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Einem fernen Tage

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Was bisher geschah...
Nach einem gemeinsamen Friedhofsbesuch werden Rin und Minoru von Honoka zum Essen eingeladen, das wider Erwarten auch in Anwesenheit Kaitos ruhig verläuft. Als die Zwillinge hinzustoßen, ist es mit dem Frieden jedoch vorbei: Saki und Kaito geraten aneinander und auch Minoru fährt aus der Haut, als Kaito von seinen eigenen Eltern durch die Gebetsperlen unterworfen wird, die einst sein Vater trug. Rin entschärft die Lage und reist mit Minoru und Myōga ab. Komplett anzeigen

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Wir können Verlorenes nicht zurückgewinnen

Anstatt Trübsal zu blasen, solltest du zumindest im Ansatz versuchen, die Tragweite dessen zu verstehen, was du heute erreicht hast.“ Wieder keine Reaktion. Rin blähte die Wangen froschgleich auf und stieß die Luft verzweifelt aus ihren Lungen. Er hatte sich in Schweigen und Ignoranz zurückgezogen, wie er es so oft tat, und in den Stunden, die sie nun bereits in dem kleinen Bambushain lagerten, keine Anstalten gemacht, sich von seinem Ruheplatz zu erheben oder sie auch nur anzusehen.

Das eher mickrige Feuer flackerte gegen die finstere Nacht an und mit dem Untergang der Sonne hatte auch die angenehme Frühlingswärme ein jähes Ende genommen; war grausameren Böen und einem Hauch von Raureif gewichen. Rin hatte die Arme um ihren Körper geschlungen und saß mit angezogenen Beinen unruhig auf dem von abgestorbenen Bambusblättern überzogenen Boden. Ihr Kinn hatte sie auf die Knie gelegt und stierte resignierend in die Dunkelheit der Nacht.

„Noch vor einigen Wochen hättest du es nicht geschafft, dich wieder zur Fassung durchzuringen und klare Gedanken zu fassen“, setzte sie leise nach, auch wenn sie langsam das Gefühl bekam, Selbstgespräche zu führen. Minoru regte sich abermals nicht. „Nun missmutig herumzuliegen und zu tun, als hättest du etwas fürchterlich Dummes angestellt, macht dich nur unglaubwürdig. Ich kann verstehen, dass du dein Handeln für überstürzt hältst. Für sinnlos, gefährlich und viel zu altruistisch. Es hätte schief gehen können, aber das ist nichts weiter als Spekulation. Als du dich gegen Inuyasha gewendet hast, warst du überzeugt, das Richtige zu tun und vermutlich hast du das auch.“ Auch wenn Honoka sie unverzüglich auf die sonderbar aggressiven Energien aufmerksam gemacht hatte, waren sie viel zu spät auf der Lichtung eingetroffen. Es bedurfte allerdings nicht der größten Auffassungsgabe, um zu begreifen, was sich in etwa zugetragen haben musste – und dass Minoru in Anbetracht der Funktionsweise des Kotodama no Nenju der Geduldsfaden riss, war kaum verwunderlich. Er hatte sein Leben lang unter dem Einfluss der Fuchskoralle gelitten – wenn auch nur indirekt durch die Schwäche und Anfälligkeit, die dieses Schmuckstück brachte. Andererseits war ungewöhnlich, dass er zugunsten eines anderen das Wort ergriffen hatte, während die Vortage genügend Gründe geliefert hätten, für sich selbst einzustehen. Wobei es genauso gut denkbar war, dass er die Form der Kontrolle, die die Perlen auf Kaito hatten, sehr wohl persönlich nahm. In jedem Fall konnte es nicht schaden, Inuyasha und Kagome mit einer radikal ablehnenden Ansicht ihrer Erziehungskontrolle zu konfrontieren. Einer Ansicht, die Rin so scharf vermutlich nicht hätte vertreten können.

