Zum Inhalt der Seite

shaping fate

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Herz und Seele

Was tat ein Körper, wenn sein Herz starb?

Aus medizinischer Sicht natürlich eine einfach zu beantwortende Frage – er starb mit ihm. Aber hierbei ging es nicht um Fragen der Heilkunde. Das hier war kein einfaches Rätsel, bei dem anatomische Begriffe herumgeworfen werden konnten. Auf philosophischer Ebene – der hier relevanten Ebene – sah die Sache anders aus. Da konnte man selbst mit bester Magie nicht einfach ein neues Herz einsetzen und gut.

Aber vielleicht war die ganze Analogie zum Herzen irreführend. Ein Herz, trotz seiner Relevanz, war noch immer zu greifbar. Zu gut vorzustellen. Vielleicht wäre es richtiger, zu fragen, was mit einem Körper geschah, wenn dessen Seele starb? Das Konzept der Seele war sehr viel schwammiger. Nebulöser. Widersetzte sich Versuchen, ihre Existenz zu beweisen, ihre Funktionsweise zu erforschen, ihren Aufbau zu studieren… und das seit Jahrtausenden. So lange tatsächlich, wie es Völker  gab, die intelligent genug waren, Fragen über Seelen zu stellen und Antworten darauf zu verlangen.

„Sag es ihnen.“

Das war keine Bitte gewesen. Eine Anweisung, vielmehr. Man hörte den befehlsgewohnten Ton heraus. Er hatte sich über all die Jahre einfach eingeschliffen, hatte sich einschleifen müssen, ganz unweigerlich. Wenn man lange genug Rekruten anbrüllte… das hinterließ Spuren. Auch das Schreien auf dem Schlachtfeld. Der Versuch, die eigenen Befehle in die Ohren der Untergebenen zu bringen, wider all des Lärms aufeinander prallender Waffen, Schilde und Rüstungen, splitternder Knochen, reißenden Fleisches, Schreie der Verletzten, Getroffenen, Sterbenden. Es hallte in seiner Stimme wider. Als könne man ihm die Jahre anhören, die er schreiend verbracht hatte. Jeden Tag, jede Minute. Wie ein Gemälde, das seine Geschichte bezeugte, nur akustisch, statt visuell.

Sie hätte es ihm vielleicht übelnehmen können. Vielleicht hätte sie es ihm sogar übelnehmen sollen?

Er war nicht ihr Vorgesetzter. Tatsächlich hatte er nie irgendeine Befehlsgewalt über sie gehabt. Und sie hatte diese Richtung für ihr Leben gewählt, um anderen zu entkommen, die glaubten, sie hätten eben solche über ihr Handeln und sogar ihr Denken selbst. Sie reagierte… allergisch auf Befehle. Nicht immer und überall natürlich – sie war vernünftig. Aber gerade im Zwischenmenschlichen…

Zwischenmenschlich. Wie sich das eingebürgert hatte, selbst im elbischen Volk. Irritierend.

Sie beendete ihr Abwägen. Ihr Zögern. Ihre Vorwände und Ausreden, vielmehr. Unausgesprochen durch ihren Blick irrlichternd. Er hatte sie gesehen. Musste sie gesehen haben – warum sonst drückte er ihre Hand ein wenig fester als sie die Seine seit einer ganzen Weile schon ohnehin hielt? Sie sah auf, hörte auf, durch ihn hindurchzusehen. Sah ihn an. Und seufzte schwer. Sie würde sich nicht ewig drücken können. Und überhaupt, das war auch so gar nicht ihre Art.

Probleme wurden bei den Hörnern gepackt und mit Willenskraft und Fleiß niedergerungen. Man floh nicht. Man zögerte nicht hinaus. Oder zumindest sie tat das nicht.

Mit stummem Nicken erhob sie sich. Löste sich von seiner Hand. Ihr Rücken schmerzte. Der verdammte Stuhl war unbequem. Vielleicht hätte sie sich zu ihm aufs Bett setzen sollen, aber das Ding war so verdammt klein und so wenig Schlaf, wie sie die letzte Nacht bekommen hatte… wollte sie nicht riskieren, einzunicken. Es zu verpassen. Nur weil sie müde war.

Schwer fiel es ihr, sich abzuwenden. Als könne es jeden Augenblick geschehen. Schwer wog das Wissen auf ihren Schultern. Ihren Gedanken. Und kalt, so unangenehm kalt, war ihre Hand nun. Sie spürte die plötzlich fehlende Wärme seiner Berührung sehr viel bewusster und deutlicher, als sie es erwartet hatte. Natürlich war das normal. All das war normal. Die unweigerliche Sinnesschärfe, der Unwille, alles. Selbst der glasige Blick, den sie ihm zuwarf, als sie die verdammte Tür erreichte und sich nicht aufraffen konnte, die Türklinke herabzudrücken.

„Geh“, meinte er einfach. Einfach. Was war hieran schon einfach…

 

Sie fühlte sich seltsam. Als hätte sie einen Dominanzzauber abbekommen, kaum dass sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Sie lief und sie atmete und sie spürte jedes Luftholen und schaffte es zum Teleporter. Irgendwie mussten ihre Gedanken sogar klar genug sein, denn sie schaffte es auch, ihn dazu zu bringen, dass er sie in den ersten Stock empor trug. Sie lief den Gang herunter. Schlecht beleuchtet wie eh und je. Mehr Lampen täten dem Gemäuer gut. Die düstere Stimmung war drückend. Oder kam ihr das nur im Augenblick so vor?

Sie trat in das Gasthaus ein. Vielleicht war Gasthaus auch der falsche Name dafür. Es war kein eigenständiges Haus und es beherbergte keine Gäste. Ein Speisesaal vielleicht? Immerhin war der Raum groß. Regelrecht gewaltig. Und die Mehrheit der Zeit wurde hier auch eher gegessen als getrunken. Und an manchen Geburtstagen getanzt. Sie erinnerte sich an die Tänze…

Aber die Erinnerungen hatten keine Zeit, keine Gelegenheit, Fuß zu fassen. Sie hörte das Kichern, verhaltenes, vorsichtiges Lachen. Ein leises, wenig überzeugendes „Hör auf damit!“ Vorsichtig und um Lautlosigkeit bemüht, öffnete sie die Tür und trat ein, schloss auch diese Pforte hinter sich. Das Gefühl der Endgültigkeit, die in dieser Handlung lag, ließ einfach nicht nach. Ließ sie kurz schaudern. Sich wünschen, sie könnte es rückgängig machen. Die Tür wieder zu öffnen, kam ihr kurz in den Sinn – aber entgegen aller Logik wäre es damit keineswegs rückgängig gemacht worden. Sie hätte nur auf etwas reagiert.

Wahrlich und wahrhaftig etwas rückgängig machen… das konnte nur Möbius. Vielleicht Vetus. Und irgendwann, in vielen, vielen Jahrhunderten, Jahrtausenden, vielleicht weit mehr… dann würde es möglicherweise auch Arien können.

Arien. Die dort am Tisch saß. Mit dem Rücken zu ihr. Artemis‘ Arm lag um ihre Taille. Er flüsterte ihr irgendetwas ins Ohr. Sie blickte zur Seite, zu ihm auf. Ihre Wangen rot. Vielleicht vor Scham. Sie spürte aus der Erinnerung heraus, wie sie lächeln wollte. Junge Liebe war etwas Wundervolles. Zart und naiv, hitzblütig und stark, so voller Spieltrieb und Leidenschaft und Überschwänglichkeit. Sie wünschte beiden noch viele Momente wie diesen. Momente, in denen sie miteinander albern konnten, in denen sie einander süße Nichtigkeiten ins Ohr flüsterten und einander damit aufzogen, einander neckten und provozierten – auf die gute Art.

Heute… heute war es an ihr, einen möglicherweise guten Tag zu ruinieren. Viele gute Tage, wenn sie so darüber nachdachte. Es war unausweichlich.

Der Geruch nach Kaffee drang verspätet in ihre Nase. Natürlich. Frühstückszeit. Rik saß am Tisch. Sszerin neben ihm. Beide zeterten schon wieder wegen der einen oder anderen Unsinnigkeit. Vetus stopfte mit bloßen Klauen etwas in sein Maul, das verdächtig nach Pastete aussah. Und fing sich den einen oder anderen rügenden Kommentar Rikhards, bezüglich seiner Tischmanieren. Es lag so eine tiefe Vertrautheit in diesem Anblick. In der Körperhaltung jedes Einzelnen. In ihrer Mimik, ihrer Gestik. Sie hatte es ab und an beobachten können. Längst nicht immer war sie hier gewesen oder lange geblieben. Aber immer mal wieder hatte sie Momente wie diesen verfolgen können, die sie kurzzeitig glauben ließen, alles wäre normal. Nicht ein Elementarblut, ein Drider und ein Halbdrache am Tisch, die Auserwählten der Götter, vermeintliche Retter des Kontinents und vielleicht der ganzen Welt, vorgesehene Befreier der lebenden Völker von der Plage des Untodes.

