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Einem fernen Tage

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Was bisher geschah...
Kaito und Inuyasha sind allein in den Weiten Musashis unterwegs, um dem Zwiespalt im Dorf zu entgehen. Zwischen den Reisterrassen eines Dorfes kommt es zu einem Kampf mit einem riesigen Skelett (s. Kapitel 37).
Minoru verbringt den Morgen nach dem ersten Zusammentreffen mit Chizuru in den Straßen der Festung und bei Yūsei, der ihm keine rechte Auskunft über das Verhältnis von Ryouichi und seinem Vater erteilen will. Myōga fällt es indes schwer, den Sinneswandel seines Schützlings zu verstehen, der längst nicht mehr so verunsichert scheint wie sonst. Komplett anzeigen

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Ein Leben hinzunehmen

Kaitos Atem ging stoßweise. Das neue Katana steckte einige Meter entfernt in der weichen Erde der Reisterrasse. Die dünne Haut über seinen Rippen spannte sich schmerzhaft und allmählich hatte er das Gefühl, der Brustkorb wolle ihm unter dem Druck bersten. Keuchend presste er eine Hand in seine Seite, versuchte das Brennen zu ersticken und konnte die Tränen dennoch nicht zurückhalten, als er sich vor Lachen am Boden krümmte.

Inuyasha gab ein abfälliges Schnauben von sich, um seinen Unmut Luft zu machen, während er Tessaiga zurück in die Scheide gleiten ließ und das gewaltige Skelett in seinem Rücken weiterhin zu feinem Staub zerfiel.

Wie erwartet ließ Kaitos Erheiterung dadurch jedoch nicht im Geringsten nach. „Du hättest dein Gesicht sehen soll! Das war unbezahlbar!“ Er rang sichtlich nach Atem. „'Konzentrier' dich auf das Wesentliche' – war das deine Lektion? Das Ding war riesig!“

„Hast du's langsam?“

„Nein!“

Inuyasha rollte genervt mit den Augen und schlug sich den Knochenstaub von der Kleidung, den das Skelett hinterlassen hatte. Dieses Fiasko würde ihn zumindest das kommende Jahrhundert verfolgen – und sein Sohn würde dafür sorgen, dass er sich alle paar Tage detailgetreu daran erinnerte.

„Wenn du nichts dagegen hast, würde ich jetzt gern zum Dorf zurück, den Lohn einstreichen und hier verschwinden.“

Kaito setzte sich mit einem Ruck auf und ließ die Unterarme auf seinen Knien ruhen. Sein dunkelblauer Yukata war flächendeckend mit Erde verschmiert, gleichsam sein Haar, doch das schien ihn wenig zu stören. Wäre es kein knochentrockenes Skelett gewesen, hätte es ebenso gut Blut sein können. Er grinste unverschämt überlegen vor sich hin: „Ich sollte im Sinne deiner Gesundheit vielleicht mal mit Mama reden, damit sie dir den Nachtisch streicht. Sie sagt, von zu viel Süßigkeiten werden Hunde blind.“

Er hatte den Angriff seines Vaters kommen sehen, rollte unter ihm weg und brachte sich mit zwei leichtfüßigen Sprüngen auf dem zerfallenden Oberschenkelknochen in vermeintliche Sicherheit.

Kaum einen Atemzug später hatte Inuyasha ihn mit voller Wucht wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, drückte ihn im Schatten des gewaltigen Knochens an den Schultern in den Schlamm der Terrasse und zog heuchlerisch fragend eine Braue hoch: „Eventuell sollte ich dir generell einige Mahlzeiten streichen. Du wirst übermütig – und langsam.“ Er nahm eine Hand von der Schulter und kniff seinem Sohn in die Wange; ignorierte das tiefe Grollen, das dem Jungen entwich. „Vielleicht hast du ein wenig zu viel auf den Rippen.“

Kaito schnappte nach seinem Finger, doch sein Vater zog ihn viel zu schnell zurück. „Langsam und hungrig“, erwiderte Inuyasha leichthin. „Ich sehe einen Zusammenhang.“

„Komm schon, geh runter!“, Kaito wand sich unter ihm, erntete jedoch nur ein müdes Lächeln, bevor sein Vater wieder ernster wurde, sich erhob und ihm aufhalf.

„Woher wusstest du, dass es ein Gashadokuro ist?“, fragte Kaito schließlich und schlug sich einigen groben Dreck von der Hose, ehe er sein Katana einsammelte.

„Hm?“

„Du sagtest, du rechnest mit etwas, das ebenso wenig lebendig ist wie Drachenleichen.“

„Ach so, das“, Inuyasha schleifte einen Mittelhandknochen mit sich und schulterte ihn. Das im Zerfall begriffene Skelettstück wog etwa so viel wie ein kleiner Baumstamm und würde den Weg bis zum Dorf lange genug überstehen, um als Beweis für ihre Arbeit zu dienen. Wie üblich den obligatorischen Kopf abzuliefern, wollte sich Inuyasha bei den gegebenen Ausmaßen lieber nicht aufhalsen. „Du hattest recht, dass man eine gewisse Größe benötigt, um die Bauern so zuzurichten. Normale Dämonen dieses Umfangs würde man aber sehen. Mit Miroku habe ich schon vor Jahren einen Gashadokuro weiter im Osten erledigt. Sie sind verflucht leise für ihre Größe und tauchen erst kurz vor dem Angriff auf. Wir vermuten, dass sie bis zu einem gewissen Grad unsichtbar werden oder mit irgendeiner Art von Barriere arbeiten.“ Er deutete über die Schulter hinweg ins Tal. „Außerdem ist die Senke gerodet. War sicher mal ein Schlachtfeld und diese Dinger setzen sich gern aus tausenden Skeletten von Menschen zusammen, die bei Krieg und Hunger gestorben sind.“

„Wundert mich, dass es dann nicht viel mehr von ihnen gibt“, murmelte Kaito und schloss zu seinem Vater auf. Der Kampf gegen dieses Monstrum war nicht sonderlich schwierig verlaufen, wenngleich es einer dieser Gegner gewesen war, bei dem man sich ohne Ausweichmanöver nur allzu schnell zerschmettert am Boden wiedergefunden hätte. Aber alles in allem war dieser Knochenhaufen schlicht zu behäbig und unkoordiniert, um ihnen gefährlich zu werden. Hatte dauernd ins Leere geschlagen, während man seine nächste Bewegung längst erahnen konnte und war Tessaiga, das unbeirrt einen Knochen nach dem anderen zerschmettert hatte, schutzlos ausgeliefert gewesen. Das dämonische Glimmen der Augenhöhlen war erloschen und die Knochen als gewaltige Überbleibsel vergangenen Lebens zum Erliegen gekommen. Nichts Spektakuläres.

