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Einem fernen Tage

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Was bisher geschah...
Minoru und Kaito haben die Materialien für Tenseiga beschafft. Nun nötigt Tōtōsai Minoru zur Offenheit.

Anmerkung: Ich habe im vorangegangenen Kapitel eine Passage nachgetragen, die dort ursprünglich stand, später aufgegriffen werden sollte und da doch nicht passt (das übliche Dilemma..). Ist mir so noch nicht passiert und ich entschuldige mich hiermit ausdrücklich. Die Passage ist mit " [ ] " markiert und wurde am 27.11 abends ergänzt. Wer danach gelesen hat, kann die Anmerkung also ignorieren. ;)

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Beta: Morgi

Hallo liebste Leser,

zunächst einmal möchte ich mich herzlich bedanken, dass ihr Minoru und mich bis hierher begleitet habt. Keine Sorge, das ist nicht das Abschluss-Statement, sondern eher eine Zwischenbilanz. Nachdem ich "Einem fernen Tage" ursprünglich nur begonnen habe, um mich zum Schreiben von Kampfszenen zu zwingen, die in dieser Welt unausweichlich sind, ist es über die Jahre etwas... nennen wir es "explodiert".
Neben der Fortführung der Fanfiktion (sie wird einen Abschluss bekommen und wir nähern uns dem allmählich, wobei ich sicherlich ausreichend Stoff hätte, um dieses überlange Monstrum noch weiter zu füttern), überlege ich derzeit eine Umarbeitung/Storyraffung der Canon-Inhalte zu einer gänzlich eigenen Geschichte. Der Plan steht, über die Sinnhaftigkeit des Unterfangens diskutiere ich noch mit mir und der Umwelt. Es gibt einige Punkte, die dabei unumstößlich sind, aber im Großen und Ganzen tragen sich die OCs und die Hintergrund-Lore selbst.
Wer bis hierher gelesen hat, kann vermutlich fundierte Einschätzungen und Meinungen zu bilden und ihr seid herzlich eingeladen, sie mir an den Kopf zu werfen und euren Senf dazuzugeben.
Darüber hinaus sind weitere Werke in Planung, die nichts mit japanischer Mythologie zu tun haben, sich aber nichtsdestotrotz im Fantasy-Genre bewegen. Vermutlich werde ich von diesem Aspekt nie gänzlich ablassen, auch wenn der Fokus auf Charakterinteraktion liegt.
Ich werde in dem Zusammenhang auch mit einer Instagramseite unter demselben Namen arbeiten. Wenn ihr also Lust habt, mich auch dabei zu begleiten, findet ihr mich dort gleichsam unter Silberfrost. Noch herrscht dort gähnende Leere, aber da ich recht passabel darin bin, Leere mit ein paar zu vielen Worten zu füllen, wird das wohl nicht mehr lange so bleiben.
Alles mit dem Wissen, dass das "reale Leben" die Zeitfenster zum Schreiben vorgibt ;). Aber das war ja schon immer so und mit ein paar motivierenden Tritten (an der Stelle vielen Dank an Morgi und xerxe-nisan) geht es dann doch etwas schneller.

Herzlichen Dank für eure Aufmerksamkeit. Es freut mich, euch bis hierher unterhalten zu haben und ich hoffe, dass mir das auch weiterhin gelingt.

Ganz liebe Grüße,
eure Silberfrost Komplett anzeigen

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hinter der Hoffnung

Die Forderungen des Schmieds waren wie eine unsichtbare Klinge, die sich gegen seinen Hals presste und ihm die Luft abschnürte. Minoru starrte in die Flammen. Seit Minuten hatte er kein Wort gesagt. Niemand hatte das, und allmählich wurde das Knacken der Kohlen so ohrenbetäubend, dass er sich zusammennehmen musste, um nicht aufzustehen und seinen letzten Hauch Würde in dieser abgelegenen Hütte zu vergessen, indem er hinausstürmte und Tōtōsai mit all seinem Gerede über Auren und Charakter zurückließ - und damit auch die eine Chance, den untoten Drachen effektiv entgegenzutreten. Welche Wahl hatte er also? Was waren schon unangenehme Stunden gegen die Vorteile, die diese Waffe ihnen bringen würde?

