Zum Inhalt der Seite

My Dear Brother 2

The Humans
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Shopping Tour

Niemals hätte ich gedacht, dass ich so schnell in Panik ausbrechen würde. Selbst Alexander wurde nervös, ging von Fenster zu Fenster und sah durch die Vorhänge. Jiro krallte sich am Sofa fest und bewegte sich kein Stück, hielt wahrscheinlich den Atem an, um keinen Mucks von sich zu geben. Nur Kiyoshi blieb ruhig auf dem Sofa sitzen und starrte weiterhin aus dem Fenster, als würde er Pferde beim Grasen beobachten. Doch je länger ich ihn kannte, desto mehr wurde mir bewusst, dass das genau seine Art war mit Dingen umzugehen, von denen er sich nichts versprach. Still sitzen bleiben, es über sich ergehen lassen; hilflos in die Ecke starren und warten, bis es vorbei war.

»Was machen wir jetzt?«, flüsterte Jiro schließlich in die Stille und schien seinen Atem wieder gefunden zu haben.

»Abwarten?«, schlug ich heiser vor. In der Hoffnung, der Vogel würde wieder verschwinden. Doch die Flügelschläge blieben.

»Warten?«, zischte Alexander mir zu. »Auf was? Den Tod?«

 

Die Flügelschläge stoppten für einen Moment, so auch die Schritte der schweren Boots.

»Es hat aufgehört«, murmelte ich. Alle blieben stumm, lauschten auf irgendwelche anderen Laute in unserer Umgebung, die Aufschluss über Vincents Hergehen geben konnten. Doch nichts kam.

»Wahrscheinlich ... hat sich der Vogel niedergelassen. Und Vincent wartet.«

»Glaubt er allen ernster, wir rennen jetzt raus?«, zischte Kiyoshi und lehnte sich wieder zurück in das Sofa.

»Nein, er wartet ... sicherlich auf den richtigen Zeitpunkt anzugreifen. So wie ich ihn kenne, wird er uns jegliche Fluchtversuche abschneiden wollen.« Alexanders Gedanken klangen ebenso durchdachte, wie die von Vincent. Doch was brachte uns das?

»Ich gehe raus«, sagte er schließlich und schob die Ärmel des Parkas hoch.

»Wie bitte?«, platzte es aus mir heraus. Selbst Jiro sah auf einmal aufgeregt zum Gastgeber. »Du stirbst! Nicht nur, weil Vincent dich abstechen wird, sondern auch, weil die Sonne dich brutzeln wird!«

»Ich ... «, und er schien dabei ganz weit weg in seinen Gedanken zu sein. »... werde so tun, als würde ich in das Haus meiner Tante gehen wollen. Ich gehe dabei den Weg der Veranda entlang, der ist Schattig. In der Zwischenzeit versteckt ihr euch hier. Vincent ... wird auf mich Aufmerksam werden und ... ja, vielleicht wird er mich angreifen, aber so leicht bin ich auch nicht zu haben.«

»... du willst den Lockvogel spielen?«, benannte Kiyoshi die Dinge beim Namen und stand letztendlich doch auf, sodass wir drei nebeneinander standen und ratlos in die Richtung von Alexander starrten.

Der nickte langsam und drehte sich noch einmal zu uns um. »Rennt so schnell ihr könnt weg. Aus dem Fenster, am besten Richtung Innenstadt. Der Weg durch das Feld ist der Kürzeste. In der Stadt könnt ihr euch in der Masse verstecken.«

»M-Moment, was machen wir denn, wenn er dich ... also ... in seinen Fängen hat und- «, da stockte selbst Jiro der Atem. Auf einmal schien er um Alexander besorgt zu sein. Eine Anwandlung, die ich bisher nicht von ihm kannte.

