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No Princess

von

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Zweiter Abschied

Irgendetwas war faul. Inspektor Kobayashi lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und zog genervt an seiner Zigarette. Die Jalousien seines Büros waren herunter gelassen, draußen tobte ein Unwetter. Der Wind klatschte den Regen an sein Fenster, als wollte er in das Büro einbrechen. Mit aller Kraft hielten die Glasscheiben dagegen und knarzten gelegentlich unter dem Druck. Herr Kobayashi war der letzte der Menschen gewesen, die jetzt noch arbeiteten. Es war schon normal für den Inspektor geworden, als letzter das Büro zu verlassen. Zuhause wartete niemand auf ihn – Seine Frau und seine Tochter hatten ihn verlassen. Er würde seine Tochter ab und zu sehen und sie würde schon wieder gewachsen sein. Sie war kurz davor, die High School zu besuchen. Ihre Mutter hatte bereits einen neuen Mann gefunden. Bei diesen Gedanken widmete sich Kobayashi seufzend seinen Notizen. Heute war die Beerdigung von Misaki Kurosawa gewesen. Die Tochter der Verstorbenen war 16 Jahre alt und hatte bereits einige Vermerke in ihrer Akte. Gewalttätigkeit, Gangverbindungen … Dennoch wurde sie nie verurteilt, geschweige denn angeklagt. Sie war auch ungewöhnlich jung für ihre Straftaten, weshalb man es wahrscheinlich nur als „Zankerei zwischen Kindern“ abgestempelt hatte. Die Lungen des Inspektors füllten sich mit rauem Nikotin, ehe er es wieder ausatmete und seine Nasenflügel bebten. Der Ex-Mann der Verstorbenen führte ein erfolgreiches, internationales Unternehmen, verließ Frau und Kind jedoch, als Anna gerade 3 Jahre alt war. Trotz der Trennung bezahlte der Mann weiterhin den Unterhalt und die Lebenserhaltungskosten, sowie Taschengeld und eine stattliche Summe zu jedem Geburtstag seiner Tochter. War es vielleicht der Fall, dass ihm die Frau egal war und nur die Tochter ihn kümmerte? War er deshalb nicht zur Beerdigung gekommen? Aber wenn er sich wirklich um sein Kind sorgte, würde er sich wenigstens ab und zu mal blicken lassen… Zumindest würde Kobayashi es so tun. Auch, wenn er nicht einverstanden mit der Art war, wie seine Ex ihr gemeinsames Kind erzog, würde er dennoch zu ihrer Beerdigung kommen. Doch nichts. Kein Kontakt, kein Anruf, kein Treffen innerhalb der letzten fünf bis zehn Jahre.

Der Inspektor griff sich genervt ins Gesicht und rieb seine müden Augenlider. Der Rauch hing in dichten Schwaden in dem kleinen Büro und vernebelte seine Sinne. Er ließ das Notizbuch aus seinen Händen auf den voll gestellten und unordentlichen Schreibtisch fallen, legte sich die Hände in den Nacken und drehte in seinem Stuhl hin und her, während er die Decke anstarrte.

Das Mädchen war komplett aufgelöst gewesen, als er sie das erste Mal gesehen hatte. An diesem Tag hatte man neben der Leiche einen merkwürdigen Fleck gefunden, als hätte man eine Wanne mit Wasser neben ihr ausgekippt. Dennoch war an der Leiche selbst kein Wasser zu finden. Vielleicht hatte Anna aus dem Schock ihre Blase nicht mehr halten können? Allerdings ergab die chemische Untersuchung des Flecks, dass es nur Salzwasser war. Man fand keinerlei menschliche DNA in den Spuren, welche man normalerweise finden müsste, wenn man Urin oder Schweiß untersuchte. Außerdem schien Frau Kurosawa bereits am Samstagmittag getötet worden zu sein und ihre Leiche war komplett ausgetrocknet, als hätte man ihm jegliche Flüssigkeit entzogen. Tatsächlich war es erschreckend, wie man ihren Körper zerfetzt hatte. In den zwanzig Jahren, die Kobayashi nun bereits bei der Polizei war, hatte er noch nie so eine stark verstümmelte Leiche gesehen. Seine Kollegen vom Rettungsdienst sind bei dem Anblick fast umgekippt und die Neulinge von der Polizeiakademie versuchten, sich nicht an Ort und Stelle zu übergeben. Wieso hatte man Frau Kurosawa das Herz heraus gerissen? Anhand der Faserreste im umliegenden Gebiet der Wunde konnte man feststellen, dass die Frau noch gelebt hatte, als es geschah. Man hatte ihr beim lebendigen Leibe den Brustkorb geöffnet. Man hat keinerlei Spuren von Waffen oder Werkzeug an den Rippen gefunden, womit man sie vielleicht hätte aufzwingen können. Ein dunkler Gedanke ließ Kobayashi erschaudern: Was, wenn diese Tat mit bloßer Hand verübt worden war? Das Brustbein, der Brustkörper und der Brustfortsatz waren an merkwürdigen Stellen gebrochen worden, als hätte man nicht diese zuerst entfernt, sondern einfach nur die Rippen auseinander gezogen. Aber Kobayashi erwartete auch keine professionellen, medizinischen Kenntnisse bei dem Täter.