„Dein Urteil über Musashi ist sehr hart.“ Sie schloss für einen Moment die Augen, als ein Windhauch die Asche des Feuers empor und unvermittelt in ihr Gesicht wirbelte. „Dir fehlt ein Vergleich und das Verständnis für diese Gruppe. Sie haben schlimmere Dinge durchgestanden als Meinungsverschiedenheiten. Wenn sie streiten – wenn wir streiten –, dann klingt das teilweise verletzend und böswillig, aber sie sprechen ihre Gedanken aus und damit kann ich zumindest besser leben als mit einem gespielten Lächeln, dem das Messer im Rücken folgt.“ Sie sah aus den Augenwinkeln zu ihm hinüber. Wie ein weißer Fels in all der Nacht, den zerzausten, geflochtenen Zopf einer ausgefransten Schlange gleich neben sich am Boden. Man konnte kaum sehen, wie er atmete. „Inuyasha verhält sich dir gegenüber nicht korrekt, aber ihm fehlen oft mehr Grundlagen im Umgang mit anderen Personen als mir. Er weiß wie es ist, in einem Dorf zu leben, in dem dich die Leute nicht nur fürchten, sondern abgrundtief hassen. Han'yō haben es nicht einfach in dieser Welt. Musashi ist nicht perfekt. Die Menschen verspüren immer noch tiefe, natürliche Ängste, sie versuchen mich zu belehren und viele von ihnen werden auch Kagome schief ansehen, weil sie freiwillig drei dieser Kinder auf die Welt gebracht hat. Aber sie akzeptieren sie dort. Sie schätzen die Sicherheit, die Inuyashas Anwesenheit bietet und sie mögen Kagome und mich recht gern. Es ist nicht optimal, keine friedsame, schöne Welt, aber eine Umgebung, die Inuyasha und Kagome als sicher befunden haben. Ein Ort, an dem sie ihre Kinder aufziehen wollen und sich wohl fühlen. Es ist das kleinste Übel mit den besten Aussichten. Verstehst du das?“

Sie glaubte einen gedehnten Atemzug zu hören, aber ansonsten war da nur die Stille der Nacht.

„Dennoch, ich denke, es war nötig, sie einmal darauf aufmerksam zu machen, dass die Lage trotz aller Vorzüge für ihre Kinder schwierig ist. Auch die haben keinen Vergleich und nun, wo sie langsam ihren Welpenschutz – entschuldige das Wort – verlieren, werden sie mehr mit den Schattenseiten konfrontiert. Du magst für dich heute nicht Übermäßiges, für Kaito, Honoka und Yayoi jedoch viel erreicht haben. Auch darauf solltest du stolz sein.“

Sie sah ihn noch eine Weile an, dann biss sie sich ein wenig auf die Unterlippe und kaute auf ihr herum. „Es tut mir leid, wenn ich dir eben zu nahe gekommen bin. Ich hatte Angst, du könntest dich verlieren und Dinge tun, die du noch lange bereust. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte... .“

„Vergessen wir das.“ Minoru regte sich ein wenig, als er den Kopf in eine bequemere Position drehte und die Augen schloss.
 

Nachdem Rin eingeschlafen war, streckte Minoru sich lang aus, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte in den sternenbehangenen Nachthimmel hinauf. Der Atem der Menschenfrau ging ruhig und gleichmäßig, unterbrochen vom leise ersterbenden Knacken des Feuers, welches den Bambushain in einen rauchig schmeckenden Nebel hüllte, der ihm in der Nase brannte. Aber das war angenehm im Vergleich zu den beißenden Gerüchen des Menschenortes.