»Ich hab doch gesagt, ich komme zurecht«, schnauzte er meinen Freund unbegründet an. »Ihr flieht. Ich halte ihn auf. Weiter kann ich nicht denken, nur spekulieren. Und das hilft uns nicht!«

Mit diesen Worten ging er zur Tür, richtet erneut seinen Parka. Wahrscheinlich eine hilflose Geste.

Schnell liefen wir alle in eine Ecke, versteckten uns hinter dem Kühlschrank, nah an der Abstellkammer, das Fenster im Blickfeld. Wir mussten abwarten, was passieren würde. Wann Vincent die Aufmerksamkeit vollends auf Alexander gerichtete hatte. Ich bezweifelte für einen Moment, dass das funktionieren würde; Vincent war nicht dumm. Aber vielleicht hatte Alexander ein Ass im Ärmel, welches er als Trumpfkarte spielen wollte.

Als er die Tür öffnete, stach das Sonnenlicht ins Zimmer. Es blendete uns für einen Moment, selbst Jiro hielt sich die Hände vor die Augen. Dann ging Alexander todesfürchtig nach draußen; mit großen Schritten steuerte er die kleine Veranda an, die einen wohltuenden Schatten spendete. Das kleine Haus war vielleicht keine 20 Meter vom großen Anwesen getrennt, trotzdem fühlte sich jeder Schritt wie Höllenqualen an. Alexander verzog keine Miene, ließ sich die Schmerzen auf der Haut nicht anmerken.

»Du!«, rief es auf einmal finster aus den Büschen, aus denen eine schwarze Gestalt schnell, fast fliegend, auf Alexander zustürmte. Der konnte sich kaum bewegen, wollte schon aus der Sonne treten, wurde aber schneller gepackt, als gedacht und befand sich bereits in den Fängen von schwarzen Lederhandschuhen.

Vincent hielt Alexanders Hals feste in seinem Griff und hob ihn an, als wäre er ein Fliegengewicht.

»Du bist einer von ihnen! Wo sind die Brüder?«, hisste er ihm zu; den Körper weiter zur Sonne gerichtet.

Kiyoshi hielt sich vor Entsetzen die Hände vor den Mund. Selbst Jiro brachte seinen Mund nicht mehr zu. Wir drei saßen wie Kinder in Sicherheit und betrachteten durch die noch offene Tür das Schauspiel Alexanders Hinrichtung. Tapfer wand er sich in Vincents Mördergriff; sah ihn gequält durch seine schwarzen Strähnen an. Das wellige Haare schien auf einmal wüst auf seinem Kopf zu hängen.

»Fick dich!«, quetschte er aus seinen Lippen, während er nach Vincent trat. Seine Haut begann zu rauchen. Erste Brandmale taten sich auf. Die Sonne war zu stark, er würde verbrennen!

»Sag mir sofort, wo sie sind, oder ich lasse dich in meiner Hand verbrennen!«, rief Vincent bedrohlich und verengte den Griff um Alexanders Hals. Sein Augenweiß verfärbte sich langsam rot, die Lippen hingegen blasser.

»Ich weiß es nicht«, brummte er kraftlos, kurz vor der Ohnmacht. Sicherlich nicht wegen der Atemnot, vielmehr wegen der Schmerzen.

»Hiro, Hiro, er brennt!«, zischte mir Jiro zu und konnte seine Augen nicht von Alexander nehmen. »Mach doch was!« Panisch zog er an meiner Lederjacke und atmete unregelmäßig.

»Ich -«, begann ich, schüttelte den Kopf und wusste ehrlich gesagt nicht, wie ich es hätte regeln können. Doch ehe ich mich versah, sprang Kiyoshi neben mir auf. Ich griff nach ihm, bekam ihn aber nicht mehr zu packen.

Da schrie Alexander schon auf. Kiyoshi blieb wie erstarrt im Raum stehen, sah ebenso gebannt wie entsetzt zu den beiden im Garten.