Beim zweiten Mal, als er Anna sah, hatte sie aus ihrem Rücken geblutet und schien nicht ansprechbar zu sein. Tatsächlich hatte Inspektor Kobayashi die Alibis aller Anwesenden überprüfen lassen und tatsächlich sah man auf den Videoaufzeichnungen der Bahngesellschaft, wie die drei Jugendlichen vor einigen Wochen über die Bahnhöfe gehastet waren, um die Anschlusszüge rechtzeitig erreichen zu können. Dennoch: Die Aussagen von Ren Ou haben geklungen, als hätte man sie vorbereitet und auswendig gelernt. Irgendwie hatte Kobayashi auch nicht das Gefühl gehabt, Anna hätte wirklich geschlafen. Und überhaupt: Wieso ließ sie sich einfach so von fremden Jungs anfassen? Immerhin hat der eine große ihr den nackten Rücken abgewischt. Vielleicht war es ihr nicht bewusst, aber das waren alle Männer, die ihre Triebe ausleben wollten, oder? Oder es war ihr bewusst und sie genoss die Aufmerksamkeit von so vielen Kerlen? Was ihm auch noch Sorge bereitete war der weißhaarige Junge gewesen, der am Fenster gesessen und zugehört hatte. Er schien nicht mal ansatzweise zu versuchen, sich in das Gespräch einzumischen. Er saß da und seine blauen Augen musterten den Inspektor eindringlich. Im Nachhinein fiel Kobayashi auch noch auf, dass viele der Anwesenden wahrscheinlich Ausländer gewesen waren. Viele hatten ungewöhnliche Haar- und Augenfarben. Der Blonde sah aus wie ein Yakuza, er war groß, durchtrainiert und hatte sich seine Haare gefärbt. Der Rotschopf schien nicht so stark zu sein, dennoch hatte er kein gutes Gefühl bei ihm. Und der Riese, der das Mädchen betuddelte, war definitiv nicht von hier. Vielleicht also hatte ihr Vater weniger mit der Sache zu tun, als die fremdartigen Männer und deren Verbindungen zu irgendeinem Syndikat? Ein schräges Grinsen fiel auf Kobayashis Gesicht, als er daran dachte. Es waren nur Teenager. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie in einem Syndikat waren, war relativ gering.

Beim dritten und letzten Mal, wo er Anna gesehen hatte, hatte sie sich zum ersten Mal wie eine Tochter verhalten. Sie weinte bitterlich und konnte ihre Verzweiflung und Trauer kaum noch unterdrücken. Erst da wurde ihm das erste Mal der Fakt bewusst, dass Anna vielleicht nichts mit dem Tod ihrer Mutter zu tun hatte. Ihr Vater hatte sehr viel offensichtlichere Verbindungen zu einem möglichen Mord: Die Beschwerden ehemaliger Mitarbeiter waren noch das geringere Übel. Es gingen Gerüchte um, dass ihr Vater im Waffengeschäft eingestiegen war, sogar Drähte zu der chinesischen Mafia hatte. Man munkelte, dass er sich langsam seine eigene Gangster-Stadt in China aufbaute. Falls er irgendjemandem dort auf den Fuß getreten ist, könnte es schnell zu solchen Ausschreitungen führen.

Doch das war nicht das einzige Problem, dass um das Mädchen herum auftrat. Drei Schüler wurden in den letzten Monaten als vermisst gemeldet: Ein Mädchen namens Mika, das jahrelang mit Anna befreundet gewesen war, wurde seit Juli vermisst. Kai, ein Transferschüler, Mitglied im Schülerrat, der anscheinend oft Kontakt mit Anna hatte, wurde seit August nicht mehr gesehen. Außerdem schien der Junge auch mit Ren, Mirai, Liam und Akira eng in Kontakt gestanden zu haben. Nun, kurz nach dem Tod von Frau Kurosawa, wurde ein weiterer Transferschüler und gleichzeitiger Klassenkamerad von Anna vermisst: Iori. Zu allen drei hatte Anna Kurosawa eine Verbindung. Nicht zu vergessen: ihr eigener Bruder. Seit Beginn der Sommerferien ist er bei der Schule als „krank gemeldet“ vermerkt, doch hat er es nicht einmal geschafft, zur Beerdigung seiner eigenen Mutter aufzutauchen. Tatsächlich haben nicht einmal die Nachbarn ihn gesehen. Auch er hatte sich komplett in Luft aufgelöst.

Es half nichts. Egal, wie sehr die Lage in die Richtung von Herrn Kurosawa deutete, bekam der Inspektor nicht das Bild aus dem Kopf, wie Anna in ihrem Bett gelegen und geblutet hatte. Und all die „Freunde“, die sich um sie sorgten – sie waren nicht normal. Das war wohl der sechste Sinn eines Polizisten. Dennoch musste er aufpassen, dass er seine Befugnisse nicht überschreiten würde. Als er sich Zutritt zu Ren Ous Haus verschafft hatte war das schon fast zu viel gewesen und hätte für eine Verwarnung von seinem Chef gereicht. Wenn er also weiterhin Anna im Auge behalten wollte, musste er es vorsichtig angehen und sich nicht dabei erwischen lassen.

