eigentlich, dass man eine Panikattacke durch einen Kuss, also das Luftanhalten, loswird?«, frage ich neugierig.
»Äh ... wa-? ... Ich hab das irgendwo mal gesehen«, erwidert er ausweichend und kratzt sich mit einem verlegenen Lachen am Hinterkopf.
»Verstehe«, sage ich und nicke ihm zu.
»Auf jeden Fall werde ich jetzt wieder hochfahren und euch alleine lassen.« Ein dämliches Zwinkern kann ich mir leider nicht verkneifen, bevor ich mich umdrehe und wieder die paar Meter zurück zum Aufzug gehe und auf den Knopf drücke.