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Schwarzer Komet

Drachengesang und Sternentanz - Teil 1
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Und schon ist eine Woche um!

Dieses Kapitel hier macht einen Zeitsprung und läutet damit eine längere Episode aus insgesamt 14 Kapiteln ein, die erzählen, was vor dem Prolog passiert ist. Gleichzeitig gehört dieses Kapitel zu einer siebenteiligen Reihe von Kapiteln, die die Hauptcharaktere vorstellen sollen. Das nur mal zur Warnung.

Viel Spaß beim Lesen! Komplett anzeigen

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Der Tag, an dem sie ihm begegnete

20 Jahre vor der Opferung
 

Am Morgen des Tages, als sich alles verändern sollte, fühlte Lucy sich schlapp und zog sich zunächst wieder die Decke über den Kopf, als Tante Spetto in ihr Zimmer kam. Etwas würde heute geschehen, das spürte die Fünfjährige, und sie hoffte, dass es einfach an ihr vorüber zöge, wenn sie nur im Bett blieb. Aber Tante Spetto spürte nichts und sie wollte ihr Mündel aller Umstände zum Trotz nicht den ganzen Tag faulenzen lassen. Sie trieb Lucy gnadenlos aus dem Bett und half ihr bei der Morgentoilette.

„Es wird schon alles gut werden, junges Fräulein“, sagte sie gutmütig und band eine Schleife in das blonde Haar.

Lucy blickte ihre Amme wortlos durch den Spiegel an und fragte sich, warum alle ihr das schon seit Wochen immer wieder sagten. Glaubten sie wirklich, das Offensichtliche vor dem Mädchen verbergen zu können? Oder wollten sie es selbst nicht wahrhaben? Das konnte Lucy sogar verstehen. Immerhin hatte sie Wochen lang einfach mitgespielt und sich von ihnen beruhigen und froh stimmen lassen.

Doch heute war es anders. Heute hatte Lucy so ein flaues Gefühl, über das ihr Tante Spettos liebe Aufmunterungsversuche nicht hinweg helfen konnten.

Sie folgte der Amme artig ins Speisezimmer, obwohl sie gar keinen Appetit hatte. Aed, der Küchenmeister, der Lucy immer naschen ließ, wenn sie sich in sein Heiligtum schlich, stand mit einer Auswahl von Lucys Lieblingskuchen bereit und begrüßte sie mit seinem warmen, runzligen Lächeln.

Lucy versuchte, das Lächeln zu erwidern, aber sie brachte nur eine Grimasse zustande und ihr Blick huschte zum Platz an der Stirnseite des Tisches. Dort stand kein Frühstücksgedeck.

„Wo ist Papa?“

Aed und Tante Spetto warfen einander jene Art von Blick zu, die Lucy grundzuwider war, denn sie verstand zwar, dass sie einander damit irgendetwas sagten, aber sie verstand nicht, was sie meinten. Nur eines verstand sie: Sie verschwiegen ihr etwas.

„Du solltest erst einmal ordentlich frühstücken, dann kannst du ihn sicher sehen“, erklärte Tante Spetto besänftigend und ergriff die Hand des Mädchens, um es zum Tisch zu ziehen.

Doch Lucy entzog der Amme ihre Hand wieder und ging einen Schritt rückwärts. Ihr Blick wanderte ängstlich zwischen Aed und Tante Spetto hin und her.

„Er ist bei Mama, oder?“

Keiner der Beiden sagte etwas, aber ihre Augen wirkten schrecklich traurig. Das feuerte Lucys Angst noch mehr an. Sie wirbelte herum und rannte aus dem Speisezimmer heraus. Tante Spetto rief ihr hinterher, aber Lucy hielt nicht an. Sie rannte den langen Flur entlang bis zu dessen Ende. Dort war das Runde Zimmer, das Studierzimmer ihrer Mutter.

Als Lucy die schwere Holztür mühsam aufstemmte, fand sie ihren Vater am Bett sitzend vor, das seit einigen Wochen hier stand. Etwas entfernt vom Bett standen mehrere Personen. Capricorn, der Leibwächter ihrer Mutter, wirkte steif und angestrengt. Meister Crux, sonst immer so verschlafen, war hellwach, die Miene furchtbar ernst. Sogar Aquarius war da, dabei hasste sie es, an Land zu kommen, das wusste sogar Lucy. Ihre sonst so strenge Miene war nun traurig.