Die Abschlussverhandlungen im Dorf verliefen ruhig. Durch Mirokus Abwesenheit übernahm gezwungenermaßen Inuyasha die Verhandlungen und ging dabei deutlich weniger unverschämt vor als der Mönch, was darauf hinauslief, dass sie die vereinbarte Bezahlung nur unwesentlich nach oben drückten, wenn falsche Angaben vorlagen oder schlicht einstrichen, was ausgemacht gewesen war – in Mirokus Augen ein absoluter Frevel. Andererseits brauchten sie durch die reduzierte Gruppengröße mit ihrem Lohn nur eine Familie zu versorgen und mussten nicht wie üblich zwei vom selben Preisgeld durchfüttern. Inuyasha war außerdem dazu übergegangen, sich in leicht transportierbaren Gütern bezahlen zu lassen: Tägliche Verpflegung und Wertgegenstände wie Gold und Schmuck waren ihm lieber als die sperrigen Vorratsbehälter voller Reis, die sie sonst auf Mirokus Wagen geladen hatten. Umso erstaunter war Kaito, als er an diesem späten Nachmittag im Austausch gegen den gewaltigen Knochen – der in der Dorfbevölkerung für einigen Aufruhr sorgte – zwei Körbe Reis angenommen und ihm schließlich einen davon in die Arme gedrückt hatte.

„Wir machen uns auf den Rückweg“, antwortete Inuyasha auf die ungestellte Frage, die sich auf dem Gesicht seines Sohnes abzeichnete, als sie das Dorf verlassen hatten. „Nicht für lange. Aber deine Mutter und die Mädchen können schlecht von dem Leben, was wir so mit uns herumschleppen – und ich könnte gut mal wieder ein, zwei ruhige Nächte im eigenen Bett vertragen.“

Er gähnte ungeniert, während er die Schultern kreisen ließ, um sie zu lockern: „Ich hoffe, das freut dich etwas.“

Kaito blieb lange still und als Inuyasha sich zu ihm wandte, ahnte er, dass er damit erneut das falsche Thema angesprochen hatte. Laut seufzend ging er näher an seinen Sohn heran und schlug ihm, etwas behindert durch den Korb, der unter seinem Arm klemmte, auf die Schulter. „Nun mach nicht wieder so ein Gesicht. Sie werden sich freuen, wenn wir wieder da sind.“

„Wer?“, schnappte Kaito. „Mama und die Mädchen? Ja. Der Rest? Wohl kaum.“

„Kaito -“

„Nein. Weißt du, wie es mich ankotzt, wie sie mich ansehen? Erst die Zwillinge und nun werden es immer mehr. Ihr haltet mich doch auch für gefährlich. Was soll ich da noch sagen? Sobald ich Zuhause bin, geht das wieder los. Ich finde es unerträglich, dass ich für diese dämlichen Kühe aus dem Dorf gejagt worden bin, aber jetzt für ein paar Tage zurückzugehen, klingt nicht unbedingt besser.“

Inuyasha brummte schlecht gelaunt: „Niemand hat dich verjagt. Und außerdem: Außerhalb oder innerhalb des Dorfes – viel andere Möglichkeiten werden dir wohl nicht bleiben.“

„Nein, eben! Das ist ja der Scheiß!“, gereizt bohrte er seine Klauen in die feinen Bambusverflechtungen des Korbes. „Und tu nicht so, als seist du mit mir weggegangen, weil du es als die beste Lösung für mich angesehen hast!“

„Es war die beste Lösung für alle.“

„Vor allem für Miroku und Sango, nicht wahr? Für sie und ihre Brut.“

„Du bist nicht gerecht.“

„Ich bin ein unkalkulierbares Risiko für die heile, heile Dorfgemeinschaft und zumindest zum Teil ein blutrünstiges Ungeheuer – gerecht zu sein stand nicht in den Anforderungen.“

Der Schlag, der ihn daraufhin am Hinterkopf traf, kam so unvorbereitet, dass Kaito für einen Moment tatsächlich die Worte fehlten.

„Du bist kein Ungeheuer“, fuhr sein Vater ihn wütend an, „und du wirst diesem Gerede nicht Kleinbei geben! Glaubst du, mir sei es egal, dass die Mädchen, die ich von der Wiege an mit großgezogen habe, alles, was ich in den letzten Jahren als 'Familie' bezeichnet hätte, mit Füßen treten?“ Er schnaubte. „Ich weiß nicht, woher die Gören diesen Unsinn haben, nur dass ihre Eltern die Meinung nicht teilen. Wenn sie ihre Brut nicht in den Griff bekommen, ist das nicht mein Problem. Es sind ihre Kinder und sie sind in erster Linie ihnen verpflichtet – so wie ich euch. Ganz davon abgesehen, dass ich finde, dass du im recht bist – aber wehe du sagst deiner Mutter, dass ich das gesagt habe. Sie wird mir das Fell abziehen, wenn ich dir noch Rückendeckung gebe.“