Er wusste, dass seine Weigerung dumm war. Dumm und kindisch und unangebracht. Es waren nur Worte, die er verlangte. Wahre Worte über Jahre, die er lieber vergessen hätte, aber am Ende doch nur Worte. Niemand würde für diesen Handel sterben müssen, es drohte nicht einmal unmittelbare Gefahr. Im Grunde war es lächerlich, dass er sich derart anstellte, einen so geringen Preis zu zahlen. Doch allein der Gedanke an einzelne Momente; die Bilder, die sich dabei aufdrängten -

Sein Mund war staubtrocken und je länger er schwieg, desto schwieriger schien es, die Stille zu durchbrechen und überhaupt irgendetwas zu sagen.

Es vergingen weitere Minuten, in denen er in die Leere starrte und Kaito sich in seiner Ecke unbehaglich regte. Dann riss sich Tōtōsai mürrisch von seiner Arbeit los und wandte sich Minoru zu, der sich zwar genötigt fühlte, seinem Blick zu begegnen, es aber dennoch nicht tat.

„Hmpf. Ich habe kein Interesse daran, alte Wunden aufzureißen oder zu schwafeln. Wenn ich etwas frage, dient das einem Zweck. Traust du mir nun oder nicht? Du sitzt noch hier, Junge, also überleg’ dir, wo du anfängst. Vielleicht wo du früher gelebt hast? Als das Menschenmädchen deines Vaters dich versorgt hat, war sie sicher, dass du nicht aus dem Westen kommst.“

Auf eine kindische Art war Minoru dankbar, dass der Schmied den Faden selbst wieder aufgenommen hatte und gemäßigter sprach; dass er ihm einen Anfang geboten hatte, auch wenn es ihm immer noch widerstrebte, sich darauf einzulassen. Doch wenn er nun nichts sagte, wäre der Moment verstrichen und die Stille zurück. Dann wäre die Möglichkeit dahin und nur seinetwegen würden andere sterben. Nur weil er zu widerspenstig gewesen war. Zu schwach.

„Ich bin im Chūgōku-Gebirge aufgewachsen.“

„Was macht Sesshōmarus Sohn im Süden? Ich hatte deinem Vater zugetraut, dass er seinen Erben nicht öffentlich zeigt, bis er eine Schlacht schlagen könnte. Aber ihn außerhalb seines Einflussgebietes zu verstecken? Niemals.“

„Das kann ich nicht beantworten. Es gibt da Ungereimtheiten. Zwischen dem, was mir erzählt worden ist, und was tatsächlich geschehen sein wird.“

Achselzuckend prüfte Tōtōsai die Temperatur der Kohlen mit dem bloßen Finger: „Wir wollen eine Waffe schmieden. Wahrheitsfindung und Geschichtsschreibung überlassen wir anderen. Was also hat man dir erzählt?“

Minorus Blick folgte abwesend Tōtōsais Hand, die sich an verschiedenen Stellen auf die Glut legte. „Dass meine Mutter mit ihrem Leben im Westen unzufrieden war und mit einem Kitsune durchgebrannt ist. Dass sie nach Süden fliehen mussten, weil ihre Familie und der Hof den Blutsverrat nicht geduldet hätten - insbesondere meinetwegen nicht. Genauso wie sie meinetwegen nicht eher an den südlichen Hof gehen konnten, bis ich mir als Mischling einen Platz in der Gesellschaft meines Vater verdient hätte.“

In der Ecke des Raumes richtete sich Kaito langsam auf und zog ein Knie heran. Minoru ahnte, warum er ausgerechnet jetzt hellhörig wurde, vermied es jedoch, auch nur aus den Augenwinkeln zu ihm hinüberzusehen. Es war schlimm genug, dass er anwesend war. Ihm nun noch Beachtung zu schenken, seine Aufmerksamkeit anzuerkennen - das wäre zu viel gewesen. Tōtōsai reichte und dessen Miene war von Zweifel erfüllt: „Dein Vater, von dem du dachtest, es sei dieser Fuchs.“

„Ja.“

„Das ist lächerlich. So einiges davon. Als würde es Sesshōmaru kümmern, wenn eine Inu ihr Glück jenseits der Grenze suchte. Ich bezweifle, dass er überhaupt die Hälfte der Namen jener Frauen kennt, die ihm über die Jahrhunderte angeboten worden sind. Eine Frau jedoch, die seinen Erben trägt und dann durchbrennt? Ausgeschlossen.“

