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shaping fate

von

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Eine Hand wäscht die andere dreckig

„Lauf weiter, ich bin direkt hinter dir!“, krächzte eine erschöpfte Stimme von hinten.

Reva puzzelte sich mühelos aus diesem einen Satz alles Notwendige zusammen. Alles, was gesagt worden war, ohne wirklich gesagt worden zu sein. Alandor hatte noch immer seinen Schild, hatte er gesagt. Er war weit weniger getroffen worden als sie. Möglicherweise, weil er mit seinem Hintergrund als herumstreunender Plünderer – pardon, respektabler Abenteurer – mehr Übung darin hatte, sich zu ducken, im Zickzack zu rennen, eine generell bessere Intuition dafür besaß, wohin der Gegner als Nächstes schießen würde. Außerdem war er diese Sachen hier vielleicht nicht unbedingt direkt gewohnt, aber er kannte sie zumindest schon. Reva hingegen war dann und wann gejagt worden, sicherlich, aber üblicherweise bezog sich diese Verfolgung auf das soziale Parkett, auf verbale Duelle, auf… nun ja, so ziemlich alles andere als das hier. Dazu war sie es nicht gewohnt, aus der unterlegenen Position heraus zu agieren.

Alandor hatte also seinen Schild noch und rannte hinter ihr. Damit er ihren Rücken deckte. Wortwörtlich. Meister Quasiliam hatte sich offenbar ohnehin dazu entschieden, sie als die größere Gefahrenquelle zu betrachten. Übelnehmen konnte sie ihm das nicht. Alandor hatte ein nicht zu verachtendes Gefahrenpotenzial, doch all seine Bedrohlichkeit war Resultat seines Rückfalls in die Hexerei. Offensive Teleportation konnte einem erfahrenen Zauberer in Sekundenbruchteilen den Tag ruinieren. Meister Lameraks tatsächliche Magie, seine Magier-Magie, das war natürlich das Bannwirken. Und da wiederum, nun, da fand sich einfach so gut wie nichts Offensives.

Und da sie ja nunmal als Abtrünnige gejagt wurden und noch immer versuchten, ihre diesbezügliche Unschuld zu beweisen, war es eine denkbar schlechte Idee, wenn er nun anfangen würde, von Zorn gesteuerte Zauber um sich zu schleudern, die definitiv nicht in sein Standard-Repertoire zu gehören hatten.

Das wäre auch alles sehr viel leichter, hätte Meister Quasiliam nicht einfach direkt das Feuer eröffnet. Vor… oh gute Götter, wie lange mochte das nun wieder her sein? Zwei Wochen? Drei, vielleicht?

Sie hatten ein paar Worte wechseln können, sicherlich. Über die Kämpfe hinweg. Nicht gerade Idealbedingungen, um für den eigenen Fall zu argumentieren. Zudem schien Meister Quasiliam generell von einer recht fanatischen Sorte. Ein Mitglied des Ordus Haereticus, das bei auch nur dem geringsten Verdacht von Abtrünnigkeit nicht lange fackelte und ganz sicher – offenbar – nicht zuzuhören gewillt war.

Sie hatte so eine schöne Argumentation gehabt. Sie hatte Augenzeugen – manche gekauft, manche nicht -, die ihre Geschichte hätten unterstützen können. Alandor wäre mit einem blauen Auge davon gekommen. Sein Ruf ruiniert, sicherlich, aber er hätte zumindest keine Zielscheibe auf der Stirn gehabt. Und sie ebenso wenig. Und das war letztlich, was sie wirklich grämte.

Wie viele Jahre, Jahrzehnte, hatte sie in aller Ruhe ihren wirtschaftlichen Interessen nachgehen können, ruhig, friedlich, ungestört? Sie hatte ihr kleines Imperium aufgebaut. Der Zirkel hatte sie in Ruhe gelassen, solange er ab und an ein Stück vom Kuchen abbekam. Alles war gut gewesen. Bis der Verdacht bei Meister Lamerak aufkam und plötzlich auch bei ihr – aufgrund von nicht mehr als enger Assoziation. Weil sie zu oft mit ihm gesehen worden war. Weil sie zusammenarbeiteten. Es gab nicht einmal begründete Verdachtsmomente! Sie war immer vorsichtig gewesen!