Alexander nahm Schwung, trat Vincent mit Kraft ins Gesicht, hinterließ einen Abdruck seiner schweren Stiefel, drehte sich einmal um sich selber, löste sich dabei aus Vincents Griff, der noch unter Schock stand, und landete auf dem Rasen.

»Du bist abscheulicher als der niederste Vampir!«, keifte er Vincent regelrecht an, ging noch einmal auf ihn los und kratzte ihn ins Gesicht. Wahrscheinlich wollte er ihm die Augen auskratzen, schaffte es jedoch nicht ganz, da Vincent bereits auf die Beine kam und Alexanders rauchenden Körper wieder von sich schlug.

Kiyoshi hingegen löste sich aus seiner Starre, rannte raus, packte Alexander an den Armen und zog ihn schnell wieder ins Haus. Ich zögerte nicht lange, schloss die Tür und verriegelte sie; schob eine Kommode davor. Dumm eigentlich; als würde Vincent eine altes Holzmöbelstück abhalten, uns weiter zu verfolgen.

»Ah!«, keuchte Alexander auf, als er von Kiyoshi über den Boden gezogen wurde.

»Schnell, eine Packung«, forderte Kiyoshi Jiro zum Handeln auf, der wie in Schockstarre nur neben dem Sofa stand. Wie erwacht, öffnete er den Kühlschrank, zog schusselig mehrere Packungen heraus, stolperte auf Kiyoshi und Alexander zu und reichte zittrig die Packung weiter.

»Bitte sagt mir ... dass das kein Blut ist!«, stotterte er vor sich hin, während mein Bruder die Plastikdämmung abriss und Alexander das flüssige Gold reichte. Ohne zu zögern sog er die Flüssigkeit auf, trank so schnell er konnte. Sein schmerzverzerrtes Gesicht lenkte fast von den noch immer rauchenden Wunden ab.

Ich blieb noch immer an der Tür stehen und wartete auf Vincents Angriff. Doch der blieb regungslos auf der Wiese stehen und sah sich um. Schlussendlich kam er näher und rief uns mit seiner bebenden Stimme zu.

»Ihr seid gefangen! Ihr könnt nirgendwohin! Also gebt mir die Brüder und ich lasse euch zwei am Leben«, forderte er. Wieso Vincent nun auf einmal uns beide wollte und nicht nur mehr Kiyoshi, verstand ich auch nicht so ganz. Wahrscheinlich, weil ich einem Straftäter bei der Flucht verholfen hatte. Oder weil er mich einfach nicht mochte.

»Vergiss es!«, schrie Jiro vom Sofa aus, zitterte am ganzen Körper und konnte sich kaum auf den Beinen halten. »Ich liefere dir bestimmt nicht meinen Hero aus!«

Ein leichtes Grinsen fuhr über mein Lippen. Ach, Jiro...

»Dann sterbt ihr eben alle vier!« Vincents Worte hallten wie Donner und zogen einen lauten Knall mit sich. Er schlug mit der Rückhand seiner Waffe auf das Fenster ein. Es klirrte laut auf, Splitter fielen zu Boden und ließen mich von der Tür verschwinden.

»Schnell, wir fliehen!«, rief ich den Dreien zu, die noch wie erstarrt neben der Küche standen. Mit einer Handbewegung riss ich noch zwei Blutpackungen vom Boden, Jiro tat es mir gleich, folgte mir am schnellsten. Mit den Schläuchen band ich sie mir um meinen Gürtel, öffnete das bodenlange Fenster und schob die Vorhänge beiseite. Kiyoshi half Alexander noch auf die Beine, der sich bereits etwas erholt hatte, doch noch lange nicht bei Kräften war. Wahrscheinlich kostete es ihn eine Heidenüberwindung noch einmal aufzustehen und zu rennen. Doch so wie ich wie aus dem Nichts Energie schöpfte, tat auch er sein Bestes und folgte uns aus dem Fenster.

Vincent war unterdessen in der Wohnung gelandet, sah dann unsere Flucht und folgte uns so schnell er konnte.

