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Der Schwur des Wolfes

von

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3. Kapitel - Der Wolf und das Mädchen

Ich kam mir vor wie eine Strafrichterin. Die drei Woods saßen vor mir, wie auf einer Anklagebank. Sie hatten sich alle auf die Couch gesetzt und sahen mich einer nach dem anderen an. Ich indessen saß, die Beine angewinkelt und unter der wärmenden Decke eingewickelt, auf meinem Sessel und lehnte mich abwartend zurück. „Seht mich doch, bitte, nicht so an. Ich bin nicht hier um irgendjemanden zu verurteilen. Ich möchte einfach nur wissen, was los ist.“ „Worauf du dich einlässt, wenn das was wird, mit Taylor und dir“, murmelte Sean und bekam von seinem Bruder einen Hieb in die Rippen. „Das spielt im Moment überhaupt keine Rolle“, antwortete ich ruhig und fing Taylors Blick auf. Er lächelte und da war wieder dieses Glitzern in seinen Augen, das mich gestern veranlasst hatte, ihn auf die Wange zu küssen. Schnell räusperte ich mich, ehe die Pferde wieder mit mir durchgingen. „Also, wer wäre so nett und erzählt es mir?“ „Gut, dann fange ich an“, sagte Kenneth und blickte mich freundlich an. „Ich finde, du hast ein Recht alles zu erfahren. Unsere Geschichte reicht weit zurück und ich bin mir nicht ganz sicher, in welcher Generation es begonnen hat, aber ich weiß, dass bereits mein Ur-Ur-Urgroßvater väterlicherseits ein Wolf war. Bei allen männlichen Familienmitgliedern bricht es mit 10 Jahren aus. Es ist nicht möglich, es aufzuhalten oder wie einen Fluch von uns zu nehmen. Dieses…nennen wir es…Gen ist in uns, weil wir einen sehr ausgeprägten Beschützerinstinkt besitzen. Schon mein Ur-Urgroßvater war sich seiner Kräfte bewusst und beschützte Adelige als eine Art Wachhund, da sie damals nicht wussten, was er wirklich war. Diese Kräfte verhindern auch, dass wir zu schnell altern.“ „Wie bitte?“ Ich war etwas verwirrt. „Wir werden jedes Jahr ganz normal ein Jahr älter, aber man sieht es uns nicht so schnell an“, fügte Sean hinzu. „Wenn du so willst, später Falten als andere“, meinte nun Kenneth und ich wandte mich ihm zu. „Aha.“ Mehr fiel mir dazu nicht ein. ‚Wie unfair‘, dachte ich jedoch. Taylor würde also mit Ende 50 noch knackig aussehen und ich meinem Alter entsprechend. „Jedenfalls sind wir Wölfe und die meisten Vorurteile, die man so in den Fachbüchern und Romanen liest, stimmen nicht.“ „Also nicht nur verwandeln bei Vollmond? Nicht nur getötet werden von Silberkugeln?“ „Richtig“, pflichtete Taylor mir bei und fügte hinzu: „Genauso wenig töten wir Menschen oder können andere mit einem Biss damit ‚infizieren‘!“ „Aber, wenn Sie sagen, dass es ausbricht…wie darf ich das verstehen? Wie eine Art Fieber?“ Wobei ich natürlich an die Hitze dachte, die von Taylor ausging und auch von Sean. „Es ist schon mehr als das…und auch schmerzhafter.“ „Schmerzhaft?“ Unweigerlich blickte ich zu Taylor, der anscheinend an seine erste Verwandlung dachte und blass geworden war. Bei ihm war es noch nicht so lange her, wie bei dem Rest seiner Familie. Jetzt begann er leise davon zu erzählen: „Es fängt an deinem 10. Geburtstag genau zu der Uhrzeit an, an der du geboren wurdest. Erst bekommst du Fieber und deine Körpertemperatur steigt auf 40° an. Dann breitet sich ein unbeschreibliches Zittern von deinem Bauch in alle anderen Glieder aus. Deine Knochen knacken und du hast das Gefühl, als würden sie brechen, nachwachsen und dann wieder von Neuem brechen. Und wenn du denkst, dass das hoffentlich alles war, kommt der Schmerz, urplötzlich und so gewaltig, dass es dich von den Füßen reißt. Als würdest du von innen heraus schmelzen und dann explodieren.“ Er starrte in die Leere und ich konnte nicht verhindern, dass ein paar Tränen über meine Wangen liefen. Wenn ich daran dachte, wie er als kleiner 10-jähriger so etwas erleben musste, dann wurde mir ganz anders. Am liebsten hätte ich ihn jetzt an mich gezogen, aber er kehrte ins Hier und Jetzt zurück und sah mich wieder an. Ich strich mir die letzten Tränen fort und atmete tief durch, ehe ich fragte: „Wie lange dauert es?“ „Ein bis zwei Stunden und dann endet es ganz abrupt, so als wäre nie etwas gewesen, und du stehst als Wolf mitten im Zimmer.“ „Es ist doch aber hoffentlich nicht immer mit Schmerzen verbunden, wenn ihr euch verwandelt, oder?“ „Nein, das ist nur beim ersten Mal so, keine Sorge!“, versuchte mich nun Kenneth zu beruhigen. „Und…ihr denkt nur daran, und schon seid ihr…?“ „Es ist schwer das zu erklären“, sagte Sean, „man denkt nicht wirklich daran, aber irgendwie schon. Wir verwandeln uns einfach, wenn wir es wollen.“ „Eigentlich muss ich das ja nicht wirklich verstehen…“ „Obwohl es besser ist, dass du jetzt bescheid weißt. Gut, es ist natürlich auch meine Schuld, dass du es erfahren hast, aber…“ „Ja, du hättest dich wirklich etwas klüger anstellen können, mein lieber Bruder.“ Sean wuschelte in Taylors Haar umher und ich lächelte leicht. Kenneth blickte mich jedoch ernst an und ich sah ebenso zu ihm. „Ich hoffe, du weißt mit was für einer Verantwortung du jetzt belastet bist.“ Ich nickte und antwortete dann: „Ich werde es niemandem erzählen, das verspreche ich. Aber wenn Sie wollen, dass keiner aus der Stadt Verdacht schöpft, müssen Sie sich, wenn Sie verwandelt sind, etwas weiter von den Häusern fernhalten. Und es wäre ratsam sich an die Regeln der Stadt zu halten.“ „Was für Regeln?“, fragte Kenneth und die beiden Jungs blickten mich an. „Keine richtigen Regeln, eher ungeschriebene Gesetze. Wenn man in der Stadt ist und Einkäufe erledigt, sollte man die Leute grüßen, auch wenn man sie noch nicht kennt. Und so leid es mir tut, euch das antun zu müssen, aber ihr solltet zu den wöchentlichen Versammlungen gehen. Wenn man da nicht erscheint, wird man monatelang als Aussätziger behandelt.“ „Gut zu wissen. Sonst noch etwas, das wir beachten können?“ „Es wäre in dieser Situation vielleicht nicht schlecht, sich mit dem Jagdverein gut zu stellen.“ „Jagdverein?“ „Ja, mein Vater ist zwar Mitglied und ich kann euch ein paar Informationen zuspielen, wo sie sich demnächst im Wald treffen oder ähnliches, aber…“ „Es wäre schon besser, wenn wir uns ein bisschen bei den Männern integrieren?!“ Ich nickte. „Irgendjemand vor dem wir uns in Acht nehmen müssen?“ „Außer Mrs. Dalloway“, scherzte Taylor und ich lachte. „Nein, eigentlich sind alle Leute hier ziemlich nett. Ehe man hier jemanden richtig gegen sich aufbringt, muss schon was sehr Schlimmes passieren.“ „Meine Güte, haben wir ein Glück, dich hier zu haben“, sagte Sean und zwinkerte mir zu. „Ich komme mir bloß vor, wie eine Spionin zwischen zwei feindlichen Fronten.“ „Es wird nicht lange bei dem feindlich bleiben“, sagte Kenneth. „Das freut mich zu hören!“ Es entstand eine kurze Pause und ich sah zu Taylor. Von mir aus konnte er jetzt sagen, was er vorhin sagen wollte. Obwohl, wahrscheinlich nicht vor seiner Familie. Kenneth holte mich in die Gegenwart zurück: „Taylor, willst du Lilly nicht das obere Stockwerk zeigen? Wir haben es jetzt vollständig eingerichtet.“ „Wenn sie möchte?!“, er sah mich dabei an. „Ja, gern.“ Sein Vater war einfach Klasse. Meiner hätte das niemals so schnell begriffen und wenn, dann hätte er wahrscheinlich alles daran gesetzt, zu verhindern, dass wir alleine sind. Ich schlüpfte aus der Decke und folgte Taylor die Treppen hinauf. Nicht ohne vorher seinem Vater einen dankenden Blick zuzuwerfen.
 

Als wir oben auf dem Flur standen, wandte ich meinen Blick wieder zu der Tür um, hinter der ich Taylor verarztet hatte. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter und dann fiel mir die Frage ein, die ich vorhin nicht gestellt hatte. Ich hatte nicht gewusst, ob Kenneth von dem Vorfall wusste. „Wieso war deine Verletzung eigentlich so schnell verheilt?“ „Ich habe mich schon gefragt, wann du dich danach erkundigen würdest.“ „Also?“ „Bei uns ist es so, dass Wunden viel schneller verheilen, als bei Menschen. Wenn sie aber schmutzig sind oder eben nicht richtig behandelt wurden, kann es durchaus passieren, dass wir daran sterben.“ Ich holte erschrocken Luft. „Das heißt, ich hätte dich…“ „Du hättest mich nicht umgebracht.“ „Nein, ich hätte dich vielleicht verloren, wenn mich Sean später geholt hätte.“ „Hast du aber nicht!“ „Stimmt, hab ich nicht“, wiederholte ich leise und sah zu ihm auf. „Wollen wir uns jetzt die Zimmer ansehen?“ „Mhm.“ Zuerst sahen wir uns das Schlafzimmer seines Vaters an, das in grau und braun gehalten war. Daran grenzte ein Badezimmer, ebenfalls in braun. Dann zeigte er mir Seans Zimmer, welches rot und schwarz war. Die nächste Tür war das blaue Bad, zu dem jeweils eine Tür von Seans und Taylors Zimmer führte. Es waren eine Dusche und zwei Waschbecken darin untergebracht. Nun kamen wir zu Taylors Zimmer. Ehe er die Tür öffnete, blickte er mich ganz seltsam an. „Was ist? Traust du dich nicht?“ „Doch schon, aber…“ „Wir müssen nicht reingehen, wenn es dir zu persönlich ist!“ Er wollte etwas sagen, schloss jedoch wieder den Mund und stieß die Luft hart aus seiner Lunge. „Stimmt irgendetwas nicht?“ Ich machte mir ernsthaft Sorgen. Als noch immer keine Reaktion von ihm kam, wurde ich unruhig. „Taylor, was ist denn los?“ „Es ist nicht peinlich oder so, aber lauf, bitte, nicht schreiend davon, ja?“ „Was? Wieso sollte ich…?“ „Versprich es mir einfach!“ „Ja, okay, ich verspreche es dir.“ Er öffnete langsam die Tür und blieb hinter mir stehen, während ich eintrat und mir sein Zimmer ansah. Es war ein heller schöner Raum, ganz in Sandtönen gehalten. Ich fand, es passte wunderbar zu ihm. Durch das große Fenster hatte man einen schönen Ausblick auf den riesigen Garten. Das schwarze große Bett mit der dunkelbraunen Bettwäsche stand daneben. Auf der gegenüberliegenden Seite standen ein Schreibtisch, ein kleines Regal mit einem Flachbildfernseher und ein Kleiderschrank. Direkt neben der Tür befanden sich ein Regal voller Bücher und die Anlage mit einem Haufen CDs. Ich wusste überhaupt nicht, was er meinte. Wovor bitte sollte ich denn schreiend davon laufen? Es war ein schickes Zimmer, das ihn wunderbar widerspiegelte. Gerade als ich ihm das sagen wollte und meinen Kopf zu ihm umwandte, fiel mein Blick auf einen Bilderrahmen, direkt neben seinem Bett auf dem Nachttisch. „Oh“, war alles, was mir im Moment dazu einfiel. Er trat aus dem Türrahmen und es schien als wolle er mir Platz machen, damit ich herauslaufen konnte. Ich ließ mir nicht anmerken, dass ich das gesehen hatte und fragte: „Seit wann hast du das?“ „Das war am ersten Schultag“, murmelte er und ich blickte ihn an. „Und dann fällt es dir so schwer zu entscheiden, ob…?!“ „Das ist irgendwie kompliziert...“ Ich blickte wieder auf das Bild. Es zeigte mich! Und zwar nur mich, wie ich mit ein paar Büchern im Arm an einer Wand lehnte. Ich hatte offene Haare, die mir über die rechte Schulter fielen und ich schien völlig in Gedanken versunken. „Ich schwöre, es ist das einzige, dass ich jemals gemacht habe. Nicht, dass du denkst, ich sei ein Stalker oder so.“ „Ich hab überhaupt nicht mitbekommen, dass du mich fotografiert hast.“ „Ist ja wohl auch besser so, sonst wärst du doch an dem Tag auf mich losgegangen oder hättest mich angezeigt…“ „Wahrscheinlich,…ja sehr wahrscheinlich sogar.“ „Und? Was denkst du jetzt?“ „Ich denke, dass du ein sehr schönes Zimmer hast“, begann ich und sah zu ihm, „und ich bin etwas überrascht so ein Foto zu sehen. Aber ich denke, damit kann ich durchaus leben.“ Man sah ihm an, was für ein Stein ihm vom Herzen fiel. „Danke!“ „Was hast du denn gedacht, was ich mit dir anstelle?“ Wir gingen jetzt wieder auf den Flur und blieben vor der danebenliegenden Tür stehen. „Ich dachte, du würdest sofort gehen und mich eine Weile nicht sehen wollen.“ „So schnell wird man mich nicht los.“ ‚Und du schon gar nicht‘, dachte ich. Er öffnete die Tür und wir kamen ins Gästezimmer. „Das ist ja wundervoll!“

 

Der Raum war gelb und weiß gestrichen worden. Das Bett hatte ein weißes Gestell und beige Bettwäsche befand sich darauf. Passend zu den hellgelben Wänden gab es einen Schreibtisch und einen kleinen Kleiderschrank aus Buchenholz. Es war alles sehr harmonisch und ich fühlte mich wohl. Der Ausblick war ähnlich, wie der aus Taylors Zimmer. „Ihr habt euch wirklich große Mühe gegeben.“ „Ja, Dad hat ein echtes Händchen für so was.“ Wir gingen zurück auf den Flur und ich bekam Angst, was sich hinter der furchtbaren Tür befand, die jetzt noch auf dieser Etage lag. „Komm, das war der ganze Rundgang!“ „Da ist kein Zimmer mehr?“ Ich deutete auf die Tür hinter mir. „Nein, das nutzen wir als Rumpelkammer. Und da wolltest du doch auch gar nicht rein!“ „So offensichtlich, ja?“ „Nun ja, jedes Mal, wenn du die Tür ansiehst, beginnst du zu zittern. Ich würde also schon sagen, dass es leicht zu erkennen ist, ja.“ „Würdest du es mir jetzt erzählen?“ „Was?“ „Wie du…wie du dich entschieden hast!?“ Er lächelte und streckte den Arm nach mir aus. Zuerst sah ich nur auf seine Hand, die er mir reichte, dann blickte ich ihn an. Und als er mir aufmunternd zunickte, ergriff ich sie und er zog mich mit sich in die untere Etage. „Wohin gehen wir?“ „In den Wintergarten!“ „Und was wollen wir da?“ „Uns unterhalten!“ „Können wir es nicht einfach hinter uns bringen und du sagst Ja oder Nein?“ „Können wir nicht.“
 

