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Einem fernen Tage

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Was bisher geschah ...
Minoru erfährt, dass einer der Jungen aus dem Palast den Drachenangriff überlebt hat und trägt ihn dem Schneider als Lehrling an. Komplett anzeigen

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du ein anderer sein wirst.

Mit Einbruch der Nacht hatten sich zunehmend Krieger in der Senke des Lagers versammelt, die meisten davon Sadoaner. Ihre Gesichter unter Masken verhüllt standen sie in kleinen Gruppen beisammen, unterhielten sich angeregt oder pflegten ihre Ausrüstung. Nur ein geringer Anteil der übrigen Truppen hatte sich den Insulanern angeschlossen, zwischen denen maskierte Kinder umherrannten wie Mäuse in einem Hühnerstall. Für sie waren im Kiesbett Feuer entzündet worden, über denen Fisch und Wild brieten – Nahrung, die die Erwachsenen nicht benötigten.

Ryouichi hatte sich mit verschränkten Armen am Rand der Senke an eine große Erle gelehnt und beobachtete das Treiben aus sicherer Entfernung. Minoru fiel es schwer, seine ausdruckslose Miene genauer zu deuten, aber dass er keinerlei Ambitionen hatte, diesem Ereignis näher beizuwohnen, als die Aufsicht über seine Tochter es erforderte, war für jedermann deutlich.

Kanae hatte sich zu einer Gruppe Sado-Inu gesellt, die offenbar hohes Ansehen genossen. Neben Minorus schwarzviolett maskiertem Aufseher von letzter Nacht war auch Ryouichis Schwester unter ihnen. Wer ihren Blick kreuzte, neigte den Kopf oder vollführten eine knappe Verbeugung ehe er das Gespräch suchte. Ohatsu, deren ozeanblauer Kimono mit petrolfarbener Wellenzeichnung exzellent zu ihrer Maske passte, nahm die Gesten reaktionslos an und sprach so formlos mit den ihr untergebenen Soldaten, dass die übrigen Truppenführer des Lagers mit Sicherheit eine verstaubte Niederschrift des westlichen Protokolls zurate gezogen hatten, um abzuschätzen, gegen wie viele Normen diese Frau binnen einer Nacht verstoßen konnte. Das allein brachte ihr Minorus Sympathie ein. Soeben hatte sie einen Arm um Kanaes Schulter gelegt, um ihr verschwörerisch zuzuflüstern.

Es war auffällig, wie kontaktfreudig die Sadoaner aufeinander zugingen, sich umarmten, bei einem herben Witz deftig gegen die Schulter des anderen schlugen oder ihren Kindern über den Kopf strichen. Sie hoben sie unter den Armen hoch und warfen sie in die Luft, wenn es ihnen passte, nur um sie wieder zu fangen und mit einem Klaps fortzuschicken. Das war so absonderlich eng, dass es menschlich wirkte, erklärte aber Ryouichis Umgang mit Kanae am Nachmittag oder die offene Art, mit der er Minoru schließlich doch willkommen geheißen hatte. Er verweigerte ihre Gesellschaft, aber die Zugehörigkeit zu seinem Volk konnte er nicht gänzlich verbergen.

„Es ergibt sich mir nicht“, wandte Minoru schließlich ein. „Dieser informelle Umgang und die Nähe zueinander – warum dann die Masken?“

Die Stille zu durchbrechen, kam einem Sakrileg gleich. Seit ihrer Ankunft am Rande der Senke hatte die Laune des Generalleutnants eine erneute Wendung erfahren und steuerte auf einen Gefrierpunkt zu. Es kostete ihn offenbar alle Selbstbeherrschung, seinem Volk nahe zu sein. Die Antwort fiel dementsprechend belanglos aus: „Kultur ist immer schwer mit wenigen Worten zu umgreifen.“

„Nehmt Euch bitte die Zeit. Myōga konnte mir im Bezug auf Sado keine hinreichenden Antworten geben.“

Die Miene des Generalleutnants blieb steinern. Es bedurfte nicht viel Empathie, um zu wissen, dass er kalkulierte, wie viel sein Schüler bereits wissen mochte – insbesondere über die vergangenen Geschehnisse seinen Tod betreffend. In Anbetracht der Lage war das nur gerecht. Immerhin konnte Minoru auch nur raten, was sein Vater im Treffen mit dem Zeitdämon in Erfahrung gebracht hatte und was davon an Ryouichi weitergegeben worden war.