Lucy eilte zum Bett und kletterte darauf. Ihr Vater zuckte zusammen und machte Anstalten, sie am Arm zu packen. Sein Gesichtsausdruck bereitete Lucy noch mehr Angst und sie krabbelte auf die andere Seite des Bettes, um aus seiner Reichweite zu kommen.

„Lucy, du solltest-“

„Jude…“

Es dauerte einige Sekunden, bis Lucy begriff, dass das schwache Hauchen, das ihren Vater sofort hatte verstummen lassen, aus dem Mund ihrer Mutter gekommen war. Verstört blickte Lucy auf das bleiche, magere Gesicht hinunter, das sich kaum vom Kissen abhob, und suchte darin nach dem zärtlichen, stets geheimnisvollen Lächeln, das sie seit jeher von ihrer Mutter kannte. Doch sie fand nur Müdigkeit und etwas, was sie nicht so recht beschreiben konnte. Vielleicht war es Angst? Oder hatte ihre Mutter Schmerzen?

Zaghaft legte Lucy ihre Hand in die ihrer Mutter, aber der zärtlich-starke Griff der mütterlichen Finger blieb aus.

„Mama, was passiert mit dir?“, jammerte Lucy und hob die Hand an ihre Wange, um den Geruch ihrer Mutter einzuatmen, doch selbst der schien verschwunden zu sein. An seine Stelle war ein muffiger, beinahe ekliger Geruch getreten. Lucy fühlte sich an damals erinnert, als sie sich verbotenerweise auf den Dachboden geschlichen und dort einen Schrank gefunden hatte, voll mit sehr seltsamen Kleidern. Als sie erwischt worden war, hatte man ihr erklärt, dass es die Kleider ihrer Uroma waren. Doch wieso roch ihre Mutter jetzt so…?

„Lucy… du bist… doch schon ein… e-ein großes… Mädchen…“

Die Fünfjährige musste sich wirklich anstrengen, um ihre Mutter zu verstehen. Unwillkürlich straffte sie die Schultern, wie Capricorn es gerade tat und nickte ruckartig.

„Du m-musst jetzt… stark sein…“, begann Layla mühsam, dann entfuhr ihr ein Keuchen und sie kniff die Augen zusammen. Es war, als schrumpfe sie vor aller Augen in sich zusammen. Mit jedem Atemzug wurde sie magerer und blasser. Beinahe kam es Lucy so vor, als würde ihre Mutter unsichtbar. Zitternd klammerte sie sich an die Hand ihrer Mutter und versuchte, nicht zu blinzeln, damit die Tränen nicht über ihre Wangen rannen.

„Ich muss… dir etwas… s-sagen…“ Wieder kniff Layla die Augen zusammen und der Schmerz grub sich so tief in ihr Gesicht, dass es auch Lucy weh tat. Layla öffnete die Augen wieder und drehte stockend den Kopf, bis sie ihren Mann anblicken konnte. „Vergiss es nicht… Sie muss es wissen… wenn sie alt genug ist…“

Jude tat einen langen, schweren Atemzug, der Lucy noch mehr zittern ließ. Waren das Tränen in seinen Augen?

Lucy kroch wieder über das Bett und auf den Schoß ihres Vaters, ihr angestammter Platz. Hier zu sitzen war richtig und wichtig. Es rückte die Dinge wieder ein Stück weit ins rechte Licht. Sofort schlang Jude die Arme um sie. Der Schatten eines Lächelns erhellte Laylas trübe Augen bei diesem Anblick.

„Ich… liebe euch…“, seufzte die Fürstin und ihre Lider sanken nieder.

Lucy spürte das Zittern ihres Vaters und dann tropfte etwas auf ihren Nacken. Sie versuchte, zu begreifen, wieso er weinte, wo sich ihre Mutter doch endlich wieder entspannte. Sie lag ganz friedlich da und lächelte sogar. Wieso machte das ihren Vater so traurig?