Vermutlich hatte Rin recht und er sah die Welt, in der die anderen lebten, zu schwarz. Vertrauen fiel ihm nicht leicht, das wusste er selbst, und ein Dorf voller Menschen und sonderbarer Personen machte es ihm nicht gerade einfacher, in jeder noch so gut gemeinten Aktion nicht eine wohl versteckte List zu vermuten. Sicherer als durch die Wälder zu ziehen war es jedoch allemal. Demnach durfte er sich dabei gar kein vernichtendes Urteil erlauben, wenngleich diese Kette, die Kaito trug, allein beim leisesten Gedanken, den er an sie verschwendete, Wut auslöste. Besinnend schloss er die Augen und lauschte dem leisen Schnarchen des Flohgeistes, der sich irgendwo nahe seines Ohres niedergelassen hatte und bereits seit Stunden schlief – ganz im Gegensatz zu Minoru selbst. Aber wach zu bleiben war vermutlich auch nicht die schlechteste Idee. Immerhin war nicht sicher, ob diese Drachen nicht doch irgendwo herumstreunten und sie vielleicht erneut in die Zange nahmen – etwas, das Minoru sich nicht genauer ausmalen wollte.

Ein Geräusch ließ ihn Stunden später hochschrecken. Er war nicht wirklich eingeschlafen, aber in eine Art verträumten Halbschlaf gefallen, als die Blätter am Boden ungewöhnlich raschelten. Sofort war er auf den Beinen und fixierte einen Punkt in der Dunkelheit, der mit der Richtung der Geräuschquelle verhältnismäßig übereinstimmte. Dann war es mit einem Mal totenstill. Die Luft regte sich nicht, kein Blatt knisterte in leisen Tönen geruhsam über den Boden und die Welt schien in einem leeren Gähnen zu verharren. Dann ein seichter Hauch. Minoru ließ die angespannten Schultern sinken. Der Fürst trat aus der Dunkelheit zwischen all den Bambusrohren hervor und der junge Inu atmete innerlich auf, als habe jemand eine schwere Last von ihm genommen.

„Willkommen zurück“, in formvollendeter, allerbester Manier neigte er den Kopf. Sesshōmaru kam nicht umhin, eine Braue in die Höhe zu ziehen und seinen Sohn zu betrachten, als habe er den Verdacht, gleich mit einer unbändigen Anhäufung wenig erfreulicher Nachrichten konfrontiert zu werden, die auf unbestimmte Weise beinhalten würde, warum er die beiden in einem Bambushain, mehrere Kilometer entfernt vom verabredeten Treffpunkt hatte aufstöbern müssen.

Dennoch musste diese Unterhaltung warten. Als Minoru auch nur Andeutungen machte, den Mund öffnen zu wollen, hob er gebieterisch die Hand und schnitt ihm das Wort ab. Sein Gesichtsausdruck war so unbestimmt wie selten zuvor und erst jetzt bemerkte Minoru, dass der Fürst nicht allein gekommen war. Hinter seinem aufwallenden Schulterfell bisher gut versteckt, trat ein schlanker, blasser Mann hervor, in dessen Stirn ein zusätzliches, drittes Auge ruhte, das Minoru unverwandt anzustarren schien. „Sonderbar“, murmelte er, als Minoru ihn voller Unbehagen musterte, und fuhr mit einer von fast durchschimmernden Klauen bewehrten Hand über sein kahles Haupt, aus dem elfenbeinfarbene Hörner hervorragten, die Ähnlichkeit mit denen der nördlichen Steinböcke aufwiesen.

Als er den Schatten des Fürsten verließ und sich mit einem gezielten Schritt vor denselben schob, wich Minoru zurück. Doch über die schmalen Lippen des fremden Yōkai huschte lediglich ein abgehacktes Lächeln. „Morgen früh, wenn es Euch danach verlangt.“ Seine Stimme klang wie von fern, so als befinde er sich nicht an diesem Ort.

„Euer Interesse ehrt mich“, gab der Fürst glatt zurück und Minoru kam nicht umhin, seinen Vater voller Verwunderung anzusehen. So höflich hatte er nicht einmal mit Nobu gesprochen. Wer also war dieser sonderbare Dämon, der unbewaffnet und in einfachster Kleidung so viel Respekt einfordern konnte und nun ohne jeglichen Kommentar, aber mit einem sonderbar fixierten Blick aller seiner drei Augen in die Dunkelheit verschwand. Minoru stand einige Zeit wie angewurzelt still, dann lief es ihm eiskalt den Rücken herunter und er schauderte.