Zu welchem Schluss der auch immer gekommen sein mochte – er hielt den Blick auf Kanae gerichtet, lockerte aber beiläufig die Schultern, als versuche er allein damit die Anspannung abzustreifen, die seit dem Nachmittag über ihm lag. Dann atmete er hörbar durch:

„Sado ist winzig und die hier Anwesenden nur ein Teil der dort lebenden Inu. Die anderen sind bereits in Echizen oder an der Front. Die Bevölkerungsdichte der Insel ist hoch. Es ist also bereits räumlich unmöglich, dieselbe Distanz zueinander zu wahren, die der Zentralwesten bevorzugt und zudem sind die meisten irgendwie miteinander verwandt oder verschwägert. Ohatsu ist meine Schwester, Takanao, der Anführer der Sado-Inu, einer meiner Halbbrüder. Ich kann einen Stein dort unten in die Menge werfen und treffe garantiert irgendeinen entfernten Vetter.“ Die Anwesenheit so vieler Familienmitglieder hätte Honoka sicherlich verzückt – Ryouichi hingegen schien ihre bloße Existenz ein Dorn im Auge zu sein. „Wenn du genau hinsiehst, wirst du feststellen, dass die Kinder nur zu gewissen Personen ein gutes Verhältnis haben und den meisten anderen aus dem Weg gehen. Die Enge führt zu Auseinandersetzungen, nicht zuletzt zu Konkurrenz. Die Masken sind ein Weg, Abstand zu halten und Privatsphäre zu wahren.“

„Konkurrenz worum?“

„Macht im Allgemeinen, Sozialstellung im Besonderen und allem voran die Frage, wer führt oder eines Tages führen wird. Das Übliche.“

Minoru schwieg für einen Moment. Er wollte vermeiden, Staub über Wunden aufzuwirbeln, die man lieber dem Vergessen überantwortete. Seine Situation war zwar keinesfalls vergleichbar mit einem grausamen Foltertod in Gefangenschaft, doch konnte er im Grundsatz nachvollziehen, dass es Erinnerungen gab, über die man nicht sprechen wollte. Ob Ryouichis Vergangenheit jenseits des Meeres jedoch ähnliche Spuren hinterlassen hatte, war unklar.

„Warum seid Ihr dann in den Westen gegangen?“

Der Generalleutnant drehte sich zu ihm. Eine Schulter noch an den Baum gelehnt und die Arme vor der Brust verschränkt, musterte er seinen Schüler ausgiebig, ehe er eine kaum merklich die Brauen zusammenzog. „Worauf willst du hinaus?“

„Ihr seid der mächtigste Mann neben meinem Vater. Eine Einschätzung, die mir nicht obliegt, aber von Personen vorgenommen wurde, deren Urteil ich vertraue. Demzufolge gehört ihr zu den gefährlichsten Dämonen des Landes. Wollt Ihr mir nun weißmachen, dass dieser Takanao Euch in derlei Belangen voransteht? Die Führung zu übernehmen hätte ein Leichtes für Euch sein sollen.“

„Mir ist nicht klar, wie du ableiten willst, dass ich Takanao überlegen sei.“

„Ganz einfach“, Minoru strich eine einzelne Falte aus dem Stoff seines Ärmels. „Mein hoher Vater hätte Euch niemals als Trainingspartner akzeptiert, wenn es einen besseren gegeben hätte.“

Ryouichi lachte rauh: „Keine Lobpreisungen meiner Taten? Dass mein Titel nichts weiter als ein Resultat meines Todes ist – eine Wertschätzung aus Pflichtgefühl?“

Wie oft hatte man ihn darauf reduziert, dass er es gleich in dieser Form anführte? Hatte ihm vorgehalten, dass jegliches Vertrauen des Fürsten nur darauf beruhte, dass er sich einst sehenden Auges an seiner Stelle in eine Todesfalle begeben hatte? Als ob irgendjemand wahnsinnig genug wäre, einen solchen Handel in der Hoffnung einzugehen, wiederbelebt und als Generalleutnant eingesetzt zu werden.

„Ich sprach bewusst nicht von Eurer heutigen Stellung. In Eurer Jugend war der Fürst Euch nichts schuldig. Wäret Ihr ihm damals nicht annähernd ebenbürtig gewesen, hätte er seine Zeit sicher nicht an Euch verschwendet.“ Wobei Minoru dennoch zu gern Mäuschen gespielt hätte, als man seinem Vater einst eröffnet hatte, er solle mit einem Sadoaner trainieren.

Die Krieger in der Senke waren lauter geworden. Rhythmisches Klatschen und Johlen löste ernsthafte Gespräche ab und die Kinder nahmen zunehmend Abstand von den Erwachsenen. Wölfe hätten sich unter ihnen wohl gefühlt. Aber ein strikt westlich erzogener Erbe? Nein, wäre Ryouichi seinem Vater unterlegen gewesen, hätte er die ersten Wochen der kulturellen Kollision kaum an einem Stück überlebt.

