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Von Vögeln mit gebrochenen Flügeln

von

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„Nell? Ist etwas passiert, was du mir vielleicht erzählen willst?“ Der alte Mann sah seiner Enkelin an, dass sie etwas bedrückte.

„Warum haben Penner nichts? Warum gehen sie nicht einfach arbeiten?“, fragte sie unvermittelt.

Als sie merkte, dass ihr Großvater nachdachte, sagte sie: „Du hast gesagt, dass Penner nichts haben. Aber Marika’s Mutter sagt, das sind faule Taugenichtse. Das sind Leute, die nicht arbeiten wollen.“

„Nenn‘ diese Menschen“, er betonte das Wort ‚Menschen‘ „besser Obdachlose. Es sind Menschen, die kein Zuhause haben. Nicht alle wollen nicht arbeiten.“

„Aber Marika’s Mutter hat gesagt…“ Sie senkte ihren Blick. Nicht, dass er auch noch nachhakte. Marika hatte sich über sie lustig gemacht, als sie nach der Mission zu ihr nachhause gegangen waren und Nell sie gefragte hatte, was denn Penner wären. „Penner sind halt Penner“ hatte sie gesagt, aber Nell war immer noch verwirrt. Also hatte sie ihre Freundin später nochmal gefragt, aber diesmal hatte ihre Mutter es mitbekommen. Sie hatten ihr verschwiegen, wie sie auf das Wort kamen, aber Marika war hinterher ziemlich sauer. Und dann hat ihre Mutter geredet und geredet, aber Nell verstand nur die Hälfte.

„Was hat Marika’s Mutter gesagt?“, fragte ihr Großvater. Immerhin, er wollte nicht wissen, warum es sie so beschäftigte. Erleichtert versuchte sie, zu widerholen, was sie gehört hatte. Dass ‚diese Leute‘ faul waren. Dass sie dem Staat ‚auf der Tasche lägen‘, was immer das auch bedeuten mochte. Dass sie selbst schuld waren. Irgendwann hatte Marika’s Mutter nur noch von dem Problem gesprochen. Das Problem, dass sich keiner mehr an die alten Werte halten würde. Fleiß. Entbehrung. Disziplin. Ihr Großvater hörte ihr schweigend zu, bis sie zum Ende kam.

„Weißt du, es gibt viele, viele Gründe, warum jemand obdachlos wird. Früher haben sich viele Familien hautsächlich von dem ernährt, was auf ihren Feldern wuchs. Einige haben aber auch das Meiste verkauft, wie meine Eltern. Wenn es Missernten gab, hatte man nichts zu essen. Als ich in deinem Alter war, gab es häufig Missernten im Norden, und irgendwann waren die Vorräte aufgebracht und das Essen auf dem Markt zu teuer. Die Regierung hat uns einen Teil der Ernte weggenommen und sie den Menschen gegeben, die dort wohnten. Das hat die Menschen hier wütend gemacht, denn sie hatten nicht viel mit den Menschen aus dem Norden zu tun und wollten ihre Ernte behalten. Und dann tauchten hier Menschen von dort auf und wollten Arbeit. Arbeit, wir haben keine Arbeit, wir haben nur Arbeit für uns, antwortete man ihnen. Dann hoffte man, dass sie zum nächsten Dorf gingen. Wir hatten vielleicht Arbeit, aber nichts zum Bezahlen, denn wir mussten ja einen Teil an die Regierung geben.

Die Missernten gingen vorbei, als die neue Regierung kam. Zumindest hörte man nichts mehr als dem Norden. Es hieß, alle haben Arbeit, alle haben Felder, alle haben etwas zum Leben, allen geht es gut. Wir mussten nichts mehr für die Leute aus dem Norden abgeben, denn es gab keine Missernten mehr. Wir konnten alles behalten, einen Teil verkaufen oder vertauschen, und solange wir arbeiteten, ging es uns gut. So war es, dass wussten wir, so hatte es uns die Regierung versprochen.