Nein. Nur eine kleine Gruppe junger Leute. Ein glückliches Paar darunter, zwei in amüsanter Hassliebe verbundene Freunde und eine grenzenlos verfressene Echse.

Sie hatte sich ab und an gewünscht, sie könne Teil dieser Gruppe sein. Auch dort sitzen und darüber rätseln, ob der Kaffee gestern besser gewesen sei oder nicht. Aber für das, was sie war… was sie tat… brauchte sie ein Mindestmaß an Distanz. Irgendwann war diese Sache hier beendet. Die Nadel würde wieder inaktiv werden. Die Meister würden aus den Diensten der Götter entlassen werden. Und ob nun mit dem großen Sieg oder ohne ihn, alles würde in die mehr oder minder alten Bahnen zurückkehren, mit ein paar Kurskorrekturen natürlich. Sie hatte dergleichen oft genug erlebt. Und wenn der Tag kam… dann musste sie dennoch weitermachen, irgendwie. Ob ihnen klar war, was ihnen bevorstünde?

Sszerin entdeckte sie. Winkte grüßend.

Sie konnte sich nicht länger verstecken. Nicht länger so tun, als hätte die Zeit für sie angehalten. Lautlos seufzend trat sie näher. Sie bemühte sich, ihre Mimik zu forcieren. Ein Lächeln vielleicht. Ein hellerer Funke in ihren Augen. Irgendetwas. Aber es misslang. Stattdessen trat sie langsam und vorsichtig an den Tisch. Mit einem Nicken grüßte sie die versammelte Runde. Sie wollte keinen guten Morgen wünschen. Es wäre heuchlerisch gewesen. Der Morgen war nicht gut. Und selbst, wenn er es für diese Runde junger Leute bis zu diesem Zeitpunkt gewesen wäre – gleich würde sie das Bild einreißen.

Ihre Ernsthaftigkeit war nichts Neues. Aber diesmal schien es anders. Am Tisch breitete sich schlagartig eine schwere Stille aus. Vetus hörte zu essen auf. Riks Miene verschloss sich. Sszerins Lächeln starb einen langsamen, qualvollen Tod. Artemis wurde sehr still und stellte seine Versuche ein, Arien zu kitzeln. Und Arien selbst… nun. Sie hatte ein Gespür für schlechte Nachrichten.

Seufzend raffte sie all ihren Mut auf.

Sie war über die Jahre vielen Monstern begegnet. Hatte sich Manticore und Trollen entgegen geworfen. Sie hatte mit ihrer Gruppe Schlachtfelder bereist und aggressive Krähenschwärme vertrieben, um die Hinterlassenschaften der Gefallenen zu bergen und hatte es selbst mit Geistern dann und wann aufgenommen. Aber das hier? Das lag weit außerhalb ihrer Expertise. Und es schien sie darum ein vielfaches mehr an Überwindung und Kraft zu kosten. Vielleicht wären es die schwersten Worte seit Jahrzehnten oder gar noch mehr  gewesen… hätte sie nicht heute Morgen erst etwas gesagt, das dem Wortlaut nach eine Liebeserklärung, dem Tonfall nach ein Abschied war.

„Es geht… um Arthur“, begann sie und traute ihren Ohren nicht. Ihre Stimme klang grässlich. Rau und kratzig, als hätte sie seit Tagen weder gesprochen, noch etwas getrunken. „Es ist so weit.“ Acht Worte. Die üblichen Übeltäter für solche Prozesse mochten wohl Ich liebe dich! oder Ich hasse dich! sein. Dennoch. Mit nur acht Worten ruinierte sie viele Tage, vielleicht Wochen, für viele Leute.

Ariens Blick irrlichterte. Sie war klug. Phänomenal klug. Aber sie begriff es nicht – weil sie es nicht begreifen wollte. Zunächst zumindest. Sie wandte sich um, spähte zu Rik, Sszerin, Vetus, Artemis. Suchte Rat. Suchte Erklärungen. Gab auf und gestand sich ein, dass sie eigentlich Beistand suchte. Jemanden, der ihr sagte, dass ihre acht Worte nicht bedeuteten, was sie implizierten. Dass sie sich irrte. Das irgendwer sich hier irrte.

Doch was sie fand, war Schockstarre. Und aufkeimendes Unbehagen. Sszerin entstammte einer Gesellschaft, die die Schwachen knechtete, misshandelte und verstieß. Jede Form emotionalen Gebarens ließ sich nutzen. Und obgleich er alles andere als ein Musterbeispiel seiner Zivilisation war, hielt er sich in diesem Moment bemerkenswert stark zurück. Rikhard dagegen war der Sprössling einer Familie von Magi, von klein auf vorgesehen, die gleiche Laufbahn einzuschlagen. Er war mit derartigen Situationen von Grund auf überfordert. Das ließ Vetus zurück – der schlicht nicht fähig war, schnell genug zu begreifen, um überhaupt irgendetwas tun, irgendwie reagieren, sich überhaupt für eine angemessene Reaktionsart entscheiden zu können.

Und Artemis.

Der zog Arien näher an sich heran, mitsamt Stuhl. Doch die schreckte regelrecht zurück. Sein Bemühen, Nähe und Trost zu spenden, waren… falsch. Nicht, was sie wollte. Denn es war die stille, wortlose Erklärung, dass sie richtig verstanden hatte. Dass es wahr war. Sie sprang auf. In der Stille des Raumes war das Scheppern des kippenden Stuhls beinahe ohrenbetäubend. Sie versuchte, zu fliehen. Sich zu entziehen. Doch starke metallische Hände hielten sie zurück, zogen sie zurück. Sie schlug gegen ihn. Und nach allem, was sich sehen ließ, tat sie das mit voller Kraft. Hätte jemand aus Fleisch und Blut das überhaupt überstanden?

„Ich warte unten“, erklärte sie halb erstickt. Sie konnte das nicht mit ansehen. War die Lage nicht ohnehin schon schlimm genug? Es traf sie unerwartet hart, das Frühstück ruiniert zu haben. Diesen kostbaren Moment glücklichen Beisammenseins. Es hatte immer so viel Spannung gegeben. Gab es immer noch, häufig genug. Warum hatte sie diesen Moment ruinieren müssen? Die Antwort war natürlich schmerzhaft simpel. Es gab für solche Dinge keine guten Gelegenheiten. Sie waren immer falsch.

 

Der Weg zurück nach unten war ihr seltsam vorgekommen. Wie der Hinweg auch, als wäre sie unter einem Schleier. In Trance. Beobachter der Handlungen einer Fremden. Sie ließ sich an seinem Bett nieder. Ergriff seine Hand und spürte da erst, wie sehr sie die Berührung vermisst hatte. Wie schmerzhaft es gewesen war. Und wie erleichtert sie sich fühlte, als er die Augen aufschlug und den Kopf zur Seite neigte, um sie anzuschauen.

Sie hatten kaum miteinander gesprochen. Heute Morgen ein paar wenige Sätze. Ehrlich, aufrichtig, offen. Eingeständnisse alter Fehler, die noch immer schwärten. Bekundungen von Sympathie, die tief genug reichte, um Jahre fehlenden Kontaktes überbrückt zu haben. Jedem Wort lag Bedeutung bei, keins davon hohl oder vergeudet. Aber viele… waren es nicht gewesen.

Sie genoss die Wärme, die Nähe, die Zweisamkeit – wissend, dass das jeden Augenblick ein Ende würde haben können.

Als es klopfte, schloss sie die Augen. Sie hatte erwartet, zusammenzuzucken, weil es so unerwartet kommen würde. Stattdessen… schloss sie die Augen. Spürte den Tränen nach, die ihre Wimpern verklebt hatten und nun zu Boden stürzten. Sie hatte sich gut und lange beherrschen können – ihre Wangen waren trocken. Sie hatte ihn nur nicht mehr richtig sehen können. Durch einen Schleier aus Wasser, unscharf, verklärt. Entrückt. Aber es war in Ordnung gewesen, denn er hatte ihre Hand gehalten. Warm. Raue Haut.

Sie stählte sich innerlich, atmete tief durch und erhob sich. Ließ ihn ein weiteres Mal zurück, um die Tür zu öffnen. Sie traute ihrer Kehle nicht genug, um irgendwen herein zu bitten. Sie wollte niemanden herein bitten. Sie wollte ihn nicht teilen.

Arthurs Zimmer war nicht allzu groß. Man hätte vermutlich die Mehrzahl der Leute hineinstopfen können, aber das hätte sich… falsch angefühlt. Ein Umstand, um den offenbar alle zu wissen schienen. Und sehr zu ihrer Überraschung stand Lisa vor der Tür. Nicht Arien. Auch Arthur schien davon überrascht, sagte jedoch nichts. Nichts dazu, allemal. Die nächsten zwei Stunden, vielleicht waren es auch drei, waren… merkwürdig.

Der Reihe nach machten sie alle ihre Aufwartung. Lisa. Vasilla. Elesil. Vetus. Eresthenes. Selbst Rik und Sszerin.