„Zweifelsohne gibt es Narren, die Euch den Posten als Generalleutnant neiden und ihre Weltanschauung danach auslegen. Ich glaube aber weder, dass Ihr jemals Ansehen für diese Entscheidung wolltet noch dass mein Vater sentimental genug ist, Euch aufgrund einer alten Schuld zu ernennen. Zumal Euer heutiger Titel, so hoch angesehen er auch sein mag, hinter dem zurücksteht, was Ihr stattdessen hättet sein können. Die Ratsmitglieder sind zuletzt immer dem Taishō verpflichtet, Sado nicht. Die Insel ist seit den Zeiten der Inugami eigenständig – und erinnert gern daran, wie ich bereits feststellen durfte. Ihr hattet die Abstammung und die Macht, die Herrschaft zu beanspruchen. Stattdessen führt Ihr als rechte Hand meines Vaters Befehle aus, seid den Ratsmitgliedern formell lediglich gleichgestellt und beobachtet das Treiben Eures eigenen Volkes wie ein Außenseiter.“

Sein Gesicht blieb starr. Regungslos lauschte Ryouichi den Ausführungen als hätten die Worte keinerlei Berührungspunkte mit seinem Leben. Es fiel Minoru ungeahnt schwer, dem leeren Blick seiner gelben Augen Stand zu halten. Es brauchte keine Maske, um diesen Inu undurchschaubar zu machen. Wenn er wollte, war er unlesbar. Emotionslos. Wie Tod.

Es war der eine Moment, in dem Minoru begriff, dass er diesen Mann nicht kannte. Dass er für niemanden greifbar war. Ein Verbündeter mit Sicherheit, der ihn durch die Launen seines Vaters wie auch durch heikle Fragen manövrierte, der seiner Tochter mit Herzlichkeit begegnete, Han'yō bewirtete und mit Yūsei scherzte. Aber da war auch dieser Abgrund. Die Leere in seinen Augen, die Unbeständigkeit seiner Haltung, die morbiden Andeutungen, Myōgas Berichte von zerstörten Palastabschnitten... . Wenn beide Seiten dieser Münze einst noch viel ausgeprägter gewesen waren und er nun das auf Messers Schneide tanzende Zusammenspiel erlebte, ahnte Minoru, weshalb niemand offen über diese Angelegenheit sprechen wollte. Es war zu grausam, ihn nicht fassen zu können. Nicht zu wissen, war hiervon die wahre Maske und wie zerstört er wirklich war.

Schließlich glomm ein Funke in seinem Blick als habe jemand ein winziges Feuer in all dem Gelb entfacht. Er hätte gleichsam lachen oder einem Wutausbruch anheim fallen können, wie eine Viper, die zwischen Züngeln und Beißen wankte.

Als er sprach, war seine Stimme jedoch gefasst und wieder so vertraulich, wie Minoru es von ihm gewohnt war: „Ich hatte keine vielversprechende Zukunft auf Sado. Die Herrschaft war niemals für mich vorgesehen. Ich war ein Außenseiter, bevor ich die Insel verließ und bin es heute mehr denn je. Macht ist nicht immer ein Segen, Minoru. Für manche ist sie ein Fluch.“

„Ihr meint eine Bürde.“

„Nein. Einen Fluch.“ Er löste sich gänzlich von der Erle und griff in den Aufschlag seines Kimonos. Die Maske, die er hervorbrachte, war so dunkelgrün wie die Abzeichen, die sich wie schmale Narben von seinen Augenlidern bis zur Hälfte seiner Wangen zogen. Den Verlauf dieser Dämonenmale immitierte die Maske mit einem Einsatz aus ebenso schmal gefertigtem Obsidiangestein.

Ryouichi drehte das Kulturgut in der Hand und überreichte es Minoru. Sie war dünn gefertigt und die dem Gesicht zugewandte Seite von dem mitternachtsschwarzem Vulkangestein ausgekleidet, das ebenso wie die aus ihm geschmiedeten Waffen alles Licht verschluckte. Dies war kein belangloser Gegenstand, den man wechselte wie Tabi. Es war ein auf die Person individuell angepasstes Kunstwerk, in dem nicht nur viel Handarbeit und Mühe sondern auch unbezahlbare Materialien steckten.

„Der inoffizielle Nutzen dieser Masken, der, über den niemand sprechen will“, Ryouichi nahm sie wieder an sich und legte sie über das Gesicht. Sie schmiegte sich seinen scharfen Gesichtszügen eng an und hielt ohne jede Sicherung wie eine zweite Haut, allein durch seine Aura. „Sie verbergen die Augen.“

In der Tat schluckte die Obsidianauskleidung jeglichen Lichteinfall und erstickte das schwefelgelbe Lodern, das sich sonst umgehend aufdrängte. Verständnislos blinzelte Minoru und Ryouichi nahm das Kunstwerk wieder vom Gesicht, um es nachdenklich in den Händen zu drehen.