Als wir in den Wintergarten kamen, standen dort nur eine Bank mit Auflage und ein kleiner Beistelltisch. Der Ausblick war fantastisch und ich konnte die Sonne sehen, die langsam rot wurde. Sie würde bald untergehen. Der Garten war voll mit grünem Gras und einem einzelnen stark gewachsenen Eichenbaum, der ganz rechts am Ende des Grundstücks stand. Taylor drückte mich sanft auf die Bank und fragte: „Was zu trinken?“ „Nein.“ „Was zu essen?“ „Nein! Und wenn du mich jetzt fragst, ob ich vielleicht noch ein Kissen will, dann lautet auch hier die Antwort Nein. Bitte, Taylor, ich möchte nur wissen, ob es Sinn macht hier zu sitzen.“ „Wann würde es denn keinen Sinn machen?“ „Taylor Wood!“ Er lachte leise. „Es ist einfach herrlich zu sehen, wie du wütend wirst. Du bekommst dann dieses wundervolle Funkeln in den Augen.“ Ich strich mir verlegen über die Schläfe, doch ehe ich etwas erwidern konnte, setzte er sich neben mich, nahm meine Hand in seine und sagte: „Bevor ich dir sage, wie meine Entscheidung ausgefallen ist, solltest du wissen, warum ich Bedenken habe.“ „Du meinst, warum du diesen innerlichen Kampf mit dir führen musstest?“ Er nickte und sah in die rote Sonne vor uns. „Seit acht Jahren lebe ich jetzt als Wolf, zumindest teilweise und ich habe immer etwas gesucht. Ich wusste, dass mir etwas fehlte und ich es nicht in Kentwood finden würde, wenn ich es bisher nicht getan hatte. Als mein Vater verkündete, dass wir hierher ziehen würden, war ich zwar überrascht, wie ich dir gestern schon sagte, aber ich hegte die leise Hoffnung, das zu finden, was das Loch füllen würde. Und als Sean und ich dann ankamen, da spürte ich diese Kraft, die Anwesenheit von etwas, dass ich so noch nie erlebt hatte.“ Ich zuckte kaum merklich bei dem Wort, das auch Sean schon benutzt hatte, zusammen. Kraft? ‚was für eine…Kraft von ihr ausgeht‘, hatte er gestern gesagt. „An dem Abend verfolgte ich das noch nicht, weil ich dachte, ich hätte es mir vielleicht eingebildet. Weil ich es so sehr gehofft hatte. Aber als ich dann am nächsten Morgen in der Schule ankam, da war es wieder da, dieses Gefühl. Du musst wissen, wir Wölfe haben eine bestimmte Anziehungskraft in unserer menschlichen Gestalt, und so wie es immer gewesen war, stürmten die Schüler auf mich zu. Nur diese eine Person, die schien immun dagegen zu sein.“ Er sah auf mich hinunter und ich lächelte verlegen. „Und ich dachte, dass wir jetzt noch so einen Aufreißer an die Schule bekommen, der auf den großen Auftritt steht. So etwas wollte ich mir nicht antun und ich wusste, Carly würde mir alles darüber erzählen.“ Er sah wieder der Sonne entgegen und fuhr fort: „Es war so merkwürdig, dich weggehen zu sehen. Ich hatte das Bedürfnis dir nachzugehen und herauszufinden, warum es dir gelungen war. An dem Tag probierte ich aus, wie weit ich mit meiner Fähigkeit gehen konnte.“ Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. „Beim Volleyball! Carly meinte, du hättest völlig perplex ausgesehen, als ich mich einfach umgedreht habe.“ Er nickte. „Ja, es war furchtbar frustrierend nicht zu wissen, warum du widerstehen konntest. Und dann versuchte ich es in der Mittagspause noch mal. Ich dachte, wenn ich es jetzt nicht schaffe, dann… Also kam ich dir extra in den Weg und legte alle Kraft, die ich aufbringen konnte, in den Blick. Zuerst schien es so, als hätte es geklappt, aber…du sagtest einfach nur ‚na dann‘ und wolltest gehen. Also fragte ich irgendetwas, um ein letztes Mal deinen Blick zu fangen. Du hast mich wahrscheinlich für völlig verrückt gehalten.“ „Wenn du wüsstest, wie schwer es mir gefallen ist, dich…ich will nicht sagen, zu ignorieren, aber ich denke das trifft es am ehesten. Wenn du am Volleyballfeld mit mir gesprochen hättest, wäre ich mir nicht so dumm vorgekommen und hätte mich nicht gleich umgedreht. Und in der Mittagspause war es dasselbe.“ „So etwas musste ich zuvor nie und deshalb kam ich auch gar nicht auf die Idee. Jedenfalls war es ein frustrierender Tag für mich und du gabst mir Rätsel auf. Ich wollte unbedingt herausfinden, wer du bist, warum es dir gelang, dich mir zu entziehen. Du wurdest für mich sehr interessant. Nicht, wie ein Forschungsobjekt oder so. Du schienst in meinen Augen mysteriös zu sein… Aber am nächsten Tag sollte ich erst einmal nicht dazu kommen.“ Wir beide schwiegen kurz. Der Wolfsangriff. Ich erinnerte mich, wie viel Angst ich um ihn hatte als Sean im Schulflur stand und mir klar wurde, dass es nicht Taylors Motorrad gewesen war, das auf dem Parkplatz gestanden hatte. Vorsichtig umschlang ich seinen Arm und lehnte mich an ihn. „Ich wollte nicht, dass du mich so sehen musst und ich wollte nicht, dass du durch den Wald musst, wo dieser Wolf lauert. Aber Sean hatte Recht, du warst die Einzige, die meine Wunden richtig behandeln konnte. Und als du dann neben mir gesessen hast und ich erkennen konnte, wie groß deine Angst um mich war, da war es mir plötzlich völlig egal, ob du immun gegen meine Fähigkeit bist oder nicht. Ganz im Gegenteil. Es war so ein gutes Gefühl, dass du dich nicht nur deswegen um mich kümmern wolltest, weil ich diese Anziehungskraft auf dich ausübte. Du wolltest mir helfen, egal, wie ich zu dir gewesen war. Ich fühlte mich zum allerersten Mal nicht wie ein Lügner. Denn sonst sind alle diese Menschen nur für uns da, weil sie unserer Fähigkeit verfallen. Ich hatte immer das Gefühl, mich auf diese Weise durchs Leben zu schummeln. Und dann hast du mich wieder einmal überrascht. Alles hättest du verlangen können und du batst mich darum, mit einer deiner Freundinnen zu reden.“ „Was du bis heute noch nicht getan hast!“ „Doch, natürlich habe ich das. Am Donnerstag, kurz nach der Mittagspause, sie hat es dir nur nicht erzählt.“ „Aber wieso nicht? Sie erzählt mir alles!“ „Sie meinte, sie würde es noch ein bisschen für sich behalten wollen, weil es da etwas gäbe, was sie überprüfen wolle.“ „Oh, Carly…“ Es hätte mir gleich klar sein sollen, dass sie bemerkt hatte, wie ich mich seit einer Woche verhielt. Ich hatte eine solche Freundin überhaupt nicht verdient. „Warum bist du abends bei uns im Garten gewesen?“, fragte ich ihn jetzt. Er lächelte leicht. „Zuerst wollte ich nur einen klaren Kopf kriegen, bin im Wald umhergelaufen, um zu kontrollieren, ob alles in Ordnung war und dann…habe ich dich gewittert. Ich denke, in dem Moment musst du dein Fenster geöffnet haben. Jedenfalls konnte ich dann nicht anders und folgte dem Duft, den ich überall wiedererkannt hätte. Vielleicht fühle ich mich auch auf eine andere Art und Weise angezogen als andere Menschen. Ich sah zu deinem Fenster hinauf und blickte dir genau in die Augen. Eigentlich hätte ich sofort verschwinden sollen, aber ich konnte nicht oder ich wollte nicht, ich weiß nicht genau. Aber ich sah, dass du erkanntest, wer ich war. Obwohl ich die Gestalt eines Wolfes angenommen hatte, hast du es sofort gewusst. Woher?“ „Deine Augen!“ „Was?“ „Es waren deine Augen. So wie du meinen Duft wiedererkannt hast, ging es mir mit deinen Augen.“ „Das war es also.“ Taylor blickte ins Leere und meinte dann traurig: „Kurz darauf jedoch hätte ich mich am liebsten selbst verprügelt. Es war so dumm von mir gewesen, mich als Wolf vor dir zu zeigen. Überhaupt so nah an eines der Häuser in der Stadt zu gehen. Ich brachte dich, wegen eines dummen Gefühls, einfach so in Gefahr. Es ist unverzeihlich und auch jetzt noch völlig egoistisch von mir, dich hier zu haben.“ „Ich verstehe nicht.“ Ich löste mich von seinem Arm und blickte ihn traurig an. „Du hättest niemals erfahren dürfen, was ich bin…was wir sind. Damit habe ich es für Ihn noch interessanter gemacht. Der Wolf, der mich verletzt hat und der Schwarze, der dir auf der Lichtung begegnet ist, sind ein und derselbe. Er lebt wohl seit Jahren nur in der Wolfsgestalt, Er hat keine menschlichen Empfindungen oder Züge mehr. Ein vollkommenes Raubtier. Ein Jäger, der Menschen nach Lust und Laune tötet. Dadurch, dass wir jetzt hier leben, ist es zwar unser Territorium, aber Er sieht es als Spiel an. Und Er wird alles daran setzen, einen Menschen hier in unserem Gebiet zu töten, um uns zu beweisen wie mächtig Er ist. Er hat gesehen, wie ich dich verteidigt habe und es wird Ihm ein besonderes Vergnügen sein, dich als Erste zu jagen.“ „Deshalb willst du nicht, dass wir…! Du möchtest mich vor Ihm beschützen, in dem du dich nicht so oft mit mir zeigst.“ Er nickte leicht. „Hinzu kommt noch, dass ich nicht weiß, was ich tue, wenn ich mit dir zusammen bin. Du bist so zerbrechlich, so… Ich könnte dir jederzeit wehtun. Ich würde es nicht ertragen, wenn ich selbst dich verletze.“ Er war aufgestanden und stand mit dem Rücken zu mir. „Niemals“, begann ich und Taylor wandte sich zu mir um, „Du würdest mir niemals etwas antun. Das weiß ich. Und der Wolf? Lieber lasse ich mich von Ihm zu Tode jagen, als dich zu verlieren. Ich weiß, dass ich dich erst seit einer Woche kenne, aber dennoch habe ich das Gefühl, dass du schon mein Leben lang bei mir warst. Ich habe mich…“ Es war peinlich das vor ihm zu sagen, aber er musste es erfahren. Ich wollte, dass er es wusste, ganz gleich wie seine Entscheidung am Ende lautete. „Ich habe mich mein Leben lang nach dir gesehnt. Immer wenn ich in deine Augen sehe, überkommt mich diese Wärme, ich fühle mich geborgen in deiner Nähe. Nach all diesen Jahren scheint es, als hätte ich meinen Platz im Leben gefunden. Es war schon immer so, dass ich mich nie vollständig mit all diesen Menschen hier verbunden fühlte. Ich liebe meine Eltern und meine Freunde, versteh mich nicht falsch, und ich könnte es nicht ertragen, wenn ich auch noch meinen Vater verlieren würde, aber erst seit Montag bin ich… So lange habe ich auf diesen Tag gewartet. Ich bin es, die es nicht verkraften könnte, dich zu verlieren.“ Ich begann zu weinen und wollte es eigentlich nicht. Es war so albern, denn eigentlich hatte er mir gerade gesagt, dass ich ihm etwas bedeutete. So viel, dass er mich lieber von sich stieß, als mich in Gefahr zu bringen. Ich sollte glücklich sein und fühlte dennoch diese Kälte in meinen Händen, die langsam meine Arme empor kroch und in mein Herz eindringen wollte. Taylor kniete sich vor mich, griff nach meinen Händen und blickte mir ernst in die Augen. „Du setzt das alles einfach so für mich aufs Spiel? Deine Sicherheit, dein Leben, für mich?“ Ein leiser Schluchzer entfuhr meinen Lippen. Er schien in meinen Augen zu erkennen, wie ernst es mir war und dass ich mir, obwohl ich weinte wie ein kleines Mädchen, über die Konsequenzen vollkommen im Klaren war. Jetzt war er es, der seufzte. „Na schön, aber wir werden eine Abmachung treffen.“ „Eine Abmachung? Inwiefern?“ Er wischte mir vorsichtig ein paar der Tränen von der Wange und mein Herz begann zu rasen. Ich war ihm noch nie so nah gewesen wie jetzt und konnte nur schwer an mich halten, um ihn nicht an mich zu ziehen und auf der Stelle zu küssen. Hätte ich nicht bereits auf der Bank gesessen, wäre ich spätestens bei seinem Blick in die Knie gesunken und hätte darauf Platz nehmen müssen. „Hör mir aufmerksam zu, Lilly. Solltest du irgendwann zu viel Angst,…nein, du lässt mich jetzt, bitte, ausreden“, brachte er mich zum Schweigen, weil ich gerade Luft holen wollte, um etwas zu entgegnen. „Solltest du irgendwann zu viel Angst bekommen oder es dir einfach zu gefährlich bei uns, insbesondere bei mir, werden, dann gehst du. Meinetwegen auch ohne ein Wort. Du denkst dabei weder an mich, noch an meine Familie. Einzig und allein dein Leben ist dann wichtig, haben wir uns verstanden? Du wirst dich nicht unnötig in Gefahr bringen, obwohl du das ja eigentlich in diesem Moment schon tust. Im Gegenzug schwöre ich dir, bei allem was mir heilig ist, dass ich dich mit meinem Leben schützen werde. Ich lasse nicht zu, dass dir irgendjemand etwas antut und ich werde mit allen Mitteln verhindern, dass dieser Wolf dich jagt oder schlimmer noch…dich…“ „Mich tötet“, beendete ich den Satz leise für ihn und er nickte langsam. Er holte tief Luft und fragte: „Abgemacht?“ „Abgemacht!“ Ich war mir sicher, dass ich ihn niemals verlassen würde, außer er würde mich fortjagen. Ein wundervoller Sonnenuntergang war hinter ihm zu sehen, doch ich konnte meinen Blick nicht von ihm nehmen. Er wischte mir mit seinem Daumen die letzte Träne von der Wange und küsste mich dann auf die Stirn. „Du musst verrückt sein, freiwillig bei einem Wolf und seiner Familie zu bleiben!“ Ich überlegte kurz. „Ja, das bin ich wohl. Wirst du damit leben können?“ „Ich schätze, ich werde mich damit schon irgendwie arrangieren. Außerdem muss ich selbst ja auch ein wenig verrückt sein. Dich hier zu behalten, nur mit deinem Wort, dass du gehen wirst, solltest du zu viel Angst bekommen. Ich habe nur die Befürchtung, dass du das nicht tun wirst.“ Ich bestätigte ihm diese Vermutung nicht, widersprach allerdings auch nicht. Sollte er denken, was er wollte, ich wusste, dass ich jetzt in diesem Moment nirgendwo anders lieber sein wollte. „Der Wolf und das Mädchen!“ „Beide verrückt.“ „Beide verliebt“, wisperte er und beugte sich ein kleines Stück vor. Es war das erste Mal, dass er es aussprach und wieder katapultierte sich mein Herz fast aus meiner Brust. Sein Atem war so nah, dass ich ihn auf meinem Gesicht spüren konnte. Ich lauschte ihm einen Augenblick und dann küsste er mich. So wundervoll, dass es kaum in Worte zu fassen war. Ganz leicht nur berührten seine Lippen die meinen und ich glaubte unter ihm hinwegzuschmelzen. Es war so leicht, so befreiend, so berauschend. All das zusammen und noch viel mehr. Ich schlang meine Arme um seinen Nacken und wollte ihn nicht mehr loslassen. Währenddessen legte er seine Arme um meine Taille, denn er hockte noch immer vor mir und zog mich fester an sich. Ich fühlte mich so sicher und geborgen. So war es, wenn ich in seine Augen sah oder wenn ich dieses Haus betrat. Und mit jeder weiteren Sekunde wurde mir bewusst, wie sehr er mir dieses Gefühl selbst geben wollte. Er würde niemals zulassen, dass etwas zwischen uns kam. Würde niemals billigen, dass mich dieser Wolf in seine Pranken bekam. Als sich unsere Lippen voneinander lösten, atmeten wir beide schneller. Langsam öffnete ich meine Augen. „Ich hatte ganz vergessen, dass ich Luft zum atmen brauche“, sagte ich und er lachte. Es klang völlig frei und ich wusste, dass er sich endlich im Klaren darüber war, wie viel er mir bedeutete. Und das ich es ernst meinte, wenn ich sagte, ich würde ihn niemals verlieren wollen. „Ich habe gefunden, was ich suchte“, flüsterte er und ich sah ihn einfach nur an. Darauf konnte man nichts erwidern, denn damit erklärte er mir, wie wichtig ich ihm war. Was er für mich empfand. Jetzt erst registrierte ich richtig, dass bereits die Sonne untergegangen war. „Oh mein Gott, wie spät ist es?“ „Was? Ähm,…kurz nach halb Acht. Warum?“ „Wir müssen los. Die Versammlung beginnt um Acht.“ „Mir würde Besseres einfallen, dass man jetzt machen könnte.“ „Sicher, mir auch. Aber willst du nun in dieser Stadt akzeptiert werden, oder nicht?“ Er rollte kurz mit den Augen und seufzte. „Na, siehst du?! Los, lass uns gehen. Wo sind Sean und dein Vater? Es müssen alle anwesend sein.“ „Alle?“ „Ja, doch!“
 