Sie hasste es. Sie hasste die Situation und die Mechanik dahinter, sie hasste den Ordus Haereticus und sie hasste Meister Quasiliam. Nicht, das sie jetzt in die Hexerei zurückfiele, wirklich nicht. Sonderlich hilfreich wäre das ohnehin nicht gewesen. Aber dass man sie nicht anhörte, nicht zu Wort kommen ließ – nicht einmal, um sich selbst zu verteidigen – mit Worten, bevorzugt…

„Kopf runter!“, kam es von hinten und folgsam senkte sie den Kopf. Ein Blitz schoss schnurgerade darüber hinweg.

„Wie viele davon hat er noch?!“, konnte sich Reva in einem Anflug von Empörung nicht verkneifen.

„Acht oder neun“, antwortete Alandor rasch.

Dem Kugelblitz waren sie heute Mittag bereits begegnet. Mit dem Gewitter hatte er sie auch nicht mehr überraschen können – Alandor hatte die Magie einfach aufgelöst. Und als er versucht hatte, sich mit Elektrizität aufzuladen und sie einfach anzuspringen, beinahe schon wortwörtlich, da hatte Meister Lamerak ihm aufgezeigt, wozu Bannmagie gut war: Um nicht nur vorhandene Magie anderer, egal ob offensiver oder defensiver Natur, zu zerstreuen und in die Bedeutungslosigkeit aufzudröseln, sondern auch, um Feinden einen sprichwörtlichen Stock ins Rad zu werfen. Meister Quasiliam war ohne sein Körperempfinden wie ein Sack Mehl umgekippt, einfach zusammengesunken. Und das hatte ihnen kostbare Sekunden geschenkt, um ihre Unschuld zu beteuern, ehe sie erneut die Flucht ergreifen mussten.

Die Augen des Mannes hatten nicht sonderlich einsichtig oder auch nur interessiert drein geblickt. Er hatte einen Auftrag. Und wie immer der auch genau lauten mochte – es war ja nun nicht so, als hätte man den ihnen gegenüber je klar und deutlich ausgewiesen, wie es eigentlich die gottverdammte Order und Pflicht der Ordensmagier war -, Meister Quasiliam war erpicht darauf, ihn auszuführen. Auf seine Weise. In seiner Interpretation des Wortlautes. Was offenbar, so sein Wunsch, auf ihren Tod hinauslief.

Dazu musste gesagt sein, dass dieser ganze Kampf, diese seit Wochen anhaltende Verfolgungsjagd, sehr viel übler hätte aussehen können. Reva hatte nach wie vor ihre Habe. Ihr Netzwerk war nicht angerührt worden. Ihre Schiffe, ihre sicheren Häfen, ihre Familie, alles existierte unbehelligt weiter vor sich hin. Auch Alandors Seite war bemerkenswert ruhig. Niemand hatte Meister Halon involviert. Oder sich mal genauer in Samara umgehört.

Eine mögliche Erklärung dafür war, dass Meister Quasiliam mit wenig Mitteln operierte. Sicherlich, er hatte diese ganzen schicken Sachen dabei, die ihm erlaubten, das Sechsfache an magischer Energie zu nutzen, als ihm allein zustünde. Aber das waren allesamt kampforientierte Artefakte. Er hatte keine Geiseln genommen.

Die mögliche andere Erklärung war eben, dass ihm dafür die Kreativität fehlte. Ordensmagier waren bekannt dafür, ziemlich geradlinig zu sein – zumindest im Vergleich zu ihren Zirkelkameraden. Er hatte sich zweifellos über ihre Stärken und Schwächen informiert. Immerhin hatte ihre erste Konfrontation damit begonnen, dass er Alandor ausknockte und Revas Verwandlung negierte. Aber er war möglicherweise einfach nie auf die Idee gekommen, andere Mittel als Offensive zu verwenden. Nicht, das sie darum nicht auch heilfroh war – mancher hätte hier die Taktik der verbrannten Erde bevorzugt und sie hoffte schließlich nach wie vor, nach erfolgreicher Beilegung dieses… nun, Missverständnisses zu ihrem Leben und ihrem Netzwerk zurückkehren zu können. Gewiss hatte sie nicht vor, sich ihr ganzes Leben lang quer durch alle Länder und Kontinente jagen zu lassen. Es waren drei Wochen und das nagte schon gehörig an ihrer Geduld – obwohl Jahrtausende eines anderen Lebens, erlebt und durchlebt dank Kaleran, ihr eigentlich, eigentlich, genug Geduld gelehrt hatten.

„Stein!“, kam es von hinten und brach ihre Konzentration. Stein? Was für ein – oh. Der Stein. Gute  Güte, das war mehr ein… ein Fels. Also wirklich.