„Die Inugami, die unter Akaya die Ketten der Menschen sprengten, dienten ursprünglich vier Menschenfamilien. Jede Familie hatte ihre eigene, grausame Methode, aus einem Straßenhund einen Rachegeist zu formen und die Inugami, die dadurch erschaffen wurden, zeichneten sich durch unterschiedliche Fähigkeiten aus. Kiro, mein Vorfahr, war die Krönung der hohen Ambitionen seiner Schöpfer. Ein Wesen, dessen bloße Existenz Angst verbreitete. Mächtig, brutal und von den wenigsten Beschwörern zu bändigen. Akaya setzte sich über die Einwände der übrigen Inugami hinweg und befreite ihn. Mein Vorfahr muss Eíndruck hinterlassen haben. Nachdem sie die menschliche Zivilisation ihrer Zeit in den Staub geworfen hatten, bat Kiro, mit seinen Anhängern nach Sado übersiedeln zu dürfen. Mehrere Kilometer Wasser zwischen ihn und andere zu bringen fand auch bei Akaya regen Anklang – und der hat sonst nie jemanden aus seinen Diensten entlassen.“

Er betrachtete die Maske eindringlich. „Kiros Unberechenbarkeit lag in seinem Wesen, aber auch in dem absoluten Kontrollverlust, sobald er seine menschliche Erscheinung verließ. Jeder Dämon fürchtet den Moment, wenn Yōki den Verstand unterwirft. Nicht einmal mit einem Han'yō würde ich mich dann anlegen wollen, geschweige denn mit einem Daiyōkai. Kontrollverlust und Daiyōkai gehen in meiner Familie Hand in Hand. Es kommt nur im Zusammenspiel und den Daiyōkai kann man mir nun einmal an den Augen ablesen.“ Er lächelte schmerzlich. „Meine Mutter und Schwester wussten es, aber hätten andere herausgefunden, was ich war, hätte ich mit viel Glück als unbewaffneter Dienstbursche leben dürfen. In der Regel wirft man Kinder wie mich ins Meer.“

Minoru wurde eiskalt. Die Angst, die am Nachmittag durch Ryouichi gefahren war, hatte nicht etwa mit ihm zu tun gehabt. Sie war seiner ureigenen Furcht vor sich selbst entsprungen. Eine Angst, die sein Volk dazu brachte, Kinder zu ermorden. Ihre eigenen Daiyōkai zu ertränken.

„Das Gesicht zu verdecken, wenn man eine solche Gefahr ausmerzen will, ist Unsinn. Es wäre einfacher, die Kinder ausfindig zu machen, wenn es keine Masken gäbe“, sinnierte Ryouichi und klang dabei, als hadere er mit sich, ob die effektivere Lösung die angenehmere wäre. „Die Masken wurden für den Kampf entworfen, haben sich aber im Privaten durchgesetzt. So ist das mit Kultur manchmal. Bei der Partnerwahl oder vor Antritt eines Führungspostens müssen sie jedoch abgelegt werden. Sie hätten gesehen, was ich bin. Mein Vater muss es geahnt haben. Er hat nie ein Wort darüber verloren. Aber er hat dafür gesorgt, dass ich an den westlichen Hof gebracht werde. In eine Festung mit mindestens drei Daiyōkai, die mich im Zweifelsfall zurückhalten könnten. Oder töten.“

„Ich hätte das heute Nachmittag nicht sagen dürfen.“ Die Worte waren aus Minoru hervorgeplatzt, ehe er genauer darüber nachgedacht hatte.

Ryouichi hatte ihm bereits gezeigt, was er davon hielt, von einer ausgesprochenen Härte wieder Abstand zu nehmen und selbstverständlich hatte er mit dieser Lektion recht. Doch dieses Mal ging er nicht so vehement gegen ihn vor und schüttelte lediglich den Kopf: „Dein Mitleid macht es wirklich nicht besser, Junge. In dem Moment, als du mir so barsch mit deinem Kontrollverlust gedroht hast, wusste ich, dass du nicht wissen konntest, was ich bin.“ Er bemerkte Minorus verdutzten Blick und lächelte abermals. „Emotionale Schwachstellen auszunutzen passt nicht zu dir. Schon gar nicht, wenn du mir im selben Atemzug vorwirfst, genau das getan zu haben. Du hast bislang immer nur deine eigenen Grenzen aufgestellt. Meine übertreten würdest du deswegen nicht.“

„Wollt Ihr sagen, ich sei zögerlich?