Und wieso verschwamm ihr Sichtfeld immer mehr…?
 

3 Wochen vor der Opferung
 

„Lucy…? Lucy!“

Abrupt zog die junge Frau am Zügel und blickte verwirrt auf. Direkt vor ihrer Fuchsstute stand Loke mit seinem großen Rappen. Seine Miene kündete von Verwirrung und einem Hauch von Sorge. Aus dem Augenwinkel bemerkte Lucy die Pferde der restlichen Reisegruppe. Sie hielten sich zurück, wahrscheinlich auf Lokes Geheiß hin.

„Lucy, ist alles in Ordnung?“

„Ja, ich… war nur in Gedanken…“, erklärte Lucy gedehnt.

Das war nicht gelogen, aber es war auch nur die halbe Wahrheit. Seit ihrem Aufbruch von Crocus fühlte sie sich angespannt und schwermütig. Die Vorstellung, nach Heartfilia zurück zu kehren und die Verantwortung der Fürstenwürde zu übernehmen, welche ihr Vater als Regent zwei Dekaden lang für sie getragen hatte, erfüllte sie gleichermaßen mit Stolz und Beklemmung. Sie wollte das jahrhundertealte Erbe ihrer Ahnen fortsetzen, wollte ihrem Namen Ehre machen und den Einwohnern Heartfilias eine gute Fürstin sein.

Doch sie hatte in Crocus gesehen, wie ihr Leben aussehen könnte, wenn sie nicht die Pflichten einer Fürstin tragen müsste. Sie hatte sich in der gelehrsamen Atmosphäre der Universität von Crocus so gut eingelebt, dass ihr der Abschied davon beinahe wie eine physische Verwundung vorgekommen war. Für ihr Erbe musste sie einigen ihrer teuer gewordenen Freiheiten abschwören. Das kostete sie eine Menge Überwindung.

An seinem Blick merkte Lucy ihrem Freund an, dass er sich noch immer um sie sorgte. Sie kannten einander nun schon seit fünfzehn Jahren, das machte sich bemerkbar. Nicht umsonst hatte sie ihn vor ihrer ersten Reise nach Crocus als ihren Schild und Schwert auserkoren.

Sie lächelte matt. „Ich musste nur daran denken, dass ein Teil von mir gerne in Crocus geblieben wäre“, gestand sie.

Loke lenkte seinen Rappen neben ihre Fuchsstute und ergriff eine ihrer Hände, um sie aufmunternd zu drücken. „Meister Capricorn hätte sicher bessere Worte dafür, aber ich denke, gerade dass du dennoch aufgebrochen bist, beweist, dass du eine gute Fürstin für Heartfilia sein wirst. Ich für meinen Teil wusste das schon, als ich dich in Meister Capricorns Unterricht über den Hof gejagt habe“, fügte er mit einem verschmitzten Grinsen hinzu.

Lucy verdrehte die Augen, konnte jedoch nicht anders, als ebenfalls zu grinsen. „Ich hätte dich niemals mit nach Crocus nehmen sollen. Fernab von Aries’ Einfluss verkommst du zum Süßholzraspler!“

Als wäre er schwer getroffen, legte Loke sich eine Hand auf die Brust und schüttelte theatralisch den Kopf, musste jedoch gleich wieder grinsen. Lucy lachte leise. Auch wenn sie immer noch Zweifel hegte, hatten ihr Lokes Worte gut getan.

Eigentlich war er kein Mann großer Worte, aber wenn es darauf ankam, fand er für Lucy immer die richtigen. Ein Zeugnis ihrer langjährigen Freundschaft. Er beschützte sie nicht nur, weil sie die neue Fürstin von Heartfilia war, und sie hatte ihn nicht nur als ihren Schild und Schwert ausgewählt, weil er mit Abstand der Beste von Capricorns Schülern gewesen war.

Sie nahmen Beide ihre Zügel wieder auf und lenkten ihre Pferde die Straße weiter, die sich durch den hügeligen Wald des nördlichen Zipfels von Magnolia schlängelte. Uralte Eichen und Linden flankierten die Straße, die zu befestigen man sich nie die Mühe gemacht hatte. Händler und andere Reisende, die auf ein Gespann angewiesen waren, wählten sowieso lieber den Weg mitten durch Magnolia hindurch, der zwar länger war, aber durch die vielgerühmten Zunftdörfer und schließlich auch durch die Hauptstadt des Fürstentums führte.