„Du... was!?“

Inuyasha warf ihm einen vielsagenden Blick zu. „Dachtest du wirklich, ich klatsche ihnen Beifall, wenn sie euch so behandeln? Menschen und Dämonen – ich habe oft genug gesagt, dass wir zwischen beiden keinen Platz finden werden. Wir haben nur uns. Und dass ich aus 'uns' nun Mirokus Familie ausschließen muss, ist nicht gerade angenehm, aber notwendig. Deine Mutter hat den Schluss noch nicht gezogen. Sie weiß nicht, wie es ist, wenn man als Person zweiter oder dritter Klasse behandelt und für alles verantwortlich gemacht wird, das irgendwie schief läuft. Für sie ist die Lage noch zu retten und alles eine Frage von Verständigung. Ich sage dir aus eigener Erfahrung: Da ist nichts zu machen. Mit Miroku und Sango – ja, da kann alles wieder zum Alten kommen. Aber wer sich einmal in den Kopf gesetzt hat, dass du ein Unheil für die Welt bist, wird davon nicht mehr ablassen. Gewöhn' dich an den Gedanken, dass die Zwillinge dir nie wieder freundlich begegnen werden – und daran sie zu ignorieren.“

Kaito starrte seinen Vater mit offener Verwunderung an: „Aber warum sind wir dann gegangen, wenn du ihnen nicht nachgeben willst?“

Inuyasha ließ die Klauen der Linken in einem nachdenklichen Trippeln auf den Korb niederfahren. „Ich dachte, es würde dir helfen auf andere Gedanken zu kommen und dich davon abhalten, diese Gören in Stücke zu reißen. Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass das keine Schwierigkeit für dich darstellen würde – nicht körperlich. Aber könntest du nachher damit leben, sie schwer verletzt oder ermordet zu haben? Sie provozieren es und verdienen eine Abreibung – aber nicht von dir, hast du verstanden? Du würdest damit nicht zurechtkommen und sie auch noch in ihrer Dummheit bestätigen. Wenn sich herumspricht, dass du Menschen angreifst – auch noch befreundete Menschen... glaub mir, Kaito, das ist kein Spaß. So werden wir geduldet. Aber wenn du kein Dorf mehr betreten kannst, ohne dass sie ein Kopfgeld auf dich aussetzen, bleibt dir keine Zuflucht und keine Heimat mehr. Yōkai können so leben. Sie tun es ständig. Aber wir? Ich glaube nicht, dass das etwas für dich ist. Also lass diese Ziegen tun, was sie wollen. Sie werden es sich irgendwann mit den falschen Leuten verscherzen – und so wie ich das sehe, wird das nicht einmal mehr lange dauern. Aber dann wäschst du deine Hände gefälligst in Unschuld.“

„Ich wünsche ihnen einiges an den Hals. Aber tot sehen will ich sie nicht“, versicherte Kaito.

„Dachte ich mir.“ Inuyasha zuckte kurz mit den Ohren in Richtung eines Waldes, der die breite Straße säumte, und wandte den Kopf, ehe er beschloss, dass es sich lediglich um eine Gruppe Kaninchen handelte, die irgendwo im Unterholz Schutz suchte. „Ignorier' sie einfach.“

„Einfach?“ Kaito klang wenig überzeugt. Es war nicht gerade seine Stärke, Provokationen zu überhören. Insbesondere dann, wenn man sie unmittelbar an ihn herantrug.

Inuyasha fing seinen zweifelnden Blick auf und warf bockig den Kopf zurück: „Keh! Selbst der halbwüchsige Pinscher von Sesshōmaru - wie auch immer er hieß -“

„Minoru.“

„Ja, irgendwie sowas – selbst dieser arrogante Wicht lässt sich nicht vom falschen Satz aufheizen.“

Kaito verzog das Gesicht zu einer schwer definierbaren Fratze, irgendwo zwischen Unglauben und Abscheu: „Du bringt den als Musterbeispiel an? Wirklich?“

Inuyasha brummte leise und kratzte sich mit der freien Hand verzweifelt im Nacken: „Ich möchte mir auch gerade die Zunge 'rausreißen... . Aber wo wir dabei sind: Ich weiß zwar immer noch nicht, warum dieser Bengel sich so für dich eingesetzt hat, aber ich rate dir jetzt im Guten, Kaito: Halte dich fern von ihnen. Inuyōkai stecken zu tief in allerlei Fehden. Wie viele Dämonen ich schon töten musste, nur weil mein Vater in grauer Vorzeit irgendeinen Streit mit ihnen hatte – man zählt zu schnell nicht mehr mit. Ich will nicht, dass man meine Kinder auch in Dinge hineinzieht, die mit euch nichts zu tun haben.“

„Andere scheinen bereits überzeugt, dass wir bis zum Hals drinstecken“, warf Kaito ein und sein Vater wandte sich gereizt zu ihm um, das Weiß seiner Fangzähne blitzend, als er sie bleckte. „Rin und ihr dummes Gerede von Einheit und Zusammenhalt. Als bedeuteten diese Worte einem Yōkai auch nur das Geringste!“

„Ich meine nicht unbedingt Rin. Wenn es nach den Drachen geht, kommt es nicht darauf an, wie viel Inu wir sind. Sie wollten uns gleichermaßen ans Leder.“

Inuyashas Miene verfinsterte sich sichtlich. „Drachen, mein Lieber“, meinte er trocken, „haben ohnehin 'n Schaden. Echsen im Allgemeinen und Drachen im Besonderen.“
 

Auf dem Rückweg zum Palast ließ Minoru sich bewusst Zeit. Die Sonne hatte während seines Besuches bei Yūsei ausreichend an Höhe gewonnen, um auch die letzten Schwaden des morgendlichen Nebels aus den Straßen zu vertreiben. Bedächtig strich sie über die Dächer, ließ das Stroh in einem milden Farbton aufleuchten und erwärmte die Steine, bis sie feinen Dunst in die kühle Luft entsandten.