Sie selbst zog sich zurück, weigerte sich aber, den Raum zu verlassen. Nicht, das irgendwer sie dazu aufgefordert hätte. Gewagt hätte, sie aufzufordern. Doch sie trat in den Hintergrund. Verschmolz mit dem Mobiliar des Schlafzimmers. Und hing, zu ihrem eigenen Leidwesen, ihren Gedanken nach.

Sie konnte nicht ändern, was damals geschehen war. Die Gefangennahme, das jahrelange Spiel mit Spitzeln und Spionen entlang der Grenze, wechselnde Rollen von Katze und Maus – es war aufregend gewesen. Kummervoll, dann und wann. Frustrierend, häufiger. Aber allem voran aufregend. Und als sie ihm das kleine Stück Tand geschenkt hatte, war es ohne jeglichen, böswilligen Hintergedanken geschehen. Ganz im Gegenteil. Sie hatte es ihm aus aufrichtiger Liebe heraus geschenkt.

Aber sie hatte damals weniger Verständnis darüber gehabt, was sie tat. Weniger Verständnis dafür, wie man arkane Energien effizient in einen materiellen Gegenstand leitete, beides aneinander band. Sie hatte getan, was sie konnte. Hatte sich verausgabt. Hatte jedes Quäntchen Kraft hineingestopft. Und gereicht hatte es für was? Ein paar lausige Jahrzehnte?

Nein. Nein – nicht lausig. Doch Fakt war und blieb, das sie sein Leben verlängert hatte. Irgendwie. Vielleicht auf unnatürliche Weise. So ganz genau vermochte sie das nicht mehr zu sagen. Und ganz gleich, wie die genauen Zusammenhänge nun auch aussehen mochten, so war alles, was geschehen war, doch ihre Verantwortung. Ihre Schuld, im Zweifelsfall. Wäre er ohne das Amulett noch am Leben gewesen, als seine Söhne starben? Was musste es für einen Vater bedeuten, die eigenen Kinder zu Grabe tragen zu müssen? Und auch hier und jetzt: Ohne das Amulett… wäre er überhaupt noch am Leben gewesen, um den Meistern der Nadel zu begegnen? Oder ihr?

Fügte sie sich selbst Schmerz und Schaden zu, durch ihre Taten vor so vielen Jahren? Sich selbst – und wichtiger noch, anderen. All jene, die hier aufmarschierten. Die ihr Beileid bekundeten. Abschied nahmen, in der einen oder anderen Form. Sie hatte ihnen das angetan. Ihnen allen. Indem sie Arthurs Leben verlängert hatte… aber nicht genug verlängert.

Dass das Amulett seine Wirkung verlieren würde, das war unausweichlich gewesen. Die Konstruktion erlaubte nicht, dass man sie während der Nutzung neu auflud. Und als sie einander erneut begegneten, da war es schon zu spät gewesen. Das Risiko zu groß, dass er das Abnehmen des Schmuckstücks überlebt hätte. Der Schock, wenn das Gewicht all der verzögerten Jahre ihn eingeholt hätte, hätte ihn umgebracht.

Hatte sie damals, bei der Schöpfung des Tands, also einen Fehler begangen? Und musste nun die Konsequenzen ihres Handelns ertragen? War dies, wovor die elbische und sogar die zwergische Philosophie stets warnten? Menschen waren kurzlebig, wie manch andere Rasse auch. Von Natur aus daher unfähig, die weitreichenden Konsequenzen ihres Handelns begreifen zu können – weil sie nicht mehr da sein würden, um sie sehen zu müssen. War dies hier nur die erste Welle der Konsequenzen? Würde es die Handlungsweisen und das Denken derer, die hier aufmarschierten, verändern? Sie beeinflussen? Möglicherweise dieser ganzen Sache eine andere Richtung geben? Wäre dieser Kurswechsel zum Besseren? Oder zum Nachteil aller?

Es war müßig, sich darüber den Schädel zu zerbrechen – eine Erkenntnis, die sie schon vor sehr viel mehr Jahrzehnten gehabt hatte, als das Amulett überhaupt existierte. Nichtsdestotrotz gereichte ihr dies als Ausrede. Als Ablenkung. Um ein paar Stunden zu überstehen, irgendwie, in denen sie nicht an seiner Seite sitzen und einfach nur still seine Hand halten konnte.

 

Als Arien kam, blickte sie auf. Sie kam in Artemis‘ Begleitung. Blieb direkt hinter der Tür stehen und starrte. Hatte sie Arthur je in diesem Zustand gesehen? So offensichtlich schwach, entkräftet, ans Bett gefesselt? Artemis nahm ihre Hand, drückte sie, riss sie damit aus ihrer Schockstarre hervor. Gemeinsam traten sie vorwärts, jeder Schritt eine sichtbare Anstrengung, kostete Kraft, Überwindung. Einen hohen Preis, entrichtet in Akzeptanz des Unvermeidlichen.

Arthur riss einen schlechten Witz. Darüber, dass sie nun vielleicht endlich im Training eine Chance gegen ihn hätte. Der Dummkopf hatte noch nie gewusst, wann er lieber den Mund halten sollte. Natürlich gab es für Arien damit nur noch zwei Optionen: Es akzeptieren und heulen, wie sie es vielleicht noch nie zuvor getan hatte… oder-

„Ich habe nachgelesen!“

- das. Was folgte, war ein hektisches Herunterrattern von Möglichkeiten. Optionen, um Arthur zu… zu retten. Jede Variante war grässlicher, riskanter, unvernünftiger als die Vorherige. Das Amulett im Eiltempo ersetzen – es musste ja weder schön, noch lange funktionsfähig sein – und per Teleportation gegen das andere austauschen, um das Ursprüngliche neu aufzuladen. Oder sein Altern einfach ganz grundsätzlich stoppen. Artemis, Rik und Sszerin waren in Alchemie bewandert. Keiner von ihnen wusste so wirklich viel darüber, aber Alchemisten konnten das Altern stoppen und damit die elbische Form der Unsterblichkeit erlangen. Vielleicht wären sie zu dritt fähig, das anzugehen. Binnen eines halben Tages oder weniger.

Vielleicht könnten auch einfach Lisa, Peter und noch ein paar andere Sidhe etwas machen. Feen waren ausgesprochen mächtig – zweifellos würden sie etwas wissen. Irgendetwas. Lisa hatte zwar bereits abgeblockt, aber Arien hatte… Ideen, wie sie Lisa überreden könnte.

Es war erschreckend. Nicht nur zu sehen, was die Verleugnung und Angst aus der sonst so aufrechten, gutherzigen Arien machte. Sie wollte Lisa, eine Verbündete, vielleicht sogar so etwas wie eine Freundin, erpressen. Bedrohen, nötigen. Und hatte schon alle Schritte dessen detailliert geplant. Welchem Umstand war es wohl zu verdanken, dass sie sie noch nicht umgesetzt hatte? Dass sie sich von Arthur Einverständnis und darüber eine Art von Legitimation erhoffte? Oder gab es noch genug Selbstrespekt in ihr, zu erkennen, wie schrecklich falsch das war?

Sie schlug dem Fass den sprichwörtlichen Boden aus, als sie davon anfing, das sie Geschichten über irgendeinen Mensch aus Lumiél gehört hatte, der sein Leben durch einen Pakt mit einem mächtigen Nekromanten verlängerte, ohne dabei wirklich untot zu werden. Bis zu diesem Punkt hatte Arthur sie reden lassen. Nicht, weil er mochte, was er hörte oder tatsächlich nach einem Ausweg suchte. Sie kannte diesen Blick, den er hatte. Arien nicht. Dafür fehlten ihr viele Jahre Erfahrung.

Er ließ sie reden, weil er glaubte, dass sie das loswerden müsse, ehe sie weiter gehen, weiteren Fortschritt machen könnte. Und vielleicht hatte er da auch Recht. Dennoch – sie selbst erschreckte es, Ariens Ideen zu vernehmen.

„Genug!“

„Aber ich könnte-“, fuhr sie nahtlos fort.

„Arien, genug!“ Der schneidende Ton ließ sie zusammenzucken und unwillkürlich den Mund schließen. „Komm her. Setz dich.“ Wie angewiesen, trat das Halbblut heran und nahm auf dem Stuhl Platz. Er hielt eine motivierende Rede über die Unausweichlichkeit, über die Natur der Dinge, über den Kreislauf des Lebens, all das oder irgendetwas davon. Sie hörte nur halb zu – und auch Arien schien ihre Probleme zu haben. Sie bemühte sich, sichtlich. Aber da stand noch immer der Fakt im Raum… das Arthur im Sterben lag.

Und während er diese Rede hielt, wurde ihr klar, was das Problem mit dem Amulett war. Arien konnte es nicht aufladen. Sie mochte das noch nicht wissen, aber sie wäre dessen schlicht nicht fähig. Die emotionale Komponente bei seiner Schöpfung hatte sich im Prozess der Herstellung niedergeschlagen, war zu stark eingebunden worden. Und sie selbst… sie hatte sich selbst gegenüber von Risiken gesprochen, hatte mit Wahrscheinlichkeiten zu argumentieren versucht. Doch die Wahrheit war letztlich: Sie wollte das Amulett nicht mehr aufladen. Nicht weiter aufladen. Sie wollte nicht akzeptieren, dass es diese Möglichkeit gäbe. Sie wollte nicht darüber nachdenken und sie wollte es nicht aussprechen müssen.