Ein weiterer gut gezielter Blitz jagte in ihre Richtung. Die Offensivkraft eines Magiers mit elementarer Schule sollte man nie unterschätzen. Aber das war das Problem mit Meister Quasiliam. Er jagte bevorzugt Abtrünnige. Er jagte andere Magier und hatte – so vermutete sie inzwischen – ein beinahe schon sadistisches Vergnügen daran, sie auszumanövrieren, ihnen gegenüber seine Überlegenheit zu demonstrieren. Deshalb rannte er mit einer ganzen Schar an magischen Gegenständen herum, die allesamt dazu taugten, seine Kräfte zu stärken, zu steigern oder ihm sogar völlig neue Optionen zu erschließen. Sie hatte den Mann Geistmagie wirken sehen, Luftmagie, Feuermagie, Bannmagie. Es schien, als würde er für jeden Plan, den sie hatten, um ihn zu verlangsamen, ein neues kleines Etwas aus dem Beutel ziehen. Und an den selbst kam man auch nicht heran – das verdammte Ding besaß eine eingeprägte Realität. Existierte nur und ausschließlich für ihn. Selbst das hatten sie bereits versucht.

Und dafür, dass sie ihre Unschuld beweisen wollten, wäre es vermutlich nicht sehr vorteilhaft, wenn sie beim Tribunal erklären müssten, warum er in seinem Zimmer aufwachte und zwei überhaupt nicht abtrünnige Magier versuchten, seinen non-existenten Beutel mitzunehmen.

Das war ja generell das Ziel. Das Tribunal. Die Organisationsstruktur des Ordus Haereticus - ansässig in Thethys, der Hauptstadt Akkaras -, die sich damit befasste, zu beurteilen, wer abtrünnig war und wer nicht. Sie hatten es immerhin schon einmal bis nach Nervaal geschafft. Vor der Küste einer Insel, Isimok? Isimal? Eine der westlichsten Inseln Nervaals. Hier hatte sein Schiff irgendwie ihres einholen können. Vermutlich mittels Luft- oder Wettermagie.

So ein Schiffbruch konnte einem auch die Laune verderben.

Glücklicherweise waren sie damit nicht außerhalb der Zivilisation gestrandet. Die Insel war belebt und bevölkert, so wie alle Inseln Nervaals. Das hätte für sie sonst möglicherweise einen tatsächlich erheblichen Nachteil bedeuten können. Meister Quasiliam war darauf trainiert, auch in unwegsamem Gelände und wilder Natur weiterjagen zu können, während Alandor und auch sie selbst zwar nicht plötzlich inkompetent wurden, aber doch weit weniger vertraut mit solchem Gelände waren.

Wie das Dörfchen hieß, aus dem er sie heute Morgen herausgetrieben hatte, wusste sie nicht. Wen scherte das auch.

Alandor machte Anstalten, sie zu dem Fels zu drängen, als ein weiterer Blitz aufzuckte. Sie hörte sein Ächzen, offenbar also ein Einschlag. Er war nicht tot, da sie seine Schritte noch hörte, also wohl nur ein Streifschuss. Nur… warum nahm er überhaupt Schaden? Schlimmer noch, er stolperte und rempelte gegen sie.

Mit Mühe und Not konnte sie ihn an der Schulter packen und aufrichten, um ihn mit den letzten Schritten hinter den Fels zu ziehen.

„Du hast gesagt, du hast deinen Schild noch!“, mahnte sie ihn streng. Und wirklich, nach ihren Maßstäben fauchte sie ihn damit regelrecht aufgewühlt an.

„War gelogen“, ächzte der Bannwirker und versuchte sich seine Schulter zu besehen.

„Halt still“, wies sie scharf an und besah sich die Wunde. Ein Streifschuss, wie vermutet. Verbrennungen, ja, aber nichts unmittelbar Kritisches.

„Wir müssen weiter, er rückt auf“, wandte Alandor ein, als sie ein paar Sachen bereitlegte.

„Dann zwing ihn in Deckung“, gab sie lediglich zurück. Seufzend richtete Alandor sich auf und prompt schoss ein weiterer Blick über den Fels hinweg. Er dagegen schleuderte ein paar Zauber zurück. Es ergab sich daraus, völlig unweigerlich, ein kleiner Grabenkrieg. Meister Quasiliam musste sich ebenfalls in Deckung begeben. Das verschaffte ihr ein paar wenige Minuten, um Alandors Schulter zu versorgen. Dabei stellte sie sicher, dass er spürte, wie unzufrieden sie damit war, belogen zu werden. Sie konnte verstehen, warum er es getan hatte. Immerhin war er ihr sehr zugetan und sie hatte nichts, um sich gegen Blitzschläge zu verteidigen.