Minoru steckte die Hände in die ausfallenden Ärmel und ließ die messerscharfen Klauen auf den Unterarmen ruhen, als er einen Blick zurückwarf. Die Straße, die vor wenigen Wochen noch wie eine zart rosafarbene Schlange ihren Weg vom Haupttor zum Palast emporgezogen hatte, war von einem satten Grün der Blätter gesäumt und über alle Wehrkreise verteilt wandten sich nun die Magnolien mit ihren Blüten dem nahenden Sommer zu.

Irgendwo durchbrach ein Schmied mit seinem Hammer die Stille und sobald man darauf achtete, war die ganze Stadt von Stimmen erfüllt.

Nahe der Ostmauer weinte ein Kleinkind, während die etwas älteren sich zwischen den Gassen der Häuser umher hetzten und die streunenden Hunde einstweilen ihre Missbilligung mit einem leisen Schnauben kundtaten oder ihre Welpen den Kindern munter nachjagten. Von den Sandplätzen des Honmaru drang stählernes Klirren und eine Gruppe von Frauen, die die Wäsche in einem Innenhof über die Leinen warf, fluchte verhalten über das unmögliche Verhalten mancher Männer.

„Stimmt etwas nicht, Minoru-sama?“, erkundigte sich Myōga vorsichtig, ein wenig verwundert darüber, dass er scheinbar grundlos innegehalten hatte. Doch der Junge schüttelte den Kopf: „Es ist nichts.“ Absolut nichts.

Inu. Wenn er an Takerus Worte zurückdachte, an Nobus Äußerungen oder die tiefe Abscheu, die seine Mutter gegenüber dem kriegerischen Westen empfunden haben mochte, so schienen sie in Anbetracht dieser Eindrücke ferner von der Realität entfernt als er je geahnt hatte. Ja, sie legten viel Wert auf ihre militärische Stärke und Organisation, zogen mit einer Selbstverständlichkeit in den Kampf, dass es furchtsameren Völkern wohl Achtung wie Verwunderung abringen mochte und sicherlich waren sie auch schneller dazu bereit, das Schwert zu ziehen, als solche, die Konflikte zunächst mit Worten zu lösen suchten. Dennoch... wenn man diesen Morgen bedachte, der dahinflog wie tausende andere vor ihm, schien der Alltag nichts weiter als Alltag zu sein. Nicht mehr und nicht weniger von Stolz, Reizbarkeit und Kriegeswillen durchzogen als jeder andere Ort des Landes, den er bisher, wenn auch oft nur von Weitem, betrachtet hatte. Im Vergleich zu der angespannten Situation in Musashi schien es Minoru friedlich – und nicht einmal der fremde Geruch, den das Gefolge seiner Großmutter so schamlos verbreitete, vermochte etwas daran zu ändern. Wenn er darüber nachdachte, dass sie nach all dem Durcheinander wieder hier waren, stellte sich eine gewisse Erleichterung ein. Zurück im Westen. Vielleicht würde er sich eines Tages daran gewöhnen können. Irgendwann.

Er wandte sich wieder bergan und schritt unter dem dichten Blattwerk des Weges entlang. Es mochte friedlich sein, aber die Schatten, die einige Ereignisse warfen, lagen dennoch über allem. Selbst Yūsei gab sich betroffen über die Intrigen, die anderenorts gewoben wurden und hatte dabei ähnliche Worte gefunden wie einst Nobu. Kriege durch Schein und Trug zu gewinnen war Wölfen wie Hunden zuwider und auch Kinder in die Angelegenheiten von Erwachsenen einzubeziehen stieß nicht auf allgemeine Anerkennung legitimer Taktik. Dennoch fürchtete jeder darum, selbst an diesen verwundbaren Stellen getroffen zu werden. Und wie sollte Minoru es abstreiten? Auch mit dem neuen Maß an Yōki, das ihm zur Verfügung stand und den lächerlich wenigen Grundlagen, die er von Nobu und Ryouichi gelernt hatte, wäre er im Ernstfall nicht in der Lage, sich gegen wahre Feinde zur Wehr zu setzen. Feinde, die im Speziellen nach seinem Leben trachteten und nicht etwa darauf abzielten, irgendeinem dahergelaufenen Jungen den Tag zu verkürzen. Es gab einen Unterschied darin gejagt zu werden oder Ziel zu sein.

Doch so sehr die eine Fraktion das Verhalten der anderen auch verurteilte – ändern würde es nichts.

Der Fürst tat wohl daran, die Leute genau auszusuchen, mit denen Minoru zusammentraf und er würde sich in dieser Hinsicht gern auf die Einschätzungen seines Vaters verlassen. Doch darüber hinaus blieb vieles unklar. Yūseis Reaktion auf eine einfache, direkte Frage war so offensichtlich ausweichend gewesen, dass es an Lächerlichkeit grenzte. Er war ein in Krieg und Leben erfahrener Mann. Es sah solchen Personen nicht gerade ähnlich, Regungen deutlich nach außen zu tragen. Dennoch hatte Minoru sich mit der ausweichenden Antwort augenscheinlich abgefunden – und auch wenn Yūsei sicherlich zu gerissen war, um nicht zu bemerken, dass Minoru mit der Aussage alles andere als zufriedengestellt gewesen war, hatte er bereitwillig ein völlig anderes Thema aufgegriffen, das Minoru ihm als Ausweg vor die Füße geworfen hatte. Ganz als sei er beruhigt genug, dass er keine weiteren Erklärungen von ihm einfordere. Gerne von anderen, aber bloß nicht von ihm. So hatten sie sich in seine Arbeit geflüchtet. Nutzen und Unnutzen ausladender Ärmel, die ideale Länge eines Obis und die Möglichkeit, Muster in die Textilien einzuarbeiten. Zugegeben, die Vorgänge an sich hätten Minoru auch im Detail interessiert, aber es gab Wichtigeres als die Feinheiten der Yuzen-Technik zum Färben von Stoffen.

