Zum Inhalt der Seite

Der Abgrund starrt zurück

Traumtagebuch der anderen Art
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Spiegel

Manchmal begegnet man Leuten, die man nur nach dem ersten Blick beurteilen sollte. Besieht man sie sich länger kommen sie einem vor wie jeder andere.

In einer Bibliothek zum Beispiel sah ich jemanden dessen Anblick mich heftig frösteln ließ. Als ich länger hinsah dachte ich, totaler Schwachsinn. Der sieht aus wie jeder andere, mit mir stimmt was nicht.

Erst viel später, als die Sonne hinter der Finsternis verschwunden war, und ich allein zu Hause war und mich meiner Gedanken nicht mehr schämen musste (in der Dunkelheit bist du mit deinen Gedanken allein, da kann sie dir keiner mehr ausreden), erinnerte ich mich daran, was ich zuerst gedacht hatte, als ich den Mann (das Wesen) sah: Was auch immer das ist, es ist schon vor langer Zeit gestorben und so sehr von einem ohnmächtigen Hunger nach Leben befallen, dass es diese Welt nicht mehr verlassen kann.
 

Dieser Gedanke jagte mir so eine Angst ein, dass ich die Bibliothek die nächsten Tage mied. Das funktionierte auch ganz gut, wenn auch die Furcht, die mich seit jenem Tag erfasst hatte, immer wieder hoch schwappte. Wenn dies geschah, lenkte ich mich erfolgreich mit alltäglichen Dingen ab. Diese Strategie behielt ich bei, bis mir mit Schrecken bewusst wurde, dass ich ja noch Bücher ausgeliehen hatte.

Da ich mir selbst meine Angst nicht eingestehen wollte, fasste ich allen Mut zusammen und ging in die Bücherei zurück. Ich hatte gehofft, dass dieses Wesen nicht mehr dort auf mich wartete. Nun war das Gebäude voll von ihnen als ich eintrat. An jeder Ecke standen sie und starrten mit ihren glasigen Augen vor sich hin.

Ich wechselte die Räumlichkeiten doch sie standen überall, so dass ich immer tiefer ins Gebäude flüchtete, bis ich mich schließlich verlief. Ich war vor lauter Angst so durcheinander, dass ich nicht mal mehr wusste ob ich mich in einem Obergeschoss oder im Keller befand. Schließlich setzten sich die Leute allesamt in Bewegung und ich folgte ihnen in einem erschöpften Trancezustand.

Der Zug endete in einer großen Halle, an dessen Ende allein sich ein Türgroßer einzelner Spiegel befand. Was ich darin sah, lähmte mich vor Entsetzen. Hatte ich mir bei den Leuten noch einreden können, dass mich meine Wahrnehmung täuschte, so war dieses Vorhaben hier allemal zum Scheitern verurteilt. Was sich im/hinter dem Spiegel befand ließ sich von mir wie folgt beschreiben:

Schwärze, totale Dunkelheit und Schwärze, erhellt von zwei weißen Schlitzen, die V-förmig aufeinander zuliefen und sich zu meinem Grausen als riesige niederträchtig dreinblickende Augen entpuppten. Dann das feuchte Glitzern unter den Augen, schwarze Zähne, grotesk dünn, lang und spitz wie Nadeln.

Schwarz in schwarz, allein durch das verräterische schwache Licht, welches sie reflektierten, sichtbar. Lippenloses Grienen, niederträchtig, zerstörerisch und unsagbar bösartig stierte es mir entgegen.
 

Ich weiß nicht mehr, wie lange ich so gelähmt da stand, doch mit einem Mal ließ ich sämtliche Beherrschung fallen und rannte hinaus. Getrieben von Todesangst flüchtete ich planlos durch die mir unbekannten Gänge. An jeder Ecke schwappte eiskalte Panik in mir hoch, in der Angst, dort könnte ein Spiegel lauern und ich würde nur Zentimeter weit entfernt vor diesen hasserfüllten Augen stehen, gelähmt und den dunklen Mächten hilflos ausgeliefert. Schließlich fand ich einen Seitenausgang zur Straße und taumelte dermaßen erschöpft hinaus, dass ich mich keuchend an einer Straßenlaterne festhalten musste.