„Ich sagte Euch bereits, dass es widersprüchlich ist.“

Tōtōsai schüttelte den Kopf und es war mehr als deutlich, dass er die ein oder andere Meinung zu dieser Geschichte gehabt hätte, sich jedoch zurückhielt. „Das ist es, aber gut. Als Kind nimmt man alles hin und du warst kaum mehr als das, als du zum ersten Mal hier aufgetaucht bist. Ich nehme an, davon wollten sie dich ursprünglich abhalten?“

„In den Westen zu gehen? Das war im Grunde auch nie mein Plan, sondern eine Verkettung von Missgeschicken, aber natürlich: Meine Mutter hat viel Wert darauf gelegt, mir zu vermitteln, was mich im Westen erwarten würde. Nämlich Krieg und Hass und Tod, weil die Inu niemals einen Mischling mit zweifelhafter Loyalität dulden und mich allein meiner Existenz wegen erschlagen würden. Ihr seht: Der Westen war ein denkbar reizloses Ziel.“

„Sie haben dich also nicht einfach gehen lassen.“

„Ich bin aus dem Gebirge geflohen, als ich klein war.“

Argwohn mischte sich in die Züge des Schmieds: „Klein.“

„Elf, vielleicht zwölf. So genau weiß ich das nicht mehr.“

Die großen, weißen Augen des Mannes blinzelten einmal, ein zweites Mal, dann schüttelte er verständnislos den Kopf. „Wie-?“

„Sagen wir, ich kann mich ganz gut am Leben halten.“

Kaito hatte den Unterarm auf seinem angezogenen Knie abgelegt und bleckte die Zähne: „Du hättest nach Stunden tot sein müssen. Nur ein Kampf -“

„’Am Leben halten’ schließt ein, dass man derlei aus dem Weg geht. Weiß, wann man etwas riskieren kann und wann nicht. Ich bin nicht zum Krieger erzogen worden. Alles andere als das. Aber wenn du darauf angewiesen bist, lernst du zumindest jagen - oder verhungerst.“

„Ein junger Inu kann unmöglich durch die Wälder spazieren, ohne aufzufallen“, knurrte Kaito.

„Ein Hund schon. Meistens jedenfalls.“

Vermutlich zweifelte sein unerwünschter Zuhörer nicht gänzlich am Wahrheitsgehalt dieser Geschichte. In seinen Augen konnte schlicht niemand über Monate und Jahre umherwandern, ohne in einen Kampf zu geraten. Aber das war vermutlich dem geschuldet, dass er selbst gewiss sehr präsent und mit einer unverhohlenen Herausforderung durch die Welt ging, die er all jenen ins Gesicht spuckte, die seinen Weg kreuzten. Die Diskussionen hatte Minoru zur Genüge geführt - und es war beinahe aberwitzig, wie ähnlich Kaito und Takeru sich in diesen Belangen waren.

„Du willst uns weismachen, dass du jahrelang nur Beeren und Hirsch gefressen hast und ohne Kampferfahrung allein überleben konntest?!“

„Mäuse und Kleinvieh“, korrigierte Minoru. „Beeren und selten das, was Menschenfelder hergeben.“

Kaito verzog angewidert das Gesicht. „Warum sollte jemand so leben wollen?“

Oh ja, sehr, sehr ähnlich.

Tōtōsai, der den Abtausch bislang schweigend verfolgt hatte, gab ein zustimmendes Murren von sich: „Er hat nicht ganz Unrecht. Die Lebensumstände, das Risiko - warum?“

Warum. Hatte er gerade noch gedacht, die Situation sei vermutlich nicht so schlimm wie befürchtet, riss ihm die Frage den Boden unter den Füßen weg. Wie sollte er nur begreiflich machen, weshalb jedes Horrorszenario, dass sich andere ausmalen mochten, auch durch seinen Kopf gegangen war? Dass ihm in der ersten Zeit jedes Geräusch durch Mark und Bein gefahren war und jeder zu schnell fallende Schatten eine Panik ausgelöst hatte, die er bis zu dem Drachenangriff auf den Palast nicht wieder gespürt hatte?

Er war beim besten Willen kein wagemutiger Ausreißer gewesen, wie es sich mutigere Personen wohl zuvor in der Phantasie zurechtgelegt hätten. Nein, er hatte gewusst, dass er Angst haben würde. Dass er vermutlich sterben würde. Und das war es ihm wert gewesen. Warum.