Denn aller Liebe zum Trotz wusste sie um die schier überwältigende Macht der Verzweiflung. Um die enorme Kraft und grenzenlos wirkende Energie, die in dem unbedingten Willen lag, überleben zu wollen. Ein Wille, der wiederum jedem Lebewesen zu Eigen war. Sie liebte diesen Dummkopf dort auf dem Bett. Hatte es damals getan und tat es noch. Aber sie liebte ihn um seiner Persönlichkeit willen.

Arthur war ein Mann der Prinzipien. Er hatte einen strengen, strikten moralischen Kodex, an dem er sich orientierte, an dem er sein Denken, sein Handeln, sein ganzes Leben ausgerichtet hatte und es auch weiterhin tat. Bis zu seinem letzten Atemzug. Deshalb lag er dort und, statt über die Schmerzen zu klagen, die jeder Atemzug ihm dann und wann sichtbar verursachte, führte eine feurige Rede über die Notwendigkeit des Todes.

Sie ertrug den Gedanken schlicht nicht, wie dieser Mann, dieser edle, stolze Mann, ein Ritter in allem, was dazu gehörte… verkam. Wie er sich selbst verriet. Wie er alles, wofür er stand, alles, wofür er gelebt hatte, alles, woran er glaubte, über Bord warf. Für ein paar weitere Momente, Tage, Jahre. Wie er sich an das Leben klammerte, mit solch erschreckender Verzweiflung. Wie Arthur zu existieren aufhörte, korrumpiert von den verführerischen Möglichkeiten.

Lieber sah sie Arthur sterben, als zuzusehen, wie er sich selbst brach.

Die Erkenntnis war bitter und hinterließ einen üblen Nachgeschmack. Sie würgte kurz, schmeckte die Galle auf der Zunge und zwang doch alles wieder ihre Speiseröhre herab. Ein widerliches Brennen blieb zurück. Verband sich mit dem leichten Gefühl des Schwindels. Vielleicht hätte sie etwas essen sollen, irgendwann, irgendwie. Vielleicht rührte der aber ebenfalls aus dieser Offenbarung her. Sie hätte es nicht sagen können und es kümmerte sie nicht genug, dem nachzuforschen.

Sie zwang ihre Sinne, sich zu konzentrieren. Fokussierte ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Hier und Jetzt. Auf Artemis, der hinter Arien stehend die schweren Hände auf ihre Schultern gelegt hatte, um sie zu beruhigen. Notfalls vielleicht auch festzuhalten. Und um ihr Nähe zu spenden. Trost durch pure Anwesenheit. Sie konzentrierte sich wieder auf Arien, die regelrecht darum bettelte, ihn wenigstens untersuchen zu können, ihn heilen zu können, irgendwie. Denn vielleicht – man hörte ihr die verzweifelte Hoffnung an – würde das ja irgendetwas bringen.

Sie konzentrierte sich auf Arthur, dessen ernste, steinerne Miene all die Macht der Autorität ausstrahlte, die er in über fünf Jahrzehnten Militärdienst angesammelt hatte. Auf den strengen Ton, mit dem er ihr verbot, sich diese Bilder einzuprägen, diesen Anblick, diese Situation.

Er wollte, dass sie ihn in besserer Erinnerung behielt. Nicht der bettlägerige Alte, gelegentlich röchelnd, hustend, krampfend. Hilflos, machtlos. Er wollte der Ritter sein, der hoch zu Ross, die polierte Lanze gehoben, den Drachen niederritt. Wie sehr er diese verdammte Geschichte zu erzählen geliebt hatte.

Vielleicht sah er ihr an, woran sie dachte. Konnte ihre Gedanken an ihrer Stirn ablesen. Vielleicht dachte Arien etwas ganz Ähnliches und er las es bei ihr. Vielleicht gab es andere Gründe dafür, dass er eben diese Geschichte plötzlich völlig unvermittelt zu erzählen begann. Ein letztes Mal der große Held sein. Ein letztes Mal die schimmernde Rüstung tragen, im Sattel bleiben, während das Streitross sich eindrucksvoll aufbäumte. Ein letztes Mal das Banner schwingen, die Luft an seinem Gesicht vorbeirauschen spüren. Das Adrenalin in den Adern spüren, das Blut in den Ohren rauschen hören.

Er hatte ihr irgendwann einmal erzählt, dass die Geschichte für ihn lebendig war. Er erlebte sie jedes Mal wieder, wenn er sie erzählte. Weil es neben der Geburt seiner Söhne einer der größten, glücklichsten Momente seines Lebens gewesen sei.

Und während er erzählte… während er gelegentlich stockte, hustete oder Husten zu unterdrücken versuchte… während Arien ab und an mit zitternder, gelegentlich wegbrechender und nahezu unhörbar leiser Stimme einstimmte, die Geschichte fortführte, ergänzte… wurde ihr noch etwas klar.

Arthur bereute nicht.

Sie mochte sich mit dem Gram tragen. Sie mochte zweifeln und verzweifeln. Aber Arthur bereute kein einziges seiner Jahre. Nicht zuletzt, weil sie ihn zu diesem Moment geführt hatten. Er hätte unzählige Male tapfer auf dem Schlachtfeld fallen können. Ein toter Soldat unter vielen. Aber nun starb er nicht als Soldat. Er starb als Mitglied einer Familie. Umgeben von denen, die ihm wichtig waren. Im Kreise Geliebter und Liebender.

 

Als die Geschichte endete, verlangte er Ariens Aufmerksamkeit. Sie hatte einige Minuten mit sich zu kämpfen, ehe sie sich genug hatte sammeln können, um zu nicken. Und Arthur hatte geduldig gewartet. „Du musst dich gut um Zenna kümmern. Dein verdammter, räudiger Flohteppich hat ihr da ziemlich was angetan. Lisa und Vasilla haben sie sich immer wieder angesehen, neuerdings alle zwei, drei Tage. Es geht ihr schlecht. Die Schwangerschaft ist… risikoreich. Sieh nach ihr und… sorge gut für sie.“

Arien war schockstarr, einmal mehr. Zenna war schwanger, natürlich, das wussten alle. Und es war ein wenig schwierig, weil die Rassen nicht so kompatibel waren, wie man sich das wünschen konnte. Aber wie schlimm es wirklich stand, schien sie jetzt erst zu hören, jetzt erst zu begreifen. Und klar und deutlich war ihr die Horrorvorstellung auf die Stirn geschrieben, gleich zwei zu verlieren. Sie nickte unsicher, erhob sich von ihrem Stuhl und erklärte, sie würde gleich nach ihr sehen.

Unschlüssig blieb Arien an der Tür stehen, sah zu ihr. „Ich passe auf“, gab sie einmal mehr krächzend von sich, nickte dem Halbblut zu. Irgendwann im Laufe von Arthurs Motivationsrede… oder  vielleicht auch während seiner glorreichen Drachengeschichte… hatte sie geweint. Kein lautes Jammern und Schluchzen – das hätte sie wohl bemerkt. Aber ihre Augen waren aufgequollen, gerötet, ihre Wangen glänzten von ständig immer wieder verwischten Tränen.

Das Halbblut nickte und verließ den Raum. Artemis folgte ihr weiterhin still.

 

Irgendwann einmal würde man vielleicht von dem Tag hören, an dem Arien Inránainn Zauberfänger per Teleportation direkt in das Heim von Malagan Klippenwind einbrach. Entgegen dem, was man dann vielleicht erzählen mochte, war das Haus keineswegs ungeschützt gewesen. Aber nichts und niemand konnte Arien aufhalten – schon gar nicht in diesem Zustand. Der Anti-Teleportationsschild, gebaut von jemandem, der einige Jahrtausende älter und ein gutes Stück mächtiger als Arien war, wurde in viele, viele Scherben zerschmettert, als sie ankam.

Eigentlich war der Prozess der Teleportation friedlich und unauffällig. Keine großen Effekte. Von einem Punkt zum anderen. Aber das war das Problem mit Hexerei, nicht wahr? Sie verkomplizierte Dinge. Und in Elbenland war das Gewebe von Natur aus stärker, so viel… reichhaltiger. Es würde Jahrhunderte dauern, ehe die weitflächige Schwächung repariert wäre. Diese plötzliche Delle, die geschlagen worden war, als ein ankommender Teleport mit unnötig viel Energie aufgeladen wurde, um durch einen Schild zu brechen.

Von dem Gespräch der zwei Elben dagegen würde man vermutlich wenig erfahren. Nicht zuletzt, weil das keine Art von Gespräch war, die irgendwem zu Ruhm und Ehre verhalf – von seiner Kürze ganz zu schweigen…

„Ich brauche eure Hilfe“, verlangte der Eindringling. Keine Begrüßung, keine Höflichkeitsfloskeln, nicht einmal eine Entschuldigung für das unerwünschte, unbefugte Betreten oder gar das Zerschmettern eines sehr kostspieligen Schildes um das Anwesen.