Dummerweise war sie das umgekehrt ebenso und wusste nun, dass er auch nichts mehr hatte. Was sie zurück an den Punkt brachte, das er ihr ins Gesicht gelogen hatte, um ihre Sicherheit gewährleisten zu können – auf Kosten seiner eigenen. Sie wollte keinen tapferen Helden, der für sie starb. Sie brauchte weder einen edlen Ritter, Paladin oder Retter, keinen Beschützer. Wann begriff er das endlich?

Das gelegentliche Ziepen und Brennen, dass ihre Tinkturen und Salben verursachten, war zweifellos der Grund für ein paar kleinere Konzentrationsprobleme während seiner Zauber. Aber er hatte sich treffen lassen, also musste er da nun auch durch und glücklicherweise: Ihnen flog keiner seiner Zauber um die Ohren.

„Ich denke, ich habe ihm klar gemacht, dass wir gerne eine Pause hätten“, ächzte Alandor sichtlich erschöpft, als er sich am Fels einen Moment sinken ließ.

„Nicht anlehnen“, mahnte Reva. An sich sollte das selbstverständlich sein, aber er hatte sie über den Schild angelogen, also befand sie es für würdig, ihn daran zu erinnern.

Sie war bereits dabei, seinen skeptischen Blick mit einer wuchtigen, ausschweifenden Rede zu quittieren – was hatte er sich dabei auch gedacht?! -, als er ihr schlicht zuvor kam. „Wie geht’s jetzt weiter?“

Das fragte er sie? Natürlich war auch das nur wieder ein indirekter Informationsaustausch. Er wusste, zumindest für den Moment, nicht weiter. Reva nahm sich den Augenblick, die Umgebung ins Auge zu fassen. Die Landschaft glich einer Prärie. Es gab vereinzelte Felsformationen hier und da, ein paar knorrige alte Bäume, aber das Land war weitestgehend flach und gut einsehbar. Wenn man nicht gerade sowieso bereits hinter einem Stein hockte, dann war man im Grunde Freiwild für alles und jeden, der auf große Distanz schießen konnte. Und Blitze waren, anders als Bolzen, sehr viel schneller. Man zielte und traf, worauf man zielte, während ein Bolzen zumindest eine knappe Flugdistanz zurücklegen musste – das konnten Sekundenbruchteile sein, die einem das Leben retteten. Diesen Luxus hatten sie mit Meister Quasiliams Zaubern nicht.

Sie würden natürlich versuchen können, zum Dorf zurückzukehren. Mehr Deckung. Vielleicht konnten sie ihn dort irgendwo ausmanövrieren, ihn überraschen. Es wäre schließlich nicht das erste Mal. Aber egal, wie oft sie die Oberhand gewonnen hatten: Sie konnten ihn nicht einfach umbringen. Sie konnten ihm ja nicht einmal seine Habe abnehmen.

Jeder einzelne, noch so kleine Schritt, den sie gegen ihn unternehmen würden, würde vor dem Tribunal gegen sie verwendet werden. Wenn sie ihre Unschuld beweisen wollten, mussten sie dorthin gelangen, ohne… nun ja, eigentlich, ohne überhaupt irgendwelchen Widerstand aufzubieten. Natürlich gab es die Option, ihren Verfolger verschwinden zu lassen. Aber für sowas gab es den Zirkel der Seher – sie konnten nicht sagen, ob ihr Fall dem Orden wert und wichtig genug wäre, diesen einzuschalten.

Was ihnen fehlte, jetzt mehr als in den drei Wochen zuvor, das war eine gute Option.

Als Alandor die Armbrust von seinem Rücken zog, hob sie skeptisch eine Braue. „Weißt du überhaupt, wie man damit umgeht?“

„Man legt den Bolzen hier rein, spannt das Ding und schießt auf das, was man spicken will – wie schwer kann das schon sein?!“, warf er gereizt zurück. Sie hätte ihn gerne darauf hingewiesen, dass Armbrüste ihrer simplen Bedienung wegen gern an Idioten aller Preisklassen vergeben wurden, aber es dennoch mehr gab, um erfolgreich damit zu feuern – vor allem auf Distanz, auf ein bewegliches Ziel und auf ein kampferfahrenes Ziel. Aber er war hochkonzentriert darauf, sie beide am Leben zu erhalten, also entschied sie sich vorläufig dagegen, ihn zu belehren und ging eigenen Überlegungen nach.