In der Nacht vom 14. zum 15. parkte Kobayashi seinen Wagen in einer kleinen Gasse, die von der Hauptstraße abging und lief dann im eisigen Herbstwind über die menschenleere Straße. Es war jetzt die achte Nacht in Folge, dass er das Haus observieren würde. Immerhin war es nicht verboten, auf der Straße zu stehen und die Architektur einer europäischen Schönheit zu studieren. Doch die Nächte waren zum Großteil ziemlich ruhig gewesen. Ab und zu hatte Kobayashi den Eindruck bekommen, dass niemand in diesem Haus wohnte. Manchmal sah man die Gestalten der Männer an die Fenster treten und die Vorhänge zu ziehen. In den seltensten Fällen hatte er tatsächlich etwas interessantes gesehen: In den ersten drei Nächten sah man, wie drei Kinder sich dem Haus Zutritt verschafften. Es war spät in der Nacht gewesen, sicherlich keine richtige Uhrzeit für die drei, um durch die Gegend zu streifen. Nach einer Stunde verließen sie das Haus wieder, als hätten sie nur etwas abgeholt.

In einer Nacht, die genau so dunkel war, wie heute, hatte man ein Knurren gehört. Es war nicht das Knurren eines Chihuahas gewesen, es ähnelte mehr dem Zähnefletschen eines Wolfes. Bei der Erinnerung an das Geräusch erschauderte der Inspektor. Dann, es war die gestrige Nacht gewesen, sah man etwas, das sich ins Gehirn des Inspektors gebrannt hatte: Der Wind war relativ ruhig gewesen. In Annas Zimmer leuchtete eine kleine Lampe, die ein weißes, fahles Licht von sich gab und nicht viel von dem Raum beleuchtete. Im anderen Ende des Hauses hatten sich ein paar Leute versammelt und schienen angeregt über etwas zu diskutieren – immer wieder sah man, wie einer der jungen Männer aufstand und durchs Zimmer tigerte. Kobayashi hatte den Blick wieder zurück auf Annas Fenster geschwenkt und sah etwas, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Eine Gestalt – weder die von Anna, noch die der Jungs – stand am Fenster. Der kleine Schreibtisch davor schien ihn nicht einmal zu stören – die Holzplatte ging durch ihn hindurch, als wäre er nichts als Rauch. Man konnte nichts erkennen. Die Silhouette war komplett in Schatten getaucht, als wäre er selbst einer. Als könnte es nicht besser kommen, hob der Fremde langsam seine Hand. Kobayashi kriegte das Gefühl nicht los, dass der Mann im Fenster ihn ansah und erkannte, dass der Inspektor ihn beobachtete. Die Hand, die er hob, begann zu schwenken. Der Schatten wunk ihm zu. Mit einem Schaudern spürte der Inspektor, wie er angegrinst wurde. Er blinzelte nur einmal mit den Augen und der Schatten war wieder verschwunden.

Heute spürte man wieder deutlich, dass der November da war. Die Bäume klammerten sich an ihre letzten Blätter und mussten sie irgendwann wegen der starken Böen los lassen. Der Mann zog den Kragen seines Trenchcoats höher ins Gesicht, um seine ohnehin trockene Haut von den Peitschenhieben des Novembers zu beschützen. Er war am Tor der Villa angekommen. Auf jedes Detail achtend suchte der Inspektor die Fenster nach Licht ab. Das eine Zimmer, das Anna gehörte, flackerte im fahlen, weißen Licht, als würde ein kleiner Mond im Fenster sitzen. Ihm war klar, dass es nicht der Mond sein konnte – immerhin ließen die Wolken keinen Funken Licht hindurch. Anna war also noch wach. Sein Blick wanderte weiter. Auch in anderen Zimmern brannte Licht. Ein Schatten lief durch den Garten und zog den Blick des Polizisten auf sich. Es war riesig. Selbst, wenn der Mond nicht schien, konnte man helles, glänzendes Fell erkennen. Der Hund überragte die Rosenhecken, sogar kleine Bäumchen. Nein, das war kein Hund. Das war die Quelle des Knurrens, das Kobayashi vor einigen Tagen gehört hatte. Wieso war so ein riesiger Wolf hier auf dem Anwesen? Sollte er Verstärkung rufen?

„Wer sind Sie?“ Eine junge Stimme erklang vor dem Mann und ließ ihn zusammen schrecken. Sofort richtete er seinen Blick auf die Mauer, die sich vor ihm auftürmte, und sah, wie ein kleiner Junge mit schwarzem Haar und wunderschönen, blauen Augen ihn musterte.

„Hey, Kleiner.“ grinste Kobayashi erleichtert. Es war nur ein Kind. „Ich bin von der Polizei. Kann ich mit deiner Mama oder deinem Papa reden?“ fragte er freundlich. Er konnte nicht gut mit Kindern.