„Minoru?“

Er zuckte zusammen, als er seinen Namen aus Tōtōsais Mund hörte und bemerkte das Brennen an seinem Handgelenk, wo ein dünnes Rinnsal Blut aus einem Schnitt hervortrat, den er sich vermutlich selbst geschlagen hatte. Missmutig betrachtete er die gereizte Haut, wo er abwesend ein Armband zu drehen versucht hatte, das seit Jahren versteckt und vergessen in seinen Taschen vegetierte.

„Meine Mutter und ich sind nicht sonderlich gut ausgekommen.“

„Das muss die Untertreibung des Jahrtausends sein“, bemerkte Kaito, der den Blick nicht von dem Blut abwenden konnte, das zischend auf dem heißen Boden tropfte und einen metallischen Geruch unter den allgegenwärtigen Schwefel mischte.

„Vielleicht.“

Tōtōsai ließ seinen Feueratem auf den Stahl niedergehen und unterbrach damit Kaito, der darüber nicht gerade begeistert schien und sich mit einem Zähneschnappen zurück an die Wand sinken ließ. Dankbar atmete Minoru durch und beobachtete Tōtōsai, wie er das Schwert abermals wendete und in Flammen hüllte. Hitze schlug durch den Raum und ballte sich unter dem Dach, ehe sie sich durch die unzähligen Löcher ins Freie entwand. Als nackte Klinge, ohne das Griffstück mit dem vertrauten Rautenmuster aus schwarzem Band über weißer Rochenhaut, war Tenseiga kaum zu erkennen. Die Scharten glühten weiterhin als schmale, weiße Linien in einem Fluss hell-orange leuchtendem Stahls, aber darüber hinaus hätte es jede Waffe von gleicher Länge sein mögen.

Der Alte zog die Spinnenlilien heran und nahm ein kleines Messer zur Hand, um damit die Stängel der Länge nach aufzuschneiden und auszupressen. „Was meintest du damit, sie hätten dich nicht zum Krieger ausgebildet. Zu was dann?“

„Meine Ausbildung war eher höfischer Natur.“

„Was zumindest erklärt, warum du für einen verwahrlosten Streuner so ungewöhnlich eloquent warst. Du kannst lesen?“

„Lesen und schreiben.“

„Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen, Junge.“

Minoru biss für einen Moment die Zähne zusammen. „Lesen, schreiben und rechnen, rezitieren und singen. Umgangsformen und Benimm. Außerdem diverse Tänze und ich kann - na ja, konnte jedenfalls - Koto spielen. Abgesehen von den wissenschaftlichen Grundlagen also nichts, das einem den Hals rettet, wenn es darauf ankommt.“

„Du bist von einer Frau unterrichtet worden, so viel steht fest.“ Der Alte kratzte verlegen an seinem Kinnbart herum, während Kaito sichtlich damit zu kämpfen hatte, sein Lachen in der Faust zu ersticken. „Und, kannst du gut singen?“

„Wenn jeder falsche Ton dir einen Schnitt einbringt, lernst du sehr schnell sehr gut singen.“

Das Lachen verstummte. Kaito starrte ihn an, Scham und Unglauben zu gleichen Teilen in seiner Miene. Dann murmelte er eine Entschuldigung, die kaum leiser hätte sein können.

„Ich will dein Mitleid nicht. Nur, dass du den Mund hältst.“

„Ich nehme an, sie war in allen Belangen so nachdrücklich?“, fragte Tōtōsai mit einem Tonfall, der durchklingen ließ, dass ihn derlei nach tausenden Lebensjahren und ausreichend Kunden längst nicht so sehr schockierte wie Kaito.