 

Es war ein Rennen auf Zeit.

So schnell hatte ich noch nie einen Sprint hingelegt. Es war, als würde die Welt an mir vorbeirasen. Kiyoshi rannte direkt neben mir durch die anliegenden Büsche und Bäume, bis wir das Feld erreichten.

»Einfach geradeaus!«, rief Alexander und drehte sich kurz um, als er Jiro nicht nachkommen sah.

»Nicht so schnell!«, bettelte der und hatte Mühe mit uns Schritt zu halten. Drei Vampir waren eben doch schneller als ein Menschen. Genau das spürten wir auch bei Vincent. Er lag uns auf den Fersen, doch schien uns im Feld ein wenig verloren zu haben. Nur der Vogel kreiste über uns und schien ihm relativ gute Anweisungen zu geben, wo er uns finden konnte.

Alexander fackelte nicht lange, rannte ein paar Schritte zurück und packte Jiro an der Taille, schmiss ihn wieder einmal über seine Schulter und rannte erneut los.

»Du bist absolut keine Hilfe!«, zischte er meinem Freund zu, der nur kreischend auf der Schulter von Alexander hing und versuchte Halt zu finden.

»Fuck!«, war alles, was ich aus Jiros Mund verstand.

 

Ich hörte nur meinen Atem. Mein Herz. Selbst die Wunde am Bein tat nicht mehr weh. Nichts tat mehr weh. Das Adrenalin und das Cortisol taten ihr übriges. Kiyoshi neben mir fixierte die Pflanzen um uns herum, schob sie gekonnt beiseite.

Der Vogel kreiste noch immer über unsere Köpfe, lotste Vincent zu uns.

»Das macht keinen Sinn, er wird uns weiterhin finden, wenn der Vogel hier fliegt!«, schrie ich fast atemlos zu den anderen, die dicht um mich herum rannten.

»Außerdem brennen wir!«, stellte Kiyoshi fest, als er seine Arme betrachtete. Auch Alexanders Wunden schienen wieder aufzureißen. Zwar gab uns das hohe Maisfeld ein wenig Schatten, konnte jedoch nicht genügend Strahlen abfangen, als das wir in Sicherheit gewesen wären.

Urplötzlich endete das Maisfeld und wir standen an der Straßenbahnhaltestelle. Glück im Unglück musste man haben: die Straßenbahn fuhr ein. Und dieses Mal scheute ich mich nicht zwischen Menschen zu stehen.

Ohne weiter zu zögern, traten wir in die Bahn ein. Die Menschen um uns herum starrten uns wie aufgescheucht an, nahmen Abstand und ließen uns alleine. Alexander ließ Jiro von seiner Schulter runter. Doch der konnte nicht weiter auf seinen Beinen stehen, klammerte sich also an Alexanders Parka, um nicht umzufallen. Der Schock stand ihm noch immer im Gesicht geschrieben.

»Fuck«, entwich es ihm abermals, als die Bahn sich zu bewegen schien. Ein Blick aus dem Fenster sagte mir, dass der Vogel uns folgte. Auch die schwarze Gestalt kam näher. Es war, als würde er der Straßenbahn nachrennen.

»Das kann doch wohl nicht sein Ernst sein!«, jammerte Kiyoshi, der ebenso die Geschehnisse beobachtete wie ich. »Der rennt uns nach?«

»Gib mir eine«, flehte Alexander und zerrte an einer der Packungen an meinem Gürtel.