„Ah nun ist der Tag also doch noch gekommen. Nicht unerwartet, wie ich meine. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der offensichtliche und gravierende Mangel an Expertise, Wissen, Können, schlichtweg Kompetenz, dich bettelnd und flehend und um Hilfe winselnd zu meiner Türschwelle tragen würde, um-“

Arien war nicht in Stimmung. Für Reden dieser Art war sie wohl nie wirklich in Stimmung gewesen und würde es auch nie sein - und wer wäre das auch je? Doch an diesem Tag beging Malagan Klippenwind einen Fehler. Er schätzte eine Situation falsch ein. Er glaubte, sie sei durch den Bruch des Schildes erschöpft und damit weniger wehrhaft. Er glaubte, die Blässe in ihrem Gesicht rühre von der Erkenntnis einher, was sie getan hatte. Er glaubte, das Zittern ihrer geballten Fäuste sei die Beherrschung, die sie sich angesichts ihrer Angst über die Konsequenzen ihrer Taten auferlegt habe.

Er glaubte einiges.

„Ruhe!“, befahl das Halbblut aufbrausend. Eine Welle arkaner Energie strömte auswärts, jagte einige Meter durch den Raum. Ein Schrank voll feinster Raupen- und Spinnenseide. Gewänder, die in ihrem Wert unschätzbar waren. Vom kunstfertig verzierten Schrank aus dem Holz eines Eldarbaums ganz zu schweigen. Ein Arbeitstisch aus dem gleichen Holz, die Tinte im Fass darauf eine Spezialanfertigung, die Feder vom Schweif eines Phönix stammend. Der prächtige Teppich, in Jahrhunderten von Hand gefertigt – natürlich von Meistern des Fachs. Unzählige größere und kleinere Habseligkeiten, jede einzelne davon ein Vermögen wert.

Und mit einem Schlag waren sie fort.

Selbst Malagan war von dieser Entwicklung… überrascht. „Ich schätze, es lohnt nicht, zu fragen, wohin meine Habe verschwunden ist…?“ Die Überheblichkeit war gewichen. Eine gut konstruierte Vorsicht verdüsterte seine Miene, als er sich des Ausmaßes der Situation bewusst wurde. Arien Zauberfänger war eine mächtige, über die Maßen talentierte junge Frau. Sie trug elbisches Blut in ihren Adern – und das Blut von Erstgeborenen. Das Blut der unvorstellbar mächtigen Drachen.

Und in diesem Moment war sie blind vor Raserei und nur ein Haarbreit trennte ihn davon, zusammen mit dem halben Haus sonstwo zu landen – vielleicht sogar irgendwo jenseits der Grenzen dieser Existenzebene.

„Ein guter Freund von mir stirbt!“, warnte das Mischblut der Fairness halber, „Und seine Freundin, die ihm treu durch viele Jahre gefolgt ist, liegt ebenfalls im Sterben! Sie ist eine Calidae… und hochschwanger.“

Und mit einem Mal begriff Malagan, worauf die Störung kurz nach dem Mittagsmahl hinauslief. Calidae waren… eine sonderbare Spezies. Das Produkt der Experimente des Zirkels mit Hunden. Wozu Ordensmagier oder Lehrlinge in die hässlichen Kämpfe schicken, wenn man stattdessen gut trainierte Kreaturen haben könnte, die loyal und anpassungsfähig sind? Die Elben hatten die Experimente natürlich verdammt. Es waren Eingriffe in die natürlichen Abläufe. Nichtsdestotrotz hatte man sich ihrem Nutzen nicht entziehen können und Calidae waren, zwangsläufig, binnen kurzer Zeit zu geschätzten, wenngleich nahezu unbezahlbaren Trophäen und Begleitern geworden. Ein Statussymbol für die Reichen. Eine lebende, atmende und überaus nützliche Ehrung und Auszeichnung für die Dienstbaren. Und etwas Unerschwingliches, das es zu bestaunen galt, für den Rest der Welt.

Malagan hatte viel Erfahrung mit der merkwürdigen Hundeart. Er hatte sie studiert, hatte sie gezüchtet, hatte ihre Reaktionen beobachtet. Wenn jemand in Elvoran wissen würde, wie man eine kritische Schwangerschaft etwas glimpflicher gestaltete, dann wohl er.

Natürlich war dementsprechend der erste Gedanke, die Situation auszunutzen. Zu seinen Gunsten zu drehen. Arien hatte mit diesem Einbruch große, schwerwiegende Fehler begangen. Sie war eingebrochen. Sie hatte enorme Schäden verursacht. Sie hatte – eine Frage der Auslegung – ein Mitglied des Ältestenrates bedroht. Das war, im Grunde, Hochverrat. Er könnte eine regelrechte Treibjagd auf sie veranstalten lassen. Könnte den ganzen Clan Zauberfänger hineinziehen und deren Ruf untergraben. Vielleicht könnte er den gesamten Rat hiermit wieder auf seine Seite ziehen. Könnte wieder das Steuer Elvorans übernehmen und das Land einer besseren, sichereren Zukunft entgegen bringen, als dieser Haufen idealistischer Narren es je können würde.

Doch er zögerte.

Und der Grund dafür war schlicht und ergreifend ihr Blick. Dieser kaum verhohlene Funke in ihren Augen, der mit einem beeindruckenden Flächenbrand drohte. Wie lange sie einander wohl angestarrt haben mochten?

 

Sie wusste nicht, was geschehen war, als Arien kaum zwei Stunden später, gegen Nachmittag, wieder in Arthurs Zimmer zurückkehrte. Sie erwähnte, dass sie sich um Zennas Versorgung gekümmert hätte. Sie lächelte, wenngleich sichtlich bemüht, als sie meinte, dass die Geburt kurz bevor stand. Und sie gab sich so viel Mühe, es wie etwas Gutes klingen zu lassen, während Artemis wieder hinter ihr stand, die Hände auf ihren Schultern. Diesmal jedoch hatte sie selbst eine ihrer Hände auf die Seine gelegt. Hielt sie fest. Hielt sich fest.

Es waren kleine Merkmale, die sie verrieten. Unscheinbar für ein weniger erfahrenes Auge. Aber sie bemerkten es, beide. Sie wechselte mit Arthur ein paar Blicke, die sich Arien nicht erschlossen. Sie erhob sich und verließ den Raum, abermals zögerlich, ohne weitere Nachfragen von irgendwem. Weshalb hätten sie auch fragen sollen – Arthurs Zimmer war schließlich kein Gefängnis. Auch wenn es sich in manchem Moment dieser vergangenen Stunden vielleicht so angefühlt haben mochte.

Sie war… gelinge gesagt überrascht, als sie eines der Ratsmitglieder im Kartenraum vorfand. Decken und Kissen waren herbeigeholt worden, ein paar medizinisch aussehende Utensilien und Werkzeuge. Zenna lag auf dem Tisch, wirkte betäubt, atmete schwer. Ihr dicker Bauch machte bereits den Eindruck, als könne sie damit kaum noch gehen. Malagan sprach kein Wort. Er ließ sich von Lisa und Vasilla assistieren, wirkte hochkonzentriert, während er diverse Zauber wirkte, um den Status Zennas zu prüfen, wieder und wieder. Oder vielleicht immer detaillierter – sie selbst verstand nur einen Bruchteil dessen, was dort vor sich ging.

Ihr Weg führte sie durch den Kartenraum zum Brunnen. Sie tauchte kurz den Kopf ins Wasser, fühlte sich… wacher als vorher. Ein wenig zumindest. Wach genug allemal, um wieder zurückzukehren. Doch der Weg war… schwierig. Der Schleier gelüftet, die Trance beendet. Sie war sich jedes Schrittes merklich bewusst. Und es schien so… schwierig, all die Muskeln zu koordinieren, den Fuß zu haben, den Körper dorthin zurückzulenken. Wollte sie denn zurück? In diesem Raum lag Arthur. In diesem Raum starb Arthur. Sie hatte es vergangene Nacht begriffen. Als er hustend und krampfend sich neben ihr zusammengekrümmt hatte. Sie hatte es begriffen und sie hatten sich voneinander verabschiedet.

Was war seither geschehen? Es war… das Warten, glaubte sie zu erkennen. Die ganze Zeit eine unbewusste Anspannung. Jedes Blinzeln könnte dafür sorgen, dass sie den Moment verpasste, der wichtig war. Jeder Gang zur Toilette, das mögliche Einschlafen, selbst der Gang zum Brunnen. Was, wenn sie zurückkehrte und er… war fort? Würde sie das herausfinden wollen? Dann wiederum: Was, wenn er noch da war, sofern sie sich beeilen würde?

Hin- und hergerissen zwischen einem hastigen, fast schon panisch-überstürzten Tempo und einem trägen, unsagbar zögerlichen Schritt musste es für einen anderen wirklich… befremdlich aussehen, wie sie durch die Gegend stolperte. Ob es tatsächlich so seltsam aussah, wie es sich anfühlte?