„Nein. Du lässt anderen nur den Freiraum, den du auch gern hättest. Das ist nicht zögerlich, es ist empathisch. Ebenso wie das Retten fremder Han'yō oder die Tatsache, dass du Lehrstellen an verkrüppelte Jungen vermittelst oder zurückschreckst, sobald eine Drohung Wirkung zeigt. Es ist nur eine Schwäche, wenn du zulässt, dass andere es ausnutzen.“

Minoru verschränkte die Arme vor der Brust und kaute auf der Innenseite seiner Wange herum: „Schwer vorstellbar, dass diese Annahme beim Fürsten auf Wohlklang trifft.“

Zu seinem Erstaunen setzte sich ein mildes Lächeln in den Mundwinkel seines Gegenübers. Sie beide wussten, dass er kaum Luftsprünge machen würde. „Interessant, dass du zu allererst befürchtest, es könne das Weltbild deines Vaters erschüttern. Was ist mit deinem?“

„Nun, meines wird kaum das des Westens widerspiegeln. Ich hatte gerade erst eine ausgiebige Diskussion über mein Machtverständnis und die Bedeutung von Ambitionen und bin froh, meinen Kopf noch auf den Schultern zu wissen. Ich brauche nicht allzu schnell eine Wiederholung.“

Ryouichi hob erstaunt die Brauen empor. „Wer-?“

Ehe er die Frage vollenden konnte, hatte Minoru seine Halskette unter dem Kragen hervorgezogen.

Die schwarze Perle hatte sich mit Leichtigkeit in die Rundung des halbmondförmigen Anhängers hineindrücken lassen, den er zu Neujahr von den Higurashis geschenkt bekommen hatte. Seicht glomm das Schwarz des Schmuckstücks im Mondlicht und ließ dem Generalleutnant die Luft anhalten.

Es schien nur fair, die Karten auf den Tisch zu legen, nachdem auch Ryouichi gerade so bereitwillig Rede und Antwort gestanden hatte. Als Nebeneffekt kam er vielleicht darum herum, seinem Vater zu erläutern, warum der Brunnen nun doch den Dienst wieder aufgenommen hatte.

Das Letzte, was er wollte, war mit dem Fürsten über dessen Vater zu sprechen – und mit Glück trug nun einfach Ryouichi diese Information an ihn heran.

„An Obon stand er plötzlich vor mir. Ich hätte niemals gewagt, einen meiner Vorfahren um Beistand anzurufen, aber er hat es offensichtlich darauf angelegt. Hat mich ins Kreuzverhör genommen und mich zur Perle geführt. Ohne sie säße ich sicher immer noch in der anderen Epoche fest.“

Ryouichi starrte in die Tiefen der Perlen, als versuche er zu ergründen, was in den schwarzen Abgründen verborgen lag. Wenn Minoru seinen Großvater richtig verstanden hatte, war es der ehemalige Eingang einer Grabstätte, welcher seine Funktion längst eingestellt hatte.

Dann wandte der Generalleutnant jegliche Aufmerksamkeit seinem Schüler zu: „Tōga-sama, Inu no Taishō und Herr des Westens, hat dich eigenhändig aufgesucht, um dir seine Grabstätte zu übergeben und sich mit dir zu unterhalten? Und ich soll dir glauben, dass du das in einem Stück überlebt hast?“

Es war ein Test. Kein besonders guter, aber effektiv, wenn man wusste, wie weit die Kluft zwischen der öffentlichen Wahrnehmung des ehemaligen Fürsten und dessen tatsächlichen Auftreten klaffte.

„Er war äußerst amüsiert über meine Ansichten und ich fürchte, er hat es irgendwie genossen, dass sie nicht unbedingt mit denen meines Vaters übereinstimmen. Recht gehässig von ihm, wenn ich genau überlege...“ Minoru ließ die Kette wieder unter seiner Kleidung verschwinden und strich die weiße Spinnenseide glatt. Als er wieder aufsah, war der Blick seines Gegenübers unverwandt auf die Stelle gerichtet, an der der Anhänger auf seiner Brust ruhte. War er zuvor ein bereitwilliger Gesprächspartner gewesen, änderte sich seine Haltung nun schlagartig. Seine Augen wurden klarer, während er Minoru immer wieder mit prüfendem Blick musterte, als lausche er einem wichtigen Vortrag, den nur er hören konnte. Schließlich strich er nachdenklich mit der Hand über sein Kinn und verlagerte das Gewicht. „Ich frage mich, ob-“

Er hielt inne. In der Senke setzten Trommeln ein. Wie die Wellen eines unsichbaren Meeres schlug das Dröhnen durch den Wald und hallte in Minorus Brust wieder wie ein zweites, ungezähmtes Herz. Einige Krieger umkreisten sich mit gezogenen Speeren, in der Menge wurde es unruhig. Knurren mischte sich unter die Trommelklang, Pfiffe peitschten über die Kontrahenten und einstweilen ein helles, forderndes Bellen, das scheußlich in den Ohren kratzte.