„Was-“

„Gleich“, unterbrach der Fürst ihn leise und näherte sich ruhigen Schrittes. „Weitere Zwischenfälle? Aber verschone mich mit den Unzulänglichkeiten dieser Dorfbewohner.“

Minoru, der gerade schon den Mund hatte aufmachen wollen, um etwas zu antworten, presste die Kiefer wieder aufeinander und schüttelte vorsichtig den Kopf. „In dem Fall nicht, schätze ich. Von den Drachen wisst Ihr sicher.“

Der Fürst nickte knapp und ließ sich nach einem prüfenden Blick auf Rin zu Boden sinken. Das Menschenkind schlief so tief, dass sie von seiner Ankunft nicht das Geringste bemerkt hatte. Es war also einiges in dem Dorf vorgefallen, wenn sie so erschöpft war. Aber diese Informationen konnte er sich auch bei ihr holen, wenn er für solchen Unsinn überhaupt Verwendung hatte. Dass Rin und Minoru in dem Dorf nicht unbedingt ein harmonisches Gleichgewicht erzeugen würden, wenn ohnehin schon Missgunst und Streitigkeiten die Beziehungen verspannten, war von vorne herein kalkuliert gewesen und die aufgebrachte Stimmung seines nutzlosen Halbbruders hatte ihm beim letzten Zusammentreffen genug über dessen Haltung gegenüber der Situation und auch gegenüber Minoru verraten. Aber er kannte dieses Halbblut langsam gut genug, um zu wissen, dass dieser nicht das Rückgrat besaß, seinem Sohn ernsthaften Schaden zuzufügen und der Rest dieser verweichlichten Truppe war ohnehin nicht dazu in der Lage, Kindern mit Gram zu begegnen.

Minoru warf einen letzten Blick in die Richtung, in der der sonderbare Dämon verschwunden war, dann ließ sich wieder auf seinen Platz sinken, den er bereits vor Stunden auserkoren hatte, schlug die Beine im Schneidersitz zusammen und legte einen trockenen Ast in die glimmenden Kohlen des einstigen Feuers. Sogleich griffen winzige Flammen nach der neuen Nahrung wie Totenhände nach dem Leben und die Lichtquelle glomm, untermalt von leisem Knacken, sacht auf.

„Wäre es unangebracht, zu fragen, wo Ihr gewesen seid?“, erkundigte er sich schließlich, da sein Vater keine Anstalten machte, irgendein Gespräch zu beginnen. Als die goldenen Augen des Fürsten sich forschend auf seinen Sohn hefteten, fügte er hinzu: „Reine Neugier – und einige Bedenken. Rin sagte, Ryouichi-sama sei ausgerückt. Vermutlich nach Osten.“

„Ja, nach Osten“, kam es unterkühlt zurück. „Das ist nichts, das dich interessieren muss.“

„Ich verstehe.“ Minorus Stimme klang neutral, aber dem Fürsten des Westens entging nicht der leise Unterton von Enttäuschung. Doch Minoru war zu jung, um sich neben seinen ganz persönlichen Problemen auch noch mit politischen Gegebenheiten zu beschäftigen. Ganz zu schweigen davon, dass sie deutlich dringlicheren Gesprächsbedarf hatten.

Das war noch unbegreiflicher als ein Schwert, das es angeblich vermochte, Tote ins Reich der Lebenden zurückzuholen. 'Widernatürlich' war ein Begriff, der Minoru auf der Zunge lag, aber er hatte ihn mit Mühe und Not wieder heruntergewürgt. Allein der Gedanke, seinem Vater gegenüber ausfallend zu werden, war unangebracht.