Finken, Sperlinge und Meisen trällerten und tschilpten ihre Lieder und das Lachen eines Grünspechts hallte weithin durch den Wald. Ein Hase wurde von ihren Pferden aufgescheuchte und rannte Haken schlagend davon. Eichhörnchen hielten wie erstarrt auf ihren Ästen inne, wenn sie der Reiter gewahr wurden. Über sich hörte Lucy den Schrei eines Mäusebussards. Ein Fuchs huschte schnell über den Weg. Weiter entfernt war Rotbauchunken zu vernehmen.

Schließlich zügelte Lucy ihr Pferd wieder und spähte durch dichtes Gebüsch hindurch zu einer nahen Lichtung, auf welcher eine große, gesunde Hirschkuh erschien, die sich sorgsam umsah, ehe ihr mehrere Kühe mit Kälbern auf die Lichtung folgten. Eines der Jungtiere war noch sehr unbeholfen mit seinen langen Beinen und stakste zittrig hinter seiner Mutter her, welche immer nur einige Schritte ging, sich nach ihrem Nachwuchs umsah und dann wieder äste. Schließlich holte das Kleine auf und schnupperte gierig nach dem prallen Euter. Es brauchte mehrere Versuche, aber dann erzitterte es wohlig und sein Schmatzen gesellte sich zum zarten Geräuschkonzert des Waldes.

Behutsam schmiegte Lucy ihre Stiefel in den Bauch ihres treuen Pferdes und ritt gemächlich weiter, erfüllt von Frieden und Seligkeit. Loke und die Anderen folgten ihr schweigend. Scorpio bildete wieder die Vorhut, Loke und Gemini flankierten Lucy und Sagittarius ritt am Schluss, wobei er das Packpferde mitführte. Auf Geminis Sattelhorn saß Plue, ein kleiner hellblauer Wesensgeist mit orangefarbener, spitzer Nase und schwarzen Knopfaugen. Von Zeit zu Zeit gab er ein leises „Pun!“ von sich, als wollte er darauf hinweisen, dass er auch noch da war.

Lucy musste jedes Mal lächeln, wenn sie den kleinen Geist hörte. Niemand wusste, woher Plue kam, er war einfach vor vier Jahren vor Lucy und ihrer Eskorte aufgetaucht, als sie für einen Heimatbesuch auf dem Weg nach Heartfilia gewesen waren, und folgte ihnen seitdem auf Schritt und Tritt. Alles, was er sagen konnte, war „Pun“ und es war unklar, wie viel er von dem verstand, was zu ihm gesagt wurde. Dennoch – oder vielleicht auch gerade deswegen – gehörte Plue einfach dazu.

Das mächtige Rufen eines Seeadlers ließ Plue zusammen zucken. Die Anderen hätten gar nicht weiter darauf geachtet – die mächtigen Greifvögel waren in dieser Gegend nicht selten, weil sei in den nördlich gelegenen Sümpfen viele Gänse ergattern konnten –, wenn nicht ein schriller Schrei gefolgt wäre.

„Dort!“, sagte Sagittarius, der von ihnen allen die schärfsten Augen hatte. Seine Hand glitt automatisch zu seinem Reitbogen.

Es dauerte einige Sekunden, bis Lucy begriff, was sie sah: Ein wunderschöner Seeadler, dem reinweißen Stoß nach ausgewachsen, der in seinen Klauen etwas Blaues hielt, das wild strampelte und offensichtlich auch die Quelle des Geschreis war.

„Ein Exceed“, murmelte Loke und nickte Sagittarius zu, welcher nun einen Pfeil aus seinem Sattelköcher zog.

„Es ist nicht notwendig, den Adler zu verletzen“, widersprach Lucy und drehte sich im Sattel, um Gemini anzublicken, welcher angesäuert das Gesicht verzog.

