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Einem fernen Tage

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Was bisher geschah...
Kōhei begleitet Saburō, dem aufgetragen wurde, Mitwisser der Verschwörung gegen den Westen aus dem Weg zu räumen (s. Kapitel 42). Die Inu führen Krieg gegen die Drachen und suchen nach Minoru. Komplett anzeigen

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die Ausweglosigkeit

Kōhei hatte die Reise in das Chūgoku-Gebirge etliche Male angetreten und selten länger als zwei Tage benötigt. Saburō schien sich jedoch in den Kopf gesetzt zu haben, die traute Zweisamkeit künstlich in die Länge zu ziehen und hatte sicherlich auch deswegen darauf bestanden, erneut die Pferde zu nehmen. Zwar waren die Tiere robust und schnell, wenn man sie nicht gerade im mäßigen Schritt durch die Landschaft trödeln ließ, doch gab es für versierte Kitsune deutlich effizientere Reisemöglichkeiten. Unauffälligere. Der amtierende Erbe des Südens verhielt sich jedoch, als befänden sie sich auf einem Freizeitausflug durch sein künftiges Reich, statt auf einem von seinem Vater angeordneten Mordauftrag. Er hielt bei nahezu jedem Menschendorf an und sprach mit den Bauern. Die warfen sich ein ums andere Mal bei seinem Anblick in den Staub. Natürlich sahen diese Narren nur, was Saburō sie glauben ließ: Einen stattlichen Mann mit dunklem, langen Zopf und dumpfen, braunen Augen, dessen schwarze Seidenkleider mehr Wert waren als all der Besitz, den die Landbevölkerung in einem kurzen, erbärmlichen Leben hätte anhäufen können.

Kōhei würdigte diese Würmer keines Blickes und ritt achtlos an ihnen vorüber. Er hasste Menschen, das war weithin bekannt, aber auch seine Abneigung kannte Abstufungen. Bauern mochten nicht so einfältig sein, wie man ihnen nachsagte und erinnerten sich zuweilen an die Warnungen, die ihre Großmütter ihnen noch in die Wiege geflüstert hatten – ganz im Gegensatz zu diesem überheblichen Adel. Der schien tatsächlich zu glauben, der Boden unter seinen Füßen sei aus irgendwelchen abstrusen Gründen sein Eigentum, sodass dessen Durchquerung Katzbuckeln und Stiefellecken einforderte. Wie ein balzender Gockel war ein junger Daimyō vor einer guten Stunde vor ihnen aufmarschiert – bewaffnet mit flatternden Bannern und flankiert von fünf Soldaten. Kōhei war bereits die Galle hochgekommen, noch bevor dieser Narr den Mund aufgemacht hatte. Doch er konnte unmöglich nach Belieben mit diesem Abschaum verfahren, solange der Kōtaishi anwesend war – und der hatte sich erst eine ganze Weile am protzigen Gebärden erfreut, ehe er Kōhei mit einem unheilvollen Lächeln gebeten hatte, ihnen den Weg freizuräumen. Was daraufhin geschehen war, erheiterte Saburō noch immer.

„Ihr habt Humor, Taishō. Wüsste ich nicht, dass Eure finstere Miene allein meiner Anwesenheit geschuldet ist, hätte ich Euch dieses Attribut längst abgesprochen.“

Mit zusammengebissenen Zähnen klopfte Kōhei seinem braunen Wallach den Hals. Das Weiße in den Augen des Tieres war immer noch deutlich zu sehen. Er mochte an die Anwesenheit von Dämonen gewöhnt sein, doch aufschlagendes Yōki und Fuchsfeuer in Form eines Hahnes, groß wie drei Männer, mit denen er die Menschen in rennende Fackeln verwandelt hatte, waren für das zarte Gemüt seines Pferdes ein wenig zu viel des Guten gewesen.

„Ihr lasst Euch zu sehr von diesen armen Dingern reizen, Kōhei. Ihre Fürsten sind in den vergangenen Jahrzehnten während ihrer Kriege gefallen wie die Fliegen und jedes Mal von einem jüngeren, närrischeren Verwandten ersetzt worden. Die Generationswechsel sind zu häufig, um Weisheit in ihnen keimen zu lassen und ihr Blick nur noch auf ihre eigene Welt gerichtet, in der wir keinen Platz haben – und ihr könnt Euch nicht davon freisprechen, für die ein oder andere Neubesetzung verantwortlich zu sein.“

„Möglich“, knurrte der General. Die ein oder andere oder einige mehr. Abermals lobte er den Braunen, als der sich allmählich beruhigte.

„Ich verstehe Euch nicht ganz. Ihr habt doch ein Herz für arme, minderbemittelte Wesen wie diesen Klepper. Habt Ihr da nichts mehr für die Menschen übrig?

„Ich reite mein Pferd. Menschen taugen zu nichts dergleichen.“

Saburō Lächeln wurde tückisch: „Der ein oder andere würde Euch da nun widersprechen.“

Kōhei hielt inne, zählte stumm bis drei und schnaubte schließlich nur. „Obszönitäten stehen Euch nicht besonders.“

„Ich muss verpasst haben, als meine Mutter Euch zu meiner neuen Amme bestimmt hat. Sagt, findet Ihr es schwierig, meine Anstandsdame zu spielen und gleichzeitig den Befehlen meines Vaters Folge zu leisten und stumm dazustehen, während -“

„Genug!“ Kōhei fiel ihm so scharf ins Wort, dass er es umgehend bereute. Er durfte sich nicht von ihm derart provozieren lassen. Eine Tugend, die er möglichst schnell lernen sollte, denn jedes Gespräch mit diesem neuen Erben endete in Provokationen! Doch er war eben genau das: Der Erbe. Und als solcher konnte Saburō ihn ohne Weiteres für derartige Fehltritte töten lassen.

„Verzeiht mir“, die Entschuldigung zwang sich Kōheis Hals empor als besitze sie Widerhaken. „Das stand mir nicht zu.“

Saburō musterte ihn stumm und ausdruckslos, während er seinen Rappen zu dem braunen Wallach aufschließen ließ. „Ich weiß nicht“, erwiderte er schließlich. „Neulich war auch nicht unbedingt meine glanzvollste Stunde. Vielleicht sollte ich mich bei Euch entschuldigen.“

Kōhei sah verdutzt zu ihm hinüber und erwartete ein typisch verschlagenen Gesichtsausdruck, fand jedoch nur eine versteinerte Miene.

„Ihr habt Befehle befolgt, Kōtaishi. Nichts, wofür Ihr Euch verantwortlich machen müsstest.“

„So? Warum fühlt Ihr Euch dann so schlecht?“, erwiderte der mit dem Anflug eines erzwungenen Lächelns.