„Du weißt, dass das nun an dir hängen bleibt, nicht wahr?“

Myōga blinzelte, dann verschränkte er erbost die Arme. „Jeder Blinde hätte bemerkt, dass Ihr dieses Thema nicht so einfach fallen lassen würdet.“

Minoru lächelte schmal. „Warum dann so bockig?“

„Ich hatte gehofft, Ihr lasst Eure neuerliche Neugierde an jemand anderem aus! Ihr seid derjenige, der glaubt, dass nur das Jetzt zähle. Wenn Ihr wissen wollt, was früher geschehen ist, könnt Ihr auch gleich zu Eurem Vater marschieren und Euch nach dieser Zukunfts-Orakelei erkundigen.“

„Sei nicht albern, Myōga. Du berichtest sonst so freizügig über alles Erdenkliche – sei doch froh, dass ich mal genauer nachhake.“

Der Floh schnaubte: „Wenn Ihr Eure Nase dabei jedes Mal in derartige Dinge steckt, die Euch im Grunde nichts angehen, würde ich vorschlagen, Ihr kehrt zu Eurem gewöhnlichen Verhalten zurück und lauscht schweigend!“

Minoru hielt inne und betrachtete den zeternden Floh amüsiert. „Es interessiert mich.“

Er bemerkte, wie Myōga das Gesicht verzog. In Wahrheit hätte es Minoru keinen Deut gekümmert, worauf dieses Vertrauen nun beruhen mochte, wenn sie nicht alle so einen Wind um die Sache gemacht hätten. Aber unter den Umständen erschien es sinnvoller, zu wissen, zwischen welchen Positionen man stand. Ryouichi hatte ihm einen guten Rat mit auf den Weg geben wollen, als er ihm angeraten hatte, Fragen an vertrauenswürdige Personen zu stellen – auch wenn er damit sicherlich etwas anderes gemeint hatte. Auslegungssache.

„Myōga.“

Mit einem Seufzen gab sich der Flohgeist geschlagen. „Es ist keine schöne Zeit nach der Ihr fragt“, murmelte er.

„Ich verspreche, beim nächsten Mal nach angenehmeren Dingen zu fragen“, sagte Minoru leichthin und glaubte, bei seinem Berater einen Anflug von Aufmüpfigkeit festzustellen. Wäre er tausend Jahre jünger gewesen, hätte er ihm nun sicher die Zunge herausgestreckt. So war es unter seiner Würde.

„Ryouichi kam vor etwa fünfhundert Jahren an den Hof. Mein Herr hat ihn in den Westen gebracht, um ihn mit Eurem Vater aufwachsen zu lassen. Sie wurden Yūsei, damals noch Generalleutnant, unterstellt, um eine fundierte, gemeinsame Ausbildung zu erhalten. Ich... nun ja, ich möchte mit aller gebührender Zurückhaltung behaupten, dass es... hilfreich war, Daisuke am Hof zu haben. Das Leben als Sohn des Taishōs ist einsam. Bedauerlicherweise. Insbesondere, wenn die Zeiten es nur den Wenigsten erlauben, eine Familie zu gründen – und selbst mit ausreichend Altersgenossen wird sich selten jemand auf Augenhöhe finden lassen. Jemand, der in der Lage ist, ein Freund zu sein, jemand, der Widerworte gibt. Daisuke war so jemand. Er stammt von einer Insel weit jenseits der Küste und ist unter unzähligen Geschwistern aufgewachsen. Er wusste, mit anderen umzugehen – Euer Vater nicht. Aber Widerworte am Hof waren nicht gewünscht.“

„Mein Vater?“, riet Minoru, der sich kaum vorstellen konnte, wie der Fürst Kritik seelenruhig hinnahm.

„Oh nein“, Myōga klang mit einem Mal traurig. „Daisuke war niemand, den man hassen konnte, wenn er einem in die Parade fuhr, den morgendlichen Trainingskampf gewann oder irgendeinen Unsinn ausheckte – und nur Yūsei weiß, was er wirklich alles angestellt hat. Wider Erwarten hat Euer Vater ihm hin und wieder Gehör geschenkt und das allein war schon Wunder genug. Anderen hat das jedoch nicht gefallen. Inuyōkai, besonders die älteren Generationen, sind zähe, harte Biester – entschuldigt den Wortlaut. Sie hatten die Hoffnung ihrer zukünftigen Feldzüge in den Sohn gesetzt. Wo Euer Großvater umsichtig und manchmal sogar mild war, war Euer Vater stets kalt und verließ sich allein auf sein Kalkül. Sesshōmaru-sama hatte Ambitionen, die seinem Vater fremd waren und was der Vater in seinem Sohn abzumildern suchte, war anderen nur allzu recht. Für sie war Daisuke eine Bedrohung. Er hätte den Aufstieg ihres Kriegsherren verderben können, versteht Ihr?“

Minoru wurde mit einem Mal erstaunlich schlecht. Die Abneigung, die er gegen einen Rat zu empfinden begann, dessen Mitglieder längst verwest sein mochten, ließ sich schwer in Worte fassen. Er kannte seinen Vater noch nicht lange und was er bisher erlebt hatte, ließ ihn einen Mann sehen, der ihm im Verhalten ähnlicher war als alle anderen Personen, die er in seinem kurzen Leben getroffen hatte. Er hielt sich ebenso wenig mit vielen Worten auf, mied Nähe, wie Wölfe sie zuweilen schätzten, und legte Wert darauf, seine Belange für sich zu behalten. Allem Hörensagen nach war er ein expansiver Fürst ohne störende Skrupel, auch wenn er ihn so noch nicht erlebt hatte.