Nach ungefähr fünf Minuten hatten wir sie in der Küche ausfindig gemacht, ihnen schnell bescheid gegeben, dass alle anwesend sein mussten und nun saßen wir im Auto und fuhren auch schon Richtung Stadt. „Um was für Themen geht es denn bei so einer Versammlung?“, fragte mich Sean, der auf dem Beifahrersitz lümmelte. Kenneth fuhr den Wagen, während Taylor und ich uns auf dem Rücksitz niedergelassen hatten. „Meistens wird über bevorstehende Feierlichkeiten oder Ereignisse, wie Bauarbeiten auf den Straßen oder an Gebäuden, gesprochen. Oder es werden Sicherheitshinweise aufgefrischt. Mein Vater meinte aber, dass dieses Mal ein paar wichtige Themen besprochen werden, also wird das wohl alles nicht vorkommen.“ „Und wie lange dauern die?“ „Oftmals nur eine halbe Stunde, kann manchmal aber auch eine Stunde werden. Ich finde es auch albern, aber wie gesagt, man wird mit Ignoranz gestraft, wenn man nicht erscheint. Und glaub mir, das ist wirklich nicht lustig.“ „Hast du das schon durch, oder woher weißt du das?“ „Nein, aber ich kenne jemanden, der hat es erlebt. Irgendwann fühlte er sich einfach nur noch isoliert von allen anderen und seither kommt er nicht mehr zu spät.“ Zehn Minuten vor Acht Uhr kamen wir auf dem Parkplatz der Stadthalle an, obwohl man sie wohl eher nicht so bezeichnen sollte. In Wirklichkeit war es eine ausgebaute Scheune, in der gerade so alle Bewohner der Stadt Platz fanden. Wir stiegen aus und schon begrüßte mich ein Mann nach dem anderen. „Meine Güte, du bist beliebt!“, sagte Sean und zwickte mich in die Seite, ehe Taylor neben mir erschien und nach meiner Hand griff. „Nein, ich wurde nur genau dort drin geboren, wo alle dabei waren. Und ich arbeite bei Henry in der Billardhalle.“ „Bei einer der Versammlungen geboren?“, fragte Taylor mitfühlend und ich sah zu ihm auf. „Mhm, und es wird niemals jemand vergessen, das kannst du mir glauben.“ Ein paar unserer Mitschüler blickten verstohlen auf unsere verschlungenen Hände und ich hoffte inständig, dass ich es meinem Vater vorher selbst erzählen konnte, ehe er es von einem anderen erfuhr. „Er ist da vorn!“ Verblüfft sah ich zu ihm hoch. „Kannst du Gedanken lesen?“ „Nein, obwohl ich manchmal wünschte, ich könnte es bei dir. Aber ich kann mir denken, dass du es ihm selbst erzählen möchtest.“ Ich folgte seinem Fingerzeig und zog ihn mit mir. „Ich werde das nicht allein machen, das sag ich dir.“ Taylors Daumen fuhr beruhigend über meinen Handrücken und ich atmete einmal tief ein, ehe ich meinen Vater begrüßte. „Hey, Dad. Wie lief das Spiel?“ „Oh, Lils. Pünktlich wie immer. Unser Team hat natürlich gewonnen.“ Jetzt erst erkannte er Taylor und nahm wieder diese trotzige Kleinjungenhaltung ein. Oh Dad, dachte ich und schüttelte den Kopf. Was war nur in diesen Mann gefahren? „Dr. Connor.“ „Taylor Wood.“ „Du brauchst nicht seinen ganzen Namen zu nennen. Es gibt nur einen Taylor in der Stadt.“ „Sicher. Was gibt es also, Taylor?“ Der wiederum blickte mich an und ich hätte am liebsten aufgeschrieen. „Dad, ich wollte nur… Ich wollte dir nur sagen, bevor du es von irgendjemandem hörst… Taylor und ich sind zusammen.“ „Ja, zusammen hier, das sehe ich auch, Schatz. Ich bin ja nicht blind.“ „Nein, nein. Fest zusammen, meine ich. Ein Paar.“ Ich glaubte, obwohl es in diesem schummrigen Licht schwer zu erkennen war, dass er purpurfarben anlief. Er brachte kein Wort heraus und sah keinen von uns beiden an. „Dad?“ Ich fasste sein Handgelenk an und fühlte den Puls. Er raste, aber er war da, das war mir wichtig. „Dad? Sprich mit mir!“ Sein Gesicht wandte sich zu Taylor um, der meine Hand fester hielt. Bereit zu rennen, wenn er wie ein Wahnsinniger gejagt werden würde. „Nun…“, begann mein Vater mit einer Stimme, die klang als würde er an seiner eigenen Zunge ersticken, „dann willkommen. Und gib ja auf sie Acht.“ Taylor blickte ihm feierlich ins Gesicht und nickte. Ich wusste, dass er dabei an seinen eigenen Schwur dachte. „Ja, Sir. Das werde ich! Vielen Dank.“ Dann verabschiedete sich mein Vater, mit einem Händedruck für Taylor und mit einem Kuss auf die Stirn für mich, von uns und ging schnurstracks in die Stadthalle. „Nun, das lief besser als ich erwartet hatte. Ich gebe zu, ich hatte Angst, er würde einen Herzinfarkt erleiden, aber…er hat sich wacker geschlagen.“ „Was wäre denn das Schlimmste gewesen, was er mit mir angestellt hätte?“ „Bist du dir sicher, dass du das wirklich wissen willst?“ Er blickte skeptisch, nickte dann jedoch. „Er hätte nach Hause laufen und seine Waffe holen können. Und nach ein paar Runden ums Gebäude, hätte er eventuell klein bei gegeben. Aber auch wirklich nur eventuell.“ „Du bist gefährlicher, als ich angenommen habe“, flüsterte er und beugte sich zu mir hinunter. Er hauchte mir einen Kuss auf die Lippen und ich sagte: „Willst du einen Rückzieher machen?!“ „Nein. Ich denke, mit deinem Vater komme ich klar.“ „Ich bin ja ein wahrer Glückspilz!“ „Mhm. Du solltest dich geehrt fühlen.“ Dann wurde ich mit einem Mal fast von den Füßen gerissen, als ich mich plötzlich in den Armen meiner besten Freundin wiederfand. Ihr hellbraunes Haar schlug mir ins Gesicht und ich hörte sie leise schluchzen. „Carly, was ist denn?“ Sie schüttelte heftig den Kopf. „Ist alles in Ordnung?“ „Alles bestens. Ich freue mich nur einfach für dich, Süße“, wisperte sie so leise in mein Ohr, dass es niemand sonst hören konnte. Doch Taylor lächelte, also hatte er auch als Mensch ein gutes Gehör. Wie viele Dinge gab es wohl noch, die er mir noch nicht erzählt hatte? Ich umschlang sie enger und hauchte zurück: „Danke! Auch dafür, dass du es mir nicht gesagt hast.“ „Dafür sind Freundinnen doch da!“ Sie blickte mich freudestrahlend an und wischte sich die Tränen aus dem Augenwinkel. „Ihr seht so süß zusammen aus…“ Und sie drückte Taylor zur Begrüßung kurz an sich. „Morgen, ja?“, fragte sie mich. „Morgen!“ Ich nickte und schon schwebte sie davon. „Und da haben wir die Befürchtung, wir seien verrückt“, murmelte er vergnügt und ging mit mir in die Stadthalle.

 

Wir setzten uns neben Sean und seinen Vater. Carly hatte mit ihren Eltern hinter uns Platz genommen. Meinen Vater machte ich irgendwo in den vorderen Reihen aus. Er blickte sich nicht um, wahrscheinlich war er zu geschockt und hatte es noch nicht verdaut. Unser Bürgermeister, Mr. Cooper, klopfte mit einem kleinen Hammer auf das Pult. Die allwöchentliche Zeremonie, um die Versammlung zu eröffnen. „Liebe Freunde, es freut mich, dass wieder alle so zahlreich erschienen sind. Und ich darf auch, wie ich vorhin sehen konnte, drei neue Gesichter unter uns begrüßen.“ Er machte eine ausschweifende Handbewegung in die Richtung der drei Woods. Alle Versammelten wandten sich um und sahen sich die ‚neuen Gesichter‘ an. Manche sahen fröhlich aus, andere tuschelten mit ihrem Nachbarn, wieder andere, eigentlich nur Farrah, schienen nicht allzu begeistert, dass ich daneben saß. Ihre Augen funkelten mich rot vor Zorn an und es lief mir eiskalt den Rücken herunter. Bisher hatte ich alles Menschenmögliche getan, um ihre Wut nicht auf mich zu lenken, aber jetzt traf sie mich mit voller Wucht und ich schluckte schwer. Oh ja, morgen wird ein ganz wundervoller Tag werden, dachte ich und blickte zu Mr. Cooper. Sein runder Bauch wackelte, als er lachte und noch einmal den Hammer auf das Pult schlug. Wie dressierte Hunde drehten sich alle Anwesenden zu ihm um. Ich hörte, wie Sean kurz schnaubte, wahrscheinlich verkniff er sich das Lachen. Dann erstickte sein Vater dies mit einem Hieb in seine Rippen. Die waren in der Familie alle so ‚liebevoll‘ miteinander. Ich hoffte, dass mir so was nicht blühte, wenn ich eine freche Bemerkung machte. „Nun, um die Versammlung nicht all zu lang zu halten, werde ich gleich auf die Gesichtspunkte zu sprechen kommen. Sicher werden sich alle daran erinnern, dass das alljährliche Pfingstfest bald ansteht. Wer sich über die genauen Stände informieren möchte, meldet sich bitte bei Holly. Beiträge für die Wettbewerbe werden, bitte, bei mir angemeldet oder bei meiner Frau. Gut, was haben wir noch?“ Er studierte seine Liste und schob irgendetwas vor sich her. So als wolle er dieses Thema überhaupt nicht besprechen. Jetzt war es mein Vater, der sich erhob und unter Beifall seiner Freunde aus dem Jagdverein hinter das Pult stellte. Mr. Cooper schien ihm dankbar und tupfte sich seine schweißnasse Stirn ab. Und dann, als ich das alles zusammen wahrnahm, wurde mir klar, welches Thema behandelt werden sollte. Ich griff verängstigt nach Taylors Hand, der kurz fragend sein Gesicht zu mir umwandte, doch ich schüttelte nur, die Augen fest geschlossen, den Kopf. Er blickte wieder nach vorn, aber ich hatte die kleine Falte zwischen seinen Augenbrauen förmlich fühlen können. Mein Vater erhob seine Stimme und ich war ein wenig erleichtert, eine gesunde Gesichtsfarbe bei ihm zu erkennen. Doch mir graute vor dem, was er da gleich verkünden würde. „Meine Freunde, sicher werden alle schon davon gehört haben, dass ein paar Wölfe in den Wäldern um unsere Stadt herumschleichen. Bisher haben wir noch nicht viele gesehen, doch es ist wichtig euch eindringlich auf die Gefahren hinzuweisen, die von ihnen ausgehen.“ Taylor erwiderte meinen Griff und ich konnte die Veränderung in ihm wahrnehmen. Sie war fast spürbar und ich wusste nicht, wie lange ich mir das anhören können würde. Jetzt würde all das aufgezählt werden, wovor er mich vorhin hatte warnen wollen. Ich drängte die Tränen zurück, versuchte auch das Keuchen zu unterdrücken, aber das Hämmern meines Herzens gegen die Rippen blieb. „Wir machen regelmäßige Kontrollgänge durch die Wälder, aber wir warnen inständig davor, allein hindurch zu gehen oder auch nur in die Nähe. Sollte euch etwas an den Schafherden oder Rinderherden oben an den Weiden komisch vorkommen oder vermindert sich die Anzahl, informiert eines der Jagdvereinsmitglieder. Morgen kann sich jeder bei der Polizeistation und auch bei Doug zu Hause eine Warnhupe und ein Pfefferspray abholen. Sie sind kein Spielzeug, also gebt sie nicht unbedingt den Kleinen mit. Wir hoffen, dass sich die Wölfe weiter in den Wäldern aufhalten, aber es ist natürlich nicht auszuschließen, dass sie irgendwann in die Stadt vordringen. Bleibt also bei Anbruch der Dunkelheit in den Häusern und haltet die Fenster der unteren Etagen nicht länger als nötig und auch nicht unbeobachtet offen. Für Fragen stehen euch meine Kameraden aus dem Jagdverein und ich gern zur Verfügung. Danke!“ Mr. Cooper bedankte sich bei meinem Vater und klopfte auf das Pult, damit war die Versammlung beendet. „Ich muss hier raus…“, keuchte ich und lief an all den anderen vorbei an die frische Luft. Sie sprachen über „diese furchtbaren Bestien“, alle hatten sie unglaubliche Angst und das Getuschel, was eigentlich keiner hören sollte, dröhnte in meinen Ohren. Ich hörte, wie Taylor mich rief, doch ich konnte nicht länger hier drin bleiben.