„Ich traue ihm nicht“, entgegnete er stattdessen nach einer Weile der Stille und stellte noch einen Ast sorgsam in das knackende Feuer. „Er stinkt nach modrigen Höhlen und altem Schund.“

Das stimmte zwar, war aber nur die halbe Wahrheit. Was der Fürst ihm soeben eröffnet hatte, jagte Minoru immer noch kalte Schauer über den Rücken. Der behornte, alabasterfarbene Dämon, der sich in Begleitung des Taishōs befunden hatte, war einer der ältesten Yōkai, die das Land beherbergte. So alt, dass er und seinesgleichen nicht einmal eigene Namen besaßen, mit denen man sie hätte Ansprechen können. Sie waren „Jikan“ – ein Ausdruck, der nicht im Mindesten eine Zugehörigkeit ausdrückte. Es war der Name des Einzelnen ihres Kreises – und der Name aller. Prägnant, absonderlich, bezeichnend. Denn was hätte besser beschreiben können, über was diese Wesen verfügten, als ihr Name? Jikan. Zeit.

Wenn er den Schilderungen des Fürsten folgte, waren sie in der Lage, die Zeit, die den Einzelnen umgab, aufzudecken. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Allein die Vorstellung versetzte Minoru in unangenehme Erregung, sobald er sich die Ausmaße vor Augen führte, die die Macht einer solchen Person erreichen konnte.

„Sind das deine Kriterien, jemandem nicht zu trauen?“ Die Stimme des Taishōs klang kühl wie stets, aber ruhig.

Doch Minoru schüttelte den Kopf. „Nein, das ist nur meine Meinung. Ich traue ihm einfach nicht.“

„Du vertraust niemandem, den du nicht kennst.“

„Mit gutem Gewissen“, er lehnte sich wieder zurück und zog ein Knie an, das er mit den Armen umfing. Es war gefährlich jemanden zu trauen, den man nicht kannte – noch riskanter als sein Vertrauen in eine nahestehende Person zu setzen und selbst das fiel ihm nicht leicht. Wie konnte man jemandem vertrauen, der über solches Wissen verfügte? Und ganz davon ab: Aus welchem Grund sollte er diesem Wesen erlauben, Einblick in sein Leben zu nehmen?

„Meine Vergangenheit kenne ich. Warum sollte ich etwas über die Zukunft wissen wollen? Wenn mir vorausgesagt wird, dass ich morgen im Schlaf sterbe, könnte ich es dann noch verhindern oder würde ich es durch Vermeidung erst provozieren? Diese Dinge sind sinnlos. Es kommt, wie es kommt und wenn ich es ohnehin nicht ändern kann, will ich erst gar nicht wissen, was das Morgen bringt.“

Sesshōmaru betrachtete seinen Sohn eingängig. Manchmal war es erstaunlich, wie weit entfernt dieses Kind von dem geistlosen, unwürdigen Tier entfernt war, das so viele Palastdiener dem Geschwätz nach in ihm sahen. Er hatte nicht viele Bücher lesen können und doch zu vielen Sachverhalten eine wohlüberlegte Meinung, die selbst Sesshōmaru in dem Alter zugegebener Weise nicht besessen hatte. Mit fünfzehn wäre er nicht einmal auf die Idee gekommen, sich um diese Thematik zu scheren.

Als ihm vor vielen Jahrhunderten der Vorschlag unterbreitet worden war, Einblick in seine Zukunft zu erhalten, war er von der Idee vorbehaltlos eingenommen gewesen und hatte beinahe eingeschnappt reagiert, als sein Vater sich nach dem Orakel jeder Auskunft über die Einsicht verweigert hatte. Bis heute wusste Sesshōmaru nicht, was sein Vater damals in Erfahrung gebracht hatte und ob es seine Einstellung zu ihm verändert, ja ihn vielleicht sogar dazu bewogen hatte, ihm das so lange verachtete Tenseiga zu vermachen. Minoru hingegen schien den Gedanken eher befremdlich zu finden und hatte bereits seit den ersten Worten der Erörterung von Jikans Angebot eine ablehnende Haltung angenommen.