„Sehr.“

„Was sagt dein Vater dazu?“

„Gar nichts. Wir haben nicht darüber gesprochen. Über nichts davon.“

Ruhe wurde zu offener Ratlosigkeit, als der Schmied sein Messer sinken ließ und ihn musterte: „Ihr habt nicht thematisiert, dass sie dich in den Süden entführt und über Jahre so behandelt hat? Dass dir jedwede militärische Ausbildung vorenthalten worden ist und du ganz offensichtlich bis heute darunter leidest?“

„Ich komme zurecht.“

Tōtōsai überging das: „Weiß er davon?“

„Von mir nicht. Aber vermutlich hat er einiges durch Jikan erfahren.“

Der Schmied blinzelte, dann fluchte er. „Der Bengel kann von Glück reden, dass sein Vater tot ist! Tōga hätte ihm das Fell über die tauben Ohren gezogen!“

„Da ist etwas, das ich nicht begreife“, hob Kaito an, ehe der Schmied einem Ausbruch anheim fallen konnte, der sowohl die Versäumnisse des Fürsten als auch Minorus Schwächen unziemlich breit getreten und damit vermutlich jede Aussicht auf eine Fortführung dieser Unterhaltung in weite Ferne gerückt hätte. „Wozu das alles? Wenn sie dir zuliebe fortgegangen ist, warum ist sie dann grausam gewesen? Um ihretwillen wird sie kaum gegangen sein. Du hättest sie im Handumdrehen zur mächtigsten Frau des Reiches gemacht. Zeig mir eine Inu, die das für eine Liebelei mit einem Fuchs aufgibt - wenn da überhaupt etwas dran ist. Hast du den Kerl überhaupt je gesehen?“

„Hinreichend. Er hat nicht mit uns zusammengelebt, weil er einen Posten als Soldat am südlichen Hof hatte, aber er kam oft vorbei.“

Kaitos Miene verfinsterte sich. „Ein südlicher Soldat? Kommt das nur mir komisch vor?“

Tōtōsai legte nun endgültig das Messer zur Seite und schob mit den dürren Knien durch den Staub, bis er sich Minoru zugewandt hatte: „Erzähl mir von ihm. War er auch grausam?“

Der Gedanke an den Mann, den er sein halbes Leben für seinen Vater gehalten hatte, versetzte ihm einen Stich, wenngleich gänzlich anders als die Erinnerung an seine Mutter. Eine aufwallende Wut wollte den Finger auf dieses oder jenes Ereignis legen und dem Kitsune an die Seite seiner Mutter schieben, scheiterte jedoch. Er besaß nicht genug Phantasie, um sich die beiden in irgendeiner Eintracht vorzustellen.

Wenn die zwei je eine Beziehung geführt hatten, war sie schon in Minorus frühster Kindheit in Scherben gebrochen. Seine Mutter hatte den Mann mit Leidenschaft gehasst und alsbald schlecht über ihn und seinen zweifelhaften, schwachen Charakter gesprochen, sobald dieser zur Tür hinausgegangen war. Der Kitsune hingegen hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie ihm sogar zu gleichgültig war, um ihre Beleidigungen als Anstoß aufzufassen - was sie schlicht rasend gemacht hatte. Um ihretwillen war er demnach nie in die Berge gekommen und selbst wenn man Kaitos Andeutung folgen wollte, dass der südliche Hof involviert und er geschickt worden war, so hatte Minoru als Kind doch immer das Gefühl gehabt, Kōhei komme tatsächlich seinetwegen.

Gerade in seinen frühesten Erinnerungen war die Anwesenheit des Fuchses immer etwas gewesen, auf das er hingefiebert hatte. Kōhei hatte ihn während seiner Besuche nach Möglichkeit viel mit nach draußen genommen und sich ständig neue Spiele ausgedacht. Er konnte Geschichten erzählen, die so verstrickt und übertrieben waren, dass sie nur gelogen sein konnten. Aber das hatte Minoru damals nie etwas ausgemacht. Zumal der Fuchs nur gelacht hatte, wenn ihm ein Widerspruch aufgefallen war. Wenn er nicht eben Luftschlösser erbaut hatte, war er in Erzählungen über die Welt vertieft gewesen, hatte Karten in den Boden gemalt, und Fragestellungen erklärt, die Minoru vor seiner Mutter nicht einmal erdacht hätte.

Minoru konnte reiten, weil Kōhei es ihm auf diesem sonderbaren Pony beigebracht hatte, das die Anwesenheit von Dämonen nicht fürchtete, und Illusionen durchschauen, weil der Kitsune es zu einem ihrer Lieblingsspiele gemacht hatte.