Die Sonne ließ ein mildes Licht durch die umstehenden Gebäude scheinen. Ein paar der vorbeieilenden Passanten warfen mir misstrauische Blicke zu und gingen dann kopfschüttelnd weiter.

Einen schrecklichen Moment lang dachte ich, das läge daran, dass ich nun auch die Augen eines Toten hätte. Dann stellte ich jedoch fest, dass ich mich ohne es zu bemerken voll gepinkelt hatte. Zitternd löste ich meine vor Schweiß triefenden Hände vom Laternenfahl und atmete durch. Schließlich gewann die Scham über meine besudelte Hose die Oberhand und ich ging heim, sehr darauf bedacht, den Blick gesenkt zu halten um nicht versehentlich in ein Schaufenster zu blicken.

Noch bevor ich daheim die Hose auszog, zerstörte ich dort sämtliche Spiegel ohne hineinzublicken.
 

Mittlerweile geht es mir wieder ganz gut. Ich erledige meine Arbeit regelmäßig und treffe mich mit meinem Freundeskreis. Nur rasieren lasse ich mich nun beim Frisör, den Spiegel im Rücken. Auch größere Veranstaltungen und sonstige Tätigkeiten in denen mir ein Spiegel begegnen könnte meide ich. Insgesamt könnte man sagen, dass ich gegen meinen Willen so ziemlich von der Außenwelt abgeschottet lebe. Aber mittlerweile bin ich ganz zufrieden damit, denn ich bin mir sicher, dass es weitaus Schlimmeres gibt. Ja. Viel Schlimmeres.

Und wenn ich nachts den Halbmond und die Sterne wie ein Auge umgeben von vielen funkelnden schwarzen Zähnen durch mein Fenster scheinen sehe, weiß ich, dass es der gleiche schweißnasse Traum sein wird, der mich in dieser Nacht empfangen wird. Ich hetze durch ein Labyrinth aus fremden Gängen und an einer Biegung erwartet mich die finstere Gestalt, ein Zähne fletschendes Gesicht umgeben von einem Rahmen. Und meine letzten schreienden Gedanken sind: Nun ist es geschehen! Du bist geflohen, du wolltest dich schützen, du hast auf alles Erdenkliche im Leben verzichtet und an alles gedacht und nun war alles umsonst. Alles vertan, vertan, vertan…


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich gebe zu, ich habe keine Angst vor Spiegeln.
Respekt ist vielleicht eher das richtige Wort. Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  EsmaChan
2016-08-26T16:52:12+00:00 26.08.2016 18:52
Ich mag die Story richtig. Einfach, weil du den Traum wahrscheinlich genauso aufgeschrieben hast, wie du ihn geträumt hast. Komisches Zeug träumt jeder mal, aber die meisten schreibens nicht auf.
Den Einstieg mag ich total. Schließlich sollte der erste Eindruck immer noch am wichtigsten sein. (persönliche Meinung)
Anfangs war ich noch eher verwirrt, was du genau mit dem Wesen meinst. Gegen Ende war es dann klarer.
Ich finde es super, wie du die Spiegel mit in die Story bringst, die haben schon ganz was Gruseliges an sich. (Hast du eigentlich echt keine Spiegel zu Hause? xD)
Dein Ausdruck gefällt mir.
LG Elena
Für mehr Kommentare auf Animexx
Antwort von:  ElCidIV
27.08.2016 01:35
Oh, vielen Dank.
Ich versuche regelmäßig Traumtagebuch zu führen.
Ja, Spiegel sind schon seltsam.
Da gibt es dieses Gerücht, dass, wenn man im Dunkeln und nur mit einer Kerze beleuchtet, sein Spiegelbild betrachtet, dann verändert sich das Gesicht immer grotesker.
Soll irgendwie mit der menschlichen Psyche zu tun haben.
Mit der Kerze habe ich das noch nie probiert, ich weiß nur noch, dass ich als Kleinkind von Spiegeln besessen war.
Habe stundenlang davor gestanden und nur mein Gesicht angesehen. Auch im Dunkeln.
Auch wenn wir irgendwo zu Besuch waren.
Meiner Familie war das richtig unheimlich.
Mittlerweile mag ich Spiegel nicht mehr so. Nicht wegen dem Traum, sondern einfach, weil ich befürchte, mich körperlich zu verändern. (Leichte Hypochendrie).


Zurück