„Mein Papa ist nicht hier und meine Mama ist tot.“ Die Kaltherzigkeit in diesen Worten wurde nur noch bestärkt durch diese ausdruckslose Miene, die der Junge trug. Kobayashi wusste nicht, wie er reagieren sollte, also behielt er das schiefe Grinsen auf seinem Gesicht. In absehbarer Ferne lauerte ein Wolf. Wieso war ein Kind hier? Kobayashi musste sich schnell etwas einfallen lassen, um das Kind wieder ins Haus zu kriegen.

„Dann vielleicht mit Ren Ou? Oder Anna?“ Beim letzten Namen zuckten die Augenbrauen des Jungens kurz zusammen und er zeigte eine Emotion: Argwohn. Er musterte den Polizisten eindringlich, schien abzuwägen, was er nun tun sollte. Plötzlich veränderte sich sein Gesicht. Wüsste Kobayashi es nicht besser, hätte er gesagt, es verlor an Menschlichkeit.

„Menschen sollten zu dieser Zeit nicht hier sein.“ hauchte die eisige Stimme des Fünfjährigen und er begann, vollends über die Mauer klettern zu wollen. Er wollte zu Kobayashi. Sofort spürte der Polizist, wie sein Körper ihm befahl, sich von dem Jungen zu entfernen. Doch etwas hielt den Kleinen im Kragen fest.

„Sho. Ich hab' dir gesagt, du sollst nicht nachts durch den Garten rennen.“ Es war die tiefste Stimme, die der Inspektor je in seinem Leben gehört hatte. Obwohl sie so leise war, drang der Bass bis an seine Brust und ließ seinen Brustkorb erbeben. Der Junge sprach wieder, erzählte von dem Inspektor. Kobayashi sollte schnell gehen.

„Inspektor?“ Ein hübsches, elegantes, männliches Gesicht zeigte sich durch die Eisenstäbe des Tores. Die blauen Augen fixierten den Mann, der gerade fliehen wollte. Der Junge schien älter zu sein, vielleicht um die 16 oder 17, und hatte schneeweißes Haar. Es war der Junge, der beim Besuch von Anna am Fenster gesessen und ihn beobachtet hatte.

„Oh, guten Abend. Ich wollte eigentlich mit Anna sprechen. Ist sie noch wach?“ lachte der Inspektor nervös, verängstigt die tiefe Stimme antworten zu hören.

„Anna schläft bereits. Sie muss sich morgen um die Angelegenheiten ihrer Mutter kümmern.“ Auch diesem Jungen entwich die Menschlichkeit, als Kobayashi Annas Namen ausgesprochen hatte.

„Das kann nicht sein. Ich habe gerade noch Licht in ihrem Fenster gesehen.“ erwiderte der Inspektor entrüstet. Kein Kind würde ihm zum Narren halten. Automatisch huschten seine Augen wieder über das Fenster, um sich erneut zu vergewissern, dass dort Licht brannte, doch nichts. Das Zimmer war in komplette Dunkelheit getaucht, als hätte nie je ein Licht in ihm gebrannt. Der Inspektor schluckte.

„Belästigen Sie Anna bitte nicht weiter.“ Die tiefe Stimme klang nicht mehr so gefährlich, wie vorher, sondern eher gelassen und erschöpft, als der junge Mann die Worte sprach.

„Auch wenn Sie ihn wahrscheinlich nicht befolgen werden, gebe ich Ihnen einen gut gemeinten Rat: Ermitteln Sie nicht weiter in diesem Fall. Sie werden es wahrscheinlich nicht überleben.“ Kobayashi hatte sich geirrt. Die Stimme war durch die Gelassenheit nicht weniger gefährlicher geworden, wohl eher mehr. Er bekam Gänsehaut, als er hörte, wie Shiro mit ihm sprach. Seine Art ließ keine Widerworte zu. Der Junge wandte sich ab und schulterte seinen kleinen Bruder.

„Was ist mit dem Wolf? Sie haben einen Wolf im Garten!“ erwiderte Kobayashi aufgebracht und verfluchte sich für den Ausbruch an Worten. Shiros kalten, blauen Augen musterten den Mann. Es erinnerte den Inspektor daran, wie er einfach nur da saß und zuschaute. Als würde er den geeigneten Zeitpunkt abwarten, Anlauf nehmen und …

„Hier gibt es keine Wölfe.“ haute der junge Mann raus und musste sich das höhnische Lächeln verkneifen. Dann ging er, mit dem kleinen, zappelnden Jungen auf seiner Schulter, zurück Richtung Haus. Als wäre er aus den Fängen eines wilden Tieres befreit worden, schaffte der Inspektor es endlich, sich vom Haus weg zu drehen. Zähneknirschend ging er wieder Richtung Auto. Er würde weiter ermitteln, komme, was wolle.

„Alles okay draußen?“ fragte Mirai und nahm Shiro den kleinen Tengu ab.

„Der Inspektor stand vor der Tür und hat rum geschnüffelt. Schon wieder.“ antwortete Sho für den Wolfsjungen.