Nein, Kōhei war nicht grausam gewesen. In Wahrheit hatte er nichts getan - nichts, das Minoru geschadet hätte, aber eben auch nichts gegen seine Mutter. Auch die Besuche des Fuchses hatte die Frau ihm schließlich verleiden können. Zwar hatte sie vor Kōhei nicht gewagt, zu weit zu gehen, doch sobald er wieder fort gewesen war, hatte sie all ihre Wut gegen Minoru gerichtet und ihn in aller Ausführlichkeit spüren lassen, was ihr in den vergangenen Tagen und Wochen missfallen hatte - bis Minoru davor zurückgeschreckt war, sich auf Unternehmungen mit Kōhei einzulassen.

Das hatte der sehr wohl bemerkt und schweigend hingenommen. Ebenso wie er selbst für Minorus direktes Flehen taub gewesen war.

Minoru atmete tief durch. „Er war nicht wie sie. Aber geholfen hat er auch nicht.“

„Weil das vermutlich jenseits seiner Anweisung lag“, entschied Kaito und putzte grob etwas Asche von seinem Ärmel.

„Willst du dich jetzt daran festbeißen, dass der südliche Fürst die Finger im Spiel hat?“

„Ist das nicht offensichtlich?“

Nachdenklich und mit einem Finger ausgiebig in seinem Ohr herumpuhlend, betrachtete Tōtōsai einem nach dem anderen, ehe er abwägend den Kopf neigte. „Kannst du dich an seine Uniform erinnern? Seinen Namen?“

„Meine Mutter hat ihm verboten in meiner Gegenwart Rüstung oder Waffe zu tragen. Aber sie hat ihn ständig beim Vornamen genannt. Er heißt Kōhei.“

Der Finger fiel dem Alten so rasch aus dem Gehörgang, wie der Name ihn getroffen haben musste. „Der Han’yō hat recht.“

„Woher wollt Ihr das wissen?“

„Weil Katō no Kōhei kein einfacher Soldat ist. Er ist oberster General der südlichen Armee.“

Minoru fühlte sich, als habe man ihm gerade erneut den Erdboden unter den Füßen weggerissen. „Kōhei? Niemals!“

Niemals war der Mann, der ihm einst Grimassen geschnitten und sich zur seiner Belustigung in allerlei Unfug verwandelt hatte, der hochangesehene General irgendeiner Armee und bekleidete damit denselben Rang wie der westliche Generalleutnant! Der Mann, der sich von seiner Mutter hatte herumkommandieren lassen. Ryouichi hätte den Fuchs in der Luft zerrissen!

Tōtōsai kratzte sich mit Nachdruck an der Schläfe. „Schwarze Klauen, rote Haare, schrecklich grüne Augen, nicht? Ich kenne den Mann. Kein Kunde von mir - Gestaltwandler sind mir zu abgehoben -, aber Fürst Hayato nimmt ihn gern als Leibwache zu Veranstaltungen mit und zu Tōgas Zeiten gab es noch die ein oder andere Unterredung zwischen den Reichen. Er ist der einzige Rotfuchs mit schwarzen Klauen, der mir bekannt wäre. Niemand äußerst es laut, weil keiner seinen Unmut wecken will, aber in seiner Familie gab es unweigerlich einen Silberfuchs von Akashi - und das, noch bevor die Insel dem Festland eingegliedert wurde. Vermutlich irgendeine unangenehme Familiengeschichte. Wilde Romanze und Vergewaltigung liegen da nah beieinander. Aber was es auch immer gewesen ist: Es ist sicher ein Grund, warum der Mann zu den besten Illusionisten dieser Epoche gehört. Silberfüchse sind einfach besser darin als die übrigen.“

Minoru hob abwehrend die Hände. „Das will ich nicht glauben! Er hat sich von ihr nach Strich und Faden schikanieren lassen. Ein General lässt sich doch nicht so herabwürdigen, ohne sich zu widersetzen. Wenn er die Möglichkeit gehabt hätte-“

„Die Möglichkeit? Junge, dein vermeintlicher Vater hat auf neutralem Boden Streit mit einer westlichen Patrouille begonnen und fünf Mann im Alleingang angegriffen - darunter diesen Haudegen, der seitdem nur noch als Schneider dienen kann, weil seine kleine Auseinandersetzung mit Kōhei ihm das Bein gekostet hat.“

Fassungslos ließ Minoru die Hände sinken. Yūsei? Kōhei in Rüstung zu sehen, hatte ihn bei ihrem letzten Zusammentreffen bereits ausreichend aus der Bahn geworfen. Die Vorstellung jedoch, dass der Kitsune in der Lage sein sollte, einen solchen Kampf zu überleben und ausgerechnet den Mann zu verstümmeln, der sowohl Ryouichi als auch seinen Vater ausgebildet hatte; jenen Mann, der Jahrhunderte Generalleutnant unter Tōga gewesen war!