Minoru zuckte zurück, als sich die Aura des Generalleutnants neben ihm spürbar zusammenzog. Eine dunkle Kugel zentrierter Energie fegte in die Senke hinab, wo seine Gestalt am äußeren Rand der Menge erneut Form annahm und sich einen Weg durch die Feiernden bahnte.

Minoru erhaschte einen kurzen Blick auf Kanae, die sich hinter dem violett maskierten Sadoaner in Sicherheit duckte, als unmittelbar vor ihr zwei Krieger aufeinander losgingen. Die Angst ins Gesicht geschrieben, verschwand sie in einem Gewirr aus Waffen, Zähnen und Klauen.

Im nächsten Moment fegte eine Druckwelle über den Boden und ließ die Steine im Kiesbett glühen. Die Sadoaner wichen vor Ryouichi zurück, der einem Mann soeben den Arm bis auf die Knochen aufgerissen hatte. Seine Klauen waren blutüberzogen, als er den Soldaten am Kragen packte und mit einer Wucht auf den Boden warf, die dem hässlichen Knacken nach mindesten zwei Rippen gekostet hatte. Kanae schrie entsetzt auf, als der Sadoaner neben ihr im Kies landete, wurde jedoch von ihrem Wächter bestimmt aus dem Chaos herausgedrängt, während Ryouichi mit loderndem Blick herumfuhr. „Ich sagte keine Trommeln!“, seine Stimme donnerte durch die Senke wie ein Sommergewitter. „Keine Kämpfe!

Irgendjemand war dumm genug, ihm zu widersprechen. Die Worte, vermischt mit Knurren und dem seltsamen Dialekt der Insel, verstand Minoru nicht, doch sein Aufschrei, als Ryouichi einen Speer aus der Menge griff und ihn ohne zu zögern in dessen Oberschenkel schleuderte, war international verständlich.

„Wag' es ja nicht, mich über meine eigene Kultur belehren zu wollen, du elendes Stück Hundefleisch! Das hier ist nicht Sado! Das ist mein Lager, meine Regeln! Wenn noch jemand das dringende Bedürfnis verspürt, sich auf die Schlacht einzustimmen: Ich warte!“ Er ließ den Blick durch die Menge schweifen. Ohne Maske. Sie wichen vor ihm zurück.

Wenn sie um die Bedeutung seiner vor Wut funkelnden, gelben Augen wussten, war es unmöglich, dass in den vergangenen Jahren nicht deutlich geworden war, mit was sie es zu tun hatten. Ihm jedoch unmittelbar gegenüberzustehen, von ihm herausgefordert zu werden – sie nahmen die Hände demonstrativ von den Waffen und zogen sich zurück. Eine Verlagerung des Gewichtes, einige eingezogene Köpfe, Stille.

Ryouichi schnaubte, richtete sich auf und überblickte den Platz herrisch. „Flickt sie zusammen. Wer bis zur Schlacht auch nur das kleinste Handgemenge provoziert, dem reiße ich sämtliche Eingeweide 'raus. Spart euch das für die Drachen auf.“

Kanae war von dem Inu hangaufwärts gedrängt worden, wo Ohatsu ihr soeben fremdes Blut sorgsam von der Wange strich und leise mit ihr sprach. Minoru hatte sich einen Weg um das Geschehen gebahnt und wäre etwa zeitgleich mit seinem Lehrer bei den dreien angekommen, verlangsamte seine Schritte jedoch, als er den Ausdruck auf Ryouichis Gesicht bemerkte, der Unheil verkündete. Der Generalleutnant griff an Ohatsu vorbei, zog seine Tochter schützend an sich und legte einen Arm um ihren schmalen Rücken.

Sie sah hastig zu ihm auf. „Es ist alles in Ordnung. Es geht mir gut.“

Das entlockte ihm zwar ein warmes Brummen, milderte jedoch keineswegs seine Laune. „Wolltest du nicht auf sie aufpassen?“

Seine Schwester spannte sich umgehend an: „Es geht ihr gut! Was du allerdings mit der Motivation der Männer angestellt hast-“

Er schnitt ihr das Wort mit einem klickenden Laut ab und legte die Hände auf Kanaes Schultern, wie er es zuvor bei Minoru getan hatte. „Geh ins Bett, Liebes. Naoko wird bei dir bleiben.“

Der violett maskierte Soldat erwachte unter dem Blick des Generalleutnants aus seiner Trance und zuckte kurz zusammen. „Ja, Onkel. Natürlich.“

Minorus Verstand stolperte über die weiche, weibliche Stimme, die unter der Maske hervordrang, ehe er bemerkte, dass er sie unverwandt anstarrte. Das war kein Mann! Sie hatte kaum weibliche Rundungen, war schmal und drahtig wie ein Junge und nur unwesentlich kleiner als er, aber die Stimme, der Name, die schmaleren Schultern- der Inu, der ihn vergangene Nacht abgeführt hatte wie einen Verbrecher, war eine Frau!