War es ungerecht von Kōhei, Saburō den Besitz eines Gewissens abzusprechen? Vermutlich. Ein wenig hatte er erwartet, dass dieser Bastard von einem schwarzen Fuchs in der Lage war, derlei Geschehnisse abzustreifen, die Gefühle seiner armen Schwester mit Füßen zu treten und die Situation zu seinem Vorteil auszuschlachten. Das war es, was man von einem Yōkai ihrer Stellung erwartete, nicht wahr? Manchmal fragte sich Kōhei, wie er in die Position des Generals gerutscht sein konnte, wenn er zu solcherlei Kalkül nicht fähig war. Hayato schien stets ohne derlei schwache Gefühle auszukommen. Seinen Sohn dazu zu zwingen, die eigene Schwester zu vergewaltigen und seinen General dabei zusehen zu lassen, tat allerdings neue Abgründe auf. Auf absurde Weise erleichterte es Kōhei sein Dasein, Hayato wie auch Saburō als Geschöpfe einer anderen Sphäre anzusehen, in der Gefühle wie Schuld und Mitleid nicht existierten. Er fühlte sich sicherer, wenn er allein mit diesen niederen Empfindungen zu kämpfen hatte. Eine Führung die losgelöst von ihnen agierte, würde die besseren Entscheidungen für alle treffen. Eine Führung jedoch, die ebenso empfand wie er und dennoch der Grausamkeit den Vortritt ließ... . Er schauderte.

„Ihr könnt mich nicht leiden, General, und habt meine Gegenwart zuvor bereits eher ertragen als genossen, aber seither vermeidet Ihr es, mir in die Augen zu sehen. Denkt Ihr, ich machte Euch dafür verantwortlich, dass Ihr daran teilhaben musstet? Die Drohungen meines Vaters Euch gegenüber waren unmissverständlich und wir wissen beide, dass er nicht zu leerem Geschwätz neigt. Oder ist es Abscheu mir gegenüber?“

War es das, was ihn besorgte? Dass Kōhei nach diesem Zwischenfall nun schlechter von ihm dachte als ohnehin schon?

„Es steht mir nicht zu, Euch zu kritisieren. Ich bin General der südlichen Armee und Ihr der Erbe meines Herrn. Meine Loyalität bedarf keiner persönlichen Zuneigung.“

„Nein, Eure Loyalität gibt es umsonst“, sinnierte Saburō und betrachtete sein Gegenüber eindringlich. Kōhei erwiderte den Blick nur kurz und machte sich dann daran, Kletten aus der Mähne des Braunen zu zupfen. Als Kitsune war er im Angesicht von Tücke und Hinterhältigkeiten aufgewachsen und fragte sich dennoch ein ums andere Mal, wie dieser Silberfuchs es schaffte, stets die Ausstrahlung einer lauernden Viper zu bewahren. In seiner Gegenwart hatte Kōhei das Gefühl, auf heißen Kohlen zu tanzen. Auch der Fürst besaß ein solches Talent, doch hatte der dabei nichts Verschlagenes an sich, sondern vermittelte eher den Eindruck eines schwebenden Henkersbeiles. Unmittelbar zwischen diesen beiden Männern zu agieren war ein einziger Albtraum.

„Solche Treue ist sehr untypisch für einen Kitsune und sicherlich einer der Gründe, aus denen mein Vater Euch so nah hält. Ihr beißt nicht einmal die Hand, die Euch schlägt. Und Ihr würdet keinen Moment zögern, mich zu töten, wenn er es verlangte.“

„Das ist richtig.“

„Demnach wollte er mit dieser Farce eines Auftrages tatsächlich nur meine Abwesenheit bei Hofe bezwecken“, Saburōs Blick verfinsterte sich schlagartig, als sei die Nachricht, dass sein Vater ihn nicht unmittelbar tot sehen wollte, nicht zwingend erleichternd. „Interessant.“

Kōhei jedoch ließ etwas anderes aufhorchen. „Was meint Ihr mit 'Farce'?“

„Ihr als General solltet taktisch ausreichend versiert sein, um zu bemerken, dass wir hier draußen keinen Zweck erfüllen, außer den, nicht bei Hofe anwesend zu sein.“ Er ließ die Zügel durch seine Hände gleiten, wobei die kurzen und durchscheinenden Nägel an seinen Händen deplatziert wirkten. Der Hengst kaute mit gestrecktem Hals desinteressiert an seinem Zaumzeug herum und verlangsamte seine Schritte. Missmutig folgte Kōhei und zügelte seinen Braunen, bis dieser mit gebührendem Sicherheitsabstand neben seinem Artgenossen hertrottete. „Ich möchte Euch nicht mit den Details dieser Annahme langweilen. Offiziell hat der Fürst Euch mir zur Seite gestellt, damit ihr mir in diesem sinnlosen Unterfangen helft. Ich nehme an, das hat Euch von Eurem Schweigen bezüglich des Westens entbunden.“

Langsam und schwer quetschte sich die Luft in Kōheis Lunge, als sich seine Kehle augenblicklich zuschnürte. Von Beginn der Reise an hatte er befürchtet, dass Saburō das Gespräch auf diese Ereignisse lenken würde und im Grunde war es ein Wunder, dass er seine Neugier bislang in Zaum hatte halten können. Dennoch hatte Kōhei stets gehofft, niemals mit jemandem darüber sprechen zu müssen. Insbesondere jedoch nicht mit diesem Jemand. Die manipulative Ader dieses Fuchses ging Hand in Hand mit einer Auffassungsgabe, die Kōhei tatsächlich Angst bereitete. Wie sonst hätte Saburō es damals vermocht, auf Sōsukes Genpuku derart großes Unheil anzurichten? Wenn dieser Bastard seine Gefühle zu Reika nur erahnte, konnte ihm das teuer zu stehen kommen. Er würde jedoch auch nicht den Fehler begehen, diesem Mann halbe Wahrheiten aufzutischen. Hayato hatte ihm in der Tat befohlen, Saburō gegenüber mit offenen Karten zu spielen – welchem Zweck das auch immer dienen mochte.