„Anna hat dir doch gesagt, du sollst nachts nicht umher streifen.“ murrte Ren nun und faltete das Buch zusammen, das er gerade gelesen hatte. Alle waren im Wohnzimmer versammelt und waren in einem Gespräch vertieft, nur Anna lag bereits in ihrem Bett und versuchte zu schlafen. Sho zog erneut eine Schnute, als würde er schmollen. Seit Kobayashi hier das erste Mal vor dem Haus aufgetaucht war, hatte Shiro seine Fährte aufgenommen. Er behinderte die Nachforschungen, die die Anwohner dieses Hauses angestellt hatten.

Shiro hielt des nachts Wache und achtete darauf, dass keiner das Gelände betrat. Unter den Wolken des Herbst geschützt schaffte es nicht einmal mehr der Mond, das Anwesen zu sehen, was gut war – Immerhin hatte Eve einen Mondgott auf ihrer Seite. Während Tristan, Marlo und Rose, die wieder zu Besuch waren, nach Kai und Mika suchten, versuchte Ren seine Leute nach Japan zu bringen. Mirai hatte engen Kontakt mit Sasahira, die bei den Tengus war. Sie mussten auf Abruf bereit stehen, falls sie zum Kampf gerufen wurden. Wenn Liam gerade nicht mit den Aufgaben des Haushaltes beschäftigte, telefonierte er. Er rief alte Bekannte und Freunde an, die er in Skandinavien noch hatte. Sein kleines Arbeitszimmer war meistens gefüllt durch ein Murmeln von fremden Sprachen. Mirai saß ab und zu daneben, setzte sich dann zu seinem Stein und starrte in den Himmel, als würde er die Sonne suchen. Akira tat nichts. Er weigerte sich, seine Familie zu kontaktieren. Stattdessen widmete er fast seine ganze Aufmerksamkeit Anna. Diese versuchte, die Sachen in ihrem Haus in ihrem Kopf auszusortieren. Was weg sollte, was sie behalten wollte, was stehen bleiben wollte. Nichts wollte sie verkaufen oder weg schmeißen, andererseits wollte sie auch nichts von den Gegenständen wieder sehen. Sho und Iori redeten über Eves Handlungen und ihre Taktiken und wie diese zu bekämpfen waren.

„Wenn ich nicht bei Anna schlafen kann, ist mir langweilig.“ murmelte Sho plötzlich genervt und handelte sich sogleich eine Kopfnuss von Shiro ein. Unter Tränen begann der kleine Tengu zu fluchen und zu schreien.

„Dass du bei Anna schläfst, hat uns gerade noch gefehlt.“ zischte Shiro nun wütend und bäumte sich vor dem kleinen Jungen auf. „Wenn du einsam bist, schlaf' bei deinem Bruder.“

„Ich will nicht! Wieso darfst nur du bei ihr schlafen? Es ist nicht fair! Ich will nicht zu meinem Bruder!“ keifte der Junge aufgebracht. Iori knickte unter dem Gefühl seines gebrochenen Herzens zusammen, als er diese Bemerkung hörte. Shiro knirschte wütend mit den Zähnen. Auch er schlief in letzter Zeit nicht so oft bei Anna, wie er es gerne tun würde. Funkelnd starrte er Akira an, der sein Grinsen in einem der Bücher versteckte.

„Ich bin ihr Sohn, natürlich kann ich bei ihr schlafen.“ fauchte Shiro nun genervt und setzte sich neben Liam ins Sofa.

„Du hast einen Mutterkomplex!“ raunte Sho gehässig. Dann lief er auf Shiro zu, holte mit dem Bein aus und trat dem Wolfsjungen gegen das Knie. Sofort sprang Shiro wieder auf die Beine, doch Shos Füße wetzten bereits über den Boden Richtung Tür, als gäbe es kein Halten mehr. Die Kinder verschwanden aus dem Raum. Je öfter man die Streithähne bei dem Kampf um die Liebe ihrer Mutter beobachtete, desto älter fühlte sich der Rest der männlichen Belegschaft. Aber es war erstaunlich: Die einzige Zeit, in der Sho tatsächlich wütend wurde, war, wenn er mit Shiro zusammen war.

Seufzend und müde stand Akira auf, streckte sich und schmiss sein Buch aufs Sofa. Ren verfolgte seine Bewegungen.

„Wohin gehst du?“ fragte er argwöhnisch.

„Ich guck', ob Anna durch den Radau hier aufgewacht ist.“ erwiderte der Rotschopf gelassen.

„Ich wette, er will sie im Schlaf befummeln.“ murmelte Mirai nun und nahm einen Schluck aus seiner Bierflasche.

Die Gänge waren still. Irgendwo weit entfernt in der Villa hörte man ein Jammern und ein rhythmisches Klatschen. Anscheinend versohlte Shiro dem kleinen Tengu gerade den Hintern. Er hatte es irgendwie verdient, fand Akira. Die Lichter waren fast alle ausgeschaltet, nur ein paar Lampen hingen noch gedimmt an den Wänden, um den Weg zu Annas Zimmer zu beleuchten. Mit jedem Schritt spürte Akira, wie Anna näher rückte.
 