Sie kehrte in das Gefängnis zurück. In die Zelle, aus deren emotionalem Gewicht es kein Entkommen gab. Sie nickte den dreien kurz zu, als sie zu ihr blickten. Schloss die Tür leise. Es lag keine Endgültigkeit mehr darin. Weil die Endgültigkeit mit ihr reiste. Selbst wenn sie die Zelle verließ, war sie in der Zelle. Sie trug sie mit sich. Jeder von ihnen tat das. Würde es die nächsten Tage tun, Wochen, Jahre.

Man verließ die Zelle nicht. Nie wieder. Man lernte nur, besser mit dem Gewicht umzugehen. Passte sich daran an, eine zusätzliche Last zu haben.

„Ihr seid ein ziemlich trauriger Haufen“, hörte sie Arthur krächzen, „Was ist das hier? Eine Beerdigung? Ihr solltet-“ Ein weiterer Hustenanfall, begleitet von schweren Krämpfen, unterbrach ihn. Arien zuckte fürchterlich zusammen, rutschte fast panisch auf ihrem Stuhl herum. Artemis hielt sie still, damit sie nicht aufsprang. Nicht in den Weg sprang, um zu helfen oder davonsprang, um zu fliehen. Sie selbst, sie kümmerte sich um Arthur. Das war, trotz allem, ihre Aufgabe. Und sie nahm sie ernst.

Sie hätte ihn ein Arschloch nennen wollen – für den dämlichen und unangemessenen Spruch. Natürlich war ihr klar, was er hatte bezwecken wollen. Aber dafür hätte es andere Mittel und Wege gegeben. Arien hingegen schien… überfordert. Erst als Arthurs Krämpfe nachließen, ließ Artemis sie los. Wieder völlig in Tränen ausgebrochen, schlüpfte sie geduckt, leise und kommentarlos vom Stuhl zu ihm aufs Bett. Rollte sich dicht an ihn geschmiegt zusammen. Er legte einen Arm um das Mädchen.

Denn hier und jetzt war sie das. Ein Mädchen. Ein kleines, verängstigtes Kind, eingeschüchtert von den Dingen, die sich ihrem sonst messerscharfen und brillanten Verstand entzogen. Sie hatte Demütigung erfahren. Sie hatte jahrelang unter Ablehnung und Arroganz anderer gelitten. Aber hatte sie je wirklichen Verlust erleben müssen… oder war dies ihr erstes Mal?

Arien weinte bitterlich. Still und leise, nach wie vor, aber immer wieder krampften ihre Finger sich in seinem Hemd zusammen – oder der Decke. Sie verbarg ihr Gesicht, so gut sie es nur konnte. An ihn gedrückt. Vor ihm. Vor ihr. Vor Artemis. Vor allem. Vor der Welt.

Sie selbst nahm wieder ihren Platz auf dem Stuhl ein. Sie blickte zu Artemis, musterte ihn. Er ließ es stoisch über sich ergehen, erwiderte ihren Blick ruhig. Als sie ihm zunickte, tat er es ihr gleich. Irgendwie musste sie sich unweigerlich fragen, wie er damit umging. Was er von all dem hier hielt. Artemis… kannte Verlust. Vielleicht noch nicht gut genug wie sie selbst. Sie hatte im Laufe der Jahre zahlreiche Liebhaber zu Grabe getragen. Mitstreiter, Soldaten, Untergebene begraben. Hatte auch die Beerdigungen von Familienmitgliedern besuchen müssen.

Artemis dagegen hatte Brutus verloren. Selbst wenn er später zurückgekehrt war – allen in der Nadel war die Episode noch gut im Gedächtnis. Der Monat, in dem man Artemis besser nur dann ansprach, wenn es unumgänglich war. Der Monat, in dem das Konstrukt zurückgekehrt war. Kühl, emotionslos, beherrscht. Unterbrochen von Phasen völliger Unbeherrschtheit, weil sich die emotionalen Routinen aufgrund von Überladung eigenständig reaktivierten.

Artemis hatte auch Tick Tack verloren. Ein Verlust, der gerne vergessen wurde und im Schatten der Vernichtung von Brutus stand. Doch so hart der Monat gewesen sein mochte – Tick Tack war nicht zurückgekehrt.

Und zwischenzeitlich hatte Artemis auch Artemis verloren.

Er kannte Verlust. Und dennoch stand er hier, ruhig, sichtbar beherrscht. Hatte er wieder irgendetwas abgeschaltet? Nein. Nein, das würde er nicht tun. Er war jemand, der…

Sie blickte überrascht auf. Suchte Arthur, dann das Konstrukt. Schwankte zwischen ihnen. Wie viel hatte der Stahlkoloss sich von Arthur wohl abgeschaut? Wie viel sich von ihm angenommen? Artemis versuchte jemand zu sein, der sich an sein Wort hielt. Jemand, der Prinzipien hatte und danach lebte. Und er hatte Arien versprochen, dass er nie wieder irgendeinen Teil seiner Persönlichkeit einfach abschalten würde. Er liebte sie zu sehr, um dieses Versprechen zu brechen.

Wie sehr Arthur doch alle beeinflusst hatte. Inspiriert. Verändert. Es brachte sie zurück zu ihrer morgendlichen Überlegung:

Was tat der Körper, wenn das Herz starb?

Sie hatte noch immer keine Antwort. Vielleicht würden sie im Laufe der nächsten Wochen und Monate eine Antwort darauf finden. Der alte Mann würde fehlen. Eine große Lücke hinterlassen. Und es würde sich zeigen, wohl oder übel, wie darauf reagiert werden würde. Vielleicht war es auch korrekter, ihn als den moralischen Kompass zu bezeichnen? Sie alle hatten im Laufe der Zeit ihre Nische gefunden. Ihren Aufgabenbereich. Bei manchen war er klarer definiert als bei anderen. Bei manchen hatte es länger gedauert, diesen Bereich zu bestimmen.

Offiziell war Arthur der Stallmeister. Aber diese Bezeichnung begrenzte ihn auf das Versorgen der Pferde, das inzwischen fast vollautomatisch geschah. Auf das Vorbereiten des Reit-Equipments. Nichts davon wurde seiner eigentlichen Rolle gerecht. Arthur war ein Lehrer für einige. Eine Respektsperson. Ein Vorbild. Er war die Stimme der Vernunft. Er war die Leine, die manchen bodenständig hielt. Er war der Abgleich mit der Realität. Er war ein offenes Ohr – und ein strenger Richter. Er hatte geführt und geleitet. Vielleicht nicht immer absichtlich. Vielleicht nicht einmal wissentlich. Er hatte nie irgendwem seine Entscheidungen abgenommen… oder streitig gemacht. Selbst dann nicht, wenn er mit ihnen nicht einverstanden war. Aber er hatte hingewiesen. Kritisiert. Zum Nachdenken angeregt. Er war immer für alle da gewesen, ungeachtet seiner eigenen Meinungen, Überzeugungen oder gar seines eigenen Zustandes…

„Wenn ich um einen Moment bitten dürfte?“ Die kühle, emotionslose Stimme war in diesem geladenen, angespannten Umfeld… mehr als unwillkommen. Sie zuckte tatsächlich einen Moment zusammen, blickte zur Tür und sah dort das Ratsmitglied stehen. Malagan musterte die sich ihm bietende Szenerie ohne jegliche emotionale Regung. Natürlich – ihn betraf das alles hier nicht im Geringsten. Ein flüchtiger Blick zu Arien jedoch, die den Kopf von Arthurs Brust gehoben und kurzzeitig aufgehört hatte, auf seinen Herzschlag zu lauschen, verriet ihr alles Nötige. Sie war kurz davor, ihn anzuschreien, dass er hier drinnen nichts verloren hatte. Entsprechend zügig hob sie die Hand und erklärte an das Mischblut gewandt „Ich kümmere mich darum.“

Arien senkte den Kopf schlicht wieder, vergrub das Gesicht wieder, als neue Tränen kamen. Sie selbst… folgte dem Eindringling in sein provisorisches Behandlungszimmer.

„Dem Tier geht es schlecht“, begann er und schien erst einmal auf ihre Reaktion zu warten. Sie wollte sich nicht einem Ratsmitglied gegenüber respektlos zeigen. Anders als Arien… besaß sie keinerlei schützende Immunitäten oder andere Qualitäten, die sie zu ihrer Defensive würde hervorbringen können. Dennoch war der Drang groß, die Augen zu rollen und ihn sehr deutlich wissen zu lassen, dass sie das bereits wussten.

„Und weiter?“, meinte sie schließlich als Kompromiss mit sich selbst.

„Die Geburt steht unmittelbar bevor – und ist damit viel zu früh. Außerdem hat dieses Exemplar ein offensichtlich sehr gewaltvolles Leben geführt. Ein Großteil ihrer Reproduktionsorgane ist verletzt worden. Durch die Anpassungen und Metamorphose-Prozesse wurden sie zwar regeneriert, doch Vernarbungen bleiben und der Apparat als Ganzes erlitt einige Verkümmerungen und Reduzierungen. Es gleicht im Grunde schon einem Wunder, das sie sich überhaupt fortpflanzen konnte – und da rede ich noch nicht von den Wahrscheinlichkeiten, dass sie es mit etwas anderem als einem Calidae tat.“

Die Erklärungen begannen empfindlich an ihrem Nervenkostüm zu zupfen. Nichts davon trug irgendetwas Hilfreiches oder Sinnvolles zur Sache bei. „Zum Punkt, bitte“, mahnte sie mit so viel Höflichkeit, wie sie zu diesem Moment noch aufbieten konnte.