Minoru verfuhr in vielen Situationen ähnlich, insbesondere mit Fremden, doch wäre ihm bei Takeru niemals eingefallen seine Neckereien unbeantwortet zu lassen oder die Freundlichkeit von Nobu auch dann noch mit eisiger Kälte zu beantworten, wenn er sich ihrer Ehrlichkeit sicher war. Seinen Vater jedoch hatte er nie lächeln sehen. Er war stets gefasst, ernst und schien sich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen – wenn man davon absah, dass er es offensichtlich nicht leiden konnte, wenn man sich ohne Erlaubnis durch die Wälder schlich und dabei nähere Verwandtschaft anschleppte. Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in Minoru aus, so als verstehe er eine bittere Wahrheit zum ersten Mal, deren Hinterfragen er sich gar nicht bewusst gewesen war. Er mochte seinem Vater ähnlich sein, aber es gab einen Abgrund, den keiner von ihnen jemals wirklich überwinden können würde – und auf eine unerwartete Weise schmerzte das. Er schauderte besinnend und Myōga sah besorgt zu ihm auf. „Ist alles in Ordnung?“

„Ja“, gab er gefasst zurück. „Ich höre zu.“

„Es ist nicht die Aufgabe des Rates, sich in die Belange der fürstlichen Familie einzumischen. Lagebesprechungen, Kriegsräte, Diplomatie und das Zusammenhalten eines gewachsenen Volkes, das über den ganzen Westen verstreut lebt – das ist von hoher Bedeutung. Dennoch können Worte vieles vernichten. Daisuke zog sich allmählich von Eurem Vater zurück. Warum kann ich nicht genau sagen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es aus böswilligen Gründen geschah. Sie haben sich auseinandergelebt und auch wenn Daisuke am Hof blieb, so nahm er sein Training mit den übrigen Soldaten auf und mied Euren Vater. Ich weiß nicht, ob es ihn gestört hat. Es ist nicht einfach, den Fürsten zu verstehen und zu lesen. Es wäre möglich, dass es ihm gleichgültig war.“

Oder auch nicht. Minorus Ausdruck verfinsterte sich. „Was für Worte?“

Myōga schluckte und versuchte die seinen möglichst geschickt zurechtzulegen, bevor er antwortete: „Die Inu der Inseln haben andere Gebräuche, pflegen einen anderen Umgang. Es gab Gerüchte, dass Daisuke Euren Vater auf unangemessen vertraute Weise behandle. Dass er versuche ihn zu beeinflussen und ihm näher stehe, als es schicklich wäre. Ich weiß nicht, wie ich es formulieren soll -“

„Danke, ich weiß sehr wohl, was du meinst“, unterbrach Minoru seine Formulierungsprobleme.

„Ich halte es für Unsinn“, sagte Myōga ernst. „Ebenso wie mein Herr. Diese alten Hunde konnten Daisuke in der Nähe ihres vielversprechenden Fürstensohnes nicht ertragen. Um diese Bedrohung möglichst unauffällig zu beseitigen, kann man jede falsche Bewegung instrumentalisieren. Was Jahre darauf folgte war ein schwarzer Tag für uns alle. Es gibt keine Aufzeichnungen, in denen die Drachen nicht mit den Inu verfeindet waren und vermutlich keine Geschichte für Kinder, in denen es nicht diese schuppigen Echsen sind, die Säuglinge fressen, mutige Männer zerreißen und ihre Frauen schänden. Mein Herr war ein erhabener Mann, großmütig und stolz. Er besaß die seltene Gabe, zuzuhören ohne die Hand gleich an die Waffe zu legen – auch wenn er davon reichlich hatte. Als die Drachen kamen und einen Frieden vorschlugen, war er bereit, dem eine Chance zu geben. Sie verlangten einen Austausch von Geiseln, um den Pakt zu sichern und brachten einen kräftigen, jungen Mann gleich mit. Hübsch anzusehen und von hoher Geburt. Höchstselbst aus dem Nest von niemand geringerem als Shisuna, dem Bruder Ryūkotsuseis persönlich. Der Gegenwert, den sie damit forderten, war mehr als offenkundig.“ Myōga seufzte und rückte sich müde in Minorus Kleidung zurecht. „Sie wollten keinen Frieden. Sie wollten Euren Vater. Es war nicht einfach an ihn heranzukommen und mein Herr hätte die Angelegenheit nicht mehr ohne Weiteres begraben können. Ein bereits offen begrüßtes Friedensangebot unter den Umständen wieder auszuschlagen, wäre ein fataler Zug gewesen. Jeder im Saal, der auch nur den Verstand eines Esels besaß, wusste, dass es eine Falle war. Wohl ausgelegt und ohne politischen Eklat nicht lösbar.“

Minoru wurde mit einem Mal eiskalt, als er ahnte, worauf das hinauslief.

„Daisuke hat jedwede Diskussion im Keim erstickt, ist vorgetreten und hat gesagt, er sei der Sohn von Arashi, Anführer der Inuyōkai von Sado, und es wäre ihm eine Ehre, sich als Pfand freiwillig für den Frieden zu melden. Den Gesandten blieb nichts weiter übrig, als das Angebot anzunehmen, wenn sie nicht auf der Stelle einen Krieg entfachen wollten, bei dem ihre Köpfe als erste gefallen wären. Sie haben Daisuke spüren lassen, dass er ihnen in die Parade gefahren ist. Sie töteten ihr Mündel in unserer Obhut – entweder das oder der Junge hat sich selbst umgebracht. Dann erklärten sie meinem Herrn den Krieg. Wir haben gewonnen, doch was wir von Daisuke in den Höhlen im Osten gefunden haben, war selbst durch Tenseiga kaum noch zu retten. Er hat jahrelang kein einziges Wort gesprochen und Euren Vater angesehen, als sei er ein Fremder oder Schlimmeres. Später wurde seine Passivität zu Unberechenbarkeit. Mal war er ruhig, dann legte er ganze Räume in Schutt und Asche und man konnte froh sein, wenn man rechtzeitig vor den einstürzenden Decken fliehen konnte. Yūsei hatte seinen Posten aufgrund der Verletzung, die ihm letztlich sein Bein gekostet hat, niederlegen müssen, und nahm den Jungen bei sich auf. Hat ihn einigermaßen wieder in gesunde Bahnen gelenkt bekommen. Nach dem Tod meines Meisters und seines neuen Generalleutnants wurde Euer Vater Taishō und er wählte ohne Umschweife Daisuke zu seiner rechten Hand, der sich zu der Zeit längst Ryouichi nannte. Ein grausamer Name, wenn Ihr mich fragt... es ausgerechnet an Drachen anzulehnen. Ich weiß nicht, wer darauf kam, ihn so zu nennen und warum er irgendwann nur noch darauf reagierte, aber das war nicht mehr zu ändern. Daisuke ist tot. Daran konnte auch Tenseiga nichts ändern. Was wir zurückbekommen haben ist ein mittlerweile nicht mehr ganz so seelenloser Abklatsch seiner selbst. Aber für Euren Vater wird es vermutlich niemanden geben, der sich sein Vertrauen mehr verdient hat.“