»Klar!« Schnell band ich sie ab, sodass er sie sofort an sich reißen konnte. Seine Wunden sahen in der Tat nicht gut aus. Verbrennungen zweiten, wenn nicht dritten Grades. Zittrig versuchte er die Plastikkappe abzunehmen, schaffte es aber nicht, da er immer wieder abrutschte. Jiro, der noch immer an seinem Arm klammerte, half ihm, nicht weniger zittrig, und entfernte die Kappe, welche sofort zu Boden fiel. Ohne weiter darüber nachzudenken, dass das wirklich Blut war, was er Alexander hinhielt, packte er den Schlauch und führte ihn zum Mund des schwarzhaarigen. Blaue Augen schlossen sich und genossen die wohltuende Nahrung. Jiros Blick hingegen haftete weiterhin auf der Packung. Wahrscheinlich verstand er so langsam, um was es hier wirklich ging. Dass keiner scherzte. Dass die Wunden auf Alexanders Körper real waren.

Nachdem er die Hälfte der Packung leer getrunken hatte, reichte er diese an uns weiter. Kiyoshi nahm sie dankend an, trank einige Schlucke und ließ mich den Rest austrinken. Jiros Blick sah verzweifelt aus, als auch ich nach dem Blut gierte. Tut mir Leid, Jiro, dachte ich. So war es nun mal ...

Vincent lief noch immer hinter der Bahn her, als wäre es eine Leichtigkeit. Er fiel zwar einige Meter zurück, holte aber schnell auf, als die Straßenbahn kurz hielt, um Fahrgäste ein- und aussteigen zu lassen. Die Panik wurde stärker, als Vincent immer näher kam, selbst als wir weiter in die Stadt fuhren.

»Fuck, was sollen wir tun? Er hat uns gleich! Und er wird uns auf offener Straße hinrichten!«, jappste Kiyoshi und konnte seinen Blick nicht vom Hunter lassen.

»Aber ... ihr könnt nicht länger draußen bleiben«, flüsterte Jiro und sah sich Alexanders Wunden an, die sich langsam wieder schlossen.

»Die Mall«, murmelte ich. »Wir können in die Mall.«

»Bist du verrückt?«, schnauzte mich Alexander an. Seine laute Antwort ließ einige Fahrgäste zusammenzucken. Sie nahmen weiterhin Abstand und schnell fühlte ich mich wie ein Aussätziger. »Willst du noch mehr Menschenleben in Gefahr bringen?«

»Mach nen anderen Vorschlag!«, raunte ich zurück. »Wir können nicht weiter in der Sonne rumlungern! Das tötet uns!«

Die Blicke der Fahrgäste wurden immer nervöser. Das Thema war ihnen suspekt. Verständlich.

»Gibt es denn keinen anderen Ort ... der dunkel ist und ohne Menschen?«, fragte Kiyoshi zögerlich und sah in mein Gesicht, als wüsste ich wie immer die Antwort auf alles.

»Nein! Wir befinden uns in der Innenstadt! Hier ist alles voller Menschen!« Mein Herz raste und hämmerte gegen meine Brust, als würde es jeden Moment herausspringen. »Die Mall, eine andere Möglichkeit haben wir nicht.«

»Und dann? Was machen wir in der Mall?«, raunte Alexander auf.

»Man, keine Ahnung! Besser als nichts, ok?«, schnauzte ich zurück.

Jeder war angespannt. Die Aussichtslosigkeit unserer Situation machte jedem zu schaffen. Eine Lösung für längerfristig gab es nicht. Entweder fliehen oder stellen. Und zum Stellen musste es Nacht werden, dachte ich. Anders ging es nicht.

»Gut, dann eben die Mall«, ging Jiro dazwischen und sah zwischen unseren Blicken hin und her. »Wir finden eine Lösung. Vielleicht ... können wir für's erste dort irgendwo unterkommen ...« In dem Moment knurrte Jiros Magen. Etwas peinlich berührt hielt er sich seinen Bauch. Er hatte seit knapp 24 Stunden nichts gegessen ...