„Kōtaishi“, Ryouichis Tonfall glich einem aufziehenden Gewitter. „Darf ich Euch bitten, sie zu begleiten?“
 

Minoru hatte Kanae und Naoko wortlos bis zu einer der Holzpalisaden gebracht, in deren Windschatten ein Schlaflager aufgeschlagen worden war. Sobald sie die Sichtweite des Generalleutnants verlassen hatten, war ein gereizter Ausdruck auf Kanaes Züge getreten, die unnachgiebig angetrocknetes Blut von ihrem Handrücken gekratzt und die Zähne derart fest zusammengebissen hatte, dass ein Muskel in ihrer Wange hervorgetreten war. Als sie sich Minorus Anwesenheit in Erinnerung gerufen hatte, war ihre Haltung schlagartig in höfische Muster gefallen und niemand hätte mehr sagen mögen, was in ihr vorging.

Einen Ablenkungsversuch, als sie ihm dafür danken wollte, Eiji zu Yūsei in die Lehre geschickt zu haben, hatte Minoru kalt abblitzen lassen. Wenn sie in seiner Gegenwart nicht bereit war, vom Protokoll abzuweichen, würde er sich und seine Absichten nicht als Zentrum der Aufmerksamkeit opfern.

Danach hatte er sich in Ryouichis Zelt im Zentrum des Lagers zurückgezogen und brütete, Ichirou kraulend, über einigen Landkarten. Als der Generalleutnant zurückkehrte, war es weit nach Mitternacht. Er betrachtete das Geschehen im Raum kritisch und fuhr sich mit den Klauen durch das schwarze Haar, das er im Nacken zu einem kurzen Zopf zusammengebunden hatte. Er sah aus, als habe ihn soeben erst die Erkenntnis getroffen, dass er sein Lager in dieser Nacht nicht für sich allein haben würde.

„Ich kann draußen schlafen“, bot Minoru an ohne aufzusehen.

Ryouichi antwortete nicht. Er ließ sich in einen Schneidersitz sinken und beobachtete Minoru aus einer Ecke des Zeltes heraus. Der ließ sich durch die Anwesenheit nicht stören und widmete sich erneut dem Verlauf der Front, bis Ryouichi nach einer Weile doch die Stille brach:

„Warum hast du den Jungen zu Yūsei gebracht?“

„Jetzt weiß ich, woher die abrupten Themenwechsel Eurer Tochter stammen.“

„Die beiden Jungen waren ihre Freunde. Es ist nicht verwunderlich, dass sie dich darauf anspricht.“

„Das meinte ich nicht.“ Der Akita streckte sich ausgiebig und rollte im Schlaf brummend auf die andere Seite. Minoru nahm die Hand aus seinem dichten Fell und rollte eine weitere Karte auseinander. „Mich wundert, dass Ihr mir nicht den Kopf abreist, weil ich impliziere, mit ihr gesprochen zu haben.“

„Es steht mir nicht an, dir zu verbieten, mit irgendjemandem zu sprechen“, erwiderte Ryouichi mit dunkler Stimme.

„Dennoch lasst Ihr mich seit meiner Ankunft nicht aus den Augen und habt heute Nachmittag unmissverständlich gemacht, was Ihr von meiner Anwesenheit in der Nähe Eurer Tochter haltet.“

„Du warst halb nackt“, knurrte er. „Ein Fürstensohn, von Hals bis Taille unbekleidet, ist das letzte, was ein Mädchen sehen sollte. Sie ist jung – und du der fatalste Tagtraum, den sie haben könnte.“

Minoru ließ die Karte in seiner Hand sinken und musste ernstlich überlegen, ob er ihm für die Aussage nun dankbar sein oder das Tuschefass nach ihm werfen sollte. „Bin ich Euch etwa nicht gut genug?“

„Du bist gefährlich“, antwortete er ohne Umschweife. „Du bist mächtig, einflussreich. Dein Titel würde reichen, aber zu allem Überfluss bist du auch noch gutaussehend. Wenn die Öffentlichkeit das begriffen hat, werden die hohen Häuser sich darum reißen, dir eine ihrer Töchter ans Bein zu binden. Inu, Kitsune und andere gleichermaßen. Ich habe es bei deinem Vater erlebt und mit dir wird es sicher nicht anders, wenn nicht sogar noch schlimmer.“