„Diese uralten Yōkai bieten ihre Dienste nur wenigen, ausgesuchten Personen an“, meinte der Fürst schließlich. „Es wäre unklug, sie abzuweisen und sie damit womöglich zu beleidigen.“

„Was sollte er schon tun?“, fragte Minoru stumpf und seinem Vater entfuhr tief im innersten, dunklen Fleck seiner Seele ein leises Seufzen. Er sollte die Gespräche erst beenden, bevor er seinen Sohn lobte. Mal wohl bis zum Ende durchdacht, mal in der eigenen Ablehnung vorschnelle Entschlüsse gefasst.

„Es läge nahe, den zukünftigen Generationen diesen Vorschlag nicht mehr zu unterbreiten.“

„Meine Entscheidung soll für all meine Nachfahren fallen?“ Minoru schnaubte einen Moment, dann wurde er still. Konnte man wirklich von ihm erwarten so weit ins Voraus zu planen, dass er nicht einmal erdachte Urururenkel in seinen Entscheidungen berücksichtigen sollte? Die Welt konnte morgen schon untergehen, warum also diese Bedenken? Schließlich knurrte er nur unzufrieden. „Ich traue ihm aber nicht!“, betonte er abermals. „Nicht nur weil er fremd ist. Ich mag ihn nicht.“

„Vertraust du mir?“

Er sah einen Moment auf und schaute seinen Vater erschrocken an. Mit der Frage hatte er nie gerechnet und irgendwie war sie ihm so direkt gestellt auch äußerst unangenehm. Er senkte den Blick in die Flammen und seufzte resignierend. „Ja.“

„Dann ist diese Diskussion überflüssig“, entschied der Fürst ernst und lehnte die Schulter etwas bequemer an die Borke des Baumes, während er seinen Sohn betrachtete, der immer noch nicht ganz überzeugt zu sein schien. „Sprich schon.“

„Was, wenn Ihr etwas seht, das Euch missfällt? Wenn ich Euch enttäuschen werde –“ „Minoru.“ „- oder jemand nahestehendes töte oder einfach nur -“ „Minoru!“ Er zuckte über die Wut in der Stimme zusammen und verfiel wieder in ein angespanntes Schweigen.

„Wer bin ich?“

„Der Inu no Taishō“, entgegnete Minoru leise, aber der Fürst schien damit nicht zufrieden. „Mein Vater.“

„Ich bin der gefürchtetste Daiyōkai in ganz Japan. Nach der Einschätzung meiner Feinde erbarmungslos, expansiv und eine Bedrohung für jeden, der meinen Weg kreuzt. Wie willst du das überbieten? Mich enttäuschen. Wenn du ein schwacher, feiger Junge ohne Rückgrat wärst, würdest du das vielleicht schaffen. Aber nichts kann dich noch dazu machen. Egal, was ich sehen werde, es wird in keinem Moment meine Meinung über dich beeinflussen. Wenn er so wenig vertrauenswürdig ist, wie du befürchtest, könnte er versuchen, meine Ansicht über dich in eine andere Richtung zu bewegen. Glaub nicht, ich sei naiv. Oder hast du Angst, mich etwas wissen zu lassen, das schon geschehen ist?“

Minoru überlegte nur kurz, bevor er bestimmt verneinte. „Da gibt es nichts.“

Ebenso wie Minoru war Sesshōmaru sehr vorsichtig, Fremden Glauben zu schenken. Dass sein Vater allerdings einst beteuert hatte, diese Yōkai stünden allein schon wegen ihres unfassbaren Alters über der Wahrheit selbst und sähen sich keinem Fürsten, sondern nur ihren eigenen, allumfassenden Interessen verpflichtet, sprach gegen eine so misstrauische Annahme.

„Überlege es dir“, meinte er schließlich. „Es wird ohnehin nur funktionieren, wenn du dich darauf einlässt. Schlaf jetzt.“

Minoru nickte und die nächste Stunden, in denen er sich bis zum Schlaf den Kopf über die Angelegenheit zerbracht, verwünschte er diesen dreiäugigen Dämon für sein Angebot heimlich in die tiefsten Abgründe der Unterwelt.



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