Ein letztes Mal wollte er sie sehen. Er wollte sehen, wie es ihr ging. Ihr sagen, dass er sie liebte. Die Sonne quälte ihn. Jeden Tag würde er auf einem Kreuz in der Sonne liegen und darunter leiden. Jede Nacht würde er in ein Zimmer gesperrt werden, in dem die Schatten herrschten. Schatten, die ihm seiner Mächte beraubten und Nacht für Nacht schwächten. Langsam verlor er an Form. Zuerst war es nur wenig – sein Fettgewebe verschwand, seine Muskeln degenerierten. Dann spürte er, wie die ersten Knochen unter seinem Gewicht nach gaben und brachen. Dann begann seine Haut zu bröckeln. In Fetzen fiel sie zu Boden. Jeden Morgen würde er da sitzen und zusehen, wie sein Körper verfaulte, bevor eine Stimme ihn fragte: „Hast du deine Meinung geändert?“ und er würde wieder den Kopf schütteln und wieder auf dem Kreuz landen. Die Sonne zehrte an ihm – es war ein Ort, wo sie so prall auf den schrecklichen Rest seines Körpers schien, dass sie die Überbleibsel fast wegzubrennen schien. Wenn sie dann endlich weg war, würde man ihn ins Zimmer tragen und die Stunden in der Dunkelheit verbringen. Als würde das Zimmer sich von seinem Geist ernähren wachte er jeden Morgen auf und fand weniger von sich vor. „Hast du deine Meinung geändert?“ Und wieder schüttelte er den Kopf. Er würde nicht aufgeben. Nie im Leben würde er sie aufgeben. Jeder Morgen erinnerte ihn daran, wie er sie nicht aufgeben könnte. Und erneut würde er den Tag überstehen. Doch seine Extremitäten begannen zu faulen. Langsam blätterten sich seine Nägel von Zehen und Fingern. Dann folgte der Rest an Fleisch, den die Haut an den Knochen fest hielt. Seine Fingerknöchel zerbröselten wie alter Putz. Es ging langsam in die Arme und Beine über. Als er nichts weiter als ein Torso war, begannen die Schatten, ihn nachts durchs Zimmer zu rollen. Schlaf war nicht mehr möglich. „Hast du deine Meinung geändert?“ Und wieder schüttelte er den Kopf. Als nächstes folgten die Haare. Die Sicht wurde schwammig, unklar, als würde man durch eine nicht geputzte Sonnenbrille sehen. Seine Gedärme lösten sich auf. Sie hinterließen stinkende, schleimige Spuren, wenn er herum gerollt wurde. Doch dann verschwand auch der Geruch – mit seiner Nase. Mit seinen Lippen. Mit seinen Augen. Er war nicht mehr als ein schwarzer Ball, komplett degeneriert zu dem, was er einst war. „Hast du deine Meinung geändert?“ Er hatte keinen Kopf mehr, den er schütteln konnte. Er starrte in die Dunkelheit. Nein. Er würde sie immer noch nicht aufgeben. Danach dauerte es nicht mehr lange, bis sein Bewusstsein den Schatten völlig wich und die Existenz mit dem Namen „Adam“ starb.
 

Annas Augen waren geöffnet. Mit einem leisen „Klick“ fiel die Zimmertür ins Schloss. Das einzige, was diesem Raum Licht spendete, war die Blume am Fensterbrett. Sie ließ die violette Farbe des Raumes kalt und leblos wirken. Allmählich erblühte die Pflanze. Die äußeren Blätter hatten sich bereits ausgebreitet und gaben den Blick auf die letzte Schicht der kleinen Blüte frei, die immer noch eng verschlossen blieb. Jedes Mal, wenn Akira diese Blume sah, fragte er Anna, wie viel Energie sie noch von ihr abverlangte.

Leise Schritte näherten sich zum Bett. Als Akira sein Knie auf der Matratze bettete, um sich zu ihr zu legen, gab sie unter seinem Gewicht nach und zog Annas Körper leicht mit sich. Er führte auch das zweite Knie auf die Matratze und beugte sich über Anna. Diese bewegte sich nicht, anscheinend schlief sie. Seine Finger berührten das nasse, blonde Haar. Sie sollte sich echt die Haare föhnen, bevor sie ins Bett ging. Er führte eine Strähne an sein Gesicht und roch daran. Der Duft beruhigte ihn. Vorsichtig legte er sich hin und legte einen Arm um ihren Bauch, ehe er die Augen schloss.