»Wir laufen in die Mall, in den Food Court, du schnappst dir einfach was, egal was, und wir versuchen irgendwo in einem Geschäft uns zu verstecken«, schlug ich vor, lächelte Jiro aufmunternd an, der mir sofort zustimmend zunickte. Trotzdem die Hoffnung sich wieder in unseren Köpfen breit machte, blieben wir angespannt. Noch immer verfolgte und Vincent, der aber nahezu problematisch hinter der Straßenbahn rannte, da ihm auch Autos in die Quere kamen. Die Stadt war hektisch. Das war wohl selbst ein Vincent nicht gewohnt.

Als die Straßenbahn in der Nähe der Mall hielt, hechteten wir aus ihr heraus, als wären Hunde hinter uns her. Vincent schien uns vorerst aus den Augen verloren zu haben, doch der Greifvogel schwirrte noch immer über unsere Köpfe. Vorteil für uns: Er konnte nicht mit in die Mall.

Also rannten wir durch die großen Drehtüren in die ruhige Oase der Shops. Menschen schienen ausgelassen zu kaufen und zu bummeln. Erst als wir den großen Eingangsbereich betraten, schienen sie verstört stehen zu bleiben, um uns anzustarren.

»Zum Food Court«, befahl ich, bekam aber nur ein genervtes Seufzen von Alexander.

»Wie kann man jetzt ans Essen denken?«

»Sorry, dass ich mich nicht nur von ... dem da ernähre!«, raunte Jiro seinem Retter entgegen und deutete auf die zwei Packungen, die er noch an seinem Gürtel trug. Kiyoshi lief an meiner Hand entlang und sah sich verstohlen um.

»Wir scheinen hier für einen Moment sicher zu sein«, bemerkte er und folgte mir in den überfüllten Essensbereich. Dort saßen Kinder, Erwachsene, Ältere und einige Hunde. Wenn Vincent uns hier erwischen würde, wäre das nicht nur für uns gefährlich, nein, es würden in der Tat mehrere Menschen schaden nehmen. Wir mussten so schnell es ging wieder weg hier.

Jiro hechtete sofort zu einem Fastfoodanbieter, der immer fertige Ware im Schaufenster hatte. Dort kaufte er brav zwei Burger und kam schnell auf uns zurück.

»Ich glaube, ich habe noch nie so schnell gegessen«, seufzte er, während er den ersten Burger schon halb im Mund hatte.

»Hoffentlich kotzt du nicht«, spaßte ich und sah Jiro dabei zu, wie er den absolut lecker aussehenden Burger aß. Doch ich wusste: er wäre in meinem Mund auf einmal nicht mehr ansatzweise so lecker, wie er es in Jiros Mund war. Trotzdem reichte er mir ein Stück, als er meinen neugierigen Blick vernahm. Ich schüttelte negierend den Kopf. »Aber danke.«

Enttäuscht blickte Jiro in meine Augen. Es war, als würde er mich darum bitte, dass es nicht wahr wäre. Dass es einfach nicht sein konnte, dass ich nie wieder mit ihm in diesem Food Court sitzen und ausgelassen fressen könnte. So sehr ich mir das Gegenteil wünschte ... es ging nicht mehr.

»Shit«, raunte Alexander auf, als er eine schwarze Gestalt durch die Gänge hechten sah. »Wieso ist der so schnell?«

»Schnell, wir ... wir suchen uns ein großes Kaufhaus!«, stotterte ich in Gedanken, zog Kiyoshi an meiner Hand mit mir und rannte voraus. Alexander und Jiro folgten. Der letzte Burger verschwand dann während des Rennens in seinem Mund.

Vincent erkannte uns sofort und sprintete hinterher. »Ihr Blutsauger!«, schrie er durch die ganze Mall. Die Leute wurden angerempelt, weggeschubst und zur Seite gestoßen; nur damit er durchkam.

Vincent kämpfte nicht für die Menschen. Er kämpfte einfach nur gegen Vampire. Es war ihm egal, ob Menschen dabei schaden nahmen oder nicht. Es war ihm egal, ob man für die eine oder für die andere Seite kämpfte. Hauptsache die Vampire starben.