Der hatte indes nicht vor, dieses Thema wieder fallen zu lassen: „Wisst Ihr, es ist mir schleierhaft, wie eine Inu aus dem Bett des einen Fürsten in den Kerker des anderen geraten konnte, ohne dass die Hunde umgehend in den Süden einmarschiert sind. Mein hoher Vater hasst meine Mutter mit ganzer Inbrunst und würde dennoch um seines Ansehens Willen für sie einen Krieg anzetteln.“

„Die Antwort ist absurd einfach“, erklärte Kōhei trocken. „Sie hat den Westen mit Sesshōmarus Zustimmung verlassen.“

Das Leder des Sattels knirschte, als der Kōtaishi sich ihm zuwandte: „Sie hat ihn darum gebeten?“

„Ja. Sie war zu dem Zeitpunkt bereits einige Jahre am westlichen Hof gewesen. Er hat sie niemals offiziell als Partnerin präsentiert, geschweige denn als Fürstin. Vielleicht hätte er ihr diese Stellung zugestanden, sobald er einen Erben bekommen hätte. Aber da lag das Problem als sie zu uns kam: Sie hat sein erstes Kind im Jahr zuvor verloren und war fest davon überzeugt, dass ihr dies nun erneut widerfahren war.“

Vom eigenen Verlust abgesehen war das ein gesellschaftliches Desaster: Der Wert hochgeborener Frauen bestand in ihrem Nachwuchs – ein Gedanke, mit dem sie aufgezogen wurden und der besonders dann galt, wenn der Partner politisches Gewicht hatte. Die Auserwählte des Inu no Taishōs zu sein war unter diesen Gesichtspunkten alles andere als wünschenswert oder gar romantisch. Sesshōmaru galt als pragmatisch und hatte sie sicherlich nicht ihrer zarten Figur oder des sanften Gemütes wegen ausgesucht. Dass man als Frau mit entsprechender Erziehung unter dem Maß an gesellschaftlichen Druck leicht zerbrach, war für Kōhei nicht verwunderlich. Zumal Ehen, wie sie die Menschen erst seit ein paar Jahrhunderten pflegten, nicht existierten. Ohne gemeinsames Kind war sie an seiner Seite unbedeutend wie jede andere Frau bei Hofe – mit dem Unterschied, dass sie für jeden anderen Mann selbst dann unantastbar blieb, wenn der Fürst ihrer vorzeitig überdrüssig würde.

„Dennoch: Niemand bei klarem Verstand verlässt freiwillig einen Landesfürsten“, erwiderte Saburō mit Grabesstimme, die tiefer blicken ließ, als er beabsichtigt haben konnte. „Gleich welcher Schmerz dem vorausgegangen sein mag. Das ist schierer Wahnsinn.“

„Ich kann Euch nicht mit Sicherheit darlegen, aus welchem Antrieb sie um ihre Freigabe gebeten hat und dann nicht in ihr Elternhaus zurückgekehrt ist. Der Druck der Erwartungen sicherlich. Und falsche Ratgeber.“

„Alle Beweggründe einer Person zu kennen, ist unmöglich. Aber wenn einer einen vagen Einblick in diese Angelegenheiten hat, dann seid Ihr es. Immerhin habt Ihr ein Kind mit ihr aufgezogen.“

Kōhei stockte sichtlich, dann senkte er rasch den Blick. Doch Saburō war dies nicht entgangen. Er hob verblüfft die Brauen: „Das habt ihr nicht.“

„Nein, Kōtaishi“, antwortete der General langsam. „Ich fürchte, in dieser Hinsicht habt Ihr etwas falsch verstanden.“ Voll Unbehagen versuchte er die Zügel gleichmäßig wieder aufzunehmen. „Ich kannte Reika, das ist wahr. Ich habe hin und wieder die Bewachung ihrer Räumlichkeiten im Nordflügel übernommen und mit ihr gesprochen. Aber ihren Sohn habe ich nicht mit ihr aufgezogen, sondern mit ihrer Schwester. Wobei ich auch sagen muss, dass mein Beitrag verschwindend gering war.“

„Das höre ich zum ersten Mal.“

„Immerhin etwas, das nicht nach Außen gedrungen ist“, Kōhei warf den übrigen Zügel zerknirscht auf die andere Halsseite seines Pferdes.

Dafür erntete er ein Schmunzeln: „Offenbar bleibt manchmal auch in einem Sieb etwas hängen.“

„Findet Ihr es nicht bedenklich, dass Ihr offensichtlich problemlos an diese Informationen gekommen seid?“

„Niemand hat behauptet, dass es problemlos war. Aber nein. Da ich weiß, welche Wege es genommen hat, bin ich keineswegs beunruhigt. Allerdings bringt Euch das nun eine unliebsame Aufgabe ein: Ich verlasse mich ungern auf Halbwissen.“

Kōhei hätte gern gewusst, durch welche Lücken diese Informationen nach Shōdoshima gesickert waren. Der Personenkreis, der bereit war, dafür sein Leben zu riskieren, war mit Sicherheit nicht besonders groß, ebenso wie die Zahl derjenigen, die überhaupt Kenntnis von diesen Angelegenheiten erlangt hatten. Die Schnittmenge bereitete ihm über diesen konkreten Fall hinaus Kopfzerbrechen. Der Fürst hatte zwar angeordnet, Saburō bei seiner Aufgabe zu unterstützen und damit auch die Erlaubnis gegeben, ihn in allen dafür relevanten Fragen aufzuklären, doch blieb ungewiss, welcher der hochrangigen Ratsmitglieder beabsichtigte, dem Fürsten zu schaden – und von wie vielen dieser Leute er bereits selbst verdächtigt wurde, weil er den meisten Kontakt zu Saburō aufgezwungen bekam. Dass er dabei kein Mitspracherecht hatte und diesem schwarzen Teufel lieber weiträumig aus dem Weg gegangen wäre, wenn es nicht seinen Befehlen widersprochen hätte, würde dabei niemanden kümmern. Am Ende zählte die Wahrnehmung – nicht die Wahrheit.

„Reika, die Mutter des Jungen, kam vor etwa sechzehn Jahren mit einer Eskorte nach Süden, nachdem sie den westlichen Hof verlassen hatte“, begann er schließlich. „Nach Außen haben wir nie Stellung zum Westen bezogen und die Inu wie jeden anderen Gast empfangen – mit dem Unterschied, dass ich hinzugezogen wurde, falls die Situation aus dem Ruder geriete. Die Soldaten gehörten zum in Echizen beheimateten Clan unter der Führung von Osamu – dunkelrot emaillierte Rüstung und weiße Monde. Die zweitgrößte Armee nach der Hauptstreitmacht, aber selten außerhalb ihrer Burgmauern zu sehen. Sie begleiteten zwei Schwestern. Hochgeboren und dem Verhalten nach eindeutig eher Hofdamen denn Kriegerinnen. Der Jüngeren der beiden, Masuko, wurde eine Audienz mit Eurem Vater gewährt, welcher ich nicht beigewohnt habe. Im Anschluss empfing Euer Vater auch die ältere Schwester und brachte sie in den Nordflügel, den sie von da an nicht mehr verlassen durfte. Ich tötete ihre Eskorte und Masuko erhielt vom Fürsten eine Unterkunft im Chūgoku-Gebirge.