„Das Muttertier wird die Geburt nicht überleben – oder der Nachwuchs wird es nicht schaffen. Ich kann meine Ressourcen auf beides aufteilen, aber dann steigt die Wahrscheinlichkeit enorm, das schlicht alle Beteiligten sterben werden.“ Arien lag im Nebenzimmer, emotional instabil. Ob er wusste, wie viel Wahrheit potenziell in seinen Worten lag…? „Ich brauche daher eine schlichte, klare Äußerung. Wem soll meine Aufmerksamkeit gebühren – dem Muttertier oder dem Nachwuchs?“

Zenna starb. Sie erinnerte sich noch an den Blick in Ariens Gesicht, als die erstmals von der Schwere der Umstände erfahren hatte. Diesen Ausdruck namenlosen Grauens. Blanker Horror. „Retten sie die Mutter.“

Ihr gefiel nicht, wie er eine Braue hob. „Sicher? Ich weiß natürlich nicht, wie viele Jahre sie schon verlebt hat, aber Calidae, obgleich langlebig, leben auch ihrerseits nicht ewig. Dazu kommt, wie ich schon sagte, die Schwierigkeit mit der Reproduktion. Diese Empfängnis war schon ein kleines Wunder. Sie wird keinerlei Chance haben, sich hiernach nochmals fortzupflanzen.“

Da war der Grund für ihr Unbehagen. Und den Drang, das Gesicht eines Ratsmitgliedes mit Veilchen zu verschönern. Vernunft. Logik. Argumente. Zu diesem Zeitpunkt war Zenna alt. Mit einer Tortur wie dieser hinter sich, vielleicht hätte sie noch ein paar wenige Jahre. Vielleicht auch nur Monate. Gelang es aber, den Nachwuchs durchzubringen… hätten die möglicherweise ein langes, besseres Leben vor sich. Eines, das nicht kontinuierlich von Kämpfen, Verletzungen und der Notwendigkeit, zu beschützen und zu verteidigen geprägt wäre. Öffnete man der Vernunft einmal Tür und Tor… „Wie viele Jungtiere? Wie stehen deren Chancen?“

„Kann ich im Moment nicht sagen. Calidae sind magisch, die arkanen Ströme in ihren Körpern machen Präzision dieser Art… schwierig, bestenfalls. Aber ich würde aus der Erfahrung heraus schätzen, dass die Chancen für die Jungtiere ein klein wenig besser stehen als für die Mutter.“ Plötzlich konnte sie Arien verstehen. Gut verstehen. Nicht die Arien drüben bei Arthur, die so viel weinte, dass ihr Körper danach durch puren Wasser- und Salzverlust einige Kilo weniger haben musste. Aber die Arien, die vor einigen Stunden noch oben beim Frühstück gesessen hatte. Gehofft hatte, jemand würde ihr sagen, das Gehörte und Implizierte seien Trugschlüsse, Fehlinterpretationen.

Sie konnte Zenna nicht töten. Und nichts anderes wäre das hier, oder nicht? Kurz erwog sie, die Entscheidung abzuwälzen. Arien kam ihr sofort in den Sinn. Aber das war nicht fair. Im Gegenteil – es war feige. „Versuchen sie die Mutter zu retten, falls sie können, aber…“ Sie seufzte schwer. Atmete mit geschlossenen Augen einen Moment tief durch. Und tötete. „… Priorität haben die Jungtiere.“ Sie hatte es tausende Male getan. Getötet. Mit dem Schwert. Mit dem Schild. Mit bloßen Fäusten. Mit den Worten, die sie sprach, den Befehlen, die sie gab. Sie hatte auch schon vermeintliche Freunde getötet. Aber das hier… das fühlte sich anders an. Wie Verrat. Und sie hasste es.

Dennoch bemühte sie sich zumindest, Fassung zu wahren. Einem gewissen, ungeschriebenem, unausgesprochenem Protokoll zu folgen. Das als nächsten Punkt vorsah… „Und danke. Für die Hilfe.“

Malagan hingegen schnaubte abfällig. „Ich werde mich bemühten, die Existenz dieses Tages zu ignorieren, sobald er endlich sein leidliches Ende gefunden hat. Es ist nicht so, als wäre ich freiwillig hier.“

Veilchen. Sein ganzes Gesicht wäre ein Veilchen, würde sie nur eine Sekunde nachgeben. Nur das kleinste Bisschen. Er brach das Protokoll. Er verachtete sie alle hier, die Situation, die… die Vorgänge. Keinerlei Respekt, für niemanden hier. Nicht einmal die, die starben. Sie hatte sich nie recht für die tieferen Wurzeln der elbischen Philosophie erwärmen können. Aber sie hatte viel über die Politik von Haus Steinrinde gehört. Über das rein wirtschaftsorientierte Denken seiner Mitglieder. Und hier nun stand Malagan Klippenwind vor ihr und spottete allem, für das die elbische Philosophie so vehement eintrat und stand. Es machte sie krank, zu wissen, dass das Schicksal ihres  Volkes in deren Händen lag. Das dieses ihre Volk von jenen vertreten wurde, die für seine Philosophie, Geschichte und Denkweise nichts übrig hatten. Sie nicht verstehen konnten oder wollten, ganz zu schweigen davon, sie zu verinnerlichen und zu leben. Es widerte sie an.

Er… widerte sie an.

Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um. Er widerte sie an – und sie hatte gerade Zenna getötet. Sie widerte sich selbst an. Das setzte sie beide auf Augenhöhe. Und sie hasste es… hasste es, mit solchen wie ihm auf Augenhöhe zu sein. Ihr wurde übel vom bloßen Gedanken daran und die nächsten Stunden und Arthurs Gegenwart waren… schwieriger als die zuvor. Sie hatte kaum noch glauben wollen, das dergleichen möglich war. Dass es sich weiter steigern ließe. Doch hier saß sie, angespannt wie nie zuvor, bedrückt, angeekelt.

Arien sagte nichts. Fragte nichts. Artemis hatte vorsichtig auf dem Stuhl Platz genommen, hielt die nach hinten dargebotene Hand des Mischblutes und schwieg weiterhin. Arien hob nicht einmal den Blick, als sie wieder eintrat.

Wie viele Stunden vergingen, wusste sie nicht zu sagen. Es mochte vielleicht Abend sein. Vielleicht auch schon Nacht. Als Malagan eintrat, trug er Zenna vor sich her. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte, als er sie auf Arthurs freier Seite auf das Bett legte. Arien hob den Blick, Zorn flammte bei seinem Anblick in ihren Augen auf – bis ihr klar wurde, was er tat.

„Hey, altes Mädchen…“, krächzte Arthur bemüht. Die frische Naht an Zenna war noch gut sichtbar. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, das Blut von ihr abzuwischen. „Danke“, meinte Arthur nach einem Moment an Malagan gerichtet.

Der aber schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid“, erklärte er ohne wirkliche Emotionen in der Stimme.

Arthurs Blick fiel auf Zenna. Auf die blutige Naht. Darauf, wie seltsam blass und erschöpft sie wirkte. Es brach ihr das Herz, zu sehen, wie der Blick ihres Ritters glasig wurde. „Dan-ke…“ würgte er dennoch bemüht hervor.

„Der Nachwuchs wird es wahrscheinlich schaffen“, erklärte das Ratsmitglied, ehe den Raum wieder verließ.

„H-Hey… hey altes Mädchen…“ Arthurs Stimme zitterte. Zenna hob den Kopf, versuchte, mit dem Schwanz zu wedeln, doch ihr fehlte schlicht und ergreifend die Kraft dazu. Ein Zucken hier und da verriet ihre Anstrengungen und Intention. Mühsam zog sie sich mit den Vorderpfoten vorwärts, robbte regelrecht zu ihm. Wenige Zentimeter nur, aber es schien sie alle Kraft zu kosten. Unter tiefen, unregelmäßigen, hörbar zitternden Atemzügen versuchte Arthur, irgendwie Fassung zu wahren. Vergeblich.

Wie oft konnte ein Herz brechen? Wie sehr konnte es schmerzen, bevor es starb? Wie sehr, bevor es erlöst wurde?

Arthur hielt seine Freundin fest, die ihm jahrelang treu geblieben war. Die ihm durch all die guten und all die schlechten Zeiten gefolgt war, unerschütterlich, ohne zu zögern. Sein Schluchzen, unterdrückt und zurückgehalten, wurde prägnanter. Die Tränen auf seinen Wangen zahlreicher. Und nach und nach brachen die Dämme.

Bis zuletzt hatte auch Arien gekämpft. Doch mit der neuen Entwicklung konnte auch sie nicht mehr dagegen angehen. Es gab kein Halten mehr. Und ihre Klage wurde hörbar. Ihr Kummer spürbar. Ihr Schmerz sichtbar.