Unser Weg führte uns immer höher; fast fliegend rannten wir die Rolltreppen hoch. Ich wusste nicht ganz, wieso wir nach oben flohen. Dort wären wir gefangen gewesen! Alle anderen folgten mir, schweigend, wahrscheinlich genau so in Panik versetzt.

»Endstation!«, kam die donnernde Stimme von Vincent, der sich auf einmal uns gegenüber stellte. Nur ein rundes Geländer von vielleicht 10 Metern trennte uns. Hinter uns waren Geschäfte und in egal welche Richtung wir rennen würden: Vincent würde uns entgegenkommen. Wie das eben so mit runden Hindernissen war.

»Und jetzt?«, wimmerte Jiro, klammerte sich an Alexanders Parker fest, als wäre es das einzige, was ihm im Moment Schutz bieten könnte. Und es kam mir so vor, als würde sich der Besitzer des Parkas schützend vor ihn stellen; den Blick nicht von Vincent nehmend. Kiyoshi schluckte ebenfalls, hielt meine Hand feste in seiner.

»Wenn er jetzt das Feuer eröffnet«, flüsterte er, »sind wir geliefert.«

»Im Moment sind wir das auch so«, murmelte ich zurück und beobachtete jede seiner Handlungen.

Vincent schmunzelte etwas außer Atem, als könne er den Sieg förmlich riechen. »Endlich habe ich auch, ihr flinken Biester. Seht eurem Ende ins Gesicht. Es ist gekommen.«

Vorsichtig kam er auf uns zu, wir drehten uns natürlich in dieselbe Richtung, sodass wir ihn auf Abstand hielten. Doch wie von Kiyoshi vorhergesehen, zog er seine große Waffe aus dem Halter.

»Das ist ja wohl ein Witz!«, rief ich ihm laut zu. »Du willst in einer menschengefüllten Mall schießen?«

Natürlich umgaben uns schon lange keine Menschen mehr. Viele waren schreiend davon gelaufen, nahmen Abstand oder kamen uns erst gar nicht näher.

»Ihr macht auch vor nichts Halt ... dann muss ich das auch nicht«, war alles, was er sagte, als er die Waffe entsicherte und auf uns richtete. Er schoss, Kiyoshi und ich bückten uns und hörten den Schuss ins Leere gehen. Eine Scheibe zersprang, zersplitterte hinter uns.

»Runter!«, schrie Alexander auf einmal, packte Jiro an der Hüfte, hob ihn wie immer auf seine Schulter, umklammerte ihn feste und sprang auf das Geländer. Mit einem fiesen Grinsen sah er noch einmal zu Vincent, der ihn bereits mit der Waffe anfixierte, sprang jedoch bevor er schießen konnte. Die Patrone prallte am Geländer ab, landete in einer Leuchte an der Decke und ließ das Licht für einen kurzen Moment aufflackern.

»Neeeeiiin!«, hörte man Jiro entsetzt schreien, als der mit Alexander zusammen fünf Stockwerke tief fiel und in der Mitte eines Kinderbereichs landete. Menschen schrieen auf, Kinder sprangen zur Seite, während der Boden unter Alexanders Füßen nachgab und leicht zersplitterte.

Das alles geschah so schnell, dass mich Kiyoshi ebenfalls zum Geländer zog.

»Bist du verrückt? Ich bin froh, dass ich das eine Stockwerk zu Hause überlebt habe!«, rief ich entsetzt, während ich mich an den Sprung aus meinem Fenster erinnerte, als ich mit Kiyoshi in den Wald verschwinden wollte.

»Jetzt sind es eben fünf!«, raunte mir mein mutiger Bruder zu, der bereits über das Geländer sprang und ohne mit der Wimper zu zucken runter fiel. Nein, er glitt wie immer elegant zu Boden, selbst bei einer Höhe von mehreren Metern.