Als Euer Vater mir einige Wochen später offenbarte, was es mit diesem merkwürdigen Vorgehen auf sich hatte, war längst ersichtlich, dass Reika schwanger war. Sie hat den Jungen im Herbst bekommen. Nach der Schneeschmelze im Frühjahr wurde er zu seiner Tante in die Berge gebracht und ich beauftragt, dort gelegentlich nach dem Rechten zu sehen. Damit er keine Fragen stellte, sollten wir ihm erzählen, ich sei sein Vater. Masuko hat daraus eine schrecklich tragische Romanze gedichtet, die schlussendlich den Westen für ihr abgeschiedenes Leben verantwortlich gemacht hat. Minoru hat das geglaubt.“

„Masuko und mein hoher Vater haben sich sicherlich blendend verstanden“, das menschliches Erscheinungsbild mochte befremdlich wirken, doch der herablassende Tonfall war eindeutig der Saburōs. „Die eigene Schwester ausgeliefert, die Begleiter töten lassen, Volk und Fürsten verraten und einer Mutter ihr Kind entrissen – keine schlechte Bilanz am Ende des Tages. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, dass die harmonische Einsamkeit der Bergwelt das Echo wert wäre. Ebenso wenig der Kosten-Nutzen-Faktor für den Süden. Was hat sich mein Vater von dem ganzen Unsinn erhofft?“

„Minoru sollte später an den Hof kommen. Euer Vater ist überzeugt, dass es irgendwann zum Krieg mit dem Westen kommen wird. Er wollte den Jungen in der Hinterhand wissen, um ihn gegen Sesshōmaru zu verwenden. Der ist zwar zu gefühlskalt, als dass er sich um das Wohl eines unbekannten Sohnes geschert hätte, aber die öffentliche Demütigung hätte ihm schwer zugesetzt. Darüber hinaus hätte der Westen keinen legitimen Herrscher hervorbringen können, solange der älteste Sohn des Taishōs in unserer Gewalt war – und nach den Vorstellungen Eures Vater agierte.“

„Korrigiert mich, wenn ich mich irre, aber dieses Detail kümmert die Inu im Zweifel nicht.“

„Sie folgen nicht zwingend dem Nachkommen ihres Fürsten, sondern der Macht, das ist richtig. Aber Minorus Fall liegt etwas anders: Sesshōmaru hat Sō'unga und damit den Maßstab dessen vernichtet, was in den Augen seines Volkes einen akzeptablen Herrscher ausmacht – nämlich diese Waffe zu kontrollieren. Wie also seinen Nachfolger absichern? Er hat Reika nicht aus Zuneigung oder ihres vielversprechenden Charakters wegen gewählt – dafür war sie viel zu naiv. Sie war eine Daiyōkai aus dem einflussreichsten Haus nach dem westlichen Hof selbst. Einem Haus, das selten an Kriegen teilnimmt und dennoch über die zweitgrößte Armee und enormes, politisches Gewicht verfügt. Beide Familien führen ihre Abstammung unmittelbar auf Akaya zurück. Das Maß an dämonischen Energien ist dementsprechend groß und Minoru das einzig bekannte Ergebnis einer Verbindung dieser beiden Linien. Sofern er damit jemals umgehen kann, ist er der vielversprechendste Kandidat – und eine größere Gefahr als uns lieb sein dürfte.“

Saburō schwieg eine ganze Weile ließ dabei zu, dass sich der Rappe an der Vegetation des Wegesrandes bediente. Schnalzend nahm er die Zügel kürzer. „Wie ist er?“

„Ich kann Euch nicht folgen.“ Auch Kōhei zügelte seinen Wallach widerwillig.

„Der Junge ist seit seiner Ankunft am westlichen Hof in aller Munde, aber nichts davon ist mehr als Geflüster. Ein erbarmungsloses Biest, das die Pantherdevas aufgerieben und Shunran das Gesicht zerfetzt hat. Ein animalischer Wilder ohne jedwede höfische Erziehung, von seiner Mutter geschickt, um die Dynastie zu Fall zu bringen.“

Die Falten zwischen Kōheis Brauen vertieften sich zusehends. Er hatte Minoru stets klar vor Augen. Jedoch nicht als den verwahrlosten Jungen, den er einige Monate zuvor getroffen hatte, sondern als eingeschüchterten, aufmerksamen Geist, der ihm immer mit einem Leuchten in den Augen begegnet war, das man mit bloßer Wiedersehensfreude nicht erklären konnte. Es war Hoffnung gewesen. Ein ums andere Mal hatte das Kind gehofft, dass sein Vater ihn vor dieser Frau beschützen würde. Bis Minoru ihn offen um Hilfe angefleht hatte, waren Jahre vergangen. Jahre in denen Kōhei bereits bemerkt hatte, was in dieser einsamen Berghütte vor sich gehen musste. Ein Kind war unmöglich aus eigenem Antrieb so still, vorsichtig und verschlossen. Er hatte nicht eingegriffen, auch nicht als Minoru ihn unter Tränen ersucht hatte. Fürst Hayato hatte es verboten und er hatte gehorcht, wie er es immer tat – gehorcht und Minorus Vertrauen, seine Offenheit und seine Sorgen dabei mit Füßen getreten. Es war schon nicht leicht, diesen Gedanken nachzusinnen. Umso schwerer fiel es ihm, die richtigen Worte zu finden, die sich vor Unbehagen nur halblaut aus der Kehle pressen ließen: „Ich kenne ihn nicht mehr. Als ich ihn das letzte Mal sah, war er beinahe auf Wolfsland und in Begleitung von Sesshōmarus Menschenmädchen. Er war streitbar, abweisend und verwildert. Ich schätze, vier Jahre im Wald haben ihn verändert. Dennoch glaube ich nicht, dass man seine Vergangenheit abstreifen kann wie eine Schlange ihre Haut. Es wird etwas von dem Jungen übrig sein, den ich kannte. Und der war weder unerzogen noch erbarmungslos. Masuko hat ihn in Benimm, sowie Tanz und Gesang unterrichtet, wie es in ihrer Familie offenbar auch bei Männern Brauch ist. Er spielt gut Koto, wenn auch nicht unbedingt mit Freude, liest flüssiger und mit mehr Verständnis als manch Erwachsener und seine Schrift ist sogar mit der schwächeren Rechten eleganter und sicherer als meine es je sein wird. Sie hat ihm eingeschärft, dass Krieg und Kampf etwas Schlechtes seien, das allen Beteiligten schade. Eine Waffe hat er demnach niemals in der Hand gehalten. Ich musste meine später ablegen, wenn ich kam zu Besuch kam. Er ist keineswegs unerzogen und wenn er Shunran angegriffen hat, dann nicht grundlos.“

„Ihr habt ihn gern.“ Die Feststellung kam so prompt wie erwartet.