Sie konnte sich natürlich in einen Roc verwandeln. Nicht etwa, um anzugreifen. Aber, um Alandor mit einer Klaue zu packen und davon zu fliegen. Bis zu einer anderen Insel würde sie es mühelos schaffen. Dummerweise waren Rocs enorme Kreaturen und damit sehr viel bessere Ziele. Und ihre natürliche Resistenz gegenüber Blitzschlägen betrug… null. Weshalb diese gewaltigen Geschöpfe Gewitterstürme üblicherweise tunlichst mieden.

Dennoch war es eine-

Die Tasche!

„Meine Komponententasche!“, fluchte Reva und sah sich danach um. Sie hatte das verdammte Ding die ganze Zeit in der Hand gehalten. Wo war sie?

In Eile ging sie in Gedanken alle Schritte rückwärts durch. Alandors Versorgung. Aber nein, sie hatte sie nicht einfach bei Seite gelegt oder weggesteckt. Das Rutschen hinter den Fels. Aber nein, sie war nicht einfach weggefallen. Weggefallen. Alandors Schlingern, als er getroffen worden war…! Wider besseren Wissens erhob sich Reva kurz und spähte über den Fels. Wie zu erwarten war, kam ein Blitz angeschossen, jagte jedoch großzügig an ihrem Kopf vorbei. Während sie mit einer gehörigen Portion Frustration ihre Komponententasche dort liegen sah.

Das konnte so nicht bleiben. Wenn sie die Tasche verlor… nein. Einfach nein. Sie mussten sie zurückholen. Also dann wohl doch Richtung Dorf und irgendwie versuchen, unterwegs-

„Sieht aus, als könntet ihr Hilfe gebrauchen“, kam es aus unerwarteter Richtung.

Während Reva sich deutlich besser unter Kontrolle hatte, wirbelte Alandor deutlich alarmierter herum und schoss mit der frisch nachgeladenen Armbrust sofort auf wen-auch-immer.

Dort, keine fünf Meter entfernt, stand Kaleran. Keine Gewitterwolken über ihm, kein Blitzschlag. Er stand einfach da. Natürlich wehrte er den Bolzen mühelos ab, ließ ihn in der Luft anhalten und zu Staub zerfallen. Binnen Sekundenbruchteilen um Jahrtausende gealtert.

„Was willst du denn hier? Keiner hat dich gerufen, wir kommen prima zurecht!“, schoss Alandor gereizt in Richtung des Chronisten.

Es war ein langer Tag, seufzte Reva innerlich – und dabei war es erst Mittag. Nun, es waren lange Wochen. Das klang schon korrekter. Sie konnte ihrem Gefährten schlecht vorwerfen, etwas… skeptisch zu sein. Vor allem, nachdem ihr letztes Zusammentreffen mit dem Chronisten so unerfreulich verlaufen war. Gerade für ihn.

Reva dagegen hatte noch einen Kopf, der kühl genug war, um hier eine sich bietende Chance zu sehen. Vorsichtig lugte sie über den Fels und war heilfroh, einen Vogel mitten im Flug erstarrt zu sehen. Also richtete sie sich auf, ignorierte Alandors schockierten Blick und seinen hastigen Einwurf, dass sie sich umbringe und glättete erst einmal ihre Kleidung, klopfte den widerlich hartnäckigen Dreck und Staub davon herunter. Da fehlte noch ein angenehmes, stundenlanges Bad und einiges an Pflege, aber sie fühlte sich zumindest nicht mehr ganz so räudig wie gerade eben noch, als sie am Boden kauerte und sich an einen Fels presste.

„Danke“, ließ sie Kaleran zunächst wissen.

Da sie nicht sofort von einem Blitz erschlagen wurde, schien auch Alandor allmählich die neue Situation zu begreifen. Auch er erhob sich, verzichtete jedoch auf die Grundpflege. Vielleicht, weil er vermutete, jede Sekunde wieder in Deckung springen zu müssen und die Arbeit damit obsolet wäre.

War sie nicht. War sie nie. Nicht, wenn man sie befragt hätte.