Unter einem der Bäume vor der Stadthalle sank ich zusammen. Es war so furchtbar zu hören, was die Leute von ihnen dachten, zu ahnen, was sie mit ihnen tun würden, sollten sie von einem der Anwohner gesehen werden. So schlimm sich vorzustellen, dass sie sie jagen würden wie wilde Tiere. Die Menschen strömten lachend und sich unterhaltend aus dem Gebäude und ich fühlte mich erbärmlich. Sie alle hatten keine Ahnung, dass sich bereits Wölfe unter ihnen befunden hatten. Und sie hatten es doch überlebt, oder etwa nicht? Tränen rannen ungehindert mein Gesicht herab. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie unangenehm es für die Woods sein musste zu hören, was man vorhatte. Das Schlimmste allerdings war noch, dass ich sie dazu getrieben hatte, her zu kommen. Es war meine Schuld, dass sie sich zu ihnen gesetzt hatten. Die kühle Luft half mir, mich zu beruhigen und dann stand Taylor neben mir. „Hey.“ „Hey“, schluchzte ich. Schon wieder sah er mich heulen. Das wie vielte Mal war das jetzt? Mindestens das Dritte. „Geht‘s wieder?“ Ich nickte nur, dann reichte er mir seine Hände und zog mich auf die Füße. „Es tut mir leid.“ „Wofür entschuldigst du dich? Dafür, dass du Gefühle besitzt? Das musst du nicht. Aber du solltest das nächste Mal nicht alle Sicherheitshinweise in den Wind schlagen und im Dunkeln allein nach draußen rennen. Sie wurden doch eben erst erklärt, so schnell kannst du die nicht vergessen haben.“ Ich wusste nicht wie, aber er schaffte es immer wieder, mir die Tränen zu nehmen ohne mich dafür böse angucken zu müssen. Er zog mich an sich und ich kuschelte mich bereitwillig an ihn. „War es nicht furchtbar das zu hören?“, fragte ich. „Das ist noch gar nichts, glaub mir.“ „So schlimm, ja?“ „Nun ja, dein Vater hat ja nicht genau gesagt, was sie mit den Wölfen tun, wenn sie sie haben. In gewisser Weise hat er es also sehr beschönigt.“ Ich zitterte einmal kurz und heftig, dann blickte ich zu ihm auf. Er sah so ruhig und friedlich aus, so als hätte er das da drinnen überhaupt nicht wahrgenommen. „Du lässt es an dir abprallen!?“ Es war mehr Feststellung als Frage und Taylor nickte. „Wenn du es nicht weit genug an dich ranlässt, lebst du besser damit. Das habe ich in all den Jahren in Kentwood gelernt. Ich will nicht sagen, dass es mir völlig egal ist. Aber was ändert es, wenn ich mich darüber aufrege?“ „Nichts, nehme ich an.“ „Und außerdem gibt es ja auch noch den schwarzen Wolf dort draußen. In gewisser Weise ist es also gut, dass sie belehrt wurden.“ Es war so beneidenswert, wie er mit dieser Situation umging und ich war in diesem Moment einfach nur froh, dass er bei mir war. Froh, dass er sich für mich entschieden hatte und nicht gegen mich. Mein Vater stand ein Stück von uns weg und räusperte sich. Ich blickte mich langsam zu ihm um. „Komm, Lils. Wir fahren jetzt nach Hause.“ „Ist gut.“ Er wandte sich zu seinem Auto um und ließ uns Zeit, uns zu verabschieden. „Wir sehen uns dann morgen in der Schule“, sagte ich und er lächelte leicht auf mich hinunter. „Ich werde da sein.“ „Keine gefährlichen Spaziergänge im Wald! Versprich es mir.“ „Alles, was du willst, Lilly.“ Wir küssten uns kurz und wieder wäre ich fast dahingeschmolzen. Mit weichen Knien ging ich meinem Vater nach und winkte Sean, Kenneth und dann Carly auf der anderen Seite der Straße zum Abschied. Sie formte das Wort „morgen“ mit ihrem Mund und ich nickte lächelnd. Morgen würde ich ihr von dem wundervollen Tag erzählen, aber im Moment genoss ich ihn innerlich selbst. Ich stieg ins Auto und kuschelte mich in meine Fleecejacke. Erst dann fiel mir auf, dass er nicht gesagt hatte, dass er es versprach.

 

Als mich Carly am nächsten Morgen mit ihrem Auto abholte, lächelte ich noch immer. Selbst mein Vater hatte mir die Laune nicht verderben können, als er mich strafend angeblickt hatte. Ich war früh aufgestanden, hatte ihm Kaffee gekocht und mich, so kam es mir zumindest vor, leicht schwebend durchs Haus bewegt. Jetzt saß ich im Auto und Carly lachte. „Meine Güte, als wäre dir ein Engel ins Gesicht gesprungen.“ „Das Leben ist wunderbar, ER ist wunderbar. Es ist einfach alles…“ „Wunderbar?“ „Ja.“ Ich erkannte mich selbst nicht wieder und für Carly musste ich aussehen, als käme ich von einem anderen Stern. Ganz meiner Gefühlslage an diesem Morgen entsprechend hatte ich mich angezogen. Ich trug einen weißen Pullover mit zwei fliederfarbenen Schmetterlingen auf der unteren rechten Seite, eine helle Jeans und meine Ballerinas, ebenfalls weiß. Wie sollte ich heute einen schlechten Tag haben? Alles war ganz anders und doch so wundervoll. „So…und jetzt erzähl, wie ist es passiert? Wie seid ihr zusammengekommen?“ Ich erzählte ihr, wie wir uns auf meinem Nachhauseweg begegnet waren und er mich, ganz der Gentleman, nach Hause gebracht hatte. Die Stelle mit dem Wolf ließ ich aus und erklärte, dass ich dann irgendwie bei den Woods gelandet war und beim Einzug half. Von der Verabschiedung erzählte ich ihr in allen Einzelheiten. Wie ich mich gefühlt, warum ich den Mut gefasst hatte, ihn auf die Wange zu küssen. Während ich aus dem Auto stieg, kontrollierte ich, ob das Motorrad da war. Es glänzte in der Sonne und strahlte mich an. Als wir an der Schule ankamen, war ich gerade dabei vom Sonntagsessen zu erzählen, als sich uns Farrah in den Weg stellte. Sie warf ihr Haar zurück und hatte ihre beiden dressierten Affen, Cara und Celine, dabei. Das waren eineiige Zwillinge, die alles nachplapperten, was Farrah ihnen vorbrabbelte. Sie sahen ihrer ‚Anführerin‘ ziemlich ähnlich, was wohl daran lag, dass sie ihr nacheiferten, denn eigentlich hatten beide braunes Haar und braune Augen. Aber mit Haarfärbemittel und Kontaktlinsen bekam man ja alles hin. „Was gibt es, Farrah?“, fragte Carly, doch die Cheerleaderin reagierte nicht und starrte mich weiter an. „Wie kannst du es wagen?“, zischte sie und ich war verwirrt. „Was, dir in den Weg zu treten? Soweit ich weiß, warst du das, nicht ich!“ „Du weißt ganz genau, was ich meine. Wood gehört mir und da tauchst du einfach bei der Versammlung mit ihm auf.“ „Wie ich gehört habe, sogar in seinem Auto“, plapperte Cara dazwischen und Farrah brachte sie mit einer raschen Handbewegung zum Schweigen. „Er ist ein Mensch und kein Gegenstand, den man besitzen kann“, widersprach ich. ‚Zumindest öfter ein Mensch als ein Wolf‘, dachte ich bei mir. „Das wird dir leid tun, glaub mir. Niemand drängt sich zwischen mich und einen Mann.“ „Ich habe mich gewiss nicht dazwischengedrängt. Er war ja nicht mal an dir interessiert, also lass mich in Ruhe.“ Ich griff nach Carlys Hand und zog sie mit mir. „Connor!“, rief Farrah und ich wandte mich um. „Was ist denn noch?“ Meine Güte, konnte ich schnippisch sein. „Mach dich auf was gefasst!“ Sie schmiss ihr Haar nach hinten, Cara und Celine taten es ihr gleich und zusammen zogen sie mit klappernden Absätzen von dannen. „War das gerade eine Kampfansage?“, fragte Kelly, die hinter uns aufgetaucht war. „Ich schätze schon“, meinte Carly und drehte mich zu sich herum, „Herzlichen Glückwunsch, Süße. Du bist jetzt ganz offiziell eine ihre Konkurrentinnen.“ „Oje, kann man davon noch irgendwie zurücktreten?“ „Nein, dieses Amt wirst du besetzen müssen. Außer du machst mit Taylor Schluss.“ „Niemals!“ „Dann solltest du dir schleunigst überlegen, wie du sie von ihm fernhältst.“ Ich verabschiedete mich auf dem Flur, denn ich musste jetzt in den neuen Mathekurs. „Wir machen nachher Pläne, ja?“ „Ja, natürlich, Süße. Wir überlegen uns schon den Anfang eines Schlachtplanes.“ „Carly, ich führe keinen Krieg.“ „Noch nicht, Lilly, noch nicht!“ Sie und Kelly bogen in den anderen Flur ab. Ich hatte ganz vergessen, wie ernst sie solche Kampfansagen immer nahm. Aber bisher hatten die mir persönlich ja noch nicht gegolten. Es war wahrscheinlich ganz gut, wenn ich sie, als ‚erfahrene Kämpferin‘, an meiner Seite hatte. Farrah würde nur mit Cara und Celine Vorlieb nehmen müssen. ‚Und dem Rest der Cheerleader‘, dachte ich und wartete mit den anderen Schülern vor dem Klassenraum. Als ich mich umsah, erkannte ich kein einziges bekanntes Gesicht. Fünfundvierzig Minuten ohne eine Freundin, ohne Taylor. Es war frustrierend. Jetzt waren wir zusammen und sahen uns noch weniger. Er hockte gerade mit Carly und Kelly in einem Raum auf der anderen Seite des Gebäudes und ich saß hier fest, nichts ahnend, was auf mich zukommen würde. Und dann führte nicht einmal Hastings den Unterricht, nein, einer seiner wundervollen Mathematikerfreunde, die er immer so gern erwähnte, würde das übernehmen. Dr. Kensington. Klingt nach einem älteren Herrn aus dem guten alten England, wenn Sie mich fragen. Doch ich wurde kurz darauf eines besseren belehrt.

Eine kleine schmächtige Frau mit freundlichem Gesicht und einer dünnen Brille auf der langen, spitzen Nase kam forschen Schrittes auf uns zu. „Entschuldigen Sie, meine Lieben. Ich wurde von einem der Kollegen aufgehalten und wenn der einmal ins Plaudern gerät, ist er einfach nicht zu stoppen. So, dann mal rein mit den Herrschaften.“ Ich suchte mir einen freien Platz und ergatterte ganz leicht einen in der Mitte. Die Klasse schien sehr übersichtlich. Entweder gab es nicht viele Schüler, die Hastings für diese Klasse empfahl oder aber, die meisten waren schlau genug, sich nicht dabei erwischen zu lassen, wie sie die schwereren Matheaufgaben lösten. „Wie Mr. Hastings mir mitteilte, haben wir ab heute einen Neuzugang. Wer ist denn das?“ Ich hob meine Hand und die Dame schaute mich freudestrahlend an. „Na, endlich mal wieder eine junge Dame in unseren Reihen. Dann ist es ja wieder ausgeglichener, nicht wahr? Schön, schön. Und ihr Name ist?“ „Lilly Connor, Ma‘m.“ „Oh, die Tochter des Doktors, ja? Na, dann herzlich willkommen, Ms. Connor. Sollten Sie Fragen haben, wenden Sie sich ruhig vertrauensvoll an mich oder Ihre neuen Mitschüler.“ „Danke.“ „Na, dann werden wir gleich mal starten, nicht wahr? Ich habe heute zwei wunderbare Aufgaben herausgesucht. Mal sehen, wer sie als Erstes lösen kann…“ Ich war überrascht, wie schnell die Zeit verging und wie viel Spaß ich hatte. Diese Frau gefiel mir und ich war zum ersten Mal richtig froh über meine Entscheidung, Mr. Hastings zugesagt zu haben. Sie ließ uns fünf Minuten früher gehen, weil wir alle so wunderbar mitgearbeitet hatten und ich konnte gemächlich zur Turnhalle gehen. Ich wartete nur zwei Minuten allein dort und schon waren auch Carly, Kelly, Mia und Elli da. Und auch Taylor.

Er umarmte mich seitlich und ich verlor ein wenig das Gleichgewicht. „Ich hatte völlig vergessen, dass du jetzt in eine andere Matheklasse gehst. Ehe mir Carly erzählt hat, wo du bist, hab ich mir Sorgen gemacht.“ „Entschuldige.“ „Und wie war es so?“, fragte nun Kelly und blickte mich erwartungsvoll an. „Ich habe nicht geahnt, wie viel Spaß Mathe machen kann, wenn man es mit dem richtigen Lehrer hat. Ehrlich. Sie ist eine alte nette Dame, die alles wunderbar und schön findet, dass ihre Schüler tun. Wir haben zwei Aufgaben zu lösen bekommen und mit der einen hatte ich echt meine Probleme, aber es war toll. Und sie gibt fast nie Hausaufgaben auf, obwohl sie viel von Selbststudium hält.“ Ich zeigte ihnen meinen Block und Carly schaute verzweifelt auf die vielen Zeichen, Formeln und Zahlen. „Willst du mir ernsthaft weis machen, dass du weißt, was du da rechnest?“ „Sicher, soll ich es dir erklären?“ „Bloß nicht, mir dreht sich jetzt schon der Kopf.“ Ich lachte mit den anderen und sie gab mir den Block zurück. Farrah und ihre Schoßhündchen kamen, wie immer für den großen Auftritt, etwas später, als alle anderen. Sie gingen nah an unserer Gruppe vorbei und Carly war bereit zurückzuschlagen, sollte Farrah einen Kommentar über uns fallen lassen. „Hallo, Taylor“, flötete sie und Cara und Celine winkten ihm zu. Er drückte mich instinktiv näher an sich und ich sah förmlich die roten Funken in ihren Augen sprühen. „Sollte ich wissen, wer das ist?“, fragte er und ich lachte kurz. „Meine Güte, Taylor. Es gibt ja nicht nur Lilly hier auf unserer Erde“, belehrte ihn Carly, wobei Elli und Mia hinter ihr standen und dasselbe Gesicht aufsetzten, wie Cara und Celine. Es war eine sehr gekonnte Parodie auf das Cheerleader-Trio und sogar einige der Jungs lachten. In diesem Moment wusste ich, dass ich die besten Freunde hatte, die man sich nur wünschen konnte. Wenn ich die und Taylor an meiner Seite hatte, warum sollte ich mich da vor Farrah fürchten?