„Ich weiß nicht, was er nun ist, aber damals war er nur ein bemitleidenswertes Kind inmitten politischer Gefechte. Er hat sich seine Eltern nicht aussuchen können.“

„Ihr seid erstaunlich offen. Mitleid könnte man Euch als Verrat auslegen.“

„Ich bin kein Narr, Kōtaishi. Ihr habt Gesinnungen von Männern durchschaut, die bessere Lügen spinnen als ich. Ja, ich habe den Jungen gern. Auf einer persönlichen Ebene. Wenn ich mich in Euch nicht täusche, wisst Ihr jedoch auch, wie es um meine Prioritäten bestellt ist.“

Das leichte Schmunzeln seiner Lippen wandelte sich zu einem wissenden Lächeln: „In der Tat. Das weiß ich. Erwidert er Eure Zuneigung?“

Mit einem Schlag wurde Kōheis Mund trocken wie Wüstensand. „Er hasst mich.“

„Hasst Euch? Was habt Ihr seiner Meinung nach getan?“

„Zu wenig. Masuko hat ihn wissen lassen, dass seine bloße Existenz ihr Leben zerstört hat – und so hat sie ihn auch behandelt. Er hat verzweifelt versucht, ihr zu gefallen. Perfekt für sie zu sein, in dem Glauben, dass es all die Probleme lösen würde, die seine vermeintliche Mutter so unglücklich und unausstehlich machten. Mit den Jahren hat er sich verschlossen und wurde stiller. Ich glaube, sie hat es sich endgültig mit ihm verdorben, als sie ihm verboten hat, in die einfache Form eines Hundes zu wechseln und vor seinen Augen einen räudigen, alten Köter geköpft hat, den er Zuhause aufnehmen wollte. Es hat mich beinahe eine Stunde guten Zuredens gekostet, bis er aufgehört hat zu schreien und zu weinen. Sie hat ihn geschlagen, als ich wieder fort war. Unabhängig von diesem Ereignis. Hat ihn tagelang unter dem Fußboden im Dunkeln eingesperrt, sobald sein Verhalten ihr missfiel. Ich wusste davon, auch bevor er es mir erzählt hat. Aber ich habe nichts gegen sie unternommen. Das wird er mir nicht verzeihen. Jetzt schon nicht. Wenn er erst erfährt, was sich wirklich zugetragen hat, wird er mich vernichten wollen.“

„Bevor Euer Ziehsohn Euch tötet, ist da noch ein betrogener Vater, über dessen Charakter wir uns nicht unterhalten müssen.“ Der herablassende Tonfall in Saburōs Stimme klang längst nicht so gehässig wie üblich. Er hob die Hand, als Kōhei etwas erwidern wollte und blieb lange Zeit still, ehe er sich besinnend durch das Gesicht fuhr und wieder das Wort ergriff. „Was geschah mit der Mutter? Meine Frau bewohnt ihre Gemächer im Nordflügel.“

„Euer Vater ließ sie töten.“

Es war ein wahrlich entnervtes Stöhnen, das dem südlichen Erben entfuhr: „Natürlich hat er das.“

Saburōs Verstand war stets wach und messerscharf, dessen war Kōhei sich mittlerweile sicher. Doch nun war ihm das Ausmaß des Problems, das sich in neuen Abgründen vor ihm auftat, anzusehen. Und natürlich änderte das vieles. Wenn er bislang davon ausgegangen war, dass es tatsächlich Minorus Mutter gewesen war, die ihren Fürsten mit der Hilfe des Südens verraten hatte, verschoben die neuen Einsichten die Beurteilung der Lage immens. Sie hatten nicht nur dem Fürsten seinen Sohn vorenthalten, sondern auch die Mutter seines Kindes und damit seine Gefährtin und Fürstin ihres Säuglings beraubt und hingerichtet – eine Wahrheit, die auch ihren Sohn empfindlich treffen könnte, wenn man bedachte, dass er sich lange Zeit die Zuneigung seiner Mutter ersehnt und sie nie erhalten hatte. Wenn Minoru nun erfuhr, wie man mit seiner wahren Mutter verfahren war, während er den Schikanen seiner verhassten Tante ausgeliefert gewesen war – nun, Kōhei wollte sich seine Reaktion lieber nicht ausmalen. Stattdessen sah er aus den Augenwinkeln zu Saburō, der ihn kaum noch beachtete. Der hielt den Blick starr auf den Nacken seines Pferdes fixiert und wirkte allgemein abwesend. Wieder fraß der Hengst an der Hecke, doch dieses Mal zog sein Reiter nur halbherzig am Zügel. „Wie lange ist sie schon tot?“

„Einige Monate.“

„Welch Zufall“, murmelte er mit vor Sarkasmus triefender Stimme. Als er den Blick hob, schluckte Kōhei beim Anblick des bernsteinfarbenen Schimmers in den sonst so menschlichen Augen. „Wollt Ihr mir nicht die ganze Wahrheit sagen?“

Was hatte er erwartet? Dass Saburō die zeitlichen Überschneidungen nicht umgehend begriff?

„Minoru war bereits jahrelang verschwunden. Die Suche war eingestellt worden, als man ihn innerhalb der südlichen Grenzen nicht hatte finden können, weil man befürchtete, zu viel Aufsehen zu erregen und Fragen aufzuwerfen. Sie hatte nichts mehr zu verlieren. Sie wusste, dass ihr Sohn außerhalb unserer Reichweite war und ihr Verhalten ihm nicht mehr Schaden konnte. Als sie die Wände ihrer Zellen niederriss, war ich im Osten zu Verhandlungen mit den Panthern einbestellt. Sie tötete ihre Wachen und jeden, der ihren Weg bis in den Garten kreuzte, wo Haru-sama sie schlussendlich gestellt hat. Sie hat ihn in Fetzen gerissen und Eurem Vater vor die Füße gespuckt.“

Saburōs Miene blieb ungerührt, als er den Grund für das Ableben seines Bruders und seine Einberufung an den Hof erfuhr. Wenn es ihn berührte, konnte er es gut verbergen. Doch vermutlich war es so, wie er bereits vor Wochen gesagt hatte: Er hatte Haru ebenso wenig gekannt wie all die anderen Halbgeschwister und Mitglieder seiner Familie. Er war der Fremde, der vom Tod einer Person erfuhr, deren Namen er kannte. Mehr aber auch nicht. Es waren nur die einzelnen Stränge dieser Ereignisse, die sein Interesse weckten, nicht aber die persönlichen Verwicklungen seiner Person – und zum ersten Mal kam es Kōhei in den Sinn, dass das nicht unbedingt von Nachteil sein musste.

„Wie lange bis ins Chūgoku-Gebirge?“, fragte er schließlich und ließ seinen Blick über eine Menschensiedlung schweifen, die sich am Ufer des Flusses Saijo mit dem Rücken in den Berg lehnte.