„Wieso sollte es?“

„Weil du als Spross der beiden größten Familien dieses Volkes beide unmittelbar unter dir vereinen könntest. Shiro und Echizen. Weil bei Sesshōmaru schon lange vor den ersten Offerten weithin bekannt war, dass er kein Interesse an einer Verbindung hatte. Dass er keine politischen sondern rein expandierende Ziele verfolgte, die er nicht über Heirat sondern allein durch das Schwert erreichen wollte. Weil du nahbarer bist als dein Vater.“ Er machte eine Pause, sicher um Minoru die Möglichkeit zu geben, die letzte Aussage zu verwinden, dann fuhr er fort. „Kanae würde eine Verbindung mit dir nicht überleben. Ich weiß, sie ist gewandter und stärker als ich es wahrhaben will, aber zwischen den Ambitionen der hohen Töchter anderer Familien würde sie in Stücke gerissen wie Pergament in einem Orkan. Ich habe sie in militärischen Grundlagen unterrichtet – aber der Krieg, der um dich geführt werden wird, kennt diese Form von Waffen nicht.“

Minoru musste nicht viel darüber nachdenken, was der Generalleutnant damit wohl meinen mochte. Die Erinnerung an seine Mutter kratze mit samtenen Klauen an seinem Geist. Sie war wie geschaffen für diese Art von Krieg. War Chizuru als Fürstinmutter längst über jeden Zweifel erhaben und unantastbar, hatte seine Mutter stets den Eindruck vermittelt, jedes Hindernis auf ihre eigene, intrigante Weise aus dem Weg zu räumen. Es gab gewisse Parallelen zwischen den beiden Frauen, doch wo Chizuru mit einem schmalen Lächeln aufgrund ihrer sturmerprobten Stellung Widerstände niederriss, hätte die Unsicherheit seiner Mutter mit Sicherheit Leben gefordert.

Sein Mund wurde trocken. „Ich verstehe.“

„Mach ihr keine Hoffnung.“

„Ich bin nicht an ihr interessiert. Auch an sonst niemandem. Es war Eure Ablehnung, die mich gestört hat.“ Auch er zog die Beine in einen Schneidersitz und musterte den Generalleutnant, der seinen Blick erwiderte, als ob es nun an ihm wäre, abzuwägen, ob dieses Desinteresse nun wiederum Kanae beleidigte. Minoru tat ihm den Gefallen und lenkte ein: „Sie ist ausgesprochen hübsch und mit Euch als Vater sicher nicht wehrlos. Fleißig. Ich weiß, dass sie Rin mit den Heilkräutern hilft und im Palast arbeitet. Eines Tages wird sie einen guten Mann finden, der Euren Vorstellungen entspricht und sie in eine weniger bedrohliche Lage bringt. Auch wenn es der Allgemeinheit sicher einen Stich versetzen wird, dass ich nicht ausgerechnet mit der Tochter der rechten Hand meines Vater ausgehe.“

„Sie ist nicht mein leibliches Kind, sondern die Tochter eines Mannes, der fiel, als sie kaum laufen konnte. Für sie bin ich ihr Vater, aber sie teilt keineswegs meine problematische... Veranlagung.

Der Rat würde es dennoch weder gutheißen, wenn du dich mit der Tochter eines einfachen Soldaten abgäbest, noch mit einem Mädchen, das ausgerechnet von mir aufgezogen worden ist.“

„Der Rat kann mich mal“, entgegnete er unwirsch und legte die Karte endgültig auf den Tisch. „Sie können mich entweder fürchten oder mir Vorschriften machen. Beides geht nicht.“

„Das klingt absolutistischer als ich es von dir erwartet hatte.“ Ryouichi schmunzelte amüsiert.

„Ich weiß nicht, zu was ich in einigen Jahren in der Lage sein werde. Wer ich bin, wenn mein Vater stirbt und ich die Herrschaft über den Westen beanspruchen muss. Aber was auch immer geschieht: Benutzen lasse ich mich nicht. Ich werde nicht nach außen den Fürsten spielen, um Entscheidungen zu legitimieren, die nicht meine sind, weil ein Rat mich meiner Herkunft wegen als Marionette eingesetzt hat. Entweder ich bin in der Lage, sie zu kontrollieren oder ich bin es nicht – dann bin ich aber auch nicht der Fürst des Westens.“

Wieder Stille. Das Lächeln war auf den Lippen des Generalleutnants abgestorben noch ehe es seine Augen erreicht hatte. Er betrachtete Minoru wie schon in der Senke nachdenklich und lehnte sich schließlich kaum merklich vor. „Du verstehst dich doch mit Tōtōsai, nicht wahr?“



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