„Wir hassen es, uns in Tiere zu verwandeln“, murrte er, hob Plue jedoch zu Lucy hinüber und saß ab. Er nahm seinen Schwertgurt ab und übereichte ihn zusammen mit den Zügeln seines Pferdes Loke.

Dann legte er beide Hände zusammen und schloss konzentriert die Augen. Ohne Vorwarnung verschwand er in einer Dampfwolke und noch ehe diese sich verflüchtigen konnte, brach daraus ein Seeadler hervor und tat mehrere schwankende Flügelschläge, ehe er sich fing und schnell an Höhe gewann. Lucy und die Anderen hatten Mühe, ihre Pferde wieder zu beruhigen.

Als Lucy wieder aufblicken konnte, hatte Gemini den Seeadler und seine Beute bereits erreicht. Beide Greifvögel stießen Schreie aus, es gab ein Getümmel aus Flügeln in der Luft, dann sah Lucy den blauen Exceed fallen. Scorpio reagierte am schnellsten und gab seinem Pferd die Sporen. Irgendwie schaffte er es, das Katzenwesen aufzufangen.

Lucy blickte erneut auf. Gemini hatte sich in eine Dohle verwandelt und flog dem erbosten Seeadler flink davon, welcher dazu überging, Kreise zu ziehen, um seine Beute wieder zu finden. Die Dohle landete auf dem Weg und verwandelte sich wieder in einen braunhaarigen, großgewachsenen Soldaten Heartfilias mit Dreitagebart und nun auch mit tiefen Schatten unter den Augen.

Er richtete sich aus seiner Hockstellung auf und blickte zu Scorpio. „Lebt er noch?“

Sie saßen alle ab und scharten sich um Scorpio, um den Exceed zu betrachten. Über den Rücken des blauen Katers zogen sich sechs Striemen, wo die Krallen des Seeadlers ihn gepackt gehalten hatten. Zu Lucys Erleichterung schienen sie alle nicht lebensgefährlich zu sein.

Behutsam nahm sie den Exceed von Scorpio entgegen und ließ sich mit ihm am Boden nieder, wo Loke bereits eine Decke ausgebreitet hatte. Die Soldaten wussten sofort, was zu tun war. Sagittarius kümmerte sich um die Pferde, Loke holte den Medizinbeutel vom Rücken des Packpferdes und Scorpio entkorkte bereits den Wasserschlauch. Gemini ließ sich einfach auf den Hosenboden plumpsen und begann, ein Stück Brot zu verschlingen.

Sich in einen Menschen zu verwandeln, bereitete Gemini wenige Schwierigkeiten. Er konnte in menschlicher Gestalt sogar schlafen und kämpfen. Tierverwandlungen fielen ihm ungleich schwerer und zehrten an seinen Magiereserven. Dass Gemini jetzt so erschöpft war, tat Lucy Leid, aber sie hätte sich schlecht dabei gefühlt, den Seeadler töten zu lassen, obwohl es gar nicht notwendig gewesen wäre. Lucy nahm sich vor, Gemini mit einem Meisterwerk aus Aeds Küche zu danken, sobald sie wieder in Heartfilia waren.

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den bewusstlosen Exceed. Er war noch sehr jung, hatte wohl zwischen zehn und fünfzehn Sommer erlebt. Es war bei Exceed schwierig, ihr genaues Alter zu erraten. Sie waren erst mit etwa zwanzig Jahren ausgewachsen. Dieser hier war nach Exceed-Maßstäben noch ein Kind, so viel war sicher. Damit war er etwas Besonderes, wie Lucy wusste. Seit der Zerstörung von Extalia gab es nur noch wenige Exceed und noch weniger Schlüpflinge. Martam, der Exceed von Heartfilia, hatte Lucy viel darüber erzählt.

Behutsam begann die Blonde, ihren Patienten zu versorgen, so gut sie es mit ihren bescheidenen Medizinkenntnissen vermochte. Wie alle Studenten hatte sie pflichtgetreu die Medizinkurse bei Professorin Porlyusica besucht und darin auch ihre Prüfungen abgelegt, aber Naturwissenschaften lagen ihr nicht besonders. Sie war eher der Astronomie und den Geschichtswissenschaften zugetan. Leider besaß sie auch kein so ausgezeichnetes Gedächtnis wie ihre Freundin Levy. Aber für eine vernünftige Erstversorgung des Exceed würde es hoffentlich ausreichen.