„Seine Aura“, entgegnete Minoru schließlich, als könne der Einwand sein Weltbild zusammenkitten. „Ich habe ihn noch einmal getroffen, als ich mit Rin nach Norden gereist bin. Es war Zufall und er hatte nicht mit mir gerechnet. Dennoch war seine Aura wie sie immer gewesen ist: Eher gewöhnlich.“

„Es gibt Mittel und Wege, Auren zu kaschieren.“

„Fuchskoralle.“ Minorus Hand fuhr erneut zu seinem Handgelenk und fasste abermals ins Leere. „Aber das ist Unsinn. Vielleicht hat er sie getragen, wenn er in die Berge gekommen ist. Aber auf feindlichem Boden, während der gesamte Westen die Bewegungen der Panther verfolgt? Man muss wahnsinnig sein, um sich in einer solchen Situation selbst zu limitieren.“

„Fuchskoralle, ja“, bestätigte Tōtōsai, der über dieses Art von Wissen ebenso irritiert schien wie über die unlängst vorgebrachte Lektion in Pflanzenkunde. „Tōga war überzeugt, dass er davon Gebrauch macht und sie selbst bei Zusammenkünften der Landesherren trägt, um harmloser zu wirken. Wie üblich hat er recht behalten. Wer einen westlichen Spähtrupp in Scherben hinterlassen kann, scheitert nicht an einer Hofdame. Es sei denn, es widerspreche seinen Anweisungen. Wir müssen uns hier nichts vormachen: Kōhei tut nichts, das Fürst Hayato ihm nicht aufgetragen hätte. Und wenn dein Vater an dir auch nur die Witterung dieses Fuchses wahrgenommen hat, weiß er das ebenso.“

Kaitos Mundwinkel zuckten hämisch. „Also haben die Drachen auch noch die Dreistigkeit besessen, Sesshōmarus Rachefeldzug gegen den Süden zu verschieben? Das hebt doch die Aussicht auf Frieden gleich mal in ganz neue Höhen.“

Minoru würgte das dumpfe Gefühl hinunter, dass es verwerflich war, sich über Einzelheiten zu Kōheis Person mehr Gedanken zu machen, als über die Tatsache, dass der südliche Fürst im Hintergrund über sein Leben entschieden hatte. Vermutlich hätte es ihn treffen müssen, dass es ein Staatsgrenzen überschreitendes Komplett gegen seinen Vater gewesen war, ihn in jenen Bergen aufwachsen zu lassen - mit unnützen Lektionen beschäftigt und von einer niederträchtigen Verräterin mit Erniedrigungen und Fuchskoralle kleingehalten. Und auch Kaito lag mit Sicherheit richtig: Selbst wenn sie wider aller Wahrscheinlichkeit gegen die Drachen bestehen konnten, würde die nächste Armee der Mittagssonne entgegen marschieren. Dennoch. Die Gedanken an jene Zeit waren ohnehin schon so eingebrannt und belastet, dass diese Erkenntnis wie eine Randnotiz erschien. Finsternis ließ sich eben schlecht zu Schwärze addieren.

Wenigstens ergab die Abneigung zwischen seinen sogenannten Eltern damit mehr Sinn und sicherlich noch vieles andere, an das er nun nicht denken wollte. Wenn Kōhei nicht einmal auf eigenes Bestreben zu ihnen gekommen war -

Bevor er sich in dem Gedanken verlieren konnte, ob jedwede Freundlichkeit nichts als das aufgesetzte Schauspiel eines formvollendeten Täuschers gewesen war, hatte Tōtōsai ihn erneut ins Auge gefasst. „Bei unserer ersten Begegnung erschien absurd, dass ein so schwacher Junge wie du seine Form ändern konnte. Dein Yōki war derzeit erbärmlich genug, um einen Wundinfekt zuzulassen. Wir haben viel spekuliert, aber an Fuchskoralle hat keiner gedacht. Die Wahrscheinlichkeit, dass du dich mit einer solchen Einschränkung verwandeln konntest… wer sagtest du gleich, ist deine Mutter?“