„Aber das ergibt doch keinen Sinn. Warum tun sich alle so schwer, darüber zu sprechen? Ryouichi stellt sich selbst außen vor, wenn er aufzählt, wem mein Vater vertraut, obwohl es offensichtlich ist, dass er zu diesem Kreis gehört und Yūsei hat so getan, als habe ich ihn gebeten, mir zu erklären, woraus Kinder gemacht werden.“

Myōga nestelte nachdenklich an seinem winzigen, olivgrünen Yukata herum und atmete innerlich erleichtert auf, dass ihm zumindest diese Unterhaltung erspart bleiben würde.

„Nun... da kann ich auch nur raten – zumal Ryouichi ohnehin schwer einzuschätzen ist. Aber da er auch seinen Namen abgelegt hat, wäre es denkbar, dass er diese Ereignisse als einem früheren Leben zugehörig betrachtet. Ich war nicht dabei, als Sesshōmaru-sama ihn zum Generalleutnant erhoben hat, aber dem Hörensagen nach, war er überrascht und auch verunsichert, als die Wahl auf ihn fiel. Es muss zu Beginn große Wellen geschlagen haben, dass Euer Vater ausgerechnet einem Inu den Posten angetragen hat, der sich in den vorangegangenen Jahrhunderten eher dadurch ausgezeichnet hatte, die Festung in ihre Einzelteile zu zerlegen, wenn er die Fassung verlor. Aber in den fast zweihundert Jahren, in denen Euer Vater durch die Lande reiste, stand die Festung allein unter der Führung des Generalleutnants. Problemlos. Selbst die Ratsversammlungen hat er teilweise geleitet.“

Minoru bleckte die Zähne, stieß jedoch lediglich ein knappes Schnauben aus: „Hätte ich in dem Moment seine Möglichkeiten besessen, wäre der Rat vermutlich um einige Köpfe ärmer gewesen. Lebt noch einer dieser alten Säcke?“

Myōga zuckte bei der Wortwahl zusammen, fing sich aber recht schnell. „Ein oder zwei, schätze ich. Mein letztes Zusammentreffen ist lange her. Eine solche Reaktion liegt dem Generalleutnant jedoch fern. Er verwaltet lediglich. Ob einer seinen Kopf verliert, obliegt allein dem Taishō.“

Ein sanftes Lächeln huschte über Minorus Züge und scheuchte Myōga ein Schaudern über den Rücken. „Junger Herr, was Euch dieser kleine Einblick in die Vergangenheit jedoch vor allem verdeutlichen sollte: Auch wenn die Entscheidungsgewalt allein bei Eurem Vater liegt, wird der Rat nicht unbedeutend sein. Sesshōmaru-sama ist nicht sein Vater und wird im Ernstfall vermutlich konsequenter durchgreifen, als mein Herr es getan hat, aber ihr tätet wohl daran, diese Leute von Beginn an im Auge zu behalten und gegen eventuelle Manöver gefeit zu sein.“

„Das Schlimmste vom Anderen erwarten?“, hakte Minoru nach. „Keine Sorge, Myōga, das kann ich.“

„Daran habe ich keine Sekunde gezweifelt“, murrte der Flohgeist leise. „Bitte beherzigt das.“

„Ich weiß deine Sorge zu schätzen.“

Dieses Mal war es der Floh, der verächtlich schnaubte, doch Minoru schüttelte den Kopf: „Es ist mein Ernst. Ich mag dir vorkommen wie ein taubes, störrisches Kind, das nichts auf deine Warnungen und Worte gibt, aber das ist nicht wahr. Gestern Abend habe ich versucht, mich zurückzunehmen, den Mund zu halten und meine Großmutter respektvoll zu behandeln. Vorwiegend, indem ich ihr möglichst wenig zugehört habe. Aber ich kann nicht jede Beleidigung und Anfeindung überhören – und irgendwann hatte ich das Gefühl, dass wenn ich weiter schwiege, ich dastünde wie ein rückgratloses, scheues Kind. Das bin ich nicht. Schon lange nicht mehr. Und ich werde hier nicht mit einem Verhalten beginnen, das mich an mir selbst immer angewidert hat.“

Als ihm eine Schar von Hofdamen auf der Straße entgegenkam, verstummte Minoru, sobald sie in Hörweite waren und ging an ihnen vorüber, ohne auch nur eine Miene zu verziehen, während sie ihm zu beiden Seiten des Weges auswichen und sich tief vor ihm verneigten. Als sie ihn für weit genug entfernt hielten, tuschelten sie leise miteinander und Minoru wartete, bis er sie nicht mehr hören konnte, bevor er sich wieder an Myōga wandte. „Es ist beruhigend, einen Floh im Ohr zu haben, der all das hier seit Jahrtausenden kennt. Ich bin dankbar für deine Hilfe und beherzige deinen Rat, auch wenn ich nicht alles davon umsetze.“

Eine ganze Weile war von Myōga nichts zu hören. Als Minoru sich ein wenig verwundert zu ihm umwandte, schniefte der kleine Dämon durchdringend und strich sich eine dicke Träne aus den Augen.