Ein letzter Blick zu Vincent sagte mir, dass er selber nicht ganz glauben konnte, dass die vier Jugendlichen den Highway to Hell nahmen. Er richtete verzweifelt die Waffe auf mich, schoss, verfehlte mich, da ich mich fallen ließ.

Schreien war gar kein Ausdruck von dem, was ich da von mir gab. Die Luft drang an mir vorbei, schnürte mir fast den Atem ab; mein ganzer Magen drehte sich um. Bungeejumping. Ohne Seil.

Ehe ich mich versah, landete ich auf dem harten Steinboden. Meine Füße fühlten den Stein unter ihnen nachgeben, es knackte, es brach, mein Knie berührte nur sachte die einzelnen Stücke, die übrig vom Boden blieben.

Kurz danach stand ich auf.

Ich war nicht mehr menschlich, nein, es war vorbei. Kein Mensch würde einen solchen Sturz überleben – doch ich stand da, wie gerade von einer Stufe gesprungen.

Vincents Fluchen war durch den schmalen Gang der einzelnen Stockwerke zu hören.

»Er wird die Rolltreppen nehmen müssen, wir haben einen kleinen Vorsprung!«, rief Alexander uns zu, der bereits weiter rannte und Jiro noch immer auf der Schulter trug. Kiyoshi lächelte mich an, nahm meine Hand und folgte den beiden.

»Das hast du gut gemacht!«, lobte er mich für meinen Todesmutigen Sprung.

»Ach«, seufzte ich noch leicht neben der Spur. »Ist ja nicht so, als hätte ich eine Wahl gehabt, oder?« Ein zögerliches Lachen folgte.

Obwohl mir absolut nicht zum Lachen war.

Ganz im Gegenteil.

Mein Magen war noch immer gedreht. Mir war übel. Meine Knochen und meine Muskeln taten weh. Nicht vom Sturz – einfach von der stundenlangen Anspannung.

 

Wohin sollte das noch führen?


Nachwort zu diesem Kapitel:
... weil ich so 'ne fiese Ratte bin, lade ich heute ganz heimlich ein neues Kapitel hoch.... hihihi *:゚*。⋆ฺ(*´◡`)

Neue Infos übrigens zum 1. Buch gibt's dann morgen auf Facebook! ♥ Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (5)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Veri
2015-10-16T07:06:19+00:00 16.10.2015 09:06
So langsam aber sicher mag ich Alexander echt gern :3
Von:  Roxi_13
2015-10-15T20:10:00+00:00 15.10.2015 22:10
Ich fand es echt witzig wie Alexander Jiro über die Schulter geworfen hat
Wie bei einer Jungfrau in Nöten
Und Kiyoshi mit einer Waffe in der Hand war auch sehr interesant zum lesen

Bin gespannt wie es weiter geht

LG
Roxi_13
Von:  hayamei
2015-10-15T20:06:38+00:00 15.10.2015 22:06
ohhhh, ich war voll habby, das dieses Kapitel heute schon zu lesen war ^^
Ich wollte grad ins Bett gehen, als ich es gesehen habe und es sofort durchlesen musste ;)
Und es war wieder richtig spannend. Man fiebert mit den 4 Jungs richtig mit.

Alexander wird mir immer sympathischer^^ Auch wenn er Jiro nicht so zu mögen scheint, beschützt er ihn hingebungsvoll ;)

Hoffentlich kommt morgen gleich das nächste XD
Von:  Taiet-Fiona-Dai
2015-10-15T20:01:55+00:00 15.10.2015 22:01
^^ wie toll. Die Spannung war klasse. Ich finden es total toll mit Jiro alleine unter drei vampire auf der Flucht. Ich hoffe es geht für sie alle gut aus

Lg. Taiet
Von:  ellenorberlin
2015-10-15T19:15:06+00:00 15.10.2015 21:15
Uhh das mit dem Sprung war gut :3
Aber wie hat er sie in dem Haus denn jetzt finden können? Der Vogel hats bestimmt nicht gerochen :/


Zurück