Es war merkwürdig, wie ruhig und zufrieden man neben ihr schlafen konnte. Es war das dritte Mal, dass er in ihrem Bett lag und einfach nur schlief. Ihr ruhiges Atmen steckte an, automatisch fiel jede Last und Sorge von seinem Herzen. Die Außenwelt schien ausgeblendet zu werden. Man konnte einfach seine Augen schließen und wurde mit den sanften Bewegungen des sich hebenden und senkenden Brustkorb mit gerissen. Ihr schien es gut zu gehen, Shiro und Sho hatten sie nicht geweckt. Ein Teil von Akira bedauerte es. Seit der Beerdigung von Annas Mutter hatte sie ihn nicht noch einmal geküsst. Irgendwie tat es weh, aber gleichzeitig wollte Akira es dadurch nur noch mehr. Ihm fehlte der Geschmack ihrer Haut. Vorsichtig glitten seine Finger wieder unter ihr Shirt und streichelten über ihren Bauchnabel. Sie war so weich, dass es ihm fast weh tat.

„Anna...“ Er konnte nicht anders, als ihren Namen zu flüstern. Ein leiser Versuch, sie zu wecken.

„Ja?“ Die Antwort kam so unerwartet und leise, dass Akira für eine Sekunde dachte, er würde träumen. Vorsichtig hob er den Kopf an, um zu sehen, ob Anna schlief oder nicht. Diese wandte ihm langsam das Gesicht zu.

„Du schläfst noch nicht?“ fragte der Junge verblüfft und versuchte, seine Stimme gesenkt zu halten.

„Wärst du über mich hergefallen, wenn ich es getan hätte?“ fragte die Königin, ebenfalls ziemlich leise, als würde sie niemanden wecken wollen. Er konnte ihr Gesicht nicht erkennen. Akira musste lächeln. Vielleicht hätte er das getan. „Was machst du hier?“ wollte Anna nun wissen und legte ihre Wange wieder auf ihrem Arm ab.

„Ich wollte gucken, wie es dir geht. Shiro und Sho waren ziemlich laut.“ Ihr Nacken war ihm so nah, dass er einfach rein beißen könnte.

„Mir geht’s gut.“ erwiderte Anna und Stille trat ein. Akiras Finger ruhten immer noch bewegungslos auf ihrem Bauch.

„Kann ich dich anfassen?“. Er wollte sie nicht danach fragen, nicht um Erlaubnis bitten müssen und vor allem nicht wie ein Weichei rüber kommen. Das Mädchen nickte. Erleichtert ließ Akira sich wieder in die Matratze sinken und fuhr fort, ihren Bauchnabel mit seinen Fingerkuppen zu umrunden. Doch etwas stimmte nicht.

„Sicher, dass es dir gut geht?“ hakte der Junge leise nach. Erneut nickte Anna.

„Ich hab's mir bereits gedacht, deswegen...“ murmelte sie leise. Ihr Herz zog sich zusammen. Die Atmosphäre kippte langsam um. Weinte sie? Akiras Hand zog sich von ihrem Bauch zurück und hastete zu ihren Wangen. Sie war warm, weinte jedoch nicht. Mürrisch drehte er Anna um, sodass sie ihn ansehen würde.

„Deine Augen...“ flüsterte Akira überrascht. Das Weiß ihrer Augen war komplett schwarz. Ihre blauen Pupillen waren noch dunkler als das. Sie erweckten den Eindruck, als wäre das Tattoo, das kein Licht hindurch ließ, direkt in ihre Augen gewandert. „Was ist passiert?“ fragte Akira sofort. Sein Daumen fuhr unter ihre Auge, tastete die Region des oberen Wangenknochens ab. Sie weinte nicht, doch sah man ihr ihre Trauer an. Wortlos legte sie ihren Arm an Akira und legte ihre Wange an seine Brust.

„Adam ist gestorben.“ Die Worte waren nur ein Flüstern gewesen, doch schlugen sie in Akira ein wie Kanonenschüsse. Zögernd legte auch er ihren Arm um ihn.

„Wann?“ fragte er leise nach. Die nassen Haarsträhnen klebten an seiner Haut, während er diesen kleinen Rücken streichelten.

„Heute.“

„Woher weißt du das?“ Der Junge war überrascht, dass sie so schnell von dem Ableben ihres Bruders erfuhr.

„Ich hab' es gespürt.“ Anna schloss die Augen wieder und atmete den süßen Duft Akiras ein. Es war ihr von Anfang an klar gewesen, dass sie Adam verlieren würde. Wäre sie umgedreht, hätte sie sich durch die Schattenmenschen gekämpft und hätte ihn mit sich genommen, wäre das nicht passiert. Manchmal, in ihren Träumen, konnte sie ihn sehen. Sehen, wie er litt. Es war ihre Schuld gewesen, dass er diese Qualen erleiden musste. Es war ihre Schuld gewesen, dass er überhaupt lebte. Und heute Nacht wurde die Energie, die sie ihm damals geschenkt hatte, zurück gegeben. Als wäre es an der Zeit für ihn gewesen, etwas geliehenes zurück zu seinem Besitzer zu bringen.

„Manchmal dachte ich, er ist hier, während ich schlafe.“, ertönte Annas Stimme plötzlich wieder. „Als würde er beim Bett stehen und sehen, ob es mir gut ginge.“ Akiras Augen wanderten unweigerlich zur Bettkante, doch es stand niemand da. Ein Stein fiel ihm vom Herzen. Auch, wenn er sich mit Adam einigermaßen gut verstand, hätte Adam wohl nicht gezögert, ihm für seine nächtlichen Besuche bei seiner Schwester eine rein zu hauen.