Aber das hielt nicht lange, denn plötzlich gab es wieder Missernten. Nicht im Norden, bei uns. Das hatten wir schon lange nicht mehr gehabt. Also arbeiteten wir härter, denn man hatte uns versprochen, dass es uns bald wieder besser gehen würde, wenn wir nur arbeiteten. Nicht irgendwie: Zusammenarbeiten sollten wir, zusammenhalten, gemeinsam die Krise überwinden. Wir haben hart gearbeitet und gehandelt, damit es uns gut ging.

Als ich schon Soldat war, kamen plötzlich wieder Menschen aus dem Norden. Sie erzählten uns von Missernten und Hunger, der nicht aufhörte, und von der Regierung, die sie im Stich ließe. Sie baten um Arbeit. Aber wir waren wütend, weil sie schon einmal gekommen waren, weil wir ihnen geholfen hatten, weil sie alles in den Sand gesetzt hatten, faul waren, nichts daraus machten. So sagten wir es ihnen. Und sie sagten, nein, es ist nichts angekommen. Man habe davon gehört, aber nein. Sie sollen arbeiten, dann ginge es ihnen besser, habe man ihnen gesagt. Aus dem Süden sei nichts gekommen. Aber wir wussten, dass wir einen Teil abgegeben hatten. Also schimpften wir sie Lügner, Taugenichtse, Diebe, ja, Diebe, weil sie unsere Ernte weggenommen hatten und nicht zurückgaben, als wir litten. Und man scheuchte sie fort. Aber in der nächsten Woche wiederholte sich alles, und schließlich wurden die Abstände kleiner, die Menschen abgemagerter, die Kleidung löchriger und die Ablehnung größer. Schließlich waren sie einfach da, und jeder war es gewöhnt, Penner wegzujagen. Obdachlose.“, verbesserte er sich.

„Ach, ich habe den Faden verloren. Weißt du, wir hatten viel gehört und dachten, sie sind Böse, wir werden Betrogen. Und sie sagten ein ums andere Mal, wir wären die Bösen, sie würden betrogen. Es gibt viele Gründe, warum jemand obdachlos ist… Genauso gibt es viele verschiedene Obdachlose. Diese Menschen, ich weiß nicht, ob alle hart gearbeitet haben. Ich habe erst viel später mit Einigen von ihnen geredet. Nicht alle von ihnen waren faul, aber wir haben sie alle so behandelt wie die Obdachlosen, die wir kannten, die als faul und dumm bekannt waren. Ich glaube, viele haben hart gearbeitet, aber es ging ihnen trotzdem nicht gut. Man darf nicht allen Versprechen Glauben schenken, merke dir das. Wir haben damals auch alles geglaubt, die Menschen aus dem Norden haben alles geglaubt… ich glaube, wir lagen alle irgendwie falsch. Wir wurden alle betrogen. Marika’s Mutter meint es nicht böse, sie glaubt, was Viele glauben, aber sie liegt falsch. Manchmal wissen auch Erwachsene nicht alles. Weißt du, Viele glauben, dass Obdachlose faul sind und uns betrügen. Sie glauben es, weil andere es glauben, und warum diese es glauben… Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es nicht immer stimmt. Obdachlose sind auch Menschen. Nicht Böse und nicht Gut, einfach Menschen. Du kannst nie wissen, warum sie obdachlos sind. Also kannst du sie eigentlich nur wie Menschen behandeln. Verstehst du?“

Ihr Blick gab keine Antwort preis, aber allein das Wissen, dass sie nachdachte, gab dem alten Mann das Gefühl, etwas erreicht zu haben.

„Ich glaube, ich muss langsam nachhause.“, murmelte sie immer noch nachdenklich, und so wurde sie von ihrem Großvater zur Tür begleitet.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  KradNibeid
2016-02-10T23:39:48+00:00 11.02.2016 00:39
Ich fürchte, das arme Kind ist jetzt - je nach Alter - vollkommen überfordert. o_____o

Aber ich finde den philosophischen Aspekt, den du in diese Geschichte packst, wirklich toll. Ich habe unwillkürlich angefangen, über mein eigenes Verhalten und mein eigenes Denken nachzugrübeln, also hat der Großvater auch bei mir etwas erreicht.
Deine Art, die Dinge zu beschreiben, ist sehr angenehm zu lesen, und ich finde die Geschichte sehr fesselnd, einfach weil sie so zum Nachdenken anregt.

Eine tolle Arbeit.


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