„Wo er wohl herkommt?“, murmelte Lucy, nachdem sie die Wunden mit Lokes Hilfe richtig verbunden hatte.

„Vielleicht ist er einer der nichtstädtischen Exceed“, mutmaßte Loke mit einem Schulterzucken und holte seinen Feuerstein und etwas Zunder aus seiner Gürteltasche, als Scorpio mit dem Arm voll Feuerholz zu ihnen kam.

Obwohl das hier alles andere als die ideale Lagerstelle war, stellte sich für keinen von ihnen die Frage, ob sie weiter ritten. Der Exceed musste geschont werden. Ohne Absprache wusste jeder, was zu tun war. Sagittarius und Gemini bauten die Zelte auf und Loke entzündete geschickt das Feuer und bereitete in einem gusseisernen Kessel Tee zu, während Scorpio mit den geleerten Wasserschläuchen los zog, um sie an einem Bach in der Nähe aufzufüllen.

Loke gab in das heiße Wasser Minzblätter, welche er am Waldrand gepflückt hatte, dann breitete er ihren Proviant aus: Getrocknete und frische Beeren, ein halber Laib Käse, zwei Laibe Brot, Trockenfisch, Pökelfleisch und ein kleines Stück Schinken. Dazu kamen mehrere Äpfel und Birnen. Sie waren von Crocus aus mit mehr Proviant aufgebrochen, als es für den Weg nach Heartfilia nötig war, aber Loke hatte auf Nummer sicher gehen wollen.

Während Loke das Brot schnitt, regte sich der Exceed wieder. Seine Lider flatterten mehrmals, dann öffneten sich die großen Augen. Zuerst sah der junge Kater verwirrt aus, dann ängstlich, dann wieder verwirrt.

Lucy schob sich in sein Sichtfeld. „Keine Angst, du bist in Sicherheit.“

Der Exceed richtete sich langsam auf und zuckte dabei vor Schmerz zusammen.

„Keiner von uns ist ein Heiler oder Arzt“, erklärte Lucy entschuldigend. „Ich habe getan, was ich konnte aber wir müssen dich zu einen richtigen Mediziner bringen. Ist dein Dorf in der Nähe?“

„Nein, ich komme aus Magnolia“, antwortete der Kater und wiegte den Kopf hin und her.

„Das ist ein weiter Weg“, stellte Loke mit einem Stirnrunzeln fest.

Überrascht, dass da noch jemand war, zuckte der Exceed zusammen. Beruhigend legte Lucy eine Hand auf seine Schulter.

„Das ist Loke und ich bin Lucy.“

„Ich bin Happy“, stellte er sich nun wieder sicherer vor. „Habt ihr mich gerettet?“

„Das war unser Freund Gemini“, erklärte Lucy lächelnd. Der Wesensgeist lugte aus seinem fertig aufgebauten Zelt heraus und salutierte lässig. „Sollen wir dich mit nach Heartfilia nehmen und von dort aus einen Boten nach Magnolia schicken, damit sich dort keiner Sorgen um dich machen muss?“

Nun deutlich selbstbewusster schüttelte Happy den Kopf. „Nein, Natsu wird sicher bald hier sein.“

„Noch ein Exceed?“, fragte Lucy.

Wieder ein Kopfschütteln. „Mein Partner.“

Loke runzelte wieder die Stirn und Lucy verstand auch, warum. Seit dem Bündnis zwischen Königin Shagotte und der Unsterblichen Kaiserin hatten sich die überlebenden Exceed auf die Städte und Fürstentümer Fiores aufgeteilt. Der Partner eines Exceed war also immer der jeweils amtierende Bürgermeister oder Fürst. Doch der Fürst von Magnolia war Makarov Dreyar, unterstützt von seinem Enkel und designierten Nachfolger Laxus. Ein Natsu von Magnolia war Lucy völlig unbekannt. Zumal Magnolia mit Lucky und Marl bereits zwei Exceed hatte. Wobei Happy, wenn Lucy es recht bedachte, durchaus der Sohn des Exceed-Paares sein könnte.