„In diesem Tempo?“, Kōhei sah hinauf zu den dicht bewaldeten Anhöhen des Kotobiki-Berges. Ihrem Ziel. „Einen halben Tagesritt.“

Saburō schwieg für eine Weile, schien das letzte Puzzleteil wohl überlegt zu ordnen und presste schließlich die Schenkel an den Hengst, der mit überrascht aufgestellten Ohren augenblicklich in einen leichten Trab verfiel. Dann lenkte er ihn in die Stadt hinab. „Ich danke Euch für Eure Offenheit, Taishō.“

„Ich befolge lediglich Befehle.“

„Auch die meinen, hoffe ich.“

Die Schärfe in Kōheis Worten war bewusst gewählt, als er dem forschenden Blick des Kōtaishis begegnete: „Solange Sie denen Eures Vaters nicht entgegenstehen.“

„Wir werden diese Nacht in der Stadt verbringen. Die Pferde werden morgen früh zurückbleiben. Wir gehen allein zu dieser Berghütte und wenn wir auf Masuko treffen, werdet Ihr Euch zurückhalten – ganz gleich, was passiert. Habt Ihr verstanden?“

„Euer Vater hat uns entsandt, um sie und weitere Lücken auszumerzen.“

„Mein Vater“, bemerkte Saburō nun deutlich gereizter, „hat einen Grund gesucht, mich vom Hof fernzuhalten. Ich könnte Euch nun in aller Ausführlichkeit darlegen, was ich von der Idee halte, den General einer Armee in drohenden Kriegszeiten fortzuschicken, um den ungeliebten Sohn zu bewachen, den man ausgesandt hat, um einige Leute mit losem Mundwerk zu töten – und auch wiederum darüber, wie weit unten diese Unternehmung auf meiner Prioritätenliste stünde. Doch ich will Euch nicht langweilen. Lasst es mich stattdessen kurz fassen: Was auch immer wir hier unternehmen, wird dem Süden vermutlich weder einen unmittelbaren Vorteil gegenüber dem drohenden Krieg im Osten verschaffen noch werden wir den Westen davon abbringen können, uns in naher Zukunft selbigen zu erklären. Glaubt Ihr, die Frau sei die undichte Stelle in diesem Chaos? Ich glaube, in der Hinsicht bin ich deutlich besser informiert als Ihr es seid. Der Tod dieser Frau bezweckt rein gar nichts. Darüber hinaus hat der Fürst Euch aufgetragen, mir zu Diensten zu sein. Also dient, wie Ihr es immer tut.“
 


 

Er hasste es. Hasste es, auf so etwas abgedroschenes wie Geiselnahme zurückgegriffen zu haben. Das Dorf niederzubrennen wäre sauberer gewesen. Es hätte ihm weniger Überwindung gekostet und ihn davor bewahrt, Tag für Tag dieses verängstige Kind ansehen zu müssen, das nicht einmal wagte, nach seinen Eltern zu verlangen. Aber dieses Verfahren hätte kaum dem entsprochen, was dieser Bengel sich mit seiner Bitte erhofft hatte. Das Mädchen als Pfand zu fordern, war der einzige Weg gewesen, keine Leben zu nehmen und dennoch eine Chance darauf zu haben, den Fürsten zufrieden zu stellen. Wobei Letzteres abzuwarten blieb. Ryouichi begab sich mit dieser Milde im Angesicht der Lage auf äußerst dünnes Eis. Nur Menschen wären sentimental genug, um ihretwillen davon abzusehen, den Erben des Westens und zukünftigen Anführer ganzer Heere zu verschonen. Nicht ein einziger Dämonenstamm hätte gezögert, ein dutzend ihrer Kinder zu opfern, um einen solchen Konkurrenten aus dem Weg zu räumen. Im Grunde war die Kleine wertlos, doch Menschen vertraten einen grundlegend anderen Standpunkt. Unverständlich, aber in diesem Zusammenhang sehr hilfreich. Das musste er nun nur noch dem Fürsten verkaufen, der das Schicksal des Dorfes sicherlich bewusst in seine Hände gelegt hatte. Hätte Sesshōmaru sich der Angelegenheit selbst angenommen, wären die Gespräche kürzer und ohne Überlebende verlaufen.

Er kannte den Fürsten nun ausreichend lang, um zu bemerken, dass Minorus Verbleib ihn nicht nur erzürnte. Der Zeitpunkt war denkbar ungünstig. Sie konnten keinen Krieg führen und gleichzeitig ein Kind suchen. Beides war unumgänglich. Hinzu kam, dass Tenseiga in den vergangenen Kämpfen schweren Schaden erlitten hatte und nun endgültig zu dem nutzlosen Stück Stahl geworden war, das der Fürst stets in ihm gesehen hatte. Stumpf für Leben und Tod. Hätte die Fürstinmutter ihnen nicht den Meidou-Stein für Minoru mitgegeben, wären sie nicht in der Lage gewesen, den Han'yō zu retten.

Ryouichi zog den Verband nach, den Rin um seinen Unterarm gebunden hatte. Die Stichverletzung des Dolches heilte nur dürftig. Natürlich war er vergiftet gewesen. Ein Taijiya musste seine natürliche Unterlegenheit gegenüber seinem Gegner ausgleichen und Gift lag dabei stets nahe. Zu seinem Glück waren sie gerade recht geübt im Umgang mit Senensalbeeren, die sich auch zu einer Salbe verarbeiten ließen. Doch gegen die Hitze dieses Vulkans kamen auch diese nur schwerlich an. Drei Tage nach dem Zwischenfall hatte er mit einem vollständigen Abklingen der Giftwirkung gerechnet, doch ab und an tanzten die Schemen noch vor seinen Augen wie Nebelschwaden auf einer Morgenwiese. Nicht lebensbedrohlich, aber doch ein weiterer Tropfen auf in das längst überlaufende Fass. Er seufzte leise und stieg über einen schmalen Strom flüssiger Magma hinweg, die sich gemächlich ihren Weg in das Tal suchte.

Die Festung mitsamt ihren Wehrkreisen zu großen Teilen niedergebrannt, Chizuru-sama schwer verletzt, Tenseiga unbrauchbar, der Erbe vermisst und eine Armee unsterblicher Drachen vor und jenseits westlicher Grenzen. Binnen Tagen war alles zusammengebrochen und es würde Zeit brauchen, es wieder zu ordnen. Viel Zeit. Doch sie tanzten nicht zum ersten Mal auf einem Scherbenhaufen.
 

Was auch immer den vieräugigen Dämon einst dazu bewogen hatte, sich so weit in die Vulkanlandschaft vorzuwagen, hatte sein Ende besiegelt. Von Geröll bis zum Hals verschüttet, diente sein Skelett seit vielen Jahrtausenden als Wohnsitz des Schmieds, den der frühere Inu no Taishō stets mit einem schmalen Lächeln erwähnt hatte. Ein Großmeister, dessen Arbeit einige der überragendsten Schwerter des Landes hervorgebracht hatte.