„Was zur – hör auf damit!“

„Junger Herr...“

Völlig irritiert war Minoru stehen geblieben und starrte ihn an, indes der Floh sich auf seiner Schulter vor ihm verneigte, die Stirn an die weiße Seide seines Kimonos presste und unter Tränen leise Beteuerungen seiner Treue hauchte.

Minorus Nackenhaare hatten sich währenddessen aufgerichtet, schließlich atmete er jedoch durch . „Ich weiß deine Treue zu schätzen“, meinte er ruhig, bevor sich ein gehässiger Zug in seine Mimik schlich. „Dann können wir ja nun zum Mittagessen gehen.“

Myōga riss urplötzlich den Kopf hoch und sah Minoru mit großen Augen an. „Nun... natürlich. Ich bin stets an Eurer Seite... jedoch – ich muss noch.. ich finde Euch später!“

„Myōga!“

Doch der sprang bereits mit langen Sätzen über den geschotterten Vorplatz und verschwand als kaum sichtbarer Punkt zwischen dem niedrigen Rhododendronbüschen am Wegesrand. Geschlagen schüttelte Minoru den Kopf und streckte sich ausgiebig, bevor er in den Palast ging. Wie sollte er es Myōga übel nehmen? Hätte man ihm die Wahl gelassen, er hätte sich vermutlich auch in die Vegetation geflüchtet. Aber der Wille des Fürsten war nun einmal Gesetz.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Kerstin-san
2017-03-25T13:07:39+00:00 25.03.2017 14:07
Hallo,
 
erstmal danke für die kleine Rückblende zu Beginn des Kapitels :)
So gut gelaunt, hab ich Kaito bisher noch nie erlebt. ich finde es schön, dass sich die Beziehung zwischen ihm und Inuyasha so langsam wieder zu normalisieren scheint. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass der Streit mit Mirokus und Sangos Töchtern ihn immer noch so aufwühlt, aber überraschenderweise hat Inuyasha genau die richtigen Worte gefunden. Hätte nicht erwartet, dass er so ruhig bleiben kann, aber da merkt man eben auch, dass er sich in den vergangenen Jahren weiterentwickelt hat. Ist eigentlich schon mal thematisiert worden, warum die Zwillinge und auch ein Großteil des Dorfes so Probleme mit Kagomes und Inuyashas Kindern haben, aber nicht mit Inuyasha selbst, der ja immerhin mehr Dämon als seine Kinder ist?
 
Die Entwicklung, die Minoru durchgemacht hat, finde ich auch bemerkenswert. Er ist noch nicht allzu lange am Hof seines Vates, aber ich hab das Gefühl, dass er viel mehr nachdenkt und alles hinterfragt, weil immer dieses Damoklesschwert der Drachenangriffe über ihm zu schweben scheint. Die Einblicke, die Myoga dann liefert sind wirklich hart. Ich hab ja mit einigem gerechnet, was Ryouichi betrifft, aber ganz bestimmt nicht das... Er tut mir so leid, wer weiß, was er bei den Drachen bis zu seinem Tod durchmachen musste und was genau seinen Geist da zerrüttet hat. Vielleicht wollte er auch gar nicht mehr leben und ihm wäre es lieber gewesen, wenn Tenseiga nicht zum Einsatz gekommen wäre. Wer weiß das schon?
 
Aww und dann das Ende. Kein Wunder, dass Myouga so gerührt ist. In all den Jahren, in denen er schon in diesr Familie ist, möchte ich drauf wetten, dass er sowas vermutlich selten bis noch nie zu hören bekommen hat. Trotzdem musst eich dann herzlich lachen, als die Sprache auf das Mittagessen kan, haha, kein Wunder, dass er sich da gleich wieder aus dem Staub macht xD
 
Liebe Grüße
Kerstin (Helferlein der KomMission)
Antwort von:  Silberfrost
05.04.2017 21:56
Huhu!
Freut mich, dass dir die Rückblende geholfen hat. Die übrigen Kapitel sind auch beinahe alle damit versehen und ich hoffe, dass es allen das Lesen erleichtern kann.
Warum Inuyasha bisher nicht Ziel dieser Streitigkeiten war, ist nur extrem indirekt angesprochen worden und ich muss auch sagen, dass Saki und Mei auch nicht zu 100% konsequent und logisch agieren.
Inuyasha schützt das Dorf, das steht außer Frage und dem entgegen steht der Gedanke, dass Han'yô unweigerlich auch Dämonen anlocken. Ist bei eher schwachen Yôkai völlig uninteressant, aber bei Leuten, die zur Familie gehören, schon eine andere Sache.
Im Prinzip ist es aber sehr einfach: Sie sind missgestimmt und es liegt näher, Honoka den Floh ins Ohr zu setzen, als mit diesen grandiosen Gedanken zu Inuyasha zu marschieren - einem Erwachsenen. Wären sie da mutig, hätten sie es Kaito von Anfang an ins Gesicht sagen können. Außerdem hat ja alles super geklappt: Inuyasha ist mit Kaito allein unterwegs und sie können mit ihrem Vater los ohne sich offiziell in die Nähe von Dämonen zu rücken. Ich würde ihnen da nicht mal widersprechen, dass so eine Konstellation geschäftsschädigend sein kann. Die Frage ist nur, ob man das auf die Art klären muss.
Es wurde Zeit, dass Minoru mal den Kopf anschaltet, die Augen aufmacht und sich umschaut. Auch wenn diese Einblicke bitter sind. Ich möchte behaupten, dass er zumindest in den ersten Jahrzehnten wirklich lieber tot gewesen wäre. Drachen sind auf jeden Fall nicht die Lieblingsnachbarn...
Vielen Dank für deinen Kommentar!
Silberfrost

PS: Danke für den KomMission-Link! =)
Von:  Saynaya
2017-03-19T18:31:14+00:00 19.03.2017 19:31
ach wundervoll besonders der letzte Part <3
Antwort von:  Silberfrost
19.03.2017 20:51
Vielen Dank :)


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