„Wer…?“, setzte Loke an, verstummte jedoch und legte den Kopf schief. Ein Zeichen dafür, dass er jemanden oder etwas hörte.

Plue huschte in Geminis Zelt, aus welchem der ältere Wesensgeist kam, eine Hand an seinem Schwert. Auch Scorpio und Sagittarius traten näher ans Feuer heran. Lucy wusste, dass Loke noch der Einzige war, der etwas hören konnte. Nur der Feuergeist besaß den außergewöhnlichen Hörsinn, aber die Anderen hatten ein Gespür für sein Verhalten und machten sich automatisch dafür bereit, Lucy im Ernstfall vor jedweder Bedrohung zu beschützen. Unwillkürlich versicherte Lucy sich mit einem Blick, dass ihr Rapier in Reichweite war.

Loke entspannte sich schließlich wieder und stand auf. „Dein Partner ist wohl gleich hier.“

Auch die Anderen entspannten sich wieder, auch wenn sie weiterhin in Bereitschaftsstellung bleiben. Happy wollte aufspringen seine Augen leuchteten vor Freude –, aber Lucy hielt ihn zurück, damit seine Wunden nicht wieder zu bluten begannen.

„Er ist schnell“, stellte Loke fest und Lucy hörte Anerkennung aus seiner Stimme heraus.

Wenig später konnten sie alle einen Mann hören, der immer wieder nach Happy rief und dabei stetig näher kam. Zwar blieb der Exceed auf Lucys erneute Ermahnung hin sitzen, aber er holte tief Luft und rief dann in den Wald hinein: „Natsu, ich bin hier!“

„Happy!“

Der Mann setzte zum Endspurt an. Lucy konnte das Rascheln der Zweige hören, welche den Partner des Exceed streiften, während er durch das Unterholz brach.

Und dann erreichte er das Lager, von Kopf bis Fuß ungestüm, auf eine beinahe animalische Art wild. Er trug einen Waffengürtel mit Langschwert und Dolch, aber er trug Pluderhosen, wie sie in der Stillen Wüste üblich waren, und eine offene Weste, die kaum ein Detail seines durchtrainierten Oberkörpers verbarg. Lucy erwischte sich beim Starren und ließ den Blick peinlich berührt weiter wandern, hoch zu einem markanten Gesicht mit ausdrucksstarken, dunklen Augen und wirren, rosafarbenen Haaren, in welchen sich einige Zweige verfangen hatten.

Er atmete zweimal tief ein und aus, dann hatte sein Atem sich bereits wieder beruhigt. Lucy schielte fragend in Lokes Richtung, aber ihr Freund schüttelte den Kopf unmerklich. Sie hatte sich also nicht geirrt, Natsus außergewöhnliche Konstitution hing wirklich nicht damit zusammen, dass er vielleicht ein Geist war. Das musste eine andere Ursache haben.

Happy ließ sich nicht mehr halten. Er rappelte sich auf und stakste unter offensichtlichen Schmerzen zu seinem Partner. Dieser ging in die Knie und schloss den Exceed in die Armee. Lucy lächelte und bedeutete ihren Begleitern, dass kein Grund mehr zur Anspannung bestand. Dennoch ließ Gemini sich vor seinem Zelt nieder und Scorpio und Sagittarius nahmen zwar ihre vorherigen Aufgaben wieder auf, blieben jedoch aufmerksamer als sonst. Jeder von ihnen durch und durch ein Schüler des gestrengen Capricorn.

Lucy stand auf und trat auf das ungleiche Duo zu. Ihr Rapier blieb am Feuer liegen, denn irgendwie war Lucy sich vollkommen sicher, dass von diesem ungewöhnlichen Mann keinerlei Gefahr für sie ausging.

Natsu stand mit Happy in seinen Armen auf, als er Lucy bemerkte. Er schenkte ihr ein breites Grinsen, aus dem Dankbarkeit, Erleichterung und Wiedersehensfreude sprachen. Ganz unwillkürlich musste Lucy auch grinsen.