Ryouichi schritt durch das weit aufgerissene Maul hindurch, dessen Zähne ihm bis über die Knie reichten und fand die Glut der Esse erkaltet vor. Der Wohnraum war überschaubar und gähnend leer, obwohl der Geruch verbrannter Kohle deutlich in der Luft lag. Das konnte unmöglich aus der Umgebung stammen. Wo also war der Schmied? Ein Windhauch in seinem Rücken ließ ihn herumfahren, während er den Kopf bereits ergeben senkte. „Taishō.“

„Zerbrecht Euch nicht den Kopf über die Diskrepanz. Er ist wie üblich vor mir geflohen.“ Sesshōmaru trat an seine Seite und musterte gleichermaßen die gähnende Leere vor ihnen.

„Habt Ihr-?“

„Nein, nichts“, die Stimme des Fürsten fiel um einige Oktaven in etwas, das verdächtig nach Resignation klang. „Keine Spur von ihm oder diesen Gören. Sie wissen, dass wir sie verfolgen.“

„Natürlich“, Ryouichi schnaubte leise. Sie wären noch dämlicher als er angenommen hatte, wenn sie nicht damit gerechnet hatten, dass der Westen sie dafür hetzen würde. Doch wo hatten sie Zuflucht gesucht? Sollten die Dämonenjäger Minoru an die Füchse oder den Osten ausgeliefert haben, würden sie ihn nicht ohne Weiteres zurückbekommen. Im Norden fanden die Zwillinge vermutlich keine Freunde, wenn sie den Sohn des Taishōs über die Grenze zerrten. Wölfe mochten ein wenig stumpf sein, doch sie vergaßen selten, wer für sie eingestanden war. „Dennoch müssten wir Spuren finden.“

„In der Tat. Stellt ein Dutzend ab. Lasst sie nach ihm suchen. Die südliche Grenze bleibt unangetastet. Ich will keine zusätzliche Front provozieren.“

„Die Drachen würden versuchen, uns mit seinem Wohlbefinden unter Druck zu setzen – denkt Ihr, die Füchse würden ebenso handeln?“

„Kitsune“, Sesshōmaru spuckte das Wort beinahe aus. „Sie hatten ihn ein Jahrzehnt lang und nichts verlauten lassen. Was denkt Ihr also, Chūyō?“

„Dass wir nach den Drachen ein paar neue Pelze gebrauchen könnten.“

Im Gegensatz zu den Panthern hatte sich der Süden niemals feindlich gezeigt. Aber was erwartete er auch von Füchsen? Es wurde Zeit, dass diese scheinheilige Dynastie endlich lernte, wie ein offener Krieg aussah. Hayato galt zwar als der erste Herrscher des Südens, der eine taugliche und loyale Armee aufgebaut hatte, doch derartige Behauptungen waren schnell aufgestellt. Vorangegangene Modelle waren bislang immer am Ernstfall gescheitert. Loyalität war für Füchse stets ein dehnbarer Begriff gewesen. Ihre Treue galt ihnen selbst. Letzten Endes waren sie klare Verfechter des Opportunismus, folgten dem, der ihnen am meisten versprach und mehr Sicherheit zu bieten schien. Sie hatten Hayato unterstützt, als es ihnen gelegen kam, und sie würden ihn fallen lassen, wenn sich eine andere Option bot – zumal Hayato nicht unbedingt viel Sympathie erweckte. Es grenzte an ein Wunder, dass sich das Gefüge so lange hielt. Doch nach Ryouichis Einschätzung war der dortige Generalleutnant nicht ganz unschuldig daran.

Dennoch hatte der Süden im Moment keinerlei Priorität, solange sich nicht andeutete, dass Minoru dort war. Sie hatten ausreichend mit diesen schier unsterblichen Drachen zu tun, die immer wieder in ihr Land vorstießen und würden ohne Tenseiga dabei auch auf keinen grünen Zweig kommen.

„Wie also finden wir den Schmied?“

„Wir warten“, erwiderte Sesshōmaru glatt und Ryouichi hoffte, dass der Greis sich darüber bewusst war, dass jede Minute des Wartens die Stimmung des Fürsten nicht unbedingt hob. „Wie seid Ihr mit dem Dorf verfahren? Und spart nicht den Teil aus, an dem Ihr Euch habt verwunden lassen.“

„Es ist nur ein Schnitt.“

„Vergiftet“, stellte der Fürst trocken fest. „Wir sind im Krieg und mein Generalleutnant lässt sich von einem zerstörten Dorf voller magerer Menschen bloßstellen. Was erlaubt Ihr Euch?“

„Ihr beleidigt mich. Ich habe Euch überlebt. Mehrmals. Was mich anbelangt, müsst Ihr Euch um meine Einsatzfähigkeit nicht sorgen“, entgegnete Ryouichi kühl. „Zu Eurer initialen Frage: Das Dorf steht noch. Die kleine Schwester der Zwillinge ist in Akios Feldlager, gemeinsam mit Rin.“

Der Fürst drehte sich zu ihm um und musterte ihn stumm, während Ryouichi lieber fortfuhr: „Eine Vernichtung der Siedlung hätte für uns keinen Mehrwert geboten. Nur Rache und Exempel. Wenn wir alles zerstören, das diesen Dämonenjägern wichtig ist, gibt es für sie nichts mehr zu befürchten. Ein Druckmittel ist wertvoller als ein zerstörtes Dorf voller Leichen.“

„Ausgerechnet Ihr nehmt Geiseln?“, es war tatsächlicher Unglaube, der sich da durch den Fürsten fraß.

„Geiselnahme und Folter sind zweierlei. Das Kind wird sterben, sollten sie uns zuwider handeln. Aber angemessen. Sauber.“

„Ich hoffe, die Promenadenmischung meines Bruders hat Euch ausreichend für Euer entgegenkommen gedankt“, schoss es eisig zurück.

Ryouichi winkte matt ab: „Ein kalkulierter Nebeneffekt.“

Es war in der Tat nicht Ryouichis primäres Ziel gewesen, Kaito nebst seiner Wiederbelebung nun auch noch mit der Unversehrtheit seiner Heimat zu beschenken. Dennoch war ein wenig Großzügigkeit hier nicht vor die Säue geworfen. Trotz des über die Generationen immer mehr verdünnten Dämonenblutes war er zäh und unter seinem jugendlichen Starrsinn sehr gescheit. Er hatte Ryouichi bereitwillig und subtil in die Hände gespielt, um Schaden von seiner Familie abzuwenden, und sich offenbar zu Minorus Gunsten einem ausgewachsenen Drachen gestellt und überlebt. Es war beinahe ein wenig bedauerlich, dass er das Licht der Welt als so eingeschränkte Lebensform erblickt hatte. Seine Herkunft galt für beide Seiten als Makel. Ryouichi wusste gut, wie sich solch unschöne Details auswirken konnten. Gelbe Augen galten in seinem Volk als schlechtes Omen, als Fluch. Bei genauerer Betrachtung nicht zu Unrecht. Es war ein Zeichen großer Macht - am Rande des Kontrollverlustes. Ohne die Masken, die auf Sado in der Öffentlichkeit stets die Gesichter verdeckten, hätte man ihn bereits als Kind ins Meer geworfen. Dass er die Insel lebend verlassen hatte, war einzig der Verschwiegenheit seiner engsten Familie geschuldet - und dem Besuch eines Fürsten.