„Ich habe gar nichts gesagt.“

„Wer ist deine Mutter, Junge?“

„Ich kenne ihren Namen nicht. Ich sehe ihr ähnlich und Ihre Familie stammt aus Echizen.“

„Ich werde jetzt keine Karte unter dem Schutt hervorwühlen.“

„Echizen ist äußerster Westen und grenzt ans Meer und die neutralen Gebiete zum Süden. Der Bruder meiner Mutter befehligt das Heer dort. Die zweitgrößte Streitmacht neben Shinano. Rote Rüstungen und weiße Mondembleme. Ihre Flagge zeigt einen -.“

„Phoenix.“ Tōtōsai war sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen. „Deine Mutter ist eine Grabwächterin. Verflucht sei dein Vater! Wenn man Schlimmes vermutet, kann man sicher sein, dass er es übertreffen wird!“

Kaito lehnte sich vor. „Was soll das heißen?“

„Dass er zusammengebracht hat, was seit Jahrtausenden aus gutem Grund getrennt war! So ein machtversessener, blinder Narr!“

Der Han’yō bedachte die ansteigende Lautstärke des Schmieds mit einem Stirnrunzeln und wandte sich Minoru zu. „Wovon redet er?“

„Ich habe keinen blassen Schimmer.“

Rauchwolken stoben aus Tōtōsais Nase, während er sich grob über den Kopf fuhr und die Finger in den spärlichen, grauen Zopf vergrub. „Keinen Schimmer?! Wusste Myōga davon? Hat er nie etwas dazu gesagt?“

„Er wollte, wenn ich mich recht erinnere. Aber wir wurden unterbrochen.“ Außerdem hatte er Myōga früh gebeten, ihm nicht ständig mit Familiengeschichten in den Ohren zu liegen, als all diese Verbindungen wie ein Sturzregen über ihn hereingebrochen waren. Ein Fehler, wenn er es rückblickend betrachtete - und mit Sicherheit nicht sein einziger.

Der Alte entspannte sich ein wenig, murmelte etwas von ‘Myōga’ und ‘verblendeter Loyalität’, dann sammelte er seinen letzten Rest Fassung zusammen und wandte sich Kaito zu. „Inu sind keine Naturgeister, sondern menschengemacht. Die Menschen hatten Mittel und Wege aus einem Hund einen Rachedämon zu schaffen, der ihr Heim schützte oder ihre Feinde tötete. Das ging so lange gut, bis sich einer der Inugami gegen seine Herren aufgelehnt und mit anderen seiner Art eine ganze Zivilisation in den Staub geworfen hat.“

„Akaya.“ Minoru erinnerte sich an die Geschichtslektionen des Lehrers, den seine Großmutter für ihn einbestellt hatte. „Beide Linien meiner Familie führen sich auf ihn zurück. Aber es sind tausende Jahre dazwischen. Es ist doch nicht so, als hätte mein Vater mit seiner Schwester -“

„Weißt du, weshalb Akaya bis heute Angst auslöst?“

„Ich nehme stark an, das hat etwas mit dieser Zivilisation zu tun, die er dem Erdboden gleich gemacht hat.“

„Sō’unga wurde mit seiner Aura beseelt. Ein Stück seiner Selbst. Die manipulativste und blutrünstigste Waffe, die jemals geschmiedet worden ist. Euer Großvater hat zeitlebens versucht, sie zu zerstören. Nur deshalb kannten wir uns überhaupt - weil er einen Schmied gesucht hat, der ihm hilft, dieses Höllenschwert zu vernichten. Ich habe es gehalten. Ein paar Sekunden.“ Er schauderte, machte ein paar Mal den Mund auf, schloss ihn wieder und schüttelte schließlich den Kopf. „Wenn dieses Ding nur ein Bruchstück widergespiegelt hat, will ich mir den Dämon dahinter nicht einmal vorstellen. Und Akaya ist nicht etwa Geschichte. Inugami sind die Rachegeister toter Hunde. Während die eine Linie der Familie sein Schwert vererbt, wacht die andere seit Jahrtausenden über den Schrein einer mumifizierte Hundeleiche - und das sicher nicht zum Spaß. Die Frage ist also: Was hast du zu rezitieren gelernt, Junge?“



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