„Ihr habt Happy gerettet“, sagte Natsu mit einer leicht vibrierenden Stimme. Seine dunklen Augen leuchteten vor Freude. Er streckte ganz zwanglos die Hand aus – und aus irgendeinem Grund war Lucy sich sicher, dass er das auch dann täte, wenn er um ihren Stand wüsste. „Vielen Dank! Ich stehe in eurer Schuld!“

„Wir erwarten keine Gegenleistung“, erwiderte Lucy lächelnd und legte ihre Hand in Natsus.

Sie war rau und schwielig, die Hand eines Mannes der Tat, und sie war unglaublich warm. In dem Moment des ersten Hautkontakts überkam Lucy ein Gefühl, das sich mit keinem Wort in irgendeiner ihr bekannten Sprache beschreiben ließ. Es hatte etwas von Ewigkeit und Flüchtigkeit zugleich, Schicksal und Selbstbestimmung. Wichtig und nichtig. Warm und kalt. Aufregend und beruhigend. Es war alles und nichts, voll und leer, schön und hässlich.

Es schien nichts mehr auf der Welt zu existieren außer diesem Händedruck. War das Magie oder waren das überschäumende Gefühle?

Die Überraschung in Natsus Blick verriet Lucy, dass auch er etwas spürte. Doch er erlangte zuerst seine Fassung wieder und sein Grinsen wandelte sich zu einem Lächeln voller Vertrauen und Wärme, das Lucys Knie ganz schwach werden ließ.

„Ich bin Natsu. Natsu Dragneel“, stellte er sich sanft vor.

„Lucy“, antwortete die Blonde mit belegter Stimme. Ihre Hand ruhte noch immer sicher in seiner und es war unvorstellbar, sie jemals wieder heraus zu ziehen. „Lucy Heartfilia…"


Nachwort zu diesem Kapitel:
Happy war schwierig in dem Kapitel :/
Und NaLu ist ganz schön kitschig geworden, aber das hat sich beim Schreiben einfach von selbst so entwickelt.

Andeutungen ftw!
Damit werdet ihr in der gesamten FF leben müssen, dass es unzählige Anspielungen gibt. Einiges wird im späteren Verlauf der FF erklärt, anderes erst in den Prequels. Wie gesagt: Ich arbeite schon seit April an dieser FF, dementsprechend viel Planung ist hier schon rein geflossen!

Ich hoffe, es hat jemandem gefallen.
Für einen Kommentar wäre ich sehr dankbar!
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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: Arianrhod-
2016-09-18T21:09:55+00:00 18.09.2016 23:09
Dieser Flashback ist ja herzzerreißend. :( :( :(
Es ist so traurig, dass Lucy als ein so kleines Mädchen nicht versteht, dass ihre Mutter gerade stirbt und nie wieder da sein wird. Und trotzdem weiß sie genau, dass da gerade etwas Schlimmes passiert.
Und Jude… :(
Alles schlecht in diesem Flashback.

In der zweiten Szene gefällt mir sehr, wie die Stärke, die man später noch zu sehen bekommt, jetzt schon durchschimmert und erkennbar ist. Das finde ich sehr passend, auch und insbesondere, weil es sich hier um Lucy handelt. Auch wenn sie jetzt noch nicht will und sich sogar ein wenig davor fürchtet, sie wird ihren Leuten eine gute Herrscherin sein.

Mir gefällt im Übrigen ihre Reisegesellschaft! :) Auch, wie du die Zodiak Geister eingeteilt hast und so! Loke eh. XD

Happy wird gerettet! Yay! :D
Das rechnet Natsu Lucy und ihren Gefährten ganz sicher hoch an, ganz zu schweigen von Natsu selbst. Sehr schöne Art, die miteinander vorzustellen.
Und die Verwirrung, aus welchem Loch Happy denn nun gekrochen ist. XD Und er blickt nicht, worauf sie hinauswollen. *lol*

Und dann taucht Natsu auf… Unkonventionell und außergewöhnlich wie immer. Zwischen ihm und Lucy knistert es ja schon ganz schön. *g* Ich bin jedenfalls gespannt, wie es mit denen weitergeht.

Gruß
Arian


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