Er schüttelte den Gedanken ab und sah hinaus auf die dunkle Gesteinslandschaft, über der die Luft in der Hitze flimmerte.

„Wenn er nicht kommt und Ihr Tenseiga nicht wiederherstellen könnt – .“

„Er wird kommen“, Sesshōmaru zog das verkratzte Schwert aus der Scheide und begutachtete es, als sehe er den Verschleiß zum ersten Mal, den die letzten Wochen dem Stahl abverlangt hatten.

„Angenommen nicht. Was tun wir? Es wäre denkbar die Bewohner der Festung auf die Sitze der Ratsmitglieder zu verteilen. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Drachen auch diese angreifen. Das Heer schlägt sich wie erwartet gut, doch ein Feind, der niemals stirbt...“, der Generalleutnant schüttelte den Kopf. Irgendwann wären sie ausgebrannt.

„Es gibt durchaus einen Feind in diesem Krieg, der sterben kann“, sinnierte der Fürst und strich mit der Fingerkuppe über Tenseigas Klinge, erst sanft, dann mit Nachdruck und schließlich, als sie sich auch jetzt noch weigerte, ihm ins Fleisch zu schneiden, zog er seine Klauen über die Waffe. Ohrenbetäubend schrill kratzten sie über den Stahl. Sämtliche Muskeln des Generalleutnants verspannten sich, er biss die Zähne zusammen und widerstand dem Drang, die Hände auf die Ohren zu pressen nur mit viel Mühe und Stolz. Es war grausig! Als schreie die Waffe in den Händen ihres Besitzers! Ein Blitzeinschlag bei wolkenfreien Himmel, untermalt von einem lauten Knall, entließ eine aus drei Augen stoisch dreinblickende Kuh inmitten des Gerölls. Ein Grashalm fiel ihr aus dem braunen Maul, als der Greis fluchend von ihrem Rücken sprang und mit einem Hammer in der Hand fuchtelnd den beiden Inu entgegen hechtete.

„Ja, bist du denn des Wahnsinns?! Zur Hölle mit dir, Sesshōmaru! Es reicht! Hör sofort auf damit!“

Ryouichi trat dem Alten umgehend in den Weg, zog sein Schwert nur zur Hälfte aus der Scheide und blieb stumm, während der Schmied, dessen Wut in Form kleiner Rauchsäulen aus seinem zahnarmen Mund aufstieg, tatsächlich langsamer wurde und allmählich begriff, dass das vermutlich nicht die klügste Idee gewesen war.

„Tōtōsai“, bemerkte der Fürst mit einer Spur Schadenfreude. Der Alte schien mit jeder Silbe seines Namens ein gutes Stück zu schrumpfen. Sein Blick huschte zu Ryouichi, blieb für einen kurzen Augenblick interessiert am mitternachtschwarzem Schwert hängen und glitt dann scheinheilig davon – auf der Suche nach potentiellen Fluchtwegen.

„Ein Schritt zurück und ich töte dich.“

„Tōtōsai, du musst ihn anhören“, krächzte eine dünne Stimme. Der legte die Stirn in Falten und sah den winzigen Punkt auf Ryouichis Schulter an, als habe dieser ihn soeben persönlich beleidigt. „Ach, muss ich das?“, fragte er grätig und setzte an, in einem Anflug von Stolz zu Boden zu spucken. Das blieb ihm jedoch im Halse stecken, sobald die Fingerknöchel des Fürsten ihn knackend daran erinnerten, dass der Welpe des alten Taishōs die Klauen schon für weniger in die Gedärme rechtschaffender Leute geschlagen hatte. Statt dem Fürsten also offen zu zeigen, was er von dessen Anwesenheit in seinem Heim hielt, lugte er vorsichtig an dem anderen Inu vorbei, der vor ihm aufragte und musterte Sesshōmaru argwöhnisch. „Was verschafft mir die Ehre dieser Invasion? Welches Unheil soll ich diesmal schmieden? Ich dachte, mit Bakusaiga hättest du endlich mehr Waffen als Arme.“ Er stockte, als er begriff, wie unglücklich auch diese Formulierung war und zog lieber wieder den Kopf außer Sichtweite; Ryouichi als letzte Mauer zum sicheren Tode nutzend. Doch der ließ das Schwert wieder in die Scheide gleiten und trat zur Seite.

„Du wirst Tenseiga in Stand setzen“, informierte Sesshōmaru den Schmied unterkühlt.

„Tenseiga?“, der Alte blinzelte ungläubig. „Ganz sicher? Nicht eins der anderen? Besessenen. Tödlichen. Schneidenden.“

„Du hast verstanden.“

„Wozu? Damit du es am nächsten Stein zerschlagen kannst? Du hattest nie Verwendung für dieses Meisterstück.“

Myōga sprang mit einem Satz von Ryouichis Schulter auf den Boden zu Tōtōsais Füßen, ehe er jedoch den Mund aufmachen konnte, verzog der Schmied das Gesicht zu einer Grimasse: „Und was tust du bei ihnen? Wirst du auf deine alten Tage langsam lebensmüde?“

„Die Drachen sind zurück, Tōtōsai!“

Die beiden Greise schwiegen. Es war unschwer zu erkennen, dass sie gewisse Erinnerungen teilten, an die sie nur ungern zurückdachten. Vergangene Schlachten an der Seite ihres verstorbenen Meisters – oder eher in dessen sicherem Schatten. Schließlich kratzte Tōtōsai mit seinen langen, gelben Nägeln nachdenklich über seinen kahlen Kopf.

„Das ist ein Problem.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Kerstin-san
2019-07-01T15:26:33+00:00 01.07.2019 17:26
Hallo,
 
uff, diese ganzen politischen und diplomatischen Verstrickungen habens schon in sich. Aber schön, dass langsam etwas Licht ins Dunkel kommt.
 
Hm, die Zwillinge scheinen ja doch überraschend gerissen zu sein, wenn sie es schaffen Sesshoumaru so zu verwirren, dass er ihre Fährte nicht findet. Wahrlich nicht schlecht für ein paar Menschen (auch wenn ich das nur ungern zugebe).
 
Tōtōsai ist herrlich! Genauso zänkisch und vorlaut, wie eh und je. Das der sich so lange gehalten hat und noch von keinem Inu platt gemacht wurde, liegt sicherlich nur an seinen überragenden Schmiedefähigkeiten ;)
 
Liebe Grüße
Kerstin


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