Knochenbrecher und Coach Turner erschienen endlich und schlossen uns die Umkleiden auf. Dieses Mal folgte kein Volleyballspiel mit den Jungs und so hatten Carly und ich Zeit, während die anderen an den Folterinstrumenten trainierten, weiter über mein Wochenende zu reden. Ich schilderte ihr den Kuss und sie fieberte mit mir und seufzte laut auf, als ich sagte, wie es sich angefühlt hatte. „Oh, wie wunderbar!“ „Sag ich doch!“ Wir beide lachten, dann stießen Kelly und die beiden Gipsleidenden zu uns. Endlich bekam ich den Schlachtplan zu hören. Sie hatten sich mehr überlegt, als mir lieb war, deshalb beruhigte ich erst einmal alle, als sie sich langsam in Rage redeten. „Mädels, das ist ja wirklich ein sehr ausgereifter Plan, aber ehe der ausgeführt wird, warten wir bitte ab, was Farrah plant. Ich will nicht wild drauf los schlagen, wenn sie mich nachher als Böse hinstellen kann.“ „Meinst du, sie ist so schlau? Dich machen und dann ins offene Messer laufen lassen?“, fragte Kelly und alle anderen blickten mich an. „Schlau vielleicht nicht, aber hinterhältig. Wenn es um Jungs geht, traue ich ihr fast alles zu.“ „Recht hat sie, mit der ist nicht zu spaßen!“, pflichtete mir Mia bei und Carly nickte. „Und genau deswegen, ist es gut dich als Komponente im Plan zu haben, Süße. Du behältst einen ruhigen Kopf und wir haben somit einstimmig beschlossen, abzuwarten. Sind alle dabei?“ Die Mädels nickten verschwörerisch und ich fühlte die Stärke, die von jeder ausging. „Ihr seid die Besten!“, rief ich aus und wollte am liebsten gleich alle auf einmal umarmen. „Jetzt werde ja nicht gefühlsduselig. Meine Schminke ist heute nicht wasserfest“, antwortete Carly und ich lachte. „Ob ich die Damen, dann zum Sport bitten dürfte?!“ Wir zuckten alle zusammen. „Sicher, Ms. Edwards. Wir fliegen bereits!“ Mia und Elli gingen zurück zu den Bänken und Kelly, Carly und ich machten uns zum heutigen Folterinstrument auf.
 

Im Kunstunterricht angekommen, saß ich einfach nur vor meinem Bild. Mir schien jetzt alles falsch zu sein. Es stimmte gar nichts mehr daran und ich überlegte gerade, ob ich von vorn beginnen sollte, als Mrs. Winters hinter mir erschien. „Lilly, heute keine Inspiration?“ „Doch schon, aber irgendwie scheint mir das alles falsch zu sein.“ „Was, dein Leben?“ „Zumindest das Gemalte. In einer Woche hat sich so viel geändert und ich…ich überlege, ob ich neu anfange.“ „Nichts in deinem Leben sollte einfach so weggelassen werden. Ich schlage vor, du holst dir einfach einen größeren Rahmen, überträgst das, was du schon hast und malst das Neue dazu.“ „Meinen Sie, das geht in Ordnung?“ „Sicher, ich habe euch doch keine Grenzen gesetzt. Weder in der Größe noch in der Weite eures Lebens. Wir haben hier so viel Platz, geh ruhig. Nebenan sind die Rahmen.“ „Danke, Mrs. Winters.“ „Keine Ursache, meine Liebe. Dafür bin ich doch da.“ Und schon schwebte sie gut gelaunt zum nächsten Schüler. Ich suchte mir einen neuen Rahmen, stellte ihn ganz hinten im Raum auf, um die anderen nicht zu stören und begann damit das ‚Alte‘ zu übertragen. Es fühlte sich richtig an und ich konnte es sogar noch verbessern.
 

In der Mittagspause gesellte sich Taylor mit ein paar Jungs zu unserer Mädchentruppe. Er nahm mir gegenüber Platz und ich beobachtete ihn verträumt. Als er von seinem Tablett aufsah, bemerkte er, dass ich noch nichts gegessen hatte. „Geht es dir gut?“ „Sicher!“ „Dann iss was, du sollst mir ja nicht umfallen heute Nachmittag.“ „Sicher!“ „Bei dir ist wirklich alles in Ordnung?“ „Sicher!“ „Ach herrje, jetzt hau ihr doch mal bitte einer den verträumten Blick aus dem Kopf“, seufzte Carly und fügte hinzu: „Den hat sie seit Kunst.“ Sie stand auf und winkte wie wild vor meinen Augen herum. Ich blinzelte kurz und sah sie dann erschrocken an. „Carly! …Ich hab es wieder getan, ja?“ „Mhm.“ „Danke“, flüsterte ich und sah betreten auf meine im Schoß gefalteten Hände. „Darf man fragen, was los ist?“, erkundigte sich Taylor und gerade, als ich ihn ansehen wollte, um es ihm zu erklären, fuhr mich Carly scharf an. „Ah! Erst isst du ein paar Happen, dann kannst du ihn gerne wieder ansehen.“ Wie ein kleines gehorsames Kind, biss ich ein paar Mal von meinem Sandwich ab und leerte meinen Jogurt. Dann sah ich zu ihm auf. „Seid Kunst bin ich irgendwie nicht ganz ich selbst. Keine Ahnung, woran es liegt.“ „Zu viele von den verschiedenen Farbdämpfen wahrscheinlich“, meinte einer der Jungs. „Ich male mit Acryl, da gibt es keine Dämpfe!“ „Ach na dann, wirst du wohl einfach verrückt sein!“ Taylor und ich grinsten uns beide gleichzeitig an und wussten, woran wir dachten. Der Moment vor dem Kuss. Insbesondere das Gespräch davor. Wir hatten uns beide eingestanden, dass wir verrückt waren. „Nun bringt es schon hinter euch“, seufzte ein anderer Junge und ich beugte mich zu Taylor. Er küsste mich und ein wohliges Kribbeln breitete sich in meinem Innern aus. Als ich meine Augen wieder öffnete, bemerkte ich, dass jemand hinter ihm stand. Farrah starrte mich an, ich glaubte zu sehen, wie sie grün anlief. Dann stolzierte sie erhobenen Hauptes von dannen. „Ich glaube, jetzt hab ich es geschafft, oder?“ Die Mädels nickten langsam. „Was denn?“, fragte Taylor und ich blickte ihn traurig an. „Ich denke, wir könnten jetzt ein kleines Problem kriegen. Eines…das man nicht mit Körperkraft lösen kann, fürchte ich.“ „Wir werden abwarten müssen. Etwas anderes können wir nicht tun!“, sagte Carly und die Mädels nickten wieder.
 

Als der Unterricht endlich vorbei war, standen Taylor und ich noch eine Weile mit den Mädchen auf dem Platz vor der Schule. Carly und Kelly hatten beschlossen, mich heute Nachmittag bei meiner Schicht in Henrys Billardhalle zu besuchen. Mia und Elli warteten auf die Eltern der Letzteren und würden endlich ihren Gips loswerden. Dann schnappte sich mein Freund sein Motorrad und schob es neben mir her, als wir uns auf den Weg zu meinem Haus machten. Es war einfach zu toll diese Worte zu sagen. Mein Freund. Wir kamen bei Henry vorbei, wo er es abstellte, um dann für eine halbe Stunde mit zu mir zu kommen. „Ist Farrah wirklich so intrigant?“, fragte er und blickte gelegentlich zum Wald. „Sie hat es faustdick hinter den Ohren. Carly und sie sind Rivalinnen seit der vierten Klasse. Seither stehen alle Jungs auf die beiden und es ist ein ziemlich ausgewachsener Krieg zwischen ihnen ausgebrochen.“ „Fast alle“, berichtigte er mich. „Ja, fast alle. Entschuldige vielmals.“ Ich lächelte. „Was für Fähigkeiten hast du mir noch verschwiegen?“ Wenn ihn diese Frage überrascht hatte, schien er es gut verbergen zu können. Ich wollte nicht mehr über die Cheerleaderin reden und hatte den erstbesten Gedanken ausgesprochen, der mir eingefallen war. „Was soll ich denn noch können?“ „Nun ja, du hörst besser als andere, du wirkst anziehender auf uns. Und du kannst meinen Duft verfolgen… Sonst noch was?“ „Ich bin schneller, als andere.“ „Deshalb deine rasante Fahrweise?“ „Woher…?“ Er blickte mich von der Seite her an. „Sean hat es am Telefon erwähnt und du warst innerhalb von zirka fünf Minuten an unserem Haus. Obwohl der Fahrtweg eine Viertelstunde von euch aus beträgt.“ „Sollte ich im Sport nicht aufpassen, kann es auch passieren, dass ich einen neuen Rekord aufstelle. Außerdem sind Sean, mein Vater und ich auch stärker als andere.“ „Ja, gut, das hatte ich mir fast gedacht.“ „Das war es auch schon. Genug, wie ich finde.“ „Durchaus.“ Ich schloss die Haustür auf und erstarrte im Türrahmen. „Was ist los?“, fragte er leise und legte mir seine Hände auf die Schultern. „Ich dachte nur eben, mich hätte jemand gerufen.“ „Ich habe nichts gehört.“ „Dann wird es wohl Einbildung gewesen sein.“ Ich machte eine Handbewegung, die den Gedanken verscheuchen sollte, aber irgendwo in meinem Unterbewusstsein drängte sich da eine Idee auf. Es war unmöglich es in Worte zu fassen, aber da waberte eine Frage tief in meinem Kopf. Vielleicht würde es mir später einfallen. „Möchtest du was trinken? Ich habe gestern Abend noch Eistee gemacht.“ „So spät noch?“ „Ich hatte viel überschüssige Energie, die ich irgendwo loswerden musste. Normalerweise koche ich dann irgendwas, aber das schien mir halb zehn am Abend doch etwas übertrieben.“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich nehme ein Glas. Danke!“ Während ich zwei Gläser aus dem Schrank holte, ließ er sich auf den Stuhl sinken, auf dem er auch am Sonnabend gesessen hatte. Als ich den Krug aus dem Kühlschrank holte, bemerkte ich aus dem Augenwinkel, wie er sich umsah. „Du kannst dir das Haus gern ansehen. Eures kenne ich ja schließlich auch schon“, erklärte ich und er sah mich an. ‚Wie ein kleiner Junge, der beim Kekse naschen erwischt wurde‘, dachte ich. „Ist das wirklich okay für dich?“ „Sicher, ich habe keine Geheimnisse vor dir. Obwohl du vielleicht das Schlafzimmer meines Vaters auslassen solltest. Der hat das nicht so gern, wenn er nicht da ist.“ Ich deutete in die Richtung, wo sich das Zimmer befand. Er nickte verständnisvoll und trank einen Schluck Eistee. „Komm, ich führ dich rum.“ Taylor schien erleichtert, dass ich ihn nicht alleine herumlaufen ließ. Zuerst sahen wir ins Wohnzimmer, wo man unweigerlich dran vorbeikam, wenn man vom Flur in die Küche wollte. Es war mit dunklem Holz verkleidet und hatte grüne Stuckleisten. „Das hast du sicher schon gesehen!“ Er nickte und bemerkte die vielen Geweihe, die über dem Kamin hingen, den wir schon lange nicht mehr benutzt hatten. „Ich habe ihm bei jedem einzelnen dieser Dinger gesagt, dass ich sie grässlich finde, aber es ist sein Hobby. Schwer es ihm auszureden.“ Ich zuckte die Achseln. „Hat er die alle selbst geschossen?“ „Viele. Manche sind aber von allein gestorben und er fand die Geweihe schön. Vielleicht verbindet er auch Erinnerungen mit den Tieren, ich bin mir nicht sicher.“ Ich blickte auf die grüne alte durchgesessene Couch und die passenden zwei Sessel. Nach all den Jahren liebte ich diese Stücke noch immer am meisten an diesem Zimmer. Ebenso wie das Klavier, an dem meine Mutter immer gespielt und es mir halbwegs beigebracht hatte. Nun ja, zumindest hatte sie es versucht. Dann zog ich ihn mit mir in das Badezimmer, das sich hinter dem Schlafzimmer meines Vaters befand. Es war aus grünen Kacheln und eine alte Badewanne war passgenau in die Ecke eingelassen worden. „Das war das meiner Eltern.“ Mehr konnte ich nicht sagen. Ich war so lange nicht mehr hier drinnen gewesen und jetzt spürte ich die Anwesenheit meiner Mutter. Früher hatten wir hier beide sonntags immer zusammen gebadet. „Wollen wir weiter?“ Taylor nickte und sah mich mit sanften Augen an. Für ihn schien ich ein offenes Buch zu sein. Wir stiegen die Treppen hinauf und ich führte ihn rechts entlang, zum Arbeitszimmer. Hier war alles steril in weiß gehalten mit dunklen Kirschholzmöbeln. Ein riesiger Schreibtisch, drei Regale voll medizinischer Lektüre, eine alte Brauttruhe und eine gigantische Standuhr. „So stelle ich mir das Arztzimmer deines Vaters vor“, sagte Taylor und schien die Bücher gleich selbst lesen zu wollen. „Es sieht fast so aus. Die Truhe und die Uhr hat er dort nicht.“ Ich schloss die Tür und führte ihn in mein Badezimmer, gleich links neben diesem Zimmer. Es war lila, aber kein dunkles, sondern zart fliederfarben. Eine Dusche stand hinter der Tür. „Zwei Waschbecken? Brauchst du so viel Platz?“ Ich schluckte schwer und schüttelte leicht den Kopf. „Das Arbeitszimmer war eigentlich als zweites Kinderzimmer gedacht. …Meine Mutter war schwanger, als sie den Unfall hatte.“ „Oh, Lilly, ich wollte nicht…“ „Du hast es doch nicht gewusst. Du brauchst dich nicht schuldig zu fühlen.“ Langsam schloss ich die Tür und sagte: „Sie war im zweiten Monat. Ich rede mir immer ein, dass das kleine Ding nicht viel gespürt hat, weil es ja noch so winzig war, aber…es war ein Leben, nicht wahr?“ Er legte von hinten seine Arme um mich und ich drückte mich mit geschlossenen Augen an ihn. Seine Lippen berührten ganz sachte meinen Hals. Ich konnte nicht mehr weinen. Zu lange hatte ich um mein kleines Geschwisterchen und meine Mutter getrauert. Noch immer fand ich es grausam, dass sie beide so früh gehen mussten. Diese wundervolle Frau, die noch so viel geplant hatte. So viel Liebe und Wärme zu geben hatte. Und genau aus diesem Grund glaubte ich auch nie an einen Unfall. Es musste etwas passiert sein. Meine Mutter war keine draufgängerische Fahrerin gewesen und schon gar nicht, da sie ein Kind erwartete. Ich holte einmal tief Luft und verwahrte all diese Gedanken, wieder in dem kleinen imaginären Kästchen in meinem Herzen. „So…jetzt kommen wir zu meinem Heiligtum.“ Taylor spürte die Veränderung in mir, ließ aber noch immer seine Hände auf meinen Schultern. Er wollte, dass ich wusste, dass er da war. Und ich war ihm dankbar. Es bedurfte keiner Worte. Seine Nähe zu spüren, ihn zu fühlen, war genug. Ich öffnete die Tür und trat mit ihm ein. Das weiße Bett stand an der Wand gleich gegenüber der Tür. Es ragte ein Stück weit in den Raum. Der Nachttisch mit dem ungeliebten Wecker befand sich daneben. Hinter der Tür folgte der große weiße Kleiderschrank, dann die Tür, die zum Badezimmer führte. Gegenüber dem Bett, links neben der Eingangstür, stand der Schreibtisch mit meinem Laptop. Darüber war ein Wandbild angebracht in Form eines Schmetterlings, der die ganze Wand einnahm. Seine Silhouette war in roter Farbe angemalt worden. Ein paar Sitzkissen lagen vor dem Fenster. Die Wände, woran das Bett stand und sich das Fenster befand, waren rot gestrichen, die anderen beiden in einem Creméton. „Was denkst du?“, fragte ich vorsichtig und sah ihm ins Gesicht. Seine Augen tauchten tief in meine und er sagte: „Es spiegelt ganz und gar dich wider.“ „So hat das noch niemand gesagt. Danke!“ „Hast du es selbst eingerichtet?“ „Ich habe meinen Eltern gesagt, welche Möbel ich haben möchte und die Wände dann mit meiner Mutter gestrichen. Sie fand meine Ideen immer ganz toll und hat vieles so umgesetzt, wie ich es vorgeschlagen habe.“ „Deshalb verstehst du dich auch so gut mit meinem Vater…“, schloss er. „Hauptsächlich liegt es daran, dass ich ihn sehr gern hab. Und vielleicht ein bisschen daran, dass wir uns mit Farben gut auskennen.“ Auf seinem Gesicht zeichnete sich wieder dieses schiefe Lächeln ab und wir gingen gemeinsam runter in die Küche. „Ich war übrigens ziemlich beeindruckt, wie gut du dich mit meiner Familie verstehst“, verkündete er, nachdem er einen Schluck Eistee getrunken hatte. In seinen Augen funkelte so ein seltsames Glitzern, ich glaubte, es erkannt zu haben und schüttelte leicht den Kopf. „Du machst dir Sorgen wegen Sean, stimmt‘s?“ Er senkte den Blick und ich ging um die Theke herum, um mich an ihn zu kuscheln. „Sean ist…“, begann ich und rollte mit den Augen, „Er ist eben Sean. Und du bist Taylor…mein Taylor. Nicht mein Eigentum, gewiss nicht, aber ich gehöre zu dir. Zu niemandem sonst. Keiner weckt in mir solche Gefühle, wie du. Bei dir…fühl ich mich sicher,…geliebt.“ Seine Arme schlangen sich um mich und er zog mich fest an seine Brust. So verharrten wir ein paar Minuten, bis ich mich von ihm lösen musste. „Tut mir leid, aber meine Schicht bei Henry fängt bald an. Er hasst es, wenn man unpünktlich ist.“ „Warum arbeitest du noch mal da?“ „Ich spare auf ein Auto. Nicht mehr lange, dann kann ich kürzer treten.“ „Nicht ganz aufhören?“ „…Irgendwie sind die Jungs dort, Teil meines Lebens geworden. Ich glaube, ich höre erst ganz auf, wenn ich mit der Schule fertig bin.“ Wir leerten die Gläser, ich stellte sie in die Spüle, schnappte mir Tasche und Schlüssel und wir verließen das Haus. Und dann, als wir an dem kleinen Waldstück vorbeikamen, an dem wir schon so viel erlebt hatten, drängte sich endlich die Frage nach vorn in meinen Kopf. „Klingt vielleicht irgendwie merkwürdig, aber als du auf der Lichtung dazu kamst, hast du mir oder dem Wolf irgendetwas mitteilen wollen?“ „Was meinst du mit ‚mitteilen‘?“ „Du hast geknurrt, tief und bedrohlich. Hast du irgendwas damit sagen wollen?“ Einige Momente lang beobachtete mich Taylor nur, dann erinnerte er sich daran, dass ich wahrscheinlich eine Antwort hören wollte. „Ich habe dich beschützen wollen.“ „Ja, das ist mir schon klar. Und dafür bin ich dir auch sehr dankbar. Aber hast du einen bestimmten Satz in diesem Knurren benutzt?“ „Wie kommst du auf so eine Frage?“ Er schien ernsthaft daran zu zweifeln, ob ich selber wusste, was ich da redete. „Okay. Versprich mir, dass du nicht lachst oder mich für noch verrückter hältst als vorher.“ Taylor lachte kurz auf. „Wieso sollte ich…?“ „Versprich es mir!“ „Ja,…ja, ich verspreche es dir.“ „Als ich dich nicht sehen konnte und nur das Knurren hörte, war ich der Meinung, dass du mit mir gesprochen hast. Anfangs klang es beängstigend, aber ich fühlte keine Angst. Und ich hörte etwas. Ich bin mir jetzt nicht mehr sicher, ob es in meinem Kopf oder mehr in meinem Herzen war, aber ich hatte bereits die Ahnung, dass du es warst, der mir zu Hilfe kam.“ „Und was glaubst du, gehört zu haben?“ Er war ernst, zu ernst. Konnte ich Recht haben? Machte er sich jetzt Gedanken darüber, ob er bei mir bleiben sollte oder nicht? Ich wollte es nicht in seinen Augen lesen und so sah ich auf den Asphalt vor mir. „Es klang wie ‚Wenn du dich bewegst, kann ich dich nicht vor ihm beschützen. Bleib, bitte, ruhig!‘“ Taylor blieb so abrupt stehen, dass ich zurückgerissen wurde, weil er noch immer meine Hand hielt. „Was ist?“, fragte ich ihn und er sah mir in die Augen. Sie waren nicht vor Schreck oder Entsetzen aufgerissen, sondern vor Erstaunen. „Du hast Recht. Ich habe dich warnen wollen.“ „Dann war es Zufall, dass ich genau das angenommen habe.“ „Lilly, das war wortwörtlich das, was ich gesagt habe.“ Langsam ging er weiter und war mit den Gedanken plötzlich ganz woanders. ‚Vielleicht hätte ich es ein andern Mal erwähnen sollen‘, dachte ich und sah bereits die Billardhalle vor uns auftauchen. „Weißt du, bevor wir uns verwandeln, befinden wir uns in einem Stadium, wo sich das menschliche mit dem Wolf vermischt. Es ist uns möglich zu knurren, wie wir es als Wolf tun würden. Nachdem ich dir das gesagt hatte, dachte ich selbst, wie albern es von mir war, dir etwas mitteilen zu wollen, dass du sowieso nicht hörst. Aber du hast es verstanden. Ich glaube nicht, dass das schon mal vorgekommen ist.“ „Natürlich nicht, schließlich passiert dir so was vor anderen ja nicht. Die sind nämlich der Meinung, du seiest ein vollwertiger Mensch.“ „Stimmt. Aber es wäre interessant zu erfahren, ob du meine Familie auch verstehst.“ „Nun, das müssen wir auf ein andern Mal verschieben. Ich muss jetzt arbeiten. Wir sehen uns morgen in der Schule, ja?“ „Ja“, er sah mich an und war endlich wieder vollkommen bei mir. „Pass gut auf dich auf.“ „Du auch. Holt dich heute Abend jemand ab?“ „Carly schläft wahrscheinlich bei mir. Sie kommt mit dem Auto her, dann fahren wir zu mir.“ „Gut.“ Er schwang sich auf seine Maschine und drehte sich dann zu mir. „Ich lass dich ungern alleine hier“, meinte er und ich bekam weiche Knie bei dem Blick, den er mir zuwarf. Mein Beschützer! ‚Dann bleib doch einfach hier‘, dachte ich und verwarf die Idee sofort. Ich konnte ihn nicht gänzlich von seiner Familie trennen. Nur weil wir jetzt zusammen waren, hieß das nicht, dass er kein eigenes Leben mehr führen durfte. „Ist doch nicht für lange. Dann kommen Kelly und Carly her. Und die Männer sind ja auch noch da. Ich werde mich schon irgendwie beschäftigen.“ „Na schön. Komm her“, wisperte er. Er griff nach meiner Hand, zog mich zu sich und küsste mich innig. „Wir sehen uns morgen“, erklärte ich noch mal und hatte schwer damit zu tun, wieder Luft zu atmen. „Bis morgen“, sagte auch er und setzte den Helm auf. Mit einem Kick startete er die Maschine und ich trat in die Halle. „Hey, Jungs. Wer möchte was trinken?“ „Ich möchte eine Revanche“, verkündete Murray, „dann können wir immer noch auf meinen Sieg anstoßen!“

Kurz nach Zehn Uhr machten Carly und ich uns auf den Weg nach draußen. Wir hatten beide gegen Murray gewonnen und ihm dafür jeweils ein Bier ausgegeben. Er war dadurch etwas gnädiger gestimmt und nicht mehr allzu verdrießlich. Als wir vor der Halle standen, befand sich dort kein Auto. „Bist du zu Fuß hier?“ „Ich hab den Wagen gleich bei euch abgestellt. Der Weg ist doch nicht so weit, dachte ich, den können wir auch zu Fuß gehen.“ „Sicher, aber kein Wort davon zu Taylor.“ „Wieso?“ „Er ist da etwas… Er mag es nicht, wenn ich im Dunkeln alleine auf der Straße unterwegs bin. Gut, ich bin heute nicht allein. Aber zwei Mädchen im Dunklen, wird für ihn auch nicht wirklich spannend klingen. Also, das bleibt unter uns, ja?“ „Okay.“ Wir gingen ein paar Schritte und sie fügte hinzu: „Ist ja echt süß von ihm. Wie dein eigener Beschützer!“ „Ja, so kommt er mir auch vor“, bestätigte ich und dachte an seinen geschmeidigen Körper in Wolfsgestalt, den ich im Mondlicht gesehen hatte. „Wie alt ist eigentlich Sean?“, fragte sie nun und ich sah sie wissend an. „Ich glaube 20. Aber sicher bin ich mir nicht. Obwohl dich das gar nicht wirklich interessiert, oder?“ Sie lachte leise und hakte sich bei mir ein. „Nun ja, er ist süß und es besteht ja diese gewisse Familienähnlichkeit, wenn du verstehst.“ „Du magst Taylor wirklich sehr, richtig?“ „Ich gönn dir dieses Glück von Herzen, Süße. Aber es hat mir schon einen kleinen Dämpfer versetzt, als ich deinen Blick gesehen hab, immer wenn du ihm begegnet bist. Alle anderen haben das nicht mitgekriegt, aber ich bin seit dem Kindergarten deine beste Freundin. Und wie schäbig wäre es da von mir, dein Glück aufs Spiel zu setzen, um dann nach einiger Zeit zu bemerken, dass ich ihn und dich verliere, weil mir die Lust an ihm vergeht.“ „Meinst du, es wäre wirklich so ausgegangen?“ „Wir wissen beide, dass ich es nie lange bei einem Jungen aushalte, egal wie süß er auch ist.“ Ich sagte nichts dazu und sie kuschelte sich näher an meinen Arm. Es wurde plötzlich sehr kalt und mich beschlich das Gefühl, das man uns verfolgte. Wenn auch nur mit Blicken. Es knurrte von der rechten Seite her und wir beide erstarrten gleichzeitig. „Was war das?“, wisperte Carly und blickte abwechselnd von mir zu dem kleinen Waldstück hinter dem leeren Grundstück. Das konnte einfach kein Zufall mehr sein. Hier lauerte Er mir jedes Mal auf. „Carly, du wirst jetzt langsam vorgehen. Sag meinem Vater, dass er mit der Waffe herkommen soll. Los, geh jetzt!“ Sie wollte etwas erwidern, aber da hörte sie schon wieder das Knurren und lief los. Es war mir lieber, wenn mein Vater verstärkt mit der Waffe im Wald herumlief, als dass dieses Tier noch länger in der Nähe meiner Freunde auftauchte. Taylor und seine Familie würde ich warnen können, die verwandelten sich ja nicht allzu oft.

Meine Augen hatten sich an die Schwärze im Wald gewöhnt und nun konnte ich das riesige Tier zwischen den Bäumen erkennen. Seine Augen waren auf mich gerichtet und zwei Reihen blitzender weißer Zähne kamen zum Vorschein. Er knurrte und ich hörte ihn ganz klar. „Oh, kleine Lilly, ganz allein? Hast du keine Angst vor dem bösen schwarzen Wolf?“ Ich straffte meine Schultern und trat auf das leere Grundstück, damit niemand erkennen konnte, dass ich in den Wald sprach. „Nein!“ „Da bist du dir sicher? Ich könnte dir sagen, wie ich deinen kleinen Schoßhund niedergestreckt habe.“ „Er ist kein Schoßhund und lass Taylor gefälligst zufrieden. Er hat damit nichts zu tun!“ „Taylor heißt er also, ja? Nun, ich denke, er spielt schon eine Rolle. Keine sehr wichtige, aber er ist nicht ganz unbeteiligt. Er steht zwischen uns, kleine Lilly. Und das tut niemand ungestraft.“ Ich erwiderte nichts. Sollte er nur reden, dann würde er nicht gleich flüchten und mein Vater könnte ihn erschießen. Sonst hielt ich von dieser Idee nicht viel, aber er war das Einzige, worüber ich mir noch Sorgen machte. „Er weiß dich überhaupt nicht zu schätzen, meine Schöne.“ „Was?“ „Du leuchtest förmlich vor seiner Nase und er sieht es nicht. Er hat keinen blassen Schimmer davon, wie viel wirklich in dir steckt. Wie viel Macht du besitzt.“ „Und du tust das?“ „Sicher. Weißt du, ich könnte dich zu einer von uns machen. Es ist ganz leicht und wenn der Schmerz erst abgeklungen ist, wirst du dich ganz wundervoll fühlen.“ „Das ist überhaupt nicht möglich!“, widersprach ich. „Haben dir das deine kleinen Freunde erzählt, ja? Sie sind viel unwissender, als ich dachte.“ Seine Ohren fuhren herum. Anscheinend hatte er ein Geräusch gehört, das mir entgangen war. „Nun, kleine Lilly. Wir werden uns wiedersehen. Überleg dir mein Angebot. Das mache ich nicht jedem, weißt du?“ Er trat mit zwei Schritten zurück in den Wald und ich hörte, wie mein Vater das Gewehr anlegte. Ein Schuss gellte durch die Nacht und ein paar Leute schoben ihre Köpfe aus den Fenstern. „Dan, was ist denn da los?“, riefen ihn die Menschen, doch er riss mich zu sich herum. „Lilly, alles in Ordnung? Was war denn das?“ Ich schüttelte leicht den Kopf und sah ihm dann sicher in die Augen. „Ein Hund. Muss sich irgendwo losgerissen haben. Ich bin näher ran, um ihn anzulocken, aber er hat Angst bekommen. Hoffentlich fressen ihn die Wölfe nicht.“ „Ein Hund?“ Er schien mir nicht recht zu glauben. „Ja. Ich dachte bei dem Knurren auch erst, es wäre ein Wolf, deshalb hab ich Carly zu dir geschickt. Aber wir haben uns wohl geirrt. Danke trotzdem.“ „Aha!“ Wir gingen gemeinsam zum Haus. Carly schloss mich erleichtert in ihre Arme und wir verschwanden in mein Zimmer. Als ich die Fenster fest verschlossen hatte und mir sicher war, dass mein Vater nichts hörte, zog ich sie zu mir auf mein Bett. „Versprich mir, dass du kein einziges Wort an jemanden, vor allen Dingen nicht Taylor, über das verlierst, was heute Abend geschehen ist.“ „Ich verstehe nicht. Du sagtest, es war nur ein Hund…“ „Ja, aber er wird sich da reinsteigern und bei den Leuten lösen wir nur eine unnötige Massenhysterie aus. Versprich mir, dass du nichts sagen wirst.“ „Lilly, ich…“ „Bitte. Dann erlass ich dir die Hälfte der Gefallen, die du mir durch Mathe noch schuldig bist.“ „Also, ich weiß nicht,…“ „Carly, bitte!“ „Na schön, ich schwöre.“ „Danke!“

 

Am nächsten Morgen waren wir alle Drei sehr schweigsam am Frühstückstisch. Mein Vater glaubte mir noch immer nicht ganz. Carly hielt mich wahrscheinlich für übergeschnappt, weil ich ihr so ein Versprechen abgenommen hatte. Und ich. Ich dachte über die Worte des Wolfes nach. Hatte er tatsächlich die Möglichkeit, Menschen in Wölfe zu verwandeln? Wieso hatten die Woods dann aber etwas ganz anderes erzählt. Oder wussten sie es tatsächlich nicht? Egal, was der Grund war. Es war für alle in der Stadt jetzt noch gefährlicher, im Dunkeln herum zu laufen, wenn er aus ihnen eine ganze Armee von Wölfen machen konnte, sollte er die Wahrheit gesagt haben. Ich würde mit Kenneth darüber reden müssen, ohne dass Taylor etwas davon mitbekam. Mein Vater verabschiedete sich von uns und fuhr zur Arbeit. Carly und ich verschwanden kurz darauf auch zur Schule und ich versuchte sie, von ihren Gedanken abzulenken. „Sean, also, ja?“ Sie lächelte. Erleichtert und verlegen, wie es mir vorkam. „Das hast du also nicht vergessen?“ „Nein, ich höre dir ja zu.“ „Ich sagte ja gestern schon, er ist süß.“ „Das leugne ich auch nicht, aber ich sollte dich vorwarnen, er ist ein ziemlicher Kindskopf.“ „Tatsächlich? Mmh, ich hab ihn ganz anders eingeschätzt. Sonst noch etwas, dass ich über ihn wissen sollte?“ „Nun, er sagt selber über sich, dass er nicht so gerne liest, wie der Rest seiner Familie. Er tut lieber etwas, obwohl er mit Worten auch gut umgehen kann.“ „Aha. Ich glaube, du musst uns einander vorstellen.“ „Ich werde sehen, was ich tun kann.“ „Das genügt mir schon“, flötete sie und parkte das Auto auf dem Schulgelände. Unsere Blicke fielen gleichzeitig auf den riesigen Menschenauflauf vor dem Gebäude. „Was ist denn da los?“ „Keine Ahnung, lass uns nachsehen“, antwortete Carly, wir stiegen aus und machten uns auf den Weg. Kelly stieß zu uns und sah mich mitleidig an. „Was ist los, Kelly?“ „Ich schätze, Farrah musste irgendwann mit ihrem Plan beginnen…“ Natürlich, Farrah. Die hatte ich bei der ganzen Aufregung vom gestrigen Abend völlig vergessen. Doch jetzt drängte sie sich brutal wieder in mein Gedächtnis. „Und was tut sie, dass alle so begierig um sie herum zu stehen scheinen?“ „Sie tut gar nichts. Cara und Celine sind es, die die Drecksarbeit machen.“ Ein Junge schritt, vertieft in eine Zeitung, an uns vorbei und Carly riss ihm diese aus der Hand. Als er sich umwandte, um denjenigen anzufahren, klimperte sie ihm mit den Wimpern zu und er verschwand geistesabwesend. „Wollen wir doch mal sehen…“, begann sie und faltete die Zeitung auseinander, als sei nichts gewesen. „Ach, das scheint es zu sein.“ Ich wollte nicht darauf warten, dass sie es mir vorlas und so blickte ich ihr über die Schulter und bemerkte sofort die riesige Überschrift: VERRÜCKT, LEHRERS LIEBLING UND MITLÄUFERIN: DIE GESCHICHTE DER LILLIAN CONNOR - Teil 1‘ „Um Gottes Willen, das ist ihr Plan?“, fragte ich und lachte auf. Carly und Kelly blickten mich überrascht an. „Leute, das sagen die meisten Schüler hier doch sowieso über mich. Und was die denken, ist mir völlig egal.“ „Aber das ist erst Teil 1. Wer weiß, was da noch kommt?“, warf nun Kelly ein. „Glaubt ihr denn das, was sie über mich verbreiten wird?“ Wie aus einem Munde, sagten sie: „Nein!“ „Seht ihr. Mia, Elli und Taylor werden darauf auch nichts geben. Also ist es mir doch völlig schnuppe, was da noch kommen wird und der Rest der Schüler über mich denkt. Meine Freunde tun es nicht und das ist mir wichtig.“ Carly griff sich an die Brust und verzog ihr Gesicht zu einer wehleidigen Miene. „Ich bin wahnsinnig stolz auf dich, Süße!“ „Danke“, begann ich und ließ mich bereitwillig von ihr knuddeln, „Lasst uns gehen!“ Zu dritt machten wir uns auf den Weg und trafen dabei auf Elli und Mia. Die gaben ebenfalls nichts auf das Gerede und zeigten stolz, dass sie den Gips losgeworden waren. „Herrliches Gefühl, sich wieder frei bewegen zu können“, begann Mia und Elli nickte. Fügte jedoch hinzu: „Es ist nur etwas eigenartig zu gehen. Wochenlang hatte ich einen schweren Fuß und jetzt ist es, als würde der ein Eigenleben führen.“ Wir lachten alle und Taylor passte mich ab, ehe ich in den anderen Flur abbog. „Guten Morgen“, sagte er und hauchte mir einen Kuss auf die Stirn. Die Mädels zogen lächelnd und winkend weiter und ließen uns die paar Minuten noch allein. „Guten Morgen, gut geschlafen?“ „Wie ein Stein, und du?“ „Wirre Träume, aber sonst ist alles super.“ Ich war mir nicht ganz sicher, ob er die Zeitung nur noch nicht gesehen hatte oder er sie nicht erwähnte, weil er wusste, dass es mich nicht interessierte, was andere darüber dachten. Aber ich war froh, egal, was der Grund war. Er verstand mich so wunderbar, dass es fast schmerzte, ihm nichts über den gestrigen Vorfall zu erzählen. Obwohl er eigentlich der Erste hätte sein müssen, der davon erfuhr. Doch ich wusste auch, dass er dann sofort losstürmen und sich den Wolf vornehmen wollen würde. Und das konnte ich nicht zulassen. Er sollte nicht noch einmal verletzt werden oder gar Schlimmeres noch. „Wirre Träume, du Ärmste. Worum ging es denn?“ „Um alles und irgendwie nichts. Ist schwer zu erklären. Kann ich heute mit zu dir kommen?“ Er schien überrascht. „Keine Arbeit heute?“ „Ich habe mit Henry abgesprochen, dass ich nur noch alle zwei Tage aushelfe. Und wenn du heute nichts gegen Gesellschaft hast, begleite ich dich gern.“ „Gegen deine Anwesenheit habe ich nicht das Geringste einzuwenden. Niemals, das solltest du dir merken. Und wenn du bei uns bist, weiß ich wenigstens, wo du dich rumtreibst.“ „Ich treibe mich nirgendwo rum. Was denkst du denn von mir?“ Ich stupste ihn an und in seinen Augen funkelte wieder dieser Glanz. „Schwer vorstellbar, dass ich mich dir mal einfach so entziehen konnte“, wisperte ich und er lachte. „Dafür bist du meinem Charme ja jetzt vollkommen erlegen. Das gleicht es doch ein bisschen aus…“ „Das ist wahr.“ Ich küsste ihn sanft auf die Lippen und er entließ mich sprachlos in meinen Unterricht. Kurz bevor es klingelte und ich in den Raum ging, blickte ich mich noch einmal zu ihm um. Sein Blick sah schuldbewusst aus und ich war drauf und dran zu ihm zurück zu gehen, doch Dr. Kensington schob mich ins Klassenzimmer und ich musste mich bis zur Pause gedulden. Es war erstaunlich, wie viel Kraft diese kleine Person besaß.

 

In den kleinen Pausen zwischen den Stunden, erwischte ich ihn nicht. So also musste ich noch länger warten, bis zur Mittagspause. Da endlich fing ich ihn vor der Essensausgabe ab. „Taylor, sag mal, was ist los?“ „Was meinst du?“ „Ich habe deinen Blick gesehen, den vor der ersten Stunde. Irgendwas stimmt doch nicht, also…?“ Er sah an mir vorbei, immer darauf konzentriert nicht wieder so wie vorhin dreinzublicken. „Es ist nur…“, er holte tief Luft und sah mich an, „Bist du dir sicher, dass ich es bin, bei dem du sein willst?“ Ich war wie vor den Kopf geschlagen. „Wie bitte?“ Mein Herz hämmerte gegen meine Rippen und ich spürte, wie jegliche Farbe aus meinem Gesicht wich. Meine Beine wollten mir gerade den Dienst verweigern, als mich Taylor zu einem leeren Tisch führte und mich sanft auf eine der Bänke drückte. „Entschuldige bitte den Ausdruck, aber… Wie, zum Teufel noch mal, kommst du auf die hirnrissige Idee, dass es nicht so sein sollte?“ „Du hast es selbst gesagt.“ „Was habe ich?“ „Vorhin. Du hast zugestimmt, als ich sagte, dass du meinem Charme völlig erlegen seiest. Und das… es brachte mich auf die Idee, dass es vielleicht nur an der Fähigkeit liegt, dass du bei mir sein willst…“ Diese Aussage musste ich erst einmal sacken lassen. Wie sollte ich ihm nur verdeutlichen, was für ein Blödsinn das war? Allein die Frage, war für mich so völlig abwegig gewesen, dass es mich erschreckte, wie sehr ihm das zu schaffen machte. Wir hatten doch nur herumgealbert. Wie konnte er sich das so zu Herzen nehmen? „Oh, Taylor…“, begann ich, doch meine Stimme versagte, als er mich endlich wieder anblickte. „Du weißt auch, dass ich es schon geschafft habe, mich dir zu entziehen. Zwei Mal sogar.“ „Ja, aber…“ Ich legte ihm einen Finger auf seine Lippen und schüttelte leicht den Kopf. „Nichts aber. Ich weiß nicht, wie ich dir verdeutlichen kann, was du mir bedeutest. Es liegt nicht an deiner Anziehungskraft, dass ich bei dir sein will. Nur weil die anderen Mädchen diese Kraft anzieht, gilt das für mich doch nicht auch gleich. Ich will nicht leugnen, dass es vielleicht auch ein bisschen daran liegt, okay? Aber…Taylor, ich will bei dir sein, weil du…du bist.“ „Ich?“ „Ja, du verstellst dich nicht. Du bist klug, witzig, du passt auf mich auf und bist für mich da, egal, was auch passiert. Ich wiederhole mich vielleicht, aber ich fühle mich bei dir sicher und aufgehoben. Verstehst du?“ Er nickte leicht, doch seine Augen verrieten ihn. Ich schüttelte wieder den Kopf. Meine Hände wurden kalt. Es gab diese eine Erklärung, die ihm vielleicht endgültig klar machen könnte, dass er alles war, was ich brauchte. Aber konnte ich nach einer Woche so etwas tun? Wir kannten uns noch nicht lange, aber ich hatte ihm bereits gesagt, dass ich das Gefühl hätte ihn seit Jahren zu kennen. Vielleicht war ich mir deshalb meiner Gefühle zu ihm so sicher. Aber würde er dasselbe fühlen? Ich war mir nicht sicher und wollte ihn nicht vollkommen vertreiben. Doch als ich seine Augen sah, da wurde mir klar, dass er es erfahren musste. Jetzt und hier, in der Schulcafeteria. Also erzählen durfte ich das später niemandem, wie unromantisch. Aber wir waren ja auch kein normales Pärchen, oder? Der Wolf und das Mädchen, wie er am Sonntag sagte. Erst vor zwei Tagen und mir kam es schon viel länger vor. „Sieh mich an, Taylor.“ Er reagierte nicht. „Bitte, Taylor, sieh mich an.“ Jetzt hob er den Kopf und ich atmete tief durch. „Weißt du, es gibt noch einen Grund, weswegen ich bei dir sein will.“ „Und der wäre?“ Ich spürte viele Blicke der Schülerschaft auf uns. Also würde ich es doch nicht hier sagen. Es ging die anderen schließlich nichts an. „Komm mit!“ Während ich seine Hand nahm und ihn mit mir in den Flur zog, schien er die Kälte in meiner Hand zu spüren. Sein Griff wurde fester und da bekam ich den Eindruck, dass er sich wieder einmal um mich sorgte. Wir blieben vor meinem Schließfach stehen und ich sah ihm in die Augen, während ich meine Hände auf seine Brust legte. Es konnte schließlich das letzte Mal sein, dass ich ihm so nahe kommen würde. Wenn er mich abwies, nachdem ich es ihm sagte, würde ich das sehr vermissen, das war mir klar. Ich spürte die Wärme, die von ihm ausging und wieder überkam mich dieses Gefühl zu Hause zu sein. „Der Grund ist… Ach, verdammt! Bitte verstoß mich dafür nicht, okay? Ich… Ich liebe dich! Mehr als alles andere auf dieser Welt. Mehr noch als mein eigenes Leben. Und deshalb finde ich es so furchtbar, dass du denkst, ich wäre nicht gern bei dir. Oder, dass es nur an deiner Anziehungskraft liegt.“ „Du…?“ „Ja.“ Er hatte seine Gefühle und vor allen Dingen seine Kraft immer unter Kontrolle, doch jetzt brach all das aus ihm heraus. Ich hatte noch nie erlebt, dass er so öffentlich zeigte, was er fühlte. Und ich war sehr froh, dass ich ihn in den Schulflur gezogen hatte. Denn er küsste mich mit einer Intensität, dass es mich traf wie ein Blitz. Er drückte mich mit dem Rücken gegen die Schließfächer und presste mich gleichzeitig fester an sich. Unvorstellbar, wie er das machte, aber es war so, ich schwöre. Seine Lippen und die Zunge jedoch waren dabei so sanft, dass all die Hitze, die ich vorhin verloren hatte, mit einem Mal wieder zurückkam. Ich brannte förmlich und schlang meine Arme um seinen Hals. Während ich bereits das Gefühl hatte, den Boden unter den Füßen zu verlieren, küsste er mich noch immer. Und dann hörten wir beide das leise Knacken und mich durchfuhr keine Hitze mehr, sondern ein stechender Schmerz in der rechten Seite. „Oh Gott…“, stieß er hervor und ich unterdrückte ein schmerzerfülltes Stöhnen, um es ihm nicht noch schwerer zu machen. Er wich sofort ein paar Schritte zurück und mir tat es leid, dass ich nicht stärker war. Nur ein einfacher Mensch. Ich bewegte mich nicht, weil ich nicht wusste, wie viel schlimmer es dadurch werden würde. Aber es musste eine der Rippen gewesen sein, das ahnte ich bereits. „Lilly, es…“ „Wenn du jetzt die Worte aussprichst, die ich denke, dass du sie sagen willst, vergiss es. Höre ich auch nur etwas von dir, dass annähernd so klingt, dann kannst du dich auf was gefasst machen. Wärst du jetzt, bitte, so nett und bringst mich zur Schulschwester?“ Meine Lippen fühlten sich heiß an und ich bedauerte es sehr, dass eine meiner Rippen unter seiner Umarmung nachgegeben hatte. Wir hätten sonst wahrscheinlich noch immer dort gestanden und uns geküsst. Taylor näherte sich ganz vorsichtig und begann dann wieder: „Lilly, ich…“ Ich hob nur einen Zeigefinger und warf ihm den strengsten Blick zu, den ich in dieser Situation zustande bekam. Er griff nach meiner Hand und langsam machten wir uns auf den Weg ins Krankenzimmer. Nach einigen Schritten sagte ich: „Du hast nicht geantwortet!“ „Oh, habe ich nicht?“ Er sprach ganz leise und unterdrückte ein Lachen. „Nein.“ „Nun, obwohl der Gefühlsausbruch dir wahrscheinlich klar gemacht haben wird, was ich denke… Ich liebe dich auch.“ „Es ist noch viel schöner es zu hören, als nur…“ Fast hätte ich fühlen gesagt, aber das würde er wohl falsch verstehen und so meinte ich rasch: „Als es mit Küssen gezeigt zu bekommen.“ „Haarscharf die Kurve genommen, was?“ Ich wusste es. Er kannte mich einfach zu gut, wie ein offenes Buch. Taylor klopfte leise an die Tür und Mrs. Porter, eine nette Frau Mitte 30, öffnete. Sie hatte hellbraunes Haar, das sie sich immer hochsteckte und eine frauliche Figur. Ihre grauen Augen musterten mein angestrengtes Gesicht und dann Taylor, der mich nur an der Hand hielt. „Was hast du denn angestellt, Lilly?“ „Ich habe mich hinreißen lassen.“ Sie schob ihre Augenbrauen dicht zueinander und ich versuchte zu lächeln. Ich würde gewiss nicht erzählen, was wir angestellt hatten. Das wäre das erste, was hier im Schulgebäude dann die Runde machen würde. Mrs. Porter war keine Klatschtante, aber wenn ich ehrlich war, war das doch eine urkomische Geschichte. „Na dann, kommt mal rein. Ich werde mir mal ansehen, wozu du dich hast hinreißen lassen.“

 

Ich brauchte ein paar Anläufe, um mich auf die Liege zu setzen und ich erkannte an ihrem Blick, dass sie bereits wusste, was mir fehlte. Taylor hatte vor der Tür bereits meine Hand losgelassen und hielt sich jetzt dezent im Hintergrund. Ihm schien das ganze noch immer sehr leid zu tun, aber ich war ja auch verantwortlich. Und ich war gewiss nicht so dumm, ihm dafür die Schuld zu geben. Er hatte mich doch nur etwas stürmischer umarmt und geküsst und ein paar Sekunden nicht aufgepasst. Wir würden aus diesem Fehler lernen und es nicht wiederholen. Obwohl mir das gar nicht gefiel, es nicht noch mal zu tun, meine ich. Es war schließlich ein Wahnsinnsgefühl gewesen. „Meinst du, du kriegst dein Shirt ein bisschen gehoben? Ich würde gern das ganze Ausmaß sehen…“ „Sicher, ich versuche es.“ Zusammen gelang es uns und ich sah, dass Taylor vermied mich anzusehen. Er betrachtete die Bilder und Plakate an den Wänden. Es wäre mir nicht peinlich gewesen, wenn er zugesehen hätte, aber er war eben ein Gentleman. „Oh je…“ Jetzt blickte er aufmerksam zu mir und betrachtete ängstlich mein Gesicht. „Du hast dir eine Rippe angebrochen und da“, Mrs. Porter strich sanft über eine große Stelle an meiner rechten Seite, „wirst du einen ordentlich blauen Fleck bekommen.“ „Dann bekomme ich eine Sportbefreiung, ja?“ „Hast du es darauf etwa angelegt?“ „Nein, aber das ist ein sehr angenehmer Nebeneffekt.“ Mrs. Porter lachte leise und melodisch. Jeder wusste, dass Knochenbrecher die Lehrerin für Sport bei den Mädchen war. „Ich werde dir eine Salbe mitgeben, damit schmierst du die Stelle schön ein. Leider kann ich dir sonst nicht helfen. Eine Stütze oder so, wird da nicht viel bringen. Mit einem Verband würdest du dich nur sehr schlecht bewegen können. Du musst einfach vorsichtig sein. Keine ruckartigen Bewegungen oder Sprünge, klar? Bis es verheilt ist. Aber lass deinen Vater heute Abend noch mal drüber sehen.“ „Wie lange kann das dauern?“, fragte nun Taylor mit belegter Stimme. „Ein bis zwei Wochen. Die Salbe nur nutzen, wenn es wirklich wehtut und am besten abends vor dem zu Bett gehen.“ „Ist gut.“ Ich zog den Pullover wieder herunter und Taylor half mir vorsichtig, ohne mich so oft wie nötig zu berühren, von der Liege. Die Schulschwester reichte mir die kleine Packung mit der Salbe und die zweiwöchige Sportbefreiung. „Sollte es nach zwei Wochen immer noch wehtun, kommst du noch mal her. Dann einen schönen Tag euch beiden und sei bitte vorsichtig, Lilly.“ „Na klar, ebenso einen schönen Tag.“ Taylor nickte ihr nur zu und als die Tür wieder ins Schloss klickte, blickte er mich besorgt an. „Dann wirst du wohl nicht mit zu mir kommen?“ „Ach, du bist ja mit dem Motorrad hier. Das habe ich vergessen.“ „Nein, bin ich nicht. Ich bin mit Auto gefahren, aber du sollst doch vorsichtig sein.“ „Keine ruckartigen Bewegungen“, berichtigte ich ihn. „Und das hatte ich auch nicht vor. Bei euch werde ich mich ganz still auf einen der Sessel hocken und…ein Buch lesen. Davon habt ihr doch genug.“ Er verdrehte die Augen, lächelte dabei jedoch. „Du bist einfach unbelehrbar.“ „Ja, und das macht mich so unwiderstehlich, nicht wahr?“ Ich reckte ihm mein Kinn entgegen und er hauchte mir einen Kuss auf die Lippen. „Wir sollten das nächste Mal jedoch vorsichtiger sein. Es muss ja nicht immer gleich mit an- beziehungsweise vollständig gebrochenen Knochen enden.“ „Ach, so schlimm ist das gar nicht. Übung macht den Meister. Vielleicht wiederholen wir es doch noch mal und machen dabei alles richtig. Wir wissen ja jetzt, worauf wir achten müssen.“ Gemeinsam gingen wir zum Biologieunterricht, wo ich unser Fehlen mit meiner Tollpatschigkeit und dem Beweis der Krankenschwester entschuldigte. Dann standen wir vor den letzten zwei freien Plätzen und ich sah schon die nächste Schwierigkeit auf mich zukommen, doch Taylor reagierte sofort. Ganz vorsichtig griff er mit beiden Händen an meine Hüfte und hob mich, ohne die Miene zu verziehen, auf meinen Platz. Die Tische und Stühle waren höher als gewöhnlich, da hier auch die Experimente in Bio und Chemie durchgeführt wurden. Ich blickte ihm überrascht ins Gesicht. „Danke!“ „Keine Ursache.“ Es war herrlich mit ihm eine ganze Stunde zu verbringen. Sonst saßen wir immer mit anderen Mitschülern zusammen oder hatten getrennt Unterricht, so wie in Mathe. Aber ihm so nah zu sein und nichts tun zu können, was ich wahrscheinlich getan hätte, wären wir bei ihm oder mir allein gewesen, war auch echte Folter. Ich spürte seine Wärme und lauschte gelegentlich seinem Atem. „In der nächsten Stunde werden wir uns ein Video zum heutigen Unterrichtsthema ansehen. Sie brauchen also Ihre Schulbücher nicht mitzubringen“, verkündete der Lehrer und riss mich so aus meinen angenehmen Gedanken. Die Klasse war begeistert und ich lächelte still in mich hinein. ‚Das wird eine wunderbare Woche‘, dachte ich und ließ mir nichts anmerken als Taylor mich kurz ansah.

 

Zu viert gingen wir nach der Stunde Richtung Sporthalle. Ms. Edwards und Coach Turner hatten mit einem anderen Lehrer die Stunden getauscht, damit sie am Donnerstag zu einer Weiterbildung fahren konnten. Carly und Kelly hatte ich nicht die wahre Geschichte erzählt, wie ich zu der angebrochenen Rippe kam. Sie hätten mir sowieso nicht geglaubt, dass Taylor so stark war, dass er das einfach so mit mir machen konnte. Stattdessen behauptete ich, dass ich unglücklich auf dem Flur ausgerutscht und gegen mein Schließfach geprallt war, ehe ich sicheren Halt finden konnte. Sie wussten, dass ich gelegentlich zur Tollpatschigkeit neigte, doch ganz kurz hatte ich das Gefühl, als würden sie mir die Geschichte nicht ganz abkaufen. Ein sehr seltsames Lächeln auf ihren Gesichtern veranlasste mich kurz dazu die Augenbrauen zusammen zu ziehen, doch Taylor nahm meine Hand und ich vergaß es schnell. Erst jetzt, wo ich auf den Flur achtete, fiel mir das ganze Getuschel auf, das uns folgte. Ein paar der Schüler hielten die Zeitungen von heute Morgen noch in der Hand und mir wurde klar, worüber sie sich die Münder zerrissen. Das sich manche Dinge immer dann in den Vordergrund drängten, wenn man sie überhaupt nicht gebrauchen konnte… „Was ist denn hier los?“, fragte Taylor leise, sah erst mich und dann Carly und Kelly an. Die beiden waren sich nicht sicher, ob ich wollte, dass er es weiß und drucksten herum. Ich hätte wissen müssen, dass er nichts davon mitbekommen hatte. Schon heute Morgen, denn sonst wäre er vielleicht etwas zerknirschter gewesen. Er machte sich immer solche Sorgen um mich, dass es mir gleich hätte auffallen müssen. „Farrah hat ihren ersten Artikel in der Schülerzeitung veröffentlicht“, seufzte ich und vermied es ihn direkt anzusehen. „Und was hat das mit dem Getuschel zu tun…?“ Er schien selbst bemerkt zu haben, dass er sich die Frage allein beantworten konnte. „Was genau steht drin?“ Sein Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig und er klang kühl. „Ich habe ihn nicht gelesen. Die Überschrift kenne ich, aber ich gebe nicht viel darauf, was die anderen Schüler über mich denken. Meine Freunde wissen, dass es nicht die Wahrheit ist, das reicht vollkommen.“ So als hätte er mir überhaupt nicht zugehört, fragte er: „Die Überschrift lautet wie?“ Jetzt war es Carly, die ihm antwortete. Sie schien Angst vor ihm zu bekommen. „Verrückt, Lehrers Liebling und Mitläuferin: Die Geschichte der Lillian Connor - Teil 1. Aber frag mich nicht, wie viele Teile da noch kommen sollen.“ „Wieso hast du mir nichts gesagt heute Morgen?“, fragte er mich und sein Griff um meine Hand verstärkte sich leicht. „Weil es egal ist, was sie schreibt. Wenn sie meint, dass sie so einen Kindergarten veranstalten muss, soll sie es tun. Was kümmert es mich? In einem Jahr bin ich sowieso von hier weg, ergo auch von ihr.“ „Das heißt, du würdest noch ein Jahr lang zulassen, dass sie solche erdachten Geschichten veröffentlicht?“ „Irgendwann verliert sie das Interesse daran, mich zu nerven.“ „Und was ist, wenn es nicht aufhört sondern schlimmer wird? Willst du das auch dulden?“ „Sie hält doch das schon für schlimm. Und mal ehrlich, eine fiktive Geschichte über mich in der Schülerzeitung, ist doch völlig hirnlos. Die meisten Schüler denken das sowieso über mich.“ Wir waren jetzt auf dem Schulgelände und Taylor atmete tief ein. Ich hatte das Gefühl, dass er zitterte und sich stark konzentrieren musste. Waren das die Anzeichen dafür, dass er sich gleich verwandeln würde? Carly und Kelly gingen ein paar Schritte vor uns und bekamen nichts davon mit. „Taylor, alles okay?“, wisperte ich leise und stoppte ihn. Ich streichelte sanft seine Wange. Wir hatten noch genug Zeit, bis die nächste Stunde anfangen würde. Er blickte über mich hinweg und holte einmal kräftig Luft. Dann erst sah er mich an. „Ja, es geht schon. Es bringt mich nur etwas in Rage, wenn ich höre, wie dir jemand schaden will. Das ist alles!“ Wenn er bei Farrah schon so reagierte, wie erst würde er sich verhalten, wenn er von dem Angebot des Wolfes erfuhr? Ich bereute meine Entscheidung nicht, ihm nichts davon gesagt zu haben, dessen wurde ich mir schlagartig bewusst. „Taylor, Farrah ist mir völlig egal. Nichts was sie tut oder sagt verletzt mich. Also beruhig dich, ja? Das ist es nicht wert. Ein Artikel, na und? Selbst wenn noch zwei oder drei Weitere folgen sollten, ist mir auch das vollkommen schnuppe.“ „Sie tut das doch aber nur, weil wir…“ „Soll ich mich deswegen von dir trennen?“ „Du kennst unsere Abmachung.“ „Ich bin aber nicht in Gefahr. Sie ist ein Mensch, der versucht durch Intrigen das zu bekommen, was er will. Sie geht nicht mit dem Messer auf mich los, nur weil es nicht klappt.“ „Da bist du dir sicher?“ Ich sah ihm tief in die Augen und blieb ganz ruhig, als ich nur diese eine Frage stellte: „Willst du denn, dass ich gehe?“ Ganz kurz nur weiteten sich seine Augen, doch er bemerkte, dass ich es völlig ernst meinte. „Um deinetwegen sollte ich es. Aber nein… …Nein, ich Egoist, will es nicht!“ „Dann vertrau mir und vergiss sie. Sie kann mir nicht schaden, okay?“ Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen und ich wusste, dass ich gleich wieder schwach werden würde. Nur ein paar Sekunden länger und ich würde den seichten Schmerz an meinen Rippen vergessen und ihn an mich ziehen. „Ich vertrau dir!“ „Gut, dann lass uns jetzt gehen. Ehe Coach Turner dich extra Runden laufen lässt.“ Das war seine Art seine Schüler leiden zu lassen, wenn sie zu spät zum Unterricht kamen. „Laufen ist befreiend für mich. Es wäre keine Strafe!“ Ganz sachte legte er seinen rechten Arm um meine Schulter und wir gingen zur Sporthalle. Taylor kam noch rechtzeitig zum Sport und ich übergab Knochenbrecher mit ein klein wenig Genugtuung meine Sportbefreiung. Ich setzte mich langsam auf eine der Bänke, von der aus man eine gute Aussicht auf die Seite der Jungs und die der Mädchen hatte. Endlich verstand ich auch, warum Carly so oft an der Mittellinie stehen blieb, um die Jungs zu beobachten.

Es war der Wahnsinn, was die alles für ihre Zensuren leisten mussten, aber erst jetzt fiel mir der durchtrainierte Körper meines Freundes auf. Ich wusste natürlich um seine Bauchmuskeln und die breiten Schultern, aber erst heute hatte ich die Zeit ihn mir ganz genau anzusehen. Er trug ein ärmelloses schwarzes Shirt, dunkelgraue knielange Hosen und schwarze Turnschuhe. Während er eine ganze Menge an verschiedenen Sportgeräten, darunter Doppelbock und Reck, turnte, staunte ich nicht schlecht. Immer wenn er sich mit den Armen irgendwo abstützte oder hochzog, traten die Sehnen hervor und der Bizeps stellte sich auf. Die anderen Jungs sahen dagegen, wie kleine Fähnchen im Wind aus. Kein Wunder, dass ich mich bei ihm so sicher fühlte. Bei den Klimmzügen verzog er nicht einmal die Miene, als er beim Fünfzigsten angekommen war. Seine Mitschüler schnappten schon nach Luft, da sah er immer noch aus, wie das pure Leben. Er musste eine Menge Energie in sich haben und da wunderte es mich auch nicht mehr, wenn er sagte, dass Laufen für ihn befreiend sei. Ich stellte mir vor, wie er als schmiegsamer Wolf durch den Wald huschte. Über die größten Hürden ohne Mühe sprang und dann leichtfüßig auf der anderen Seite ankam. Es musste ein Wahnsinnsgefühl sein, schnell wie der Wind durch das Gehölz zu laufen und auf nichts und niemanden Rücksicht nehmen zu müssen. Ehe diese Gedanken mich zu einem ganz bestimmten Angebot zurück brachten, schüttelte ich leicht den Kopf. Ein Pfiff gellte durch die Halle und Coach Turner unterhielt sich freudestrahlend - ich hatte ihn zuvor noch nie lächeln sehen - mit Taylor. Der nickte nur verständnisvoll und erklärte dem Trainer etwas. Er schien etwas geknickt über die Antwort, doch er verstand es wohl. Die Geräte wurden ab- und ein Volleyballfeld aufgebaut. Coach Turner wollte also seine Revanche.



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