„Manchmal habe ich das Gefühl, dass er mit mir redet. Dann schlaf ich immer wieder ein.“ fuhr das Mädchen fort. Sie zog Akira noch fester an sich, vergrub ihre Nase in seine Brust und er spürte, wie sie seufzte. „Sie hat ihn getötet, Akira. Sie tötet jeden aus meiner Familie.“ Ihre Stimme brach. Sie klang, als würde sie an der Situation verzweifeln. Ihr Herz verkrampfte sich schmerzhaft unter dieser Last. Vorsichtig drückte der Junge ihr einen Kuss auf die Stirn, streichelte über ihren Nacken. „Was, wenn sie sich Shiro als nächstes holt? Was, wenn sie ihn tötet? Er ist der letzte meiner Familie, Akira. Er ist mein Sohn. Was, wenn sie meinen Sohn töten will?“ flüsterte sie angsterfüllt. Und da waren sie – die Tränen, die sie vorher nicht weinen konnte.

„Sie wird Shiro nicht bekommen. Das werden wir verhindern.“ Akiras Worte klangen wie leere Versprechungen für ihn. Man konnte nicht sagen, was Eve als nächstes vor haben würde. Er spürte, dass auch Anna ihm nicht glaubte.

„Du hast mir etwas versprochen.“ erinnerte sie ihn leise und erneut nickte Akira. Stille trat ein. Langsam und stetig flaute der Schmerz in Anna wieder ab. Akira konnte spüren, wie sie sich wieder entspannte. Die Reaktion auf Adams Tod war merkwürdig klein gewesen. Der Schock, als sie ihre Mutter gefunden hatte, hatte einen Ausbruch an Macht zu folge. Wieso jetzt nicht?

„Wieso sind deine Augen eigentlich schwarz?“ fragte er sie leicht neugierig.

„Adams Leben…“ murmelte das Mädchen. „Ich hab' ihm etwas von meiner Energie gegeben. Er hat sie zurück gebracht.“ schloss sie ab.

„Du hast ihn geküsst?“ Man hörte die Verblüffung aus seinen Worten.

„Als ich drei oder vier war, ja. Es hat gereicht, damit er überleben konnte. Er war nicht mehr als ein kleiner, flauschiger Ball.“ Lebhafte Erinnerungen spielten sich vor dem inneren Auge der Königin ab. „Ich schätze, der Grund dafür, dass ich nicht so traurig bin ist… Dass er jetzt wieder bei mir ist.“ Dieses Argument erwischte Akira eiskalt. Er wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Ja, wenn Adam Annas Energie zum Leben verwendet hatte, war es verständlich, dass sie zurückkehrte, sobald er starb. Die Macht von Anna war wie ein Paar von Magneten. Teilte man sie, zerrten die einzelnen Stücke immer noch aneinander und wollten zueinander zurück, doch wurden sie durch Körper oder andere Kräfte zurück gehalten, so wie bei Adam und Anna jetzt. Verschwindet der Widerstand aber würde die Macht wie ein losgelassenes Gummi wieder zurückfliegen. Jetzt, wo die Portion an Macht von Adams Wesen getränkt war, konnte man durchaus davon ausgehen, dass „er wieder bei ihr“ war. Diese Überlegungen fühlten sich dennoch merkwürdig an. Würde Anna sich verändern? Wie ist es, wenn sie sich verliebt und ihre Macht mit ihrem Partner teilen würde – würde er dann auch wie ein Magnet auf sie wirken? Als Akira das dachte, drückte er das schmale Mädchen eng an sich.

„Was ist los?“ Anna klang etwas besorgt aufgrund der festen Umarmung.

„Nichts.“ erwiderte Akira beschämt. Das war nicht der richtige Zeitpunkt, um Eifersucht für jemanden zu entwickeln, der noch nicht einmal existierte. „Das mit Adam tut mir Leid.“ Er löste sich von ihr und wischte Anna die letzte, glitzernde Träne vom Gesicht. Sie lächelte.

„Wie gesagt, ich hab' das Gefühl, er ist noch bei mir. Irgendwie ist er nicht tot.“ Es klang, als hätte sie seinen Tod noch nicht einmal akzeptiert. Es war traurig, sie so zu sehen, wie sie sich vor der Realität verschloss und sie nicht annehmen wollte.

„Darf ich dich küssen?“ Bei seinen Worten wurde Anna etwas rot. Man sah, wie sie weg sehen wollte, sich aber zwang, Akira anzuschauen. Dann nickte sie. Der Junge hob ihr Gesicht etwas an und drückte seine Lippen auf ihre Wange. Auf ihre Nase. Auf ihren Mund. Der Geschmack ihrer Küsse machten ihn süchtig. Seufzend löste er sich von ihr, drückte ihren Körper wieder an seinen. Genau so, wie es kein Zeitpunkt war, um eifersüchtig zu werden, war es auch keiner, um jetzt in Sehnsucht zu ertrinken. Für heute würde es dabei bleiben.



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