Ihr selbst schnürte sich die Kehle zu. Neue Tränen stiegen auf, als sie verfolgte, was sich vor ihr zutrug. Sie wollte bei ihm sein. Für ihn da sein. Sich entschuldigen. Sie wollte Vergebung von ihm erhalten, weil sie Zenna getötet hatte. Sie wollte Arien trösten. Wollte Artemis treten, dass er sie endlich trösten würde. Sie wollte sich an Arthur schmiegen. Seinen Kopf in ihren Schoß ziehen, ihm durch das Haar streichen und ihm zuflüstern, das alles wieder gut werden würde. Sie wollte daran glauben, dass alles wieder gut werden würde. Stattdessen saß sie dort, wie gelähmt, bewegte sich nicht. Beobachtete, stillschweigend.

Als Zenna in seinen Armen starb, brach ihr Ritter völlig zusammen. Wozu jetzt noch Fassung wahren. Wozu jetzt noch Schauspiel und Fassade. Ihr Speichel trocknete noch auf seiner Hand, als sie ihn abgeleckt, mit der kalten Nase angestoßen, ihn irgendwie zu trösten versucht hatte. Jetzt rührte sie sich nicht mehr. Keine Spur eines Atemzugs, der ihre Brust hob und senkte. Kein verräterisches Zucken mehr in ihrem Schwanz.

Es dauerte nur wenige Minuten, ehe der nächste Anfall Arthur packte. Sie erinnerte sich nicht, wie sie regelrecht aufgesprungen war. Aber der Stuhl lag am Boden. Umgekippt. Sie erinnerte sich nicht, wie sie zu Arthur geeilt war. Wie sie seine Hand umschlossen hatte. Woran sie sich erinnerte, war die schier schmerzhafte Kraft, mit der er sie gepackt hielt. Sie erinnerte sich an den Ausdruck grenzenloser Verzweiflung, mit dem sich Arien an seine Brust klammerte. An das Betteln und Flehen des Mischblutes, er möge aufhören, möge bleiben.

Im Nachgang konnte sie sich nicht einmal mehr entsinnen, was das Letzte war, was sie in Arthurs Augen gesehen hatte. Hatte er sich vor dem Ende gefürchtet? Hatte er gelächelt? Hatte er Schmerzen gehabt?

Die Vernunft gebot Letzteres. Er musste schreckliche Schmerzen gehabt haben, immer wieder. Aber ihr Verstand verweigerte sich der Vernunft. Sie erinnerte sich nicht mehr. Wollte sich nicht erinnern.

Woran sie sich erinnern musste… einfach, weil ihr Verstand sie aus Rache dazu zwang… war der Moment, als die Kraft nachließ. Als er aufhörte, ihre Hand zu umklammern. Als der Anfall abebbte. Die Krämpfe nachließen. Und mit ihnen sein Leben. Sie erinnerte sich, wie ihre Kehle sich zuschnürte. So sehr, dass selbst das Atmen schwer fiel. Sie erinnerte sich an ihre eigene Verzweiflung, als sie ihn ihr entgleiten spürte. Sie erinnerte sich, ihn auf die Hand geküsst zu haben.

Und wie sich sein Gesicht entspannte.

Sie erinnerte sich an die seltsame Stille danach. Obwohl Arien noch immer weinte, schluchzte, bettelte, er möge zurückkommen. Sie erinnerte sich an die Benommenheit, mit der sie sich auf den Steinboden hatte sinken lassen, weil sie ihren Beinen nicht mehr traute. Oder vielleicht auch nur, weil sie hatte sitzen wollen.

Woran sie sich nicht mehr erinnerte?

Wie der Tag danach weiter ging. Oder die Tage darauf…

 

Eine Woche später…

 

Lieber Großvater.

 

Zenna hatte Nachwuchs. Sie sind noch sehr klein und wir müssen gut aufpassen, dass sie nicht krank werden. Ihre Geburt war zu früh. Aber sie sind wirklich hübsch. Den Kleinen haben wir Indo genannt. Die Große Faire. Sie hatten von Anfang an so ein weiches, grünliches Fell. Es stellte sich heraus, dass der Grünton je nach Stärke des Lichteinfalls variiert und heller oder dunkler wird. Unter dem Fell haben sie aber eine etwas derbere, ledrigere Haut. Sie haben keine Schwanzkeulen. Stattdessen sind ihre Schwänze ungewöhnlich lang. Faire ist schon fleißig dabei, auszuprobieren, wie gut sie damit auf schmalen Geraden balancieren kann. Es scheint ihnen wirklich dabei zu helfen. Indo ist sehr viel vorsichtiger und ein bisschen schreckhaft.

Es hieß erst, dass so ein kleiner Wurf sehr ungewöhnlich sei. Vor allem für eine erste Schwangerschaft. Aber ihre Empfängnis war ja auch alles andere als einfach. Thalion kümmert sich rührend um sie. Er versucht Indo ein bisschen dazu anzutreiben, mehr Neugier zu zeigen. Und Faire ein wenig zurückzuhalten. Wir hatten erst überlegt, sie zu trennen, aber… das brachten wir dann nicht über uns. Ich bin sicher, Zenna wäre         Arthur hätte

Ist es nicht erstaunlich, wie es Zwillinge sind? Und wie es ein Männchen und ein Weibchen sind. Einer scheu und einer mutig. Einer groß und einer klein.

Arthur wäre bestimmt

 

… stolz gewesen.

Doch der Satz wurde nie beendet. Stattdessen wischte eine Hand über den Tisch und fegte das Blatt davon. Luftwirbel trugen es einen Moment in einen zunächst turbulenten, dann sanfteren Sinkflug, ehe es am Boden landete. Bei seinesgleichen, zahlreich wie die Versuche waren.

Heiße Tränen brannten über Ariens Wange, tropften auf den Tisch, ehe sie die Stirn auf der Tischplatte ablegte. Ihr Schluchzen klang in ihren Ohren plötzlich so viel lauter. Die Tränen rannen nun über ihren Nasenrücken herab. Aber nichts davon störte sie, oder hielt sie auf. Mit bebenden Schultern versuchte sie, sich zusammen zu kauern. Sich kleiner zu machen.

„Ich vermisse dich…“, würgte sie verzweifelt hervor, die Augen geschlossen, an niemanden gerichtet, der da war.

Eine schwere, massive Hand legte sich auf ihre Schulter. Ohne Zögern zog sie eine ihrer Hände, mit denen sie sich abzuschirmen versucht hatte, hervor und legte sie über das kühle Metall. Seine Nähe spendete Trost. Es dauerte. Minuten, wahrscheinlich. Vielleicht länger. Aber sie fand zu sich zurück. Zur Ruhe zurück. Zur Beherrschung.

Oder vielleicht waren ihr auch einfach nur die Tränen ausgegangen.

Als sie sich wieder aufrichtete, lehnte sie sich zur Seite. Lehnte sich gegen ihn. „Ich will dich niemals verlieren“, krächzte sie kaum hörbar. All ihre Verzweiflung, all ihre Befürchtungen, all ihre Angst lagen in diesen wenigen Worten.

„Das wirst du nicht“, erwiderte er ohne Zögern. Und so ernst, wie er nur sein konnte. Voller Überzeugung. Voller Zuversicht und Bestimmtheit. Und für einen kurzen Moment ergab sie sich der Illusion, völlig bereitwillig, das ungeachtet aller Umstände, aller Wenn’s, Aber’s und Was wäre wenn’s, er Recht haben könnte.

Ein schwerer Schädel legte sich auf ihren Oberschenkel. Und eine raue, klebrige Zunge fuhr behutsam über ihre Hand. Irgendwo unter ihm kauerte Indo, sie konnte ihn spüren, aber wie immer nicht hören. Und ein Stück weiter versuchte Faire gerade, in den Mülleimer zu klettern.

„Wenn du den Brief nicht schreiben kannst… wir könnten ihn immer noch zum Essen einladen“, bot Artemis an. Er tat das nicht zum ersten Mal. Aber sie hatte solche Panik bei der Vorstellung. Sie konnte nicht einmal genau benennen, warum oder wovor eigentlich. Aber sie war da… war es zumindest die letzten Tage gewesen.

Jetzt hingegen… war da eine dumpfe, kalte Leere. „Ja… warum nicht…“ Gedankenverloren kraulten ihre Finger durch Thalions Fell, während Artemis Faire vor dem gefräßigen Mülleimer bewahrte. Als er mit dem Quälgeist auf dem Arm zurückkehrte, wagte er einmal mehr die Frage, die sie inzwischen zu fürchten gelernt hatte.

„Geht es dir gut?“

Sie überlegte lange. Vielleicht weitere Minuten. Aber er schwieg, war geduldig. Wie immer. „Nein. Ich vermisse ihn.“

Er nickte leicht, gab ihr Faire auf den Schoß, die sich tollkühn umblickte und Ariens Bauch zu beklettern begann. „Ich weiß. Das tue ich auch.“



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück