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Demonic Rewind

[Demonic Reverie]
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich bitte direkt im Vorfeld um Entschuldigung, dass wir in diesem Kapitel gleich vier verschiedene Perspektiven erleben werden. Zwar kam mir der Gedanke, es zu splitten, aber Feria und ich waren der Meinung, dass sich der Plot dann so ziehen würde, also ... kommt alles in einem Kapitel. Have fun~. Komplett anzeigen

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Kapitel 26: Parthalan wird schon eine Lösung finden


 

In Selines Leben gab es selten Momente, in denen sie sich wohlgefühlt hatte. Von klein auf war sie dem Plan ihres Vaters gefolgt, eine Dämonenjägerin zu werden, unabhängig davon, ob sie das ebenfalls wollte. Das Ziel war es gewesen, dass sie eines Tages zur neuen Anführerin Abterachts werden sollte, etwas, sehr zu ihrem Missfallen. Vor vier Jahren hatte der Plan schließlich Risse bekommen, ihr Vater war eingesperrt worden, Jii wurde zum Direktor von Athamos und Seline war von ihm gebeten worden, mit ihm zu gehen, um Ciar im Auge zu behalten. Von dem alten Modell loszubrechen war angenehm gewesen – aber es hatte immer noch nicht ihren eigenen Vorstellungen entsprochen. Wobei sie sich auch nicht sicher war, woraus diese überhaupt bestanden, nachdem sie von klein auf immer von jemandem geformt worden war.

In Athamos gab es dann etwas Angenehmes: dem Gesang von Vane Belfond zu lauschen war stets ein Moment der inneren Ruhe und Ausgeglichenheit für Seline. Deswegen hatte sie viele Stunden auf der Krankenstation verbracht, und darum wusste sie genau, wo sie sich befand, als sie schließlich wieder wach wurde, noch bevor sie ihre Augen öffneten. Es roch nicht nach Desinfektionsmitteln, nicht nach Eisen, deswegen blieb jede negative Konnotation, die normalerweise mit solchen Orten einherging, aus. Ein sanfter Duft von Lavendel erfüllte die gerade herrschende Stille, auch beides angenehme Eigenschaften dieses Ortes, die Seline sofort einwickelten und sie sanft im Leben willkommen hießen. Das war alles wie immer, wenn sie hier aufwachte. Sicher befand sie sich auch mal wieder in einem Einzelzimmer, damit sie die notwendige Ruhe erhielt, das ahnte sie jedenfalls durch die gedämpften Schritte der auf dem Gang vorbeilaufenden Personen. Ihre Prägung war auch deaktiviert, das bemerkte sie an dem fehlenden Gewicht an ihrem linken Unterarm, es war eine reine Vorsichtsmaßnahme, die Vane immer durchführte, um sie besser behandeln zu können.

Doch eine Sache war anders als sonst: Sie war nicht allein.

Seline öffnete die Augen und entdeckte sofort eine Person auf dem Stuhl neben ihrem Bett. Er saß mit verschränkten Armen da – und schlief. Russel atmete derart gleichmäßig, dass es fast eine ähnliche Wirkung ausübte wie Vanes Gesang. Seine Anwesenheit ließ ihr Herz schneller schlagen, am liebsten hätte sie ihn sofort aufgeweckt, ihm gesagt, wie sehr sie ihn vermisste und wie sehr sie es bereute, dass ihr Weggang aus Abteracht zu ihrem Zerwürfnis geführt hatte. Aber gleichzeitig hätte sie ihn auch gern einfach direkt weggeschickt, ohne ihn jemals etwas davon wissen zu lassen.

Hin und her gerissen zwischen diesen Gefühlen konnte sie ihn nur beobachten, bis seine Atmung plötzlich unregelmäßig wurde und er im nächsten Moment schon seine Augen öffnete. Zuerst blinzelte er irritiert, doch dann konzentrierte er sich auf Seline. „Hey.“

Sie hob ihre Mundwinkel. „Ist das alles?“

„Ich hab schon jede Menge gesagt, als ich dich aufgefangen habe“, erwiderte er. „Ich finde, du solltest jetzt auch mal irgendwas beitragen. Du könntest zum Beispiel damit anfangen, dich zu bedanken.“

Seine Arme waren noch immer vor seinem Körper verschränkt, seine Schultern leicht hochgezogen; er meinte es ernst – was selten genug bei ihm vorkam.

Es kostete sie ein wenig Anstrengung, sich aufrecht hinzusetzen, aber sie hatte das Gefühl, dass es angebracht war, für so etwas zu sitzen. Schließlich sah sie ihn direkt an. „Danke, dass du mich gerettet hast. Ich dachte wirklich, ich würde sterben.“

Allein der Gedanke an diesen Moment, die Hilflosigkeit, schnürte ihr wieder die Kehle zu. Sie schüttelte leicht den Kopf, um dieses Gefühl zu vertreiben.

Er hob die Augenbrauen. „Du und sterben? Das hört sich nicht nach etwas an, das du beherrschst.“ Sein Gesichtsausdruck entspannte sich ein wenig. „Ich bin dennoch froh, dass ich helfen konnte. Während des Kampfes konnte ich ja nicht eingreifen.“

„Hast du etwa zugesehen?“

Seine Ohren färbten sich rötlich, was sich furchtbar mit seinen grünen Haaren biss. „Natürlich hab ich das. Ich war eigentlich wegen einer anderen Mission unterwegs, aber wenn ich schon mal vorbeikomme, wenn jemand wie du kämpft ...“

Endlich ließ er die Arme sinken. „Es hat mir ein bisschen gefehlt, dich kämpfen zu sehen, auch wenn du es jetzt anders machst als früher-“

„Es tut mir leid.“

„Was?“ Er blinzelte verwirrt.

Sie ließ ihm keine Gelegenheit, sich zu erinnern, wofür sie sich entschuldigen könnte, sondern sprach sofort weiter, um es zu erklären: „Für alles. Dass ich einfach gegangen bin, dass ich mich danach kaum noch gemeldet habe …“ Für die Vorwürfe, die sie ihm gemacht hatte, für das Ignorieren seiner Nachrichten und Anrufe, all das wollte sie noch anfügen, aber stattdessen verstummte sie. Es war unsinnig, zu hoffen, dass er sich an all das nicht mehr erinnerte, aber sie wollte es auch nicht mit aller Gewalt wieder hervorholen.

Russel griff sich an den Nacken und stieß ein tiefes Seufzen aus. „Du bist viel zu gut darin, mir immer meinen Auftritt zu klauen.“

„Wovon redest du?“

Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück, und betrachtete ihr verwirrtes Gesicht amüsiert. Glücklicherweise lag ihm offenbar nicht daran, sie schmoren zu lassen: „Eigentlich wollte ich mich bei dir entschuldigen. Ich hab dir einen ziemlichen Schwachsinn an den Kopf geknallt, als du mir gesagt hast, dass du Abteracht verlässt. Dieser ganze Verräter-Mist, du weißt schon.“

Sie erinnerte sich. Als sie gemeinsam mit Jii nach Athamos gegangen war, hatte der Krieg zwischen den Schulen noch nicht lange zurück gelegen. Die Verletzungen auf beiden Seiten, Cerises Ohnmacht … alles war noch so frisch gewesen, dass es vielen Personen in Abteracht wie ein Verrat vorgekommen war, die eigene Gruppe zu verlassen, um zu den anderen zu gehen, ganz unabhängig davon, dass sie nun Verbündete waren. Ähnlich wenig begeistert waren die Traumbrecher gewesen, als sie gekommen waren. Jii und Ciar hatten sich den Respekt der anderen hart erarbeiten müssen, aber schlussendlich war es ihnen gelungen. Seline beneidete sie immer noch darum, denn ihr blieb dieses Gefühl verwehrt.

Er fuhr fort: „Ich war ziemlich angefressen, weil sich plötzlich alles geändert hat – und dann sogar du weggegangen bist. Ich dachte, das bedeutet, dass du nichts mehr mit uns anderen zu tun haben willst. Dann hast du auch noch meine Nachrichten ignoriert ...“

Er verstummte wieder, die Augenbrauen zusammengezogen.

„Da war ich dann ziemlich sauer auf dich“, gab sie zu. „Ich nahm mir immer vor, dir noch zu antworten, nur noch ein paar Tage wollte ich dich warten lassen … und irgendwann war es schon so spät, dass ich mich nicht mehr getraut habe, wirklich zu antworten.“

Im Grunde war es ein irrationaler Gedanke gewesen, aber sie war ihn einfach nicht losgeworden. Stattdessen hatte sie eine Trennung von Russel in Kauf genommen – für ein Leben, das sie genau so wenig mochte wie das vorige.

„Das ist wirklich interessant.“ Russel nestelte an seiner Brille, als wäre er ein neugieriger Wissenschaftler, der gerade etwas Neues entdeckt hatte. „Selbst für dich gibt es also etwas, das du nicht kannst.“

Sie schob die Unterlippe ein wenig vor. „Es gibt vieles, was ich nicht beherrsche. Ihr wollt das alle nur nicht sehen.“

Nicht zuletzt vermutlich wegen ihres Vaters, der sich Mühe gegeben hatte, sie als außergewöhnlich darzustellen. Da blieb nicht viel Raum, um ihre Fehler zu besprechen.

„Ja ja, schieb es nur auf uns arme einfache Bürger, die versuchen, dir zu dienen, Prinzessin.“

Sie beugte sich näher zu ihm und verpasste ihm einen sanften Schlag gegen den Oberarm, begleitet von einem verlegenen „Idiot“, das er nur weglachte.

„Komm schon“, verteidigte er sich, „ich sage dir nur, wie es auf uns manchmal wirkt. Du warst immer ein besonderes Symbol in Abteracht. Ohne dich blieb uns nur noch Nolan – und der ist nicht sehr hilfreich, so oft, wie er auf der Krankenstation ist, weil sich irgendein Dämon wieder nicht mit ihm anfreunden wollte.“

Gerade diese Eigenschaft hätte sie als ein Zeichen für Nolan gesehen. Andererseits verstand sie ebenfalls, dass es nicht gut für die Moral war, wenn das fleischgewordene Symbol bei der Ausübung seiner Pflicht wiederholt verletzt wurde.

„Vielleicht ist er wirklich nicht so sehr geeignet für die Rolle.“

„Aber mach dir keine Sorgen“, beruhigte er sie sofort, „wir haben uns einfach Kieran als neues Vorbild genommen. Schließlich ist er ein Dämon, das ist ein richtig tolles Symbol.“

Sie konnte sich vorstellen, dass er der einzige war, der das so sah, aber sie wollte den neu gefundenen Frieden mit ihm nicht riskieren, indem sie ihm widersprach.

Er neigte den Kopf ein wenig zur Seite. „Hey, wenn jetzt alles wieder gut zwischen uns ist, kann ich dich dann mal zu einem Date einladen? Mir auch egal, was wir tun, Hauptsache, wir tun es zusammen. Wär doch mal nett, oder?“

Sie legte die Hände auf ihre Brust, die vor Wärme geradewegs überzuquellen schien. Derart überwältigt war sie noch nie von ihren Gefühlen gewesen, jedenfalls nicht in diesem Ausmaß – deswegen wunderte es sie auch kaum, als sich Tränen in ihren Augen ansammelten. Hastig fuhr sie sich mit der Hand darüber, ehe Russel sie sehen könnte, doch da war es bereits zu spät: „Mann, ich dachte nicht, dass dich das zum Weinen bringen würde. So schlimm bin ich doch auch nicht.“

Lachend schüttelte sie den Kopf und wischte sich dabei weitere Tränen aus dem Gesicht. „Deswegen weine ich auch nicht, Idiot.“

Er atmete auf, dann griff er sich an den Nacken. Er murmelte irgendetwas, das sie nicht verstehen konnte, machte aber auch keine Anstalten, sich selbst zu wiederholen. Ehe sie nachhaken konnte, öffnete sich die Tür und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den eintretenden Vane.

Der Arzt hielt inne, als er ihr Gesicht sah und blickte zu Russel hinüber. „Ich sagte dir doch, dass du sie nicht aufregen sollst. Das ist gerade nicht gut für sie.“

„Ich habe nichts getan“, verteidigte er sich. „Jedenfalls nichts Schlimmes.“

Auf eine Bestätigung wartend, wandte Vane sich wieder Seline zu. Sie nickte. „Er hat wirklich nichts getan. Ich freue mich nur.“

Er runzelte die Stirn als wäre ihm dieses Konzept unbegreiflich. „Wie auch immer. Ich möchte mit dir über deine Prägung sprechen.“

Nach dieser Erwähnung dachte sie wieder an die fehlenden Klingen an ihrem Handgelenk. Was mochte derart Schlimmes geschehen sein, dass er darüber mit ihr reden musste? Wollte sie es überhaupt wissen?

„Ich dachte eigentlich, Parthalan würde mit mir sprechen wollen“, erwiderte sie, in einem Versuch, es noch einmal hinauszuzögern.

„Der kommt bestimmt noch“, sagte Russel. „Wahrscheinlich hat er auch noch mit anderen Sachen zu tun. Ich glaube, da sind ja ein Haufen Leute dazugekommen, mit denen er reden muss.“

Neben Morte musste er bestimmt noch mit den anderen beiden früheren Zerstörern sprechen. Dann war da auch noch Cathan, der sogar besessen gewesen war. Parthalan hatte sicher viel zu tun.

Vane richtete seine Brille. „Ich denke, es wäre gut, wenn wir zuerst über deine Klingen reden.“

Es blieb unausweichlich, also nickte sie.

„Dein junger Besucher sagte mir, dass eine deiner Klingen in den Gegner eingedrungen sei und begonnen habe, ihn zu absorbieren. Ist das richtig?“

„Ist es. Aber bei dem Gegenangriff hat der Klingenschild dann versagt.“

Vane notierte sich etwas auf dem Klemmbrett, das er mit sich trug. „Das ist nicht ganz korrekt. Nur eine der Klingen ist beschädigt worden, soweit ich sehen konnte.“

Statt einer weiteren Erklärung trat er an Selines Bett. Er nahm ihren linken Arm und reaktivierte mit einem raschen Befehl die Prägung. Scharfe Schmerzen zuckten durch ihre Muskeln, aber sie spürte auch das vertraute Gewicht ihrer Klingen wieder, was sie beruhigte. Russel beobachtete den Vorgang aufmerksam und misstrauisch, deswegen bemühte sie sich, die Schmerzen nicht zu deutlich zu zeigen. Sie wollte nicht, dass er etwas Dummes tat, nur weil er glaubte, der Arzt würde sie verletzen.

Vane wählte eine der Klingen, die sich von ihr löste und sich vergrößern ließ, bis sie deutlich zu sehen war. Ein feiner Riss zog sich über die Oberfläche, aber es war etwas anderes, das Seline innehalten ließ: blaue Adern bildeten ein spinnennetzartiges Muster auf dem silbernen Grund.

„Damit hast du die Seele deines Feindes absorbiert“, erklärte Vane.

Während sie weiterhin wortlos darauf starrte, beugte Russel sich ein wenig vor und runzelte die Stirn. „Also … ich will ja nicht nerven, aber … was ist so ungewöhnlich?“

Natürlich, fiel es Seline ein, er kannte sich mit so etwas nicht aus, deswegen verstand er es nicht. Also erklärte sie ihm mit knappen Worten, dass die Kraft eines Traumbrechers durch die Farbe seiner Magie bestimmt wurde. Zwar war Blau der Grundton dafür, doch je heller dieser war, desto stärker war die Fähigkeit.

„Und desto besser gesinnt ist der Wirker. Silber ist dabei eine Weiterentwicklung von Hellblau.“

Sie ließ Russel einen Moment Zeit, um das zu verarbeiten. Er starrte angestrengt auf die Klinge, hinter seiner Stirn schien es zu arbeiten – und dann rasteten die Zahnräder ein: „Warte mal. Wenn Silber also für die Guten steht, und du mit diesem Ding dem Weltenverschlinger was von seiner Seele abgezapft hast … bedeutet das dann nicht, dass der Kerl auch einer der Guten ist?“

 

Luan wäre gern noch in der Krankenstation geblieben, um bei Cathan zu sein, aber er fand, es wäre besser, nicht mehr zu viel Zeit mit ihm zu verbringen. Was auch immer über Cathan gekommen war, hatte sein Leben bedroht und das durfte nicht mehr geschehen. Nicht wegen Luan.

Also hatte er direkt nach dem Frühstück die Krankenstation verlassen, um in sein eigenes Zimmer zurückzukehren. So früh am Morgen waren die Gänge Abterachts noch verlassen, weswegen er vollkommen allein war. Die Einsamkeit hier draußen spiegelte jene in seinem Inneren wider, die ihn vereinnahmte, seit er in der Zeit zurückgereist war. Er hatte alles zurückgelassen – und wofür?

„Jetzt ist meine Anwesenheit eine Bedrohung für alle“, murmelte er.

Das war niemals seine Absicht gewesen, aber wie hätte er das auch ahnen können? Niemand hatte ihn vor den Folgen einer Zeitreise gewarnt, doch natürlich war er nicht auf den Gedanken gekommen, im Vorfeld mit jemandem darüber zu sprechen. Mit Sicherheit hätte Jii ihn davor gewarnt und dann wäre Luan auch nicht auf die Idee gekommen, die Uhr wirklich einzusetzen. Oder vielleicht doch? Schließlich hatte Kierans Leben auf dem Spiel gestanden.

Nun war es zu spät, darüber nachzudenken, aber dennoch kreisten seine Gedanken immer wieder darum, wühlten seine Schuldgefühle neu auf und ließen ihn einfach nicht in Ruhe.

Was konnte er tun, um es nun besser zu machen? Wie konnte er eine positive Änderung bewirken, bevor er sich schlafen legte, wie er es schon von Anfang an geplant hatte?

An seiner Tür angekommen, legte Luan eine Hand auf die Klinke, hielt jedoch inne, als er jemanden seinen Namen sagen hörte. Es war ein sanftes Wispern, von einer Stimme, die nicht aus dieser Welt zu stammen schien.

Er wandte den Kopf und entdeckte, zum ersten Mal in dieser Zeitachse, Aludra, die in einiger Entfernung zu ihm stand. Der Blick aus ihren dunklen Augen, die Cathan und Kieran von ihr geerbt hatten, mochte vielen als gelangweilt erscheinen, aber für Luan wirkte es eher so als sähe sie Dinge, die anderen verborgen blieben. Es war unheimlich – und gleichzeitig skurril genug, um Interesse zu wecken.

„Was möchtest du?“, fragte Luan leise.

Aludra näherte sich ihm. Ihr schwarzes Oberteil, das wie eine große Knospe sogar ihre Arme verbarg, schwankte bei jedem Schritt und erweckte den Eindruck, dass etwas Dunkelheit sich mit ihr bewegte. Wenige Schritte von ihm entfernt blieb sie stehen, um ihm nicht zu nahe zu kommen.

Da sie weiterhin nichts sagte, runzelte Luan die Stirn. „Solltest du nicht in Kierans Nähe sein?“

Jedenfalls war ihm das zu Ohren gekommen, seit er wieder in Abteracht war; Aludra, der unaufdringliche Schatten Kierans, nur an dessen Wohlergehen interessiert.

„Er schläft.“ Selbst bei dieser knappen Antwort war es, als schwebten die Worte durch den Gang, ohne sich um irgendetwas auf dieser Welt zu kümmern. „Er ist sicher.“

Luan vollführte eine unbestimmte Handbewegung. „Kann ich dir dann … irgendwie helfen?“

Aludra verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. „Du kommst aus einer alternativen Zeit, ja? Das sagen sie alle.“

„Das stimmt.“

Er erwartete, dass sie ihn fragen wollte, weswegen er diese Reise gemacht hatte, so wie jeder andere, aber das kam nicht. Sie neigte den Kopf, ihr Blick wanderte die Wand hinauf, obwohl dort nichts zu sehen war. „Du hast dich geopfert, um jemandem zu helfen, den du liebst.“

Offenbar kannte sie den Grund also bereits.

Er bestätigte das knapp, was sie nachdenklich werden ließ.

„Wenn du das schon weißt“, hakte er nach, „warum fragst du dann?“

Sie senkte den Kopf ein wenig und sah gleichzeitig zur Seite. „Weil ich es verstehen will.“

Das sagte sie so leise, dass Luan Mühe hatte, sie zu hören. Einen Reim konnte er sich darauf jedoch nicht machen, glücklicherweise fuhr sie mit etwas festerer Stimme fort: „Ich will verstehen, wieso man sich für jemand anderen opfert, statt ihn einfach mit sich zu nehmen, irgendwohin.“

Bislang war es ihm nicht in den Sinn gekommen, aber nun dachte er tatsächlich darüber nach, ob Kieran in seiner alten Zeit nicht vielleicht einfach mit ihm zum Bahnhof gekommen wäre. Dann hätten sie zusammen schlafen können, ohne dass irgendwer sie jemals stören würde; sie wären für immer zusammen gewesen. Das klang traumhaft.

Doch er holte sich selbst aus dieser Vorstellung heraus, indem er sich daran erinnerte, dass Kieran niemals mit ihm gekommen wäre. Er war niemand, der vor seinen Pflichten davonlief – und die Welt zu beschützen gehörte dazu. Die Flucht in die Vergangenheit war die einzige Möglichkeit für Luan gewesen, Kieran zu helfen, ungeachtet der daraus erwachsenen Konsequenzen.

Da Aludra auf eine Antwort wartete, überlegte er einen Moment. Er wägte seine Worte möglichst gut ab, um keinen emotionalen Ausbruch bei ihr hervorzurufen: „Ich wollte Kierans Wunsch respektieren – und er wollte kämpfen. Aber ich wollte ihm auch eine bessere Chance für diesen Kampf geben. Und das war nur möglich, indem ich mein Glück vergesse.“

Sie sah ihn ausdruckslos an.

„Wenn man jemanden liebt“, fuhr er fort, „muss man in einem gewissen Umfang bereit sein, auf sein eigenes Glück zu verzichten. Und das habe ich getan.“

Obwohl ihre Mimik sich nicht veränderte, glaubte er, dass sie über seine Worte nachdachte, sie möglicherweise hin und her wiegte, sie auseinandernahm, wieder zusammensetzte und dabei zu verstehen versuchte, wie dieser Ansatz erfolgreich sein könnte. Er wusste nicht, um wen genau es ihr bei dieser Frage ging oder was sie damit bezweckte, aber er hoffte, sie zufriedenstellend beantwortet zu haben.

Schließlich sprach sie wieder: „Glaubst du, Kieran ist glücklich?“

Luans Brust zog sich schmerzhaft zusammen, Kälte breitete sich in ihm aus und brachte ihm den Wunsch, endlich einzuschlafen und nie wieder aufzuwachen. Wie oft hatte er sich schon diese Frage gestellt, seit er in die Vergangenheit gereist war? Wie oft, seit er ihm wiederbegegnet war? Doch eine Antwort darauf war ihm nach wie vor verwehrt geblieben.

„Ich hoffe es. Aber solange diese Welt besteht, war mein Opfer nicht umsonst und er kann glücklich sein. Dafür wäre es nie zu spät.“

Das war gerade alles, was zählte. Wenn niemand Kierans Lebensraum bedrohte, blieb ihm noch Zeit, glücklich zu werden. Die Probleme mit seinen Eltern, Ciar, das alles konnte gelöst werden, er musste nur überleben.

Aludra neigte den Kopf, als wolle sie nicken. „Ich denke, ich werde darüber eine Weile nachdenken müssen. Danke für deine Antwort.“

Damit fuhr sie herum und war fast so schnell verschwunden, wie sie gekommen war. Luan war nicht einmal Zeit geblieben, sie zu fragen, warum sie das alles wissen wollte – oder wo Kierans Großvater war, von dem bislang noch niemand gesprochen hatte.

Die Sehnsucht nach Kieran brannte nach diesem Gespräch als kaltes Feuer in seiner Brust, aber er durfte nicht nachgeben. Er musste es niederkämpfen, um all die Ereignisse in dieser Welt und seinen behutsam aufgestellten Plan nicht zum Einsturz zu bringen.

Mit einem tiefen Seufzen, das all die Schmerzen der letzten Jahre in sich zu tragen schien, öffnete er endlich die Tür zu seinem Zimmer – das sich immer noch nicht so anfühlte – und trat ein. Wenn er schon nicht am Bahnhof seiner Geburt für immer schlafen dürfte, könnte er sich jetzt zumindest noch ein wenig hinlegen, um all das Negative erst einmal zu vergessen.

Damit ließ er die Tür hinter sich wieder ins Schloss fallen und sperrte die Welt mit all ihren Problemen erst einmal aus.

 

„Granya und Sephia kümmern sich um die Kleinen“, sagte Lowe. „Den Mädchen geht es also gut, da musst du dir keine Sorgen machen.“

So viel wusste Cathan bereits durch sein eigenes Telefonat mit seiner Frau, das hatte er geführt direkt nachdem er aufgewacht war, noch vor dem Frühstück. Aber es sprach für Lowe, dass er das ebenfalls klarstellen musste. Sein Bruder war sofort zu ihm gekommen, nachdem er erfahren hatte, dass er wach war. Nun saß Cathan auf seinem Bett auf der Krankenstation und Lowe zufrieden lächelnd auf einem Stuhl daneben. Kian war ebenfalls noch hier, ignorierte sie beide aber. Luan war dagegen schon nach dem Frühstück in sein eigenes Zimmer zurückgekehrt. Von Ciar war an diesem Tag noch nichts zu sehen gewesen (Cathan vermutete, dass er in Athamos etwas Wichtiges erledigen musste). Konia wiederum war in ihrem Büro, um dort Akten zu bearbeiten.

„Ich bin nur froh, dass du wieder wach bist“, sagte Lowe. „Die Stimmung war echt seltsam in Abteracht, so ohne dich.“

„Ich glaube, die Leute sind eher wegen dem Weltenverschlinger angespannt.“ Und das vermutlich nicht zu Unrecht, wie Cathan befürchtete. „Das wird mit mir nichts zu tun haben.“

Lowe stieß ihm spielerisch gegen die Schulter. „Ich sehe das anders. Ich mache mir wegen ihm aber auch keine Sorgen. Parthalan wird schon eine Lösung finden.“

Das Vertrauen in den Vizeführer war bestimmt eine Ehre für Parthalan, aber Cathan war sich nicht so sicher wie Lowe. Wenn es ihm bereits gelungen war, andere Welten zu zerstören, warum sollte er ausgerechnet an dieser scheitern? Außerdem war der Körper der Frau, von der er Besitz ergriffen hatte, außergewöhnlich. Auch das könnte es schwer machen.

„Wann kann ich mit Parthalan reden?“, fragte Cathan. „Er muss wissen, was ich gesehen habe.“

„Vorhin ist er nicht in seinem Büro gewesen. Ich glaube, er wollte auch mit Seline sprechen.“

Er erinnerte sich, dass sie auch da gewesen war. Sie hatte gekämpft, aber den Verschlinger auch nur zur Flucht zwingen können. Offenbar war sie dann auch bewusstlos geworden, doch davon hatte er nichts mehr mitbekommen.

Während er noch darüber nachdachte, öffnete sich plötzlich die Tür. Parthalan schritt erhobenen Hauptes herein, als hätte das Aussprechen seines Namens ihn beschworen; sofort schien eine Aura der Erhabenheit von der Krankenstation Besitz zu ergreifen. Cathan hatte stets zu jenen gehört, die Respekt, aber keine Furcht vor Parthalan fühlten. Wer nichts falsch machte, davon war er überzeugt, musste sich nicht ängstigen oder nervös sein, wenn der Vize mit einem reden wollte. In diesem Moment verspürte er neben dem üblichen Gefühl auch noch Erleichterung. Sobald er Parthalan erzählt hatte, was er wusste, würde dieser für alles weitere sorgen, darauf konnte er sich verlassen. Vielleicht wäre dies sogar die Änderung, die den Verschlinger endlich stoppen könnte. Diese Hoffnung war vielleicht ähnlich naiv wie die von Lowe, aber sie waren schließlich auch Brüder.

Der Vizeführer bewegte sich auf sein Bett zu, grüßte dabei Kian nebensächlich, genau wie Lowe, und fixierte sich dann auf Cathan. Der starre Blick aus den eisblauen Augen, verstärkt durch die Brillengläser, schien auf seiner Haut zu brennen. Doch er erinnerte sich daran, dass er sich nichts vorwerfen musste.

„Cathan.“ Sogar seine Stimme war eiskalt, mit einem leisen Unterton, der nicht so recht zu ihm zu passen schien. „Du kannst dir sicher denken, worüber ich mit dir sprechen möchte.“

„Über die Zeit, als ich besessen war, ja.“

Parthalans Haltung entspannte sich kaum merklich. „Richtig. Also?“

Sogar Kian schien nun neugierig zu sein, jedenfalls war sein Körper mehr in ihre Richtung geneigt. Lowe neben ihm wartete auch bereits aufmerksam. Cathan war fast ein wenig enttäuscht, dass er ihnen nicht mehr erzählen konnte als das, was er wusste: „Die Erinnerung ist ein wenig diffus, weil so vieles in kurzer Zeit auf mich eingeprasselt ist. Und dann ist da auch noch diese andere Frau gewesen, von der er Besitz ergriffen hat … es war seltsam.“

Eigentlich war dieses Wort nicht stark genug, um auszudrücken, wie er mit all diesen Gefühlen und Erinnerungen konfrontiert empfunden hatte. Aber ein anderes wollte ihm partout nicht einfallen.

„Erzähl mir einfach, was du noch weißt“, sagte Parthalan. „Es wird bestimmt genug sein.“

Was hatte Seline ihm bereits berichtet? Cathan hätte das zu gern gewusst, aber er wollte auch nicht fragen – jedenfalls nicht bevor er selbst geantwortet hatte, um unvoreingenommen zu sein.

„Ich kann keine genaue Erinnerung des Verschlingers benennen, also weiß ich auch nicht, wer er ist. Aber da war viel … Leid und Schmerz. Nicht der von anderen Personen, sondern sein eigener.“

Allein die Erinnerung daran ließ seine Brust wieder eng werden und erschwerte ihm das Atmen. Noch nie war er jemandem begegnet, der mit einer derartigen Last beladen war – und dann war es ausgerechnet ihr Feind.

Parthalan zog die Brauen zusammen. Sein Blick schien für einen Moment in die Ferne zu gehen. Doch er besann sich fast sofort wieder. „Weißt du, warum das so ist?“

Cathan versuchte, sich auf die Erinnerungen zu konzentrieren, so verwischt und konfus sie auch sein mochten. Wie Herbstblätter wurden sie von Windstößen fortgerissen und verloren sich irgendwo in der Dunkelheit.

„Ich bin mir nicht sicher“, antwortete er schließlich. „Aber wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass er diese Zerstörung eigentlich nicht möchte. Er hat aber keine Wahl.“

Das war jedenfalls der Gedanke, der ihn stets aufs Neue durchzuckt hatte: Ich habe keine Wahl. Das ist der einzige Weg. Immer und immer wieder, als müsste er sich selbst davon überzeugen, dass es einen höheren Beweggrund für sein Tun gab.

„Aber“, warf Lowe ein, „was könnte jemanden dazu bringen, Welten auszulöschen, obwohl er es nicht möchte?“

„Ist er vielleicht auch nur von etwas besessen?“, fragte Parthalan.

Cathan schüttelte mit dem Kopf. „Nein, er handelt aus freiem Willen. Das ist sein eigener Plan.“

Zwischen den Männern kehrte eine unangenehme Stille ein, während der jeder seinen eigenen Gedanken nachhing. Dabei fragte Cathan sich, ob Lowe nun endlich den Ernst der Lage begriffen hatte oder ob er nach wie vor an ein Wunder Parthalans glaubte, das sie alle retten würde.

Die Gesprächspause wurde schließlich von jemandem beendet, von dem sie es nicht vermutet hätten: „Warum macht ihr euch eigentlich so einen Kopf darum?“

Sie wandten sich Kian zu, der sie alle mit gerunzelter Stirn ansah. So genervt wie er von ihrem Gespräch schien, wunderte es Cathan, dass er überhaupt so lange zugehört hatte.

Parthalan fragte ihn, was er meinte, worauf Kian mit den Augen rollte. „Na, ganz einfach: Es gibt nur zwei Arten, wie das ausgehen kann. Entweder ihr schafft es, ihn zu besiegen oder wenigstens zu bekehren, oder wir gehen alle drauf, bis er irgendwann von irgendwem anderes aufgehalten wird.“

„Das wissen wir auch“, erwiderte Lowe überraschend ernst.

„Dann ist dieses ganze Blabla doch vollkommen überflüssig!“ Es sah aus, als wolle Kian verzweifelt die Hände hochwerfen, aber da sein neuer Körper ihm noch nicht gänzlich gehorchte, wurden es nur wenige Zentimeter, bevor er schnaubend wieder aufgab. „Ihr könnt ja versuchen, mit ihm zu reden, so wie mit mir damals. Oder ihr tötet ihn sofort. Oder ihr tötet ihn, nachdem ihr geredet habt. So wie ich das sehe, sind das die einzigen Möglichkeiten. Darüber nachzudenken, warum er das tut, bringt euch doch auch nicht weiter.“

Parthalan verschränkte die Arme vor der Brust, dann hob er eine Hand und stützte sein Kinn darin. Lowe tauschte derweil einen unsicheren Blick mit Cathan. Er verstand jedoch, was Kian ihnen zu sagen versuchte – und im Grunde stimmte er ihm zu. Deswegen nickte Cathan schließlich. „Richtig. Wir können ihn bekehren oder ausschalten, bevor er uns vernichtet. Dann sollten wir auch genau das tun, ohne zu überlegen, welche Motive er hat.“

„Ja“, sagte Lowe gedehnt. „Selbst wenn wir verstehen, warum er das tut, ändert das nichts daran, dass es hier um unser aller Leben geht.“

„Endlich habt ihr es kapiert.“ Kian nickte grimmig. „Also entscheidet euch einfach.“

Parthalan ließ die Arme wieder sinken. „Das habe ich bereits. Danke für deine – etwas rüde – Hilfe.“

Dieser kleine Vorwurf schien Kian nicht zu kümmern, genauso wenig wie das Lob. Er zuckte mit den Schultern. „Wenn ihr dann endlich zu labern aufhört, war es das wert.“

Demonstrativ wandte er sich von ihnen ab, gefolgt von einem weiteren Schnauben, als es ihm nicht gelang, eine seiner Hände vernünftig zu heben.

Cathans Aufmerksamkeit galt nun wieder Parthalan. „Wofür hast du dich entschieden?“

Der Vizeführer war in seine erhabene Rolle zurückgekehrt und streifte ihn nur mit einem kurzen Blick, als er die Hände hinter seinem Rücken zusammenlegte. „Wir werden den Weltenverschlinger einfangen und dann versuchen, mit ihm zu verhandeln. Falls das scheitert, haben wir ihn zumindest unter Verschluss.“

Abteracht besaß eine eigene Fänger-Einheit, die darauf spezialisiert war, Dämonen für die Forschung einzufangen – manchmal kam es auch vor, dass sie Wesen einfingen, die sie danach wieder nach Niflheim schickten, weil sie nur zufällig in diese Welt gelangt waren. Also mangelte es nicht an Jägern. Doch Cathan zweifelte daran, dass es einen gab, der es mit dem Verschlinger aufnehmen könnte.

Lowe dagegen war plötzlich in neuem Interesse entflammt. Mit großen Augen sah er Parthalan an. „Wen wirst du für diese Mission losschicken?“

Die Antwort darauf ließ Lowe zufrieden und gleichzeitig stolz lächeln: „Es wird Zeit, dass unser einziger Häftling die Gelegenheit bekommt, sich zu rehabilitieren.“

 

Abteracht war nicht bekannt dafür, Gefangene zu nehmen. Die von den Fängern festgesetzten Dämonen lebten in Käfigen im Labor, negativ aufgefallene Jäger wurden entsprechend ihres Vergehens diszipliniert und früher waren das zumeist nur kleine Fehler gewesen. Lange Zeit hatte es deswegen keinerlei Bedarf nach einem Gefängnis gegeben.

Das hatte sich vor vier Jahren geändert, nachdem durch Luans Brief ans Licht gekommen war, dass ein spezieller Jäger einst für das Wegsperren Ciars im eigenen Körper verantwortlich gewesen war. Einen solchen Verstoß hatte man nicht mit einer wütenden Rede oder einem Schlag auf die Finger durchgehen lassen können; da waren härtere Maßnahmen gefordert.

Also hatte Cerise eigens ein Kellergewölbe errichten lassen, in dem sich mehrere Zellen befanden. Für den Fall, dass wir noch mehr Missetaten aufdecken, hatte sie gesagt, nur wenige Monate bevor sie in ihren Schlaf gefallen war.

Es hatte weitere Frevel gegeben, aber keine Gefangenen mehr. Timothy war von Faren, seinem eigenen Sohn, getötet worden; Albus, Selines Vater, war zu Beginn der Auseinandersetzungen mit Armas irgendwo in Niflheim verschwunden und nie zurückgekehrt. Parthalan wusste nicht, was mit ihm geschehen war. Vielleicht wartete er dort draußen immer noch auf einen geeigneten Moment der Rückkehr, vielleicht interessierte er sich nicht mehr für diese Welt, vielleicht war er zu Tode gekommen. Es war Parthalan egal, solange er ihnen keinen Ärger bereitete.

Deswegen gab es, als er an diesem Tag die Treppe hinabstieg, auch nur einen Gefangenen an diesem Ort.

Cerise hatte darauf geachtet, dass der Hauptgang des Kerkers dunkel und abschreckend wirkte: vereinzelte Fackeln warfen flackernde Schatten an die Wände aus grünlichen Steinziegeln, Stahltüren reihten sich aneinander, irgendwo konnte man Mäuse und Ratten quietschen hören, während gleichzeitig eine unsichtbare Wasserquelle unaufhörlich vor sich hintropfte. Es war ein trostloser Ort, an den niemand gern kam.

Doch die scheinbare Strenge verlief sich rasch, wenn man die Zelle ihres Langzeit-Gefangenen betrat. Angefangen hatte dieser Raum als kleines Quadrat, gerade groß genug, um zwei Schritte zu machen, bis man an der jeweils gegenüberliegenden Wand ankam. Inzwischen hatte es sich zu einer gemütlichen Ein-Zimmer-Wohnung entwickelt, in der genug Platz für Trainingsgeräte war. Zwei davon – eine Latzugmaschine, sowie ein Rad – standen mitten im Raum, wurden an diesem Tag aber nur von jeweils einer schwarzen und einer weißen Katzen belagert. Die Augen der beiden folgten jedem von Parthalans Schritten, während er auf die Pritsche zulief, die auf Wunsch des äußerst vorbildlichen Gefangenen nicht durch ein gemütlicheres Möbelstück ersetzt worden war.

Der Mann, zu dem Parthalan wollte, lag gerade darauf, die Augen geschlossen, aber ein wissendes Lächeln auf den Lippen.

„Na?“, fragte er. „Sehnsucht nach mir gehabt?“

Parthalan überging diese eigenartige Begrüßung. „Farran Lane, ich habe einen Auftrag für dich.“

„Oh?“ Farran öffnete ein Auge. „Sind alle anderen Fänger krank oder in Rente gegangen?“ Er seufzte theatralisch. „Ich habe wirklich absolut keine Ahnung, wie lange ich schon hier bin. Cerise kommt seit Ewigkeiten ja nicht einmal mehr zum Tee vorbei.“

Parthalan dachte darüber nach, ihm zu erzählen, weswegen die Anführerin keine Zeit mehr für so etwas hatte, aber er wollte verhindern, dass Farran glaubte, er sei zum Plaudern hergekommen. Die Verletzlichkeit Abterachts könnte er außerdem noch erörtern, sobald der andere zugestimmt hatte.

Farran verschränkte die Hände unter seinem Kopf und schloss das Auge wieder. „Du musst ja sehr verzweifelt sein, wenn du damit zu mir kommst. Erst vergesst ihr mich hier unten und dann soll ich die Kastanien für euch aus dem Feuer holen?“

Dass er vergessen worden war, kam einer Übertreibung gleich. Man hatte stets sichergestellt, dass er versorgt wurde, sogar Besuch seiner Familie und vereinzelten Freunden war ihm erlaubt gewesen – und seine Katzen waren ebenfalls einheimisch geworden (obwohl Parthalan sich immer noch nicht daran erinnern konnte, dem zugestimmt oder gesehen zu haben, wie sie eingezogen waren). Diese unverzeihliche Einstellung Farrans sorgte dafür, dass Parthalan etwas steif wirkte, als er ihm eine Antwort darauf gab: „Du weißt, dass du etwas wirklich Schlimmes getan hast. Wir mussten ein Exempel an dir statuieren.“

„Und gleichzeitig wolltet ihr mich nicht als Fänger verlieren, ja ja“, konterte Farran sofort. „Sonst hättet ihr ja einfach meinen Dämon extrahieren können, nicht wahr? Lieber sperrt ihr mich hier zusammen mit ihm ein, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass ich verrückt werde.“

Parthalan bereute bereits, hierher gekommen zu sein, doch auch der Leiter der Fänger-Einheit hatte ihm versichert, dass Farran der beste für diese Mission war – und es gab nur einen Versuch für diese.

„Unter anderen Umständen würde ich diese Diskussion mit dir auf einer anderen Ebene fortführen, aber die Lage ist wirklich ernst.“

Endlich öffnete Farran beide Augen und sah Parthalan direkt an. „Wie ernst genau?“

Sollte er diplomatisch vorgehen oder die Wahrheit sagen? Womit könnte er jemanden wie diesen Mann am besten überzeugen? Er war manchmal unberechenbar, aber doch musste ihn interessieren, wie es seiner Familie ging, besonders seinem kleinen Bruder. Das machte die Entscheidung einfach: „Wenn wir nichts unternehmen, wird diese Welt zerstört werden.“

Entgegen Parthalans Hoffnung schloss Farran die Augen wieder. Nachdenkliches Schweigen legte sich über die Zelle und erfüllte den Vizeführer mit einem ihm verhassten Gefühl von Unsicherheit. Weswegen war es für Farran so leicht, das in ihm auszulösen?

Nein, es musste an der Situation an sich liegen, die ihm unangenehm war. Der fast sicheren Zerstörung entgegenzusehen, ohne die positive Sichtweise von Cerise neben sich, war etwas, dem selbst Parthalan nichts zu erwidern wusste. Dennoch musste er stark bleiben, um zumindest den Eindruck zu vermitteln, dass er wusste, was zu tun war. Sein Rücken blieb deswegen durchgestreckt, seine Schultern stark und sein Kopf erhoben, selbst während er auf Farran hinabblickte.

Schließlich seufzte der Gefangene, der einzige Hoffnungsträger im Moment. Schwungvoll setzte er sich aufrecht hin und blickte den Vizeführer ernst an. „Erzähl mir mehr darüber.“
 



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