„Ich entnehme diesem glücklichen Zufall, dass du an einem Handel interessiert wärst. Du bietest zweifellos an, uns mit Meister Quasiliam dort drüben auszuhelfen und im Gegenzug sind wir dir bei deiner Agenda behilflich, korrekt?“ Er nickte zunächst nur und das zauberte ihr tatsächlich ein Lächeln auf die Lippen. „Wunderbar. Ich wüsste gerne mehr. Sich das anzuhören schadet nicht und wir haben ganz offenkundig alle Zeit der Welt“, setzte sie nach und wandte sich mit jenem zweiten Teil insbesondere an Alandor. Der sah sich daraufhin um und schien, nun, wenig begeistert. Aber auch das war zu erwarten gewesen.

„Wie genau kannst du uns also weiterhelfen? Und was erwartest du dafür?“

Natürlich war Reva bewusst, dass jedwedes Geschäft mit Kaleran immer ein Risiko war. Er begriff die menschlichen Tugenden nicht und sah sich nie an sein Wort gebunden. Er stellte etwas in Aussicht, dass man gerne haben wollte. Ob man das letztlich auch bekam, hing üblicherweise davon ab, ob es seinen Plänen im Weg stand oder nicht – und die wiederum waren selten bekannt. Es war also das reinste Glücksspiel, mochte man meinen. Reva hingegen glaubte das nicht. Sie hatte das Ende gesehen. Ein mögliches Ende, zumindest. Und sie bezweifelte, dass es in Kalerans Interesse war, das zuzulassen. So viele Eingriffe, so viele Geschehnisse, von ihm manipuliert, quer durch die Jahrtausende. Er arbeitete auf etwas zu. Etappenweise. Und es war nicht der Untergang der Existenz, die Auslöschung allen Lebens oder dergleichen.

Das minimierte das Risiko zwar nur unwesentlich, aber sie nahm jedes Bisschen, das sie bekommen konnte, um etwas mehr Verlässlichkeit gewährleisten zu können. Um ihre Wünsche für solche Situationen auf etwas mehr Wissen begründen zu können.

Natürlich versuchte sie, unter dem Vorwand, sich die Beine etwas vertreten zu wollen, auch an ihre Komponententasche heranzukommen. Dann wäre ein Handel vielleicht hinfällig oder zumindest nicht mehr so dringend nötig. Auch wenn ihr nach wie vor die Vorstellung nicht gefiel, eine gewaltige Zielscheibe abzugeben, wenn sie sich in die Lüfte schwang. Doch wie erwartet befand sich die Tasche in Zeitstarre und ließ sich daher nicht bewegen, als sie sie probehalber mit dem Fuß sachte anstieß.

„Falls du dich entscheidest-“, begann Kaleran, doch Reva fiel ihm schlicht ins Wort.

Ich mich?“

Stirnrunzelnd nickte Kaleran und folgte ihrem Seitenblick zu Alandor. „Er bleibt hier. Sobald ihr euch entschieden habt, das Geschäft anzunehmen, wird er mit in der Zeit eingefroren.“ Einen Moment benötigte er scheinbar, um seinen Text wiederzufinden. „Falls du dich entscheidest, den Auftrag anzunehmen, werde ich dich 32 Jahre in die Vergangenheit versetzen, nach Ostwacht. Das liegt-“

„In Akkara, der Hochburg des Ordens. Wissen wir“, fiel sie ihm abermals ins Wort. Er zog die Brauen etwas zusammen.

„Korrekt“, setzte er fort, „Dort wirst du Meister Ignatius Sarif ausfindig machen und töten. Solltest du den Auftrag erfolgreich-“

„Wie?“, unterbrach Reva abermals.

Kaleran stutzte, verzog leicht das Gesicht. „Was?“

„Wie soll ich ihn umbringen? Wann? Wo? Ist er Ordensmagier? Zirkelmagier? Welche Schule hat er? Bitte etwas präziser.“ Das waren schließlich völlig berechtigte Fragen.

„Die Wahl von Ort, Zeitpunkt und Mitteln ist dir überlassen. Natürlich gilt: Je kürzer du dort bist, desto weniger mischst du dich ein. Je weniger du dich einmischst, desto ungefährlicher wird deine Präsenz für die Zeitlinie. Meister Sarif ist Ordensmagier und beherrscht Geistmagie.“ Kaleran musterte sie. Wartend. Lauernd, fast schon. Als würde er die nächste Unterbrechung noch abwarten wollen, ehe er von neuem begann. „Solltest du erfolgreich sein, werde ich euch eine äußerst nützliche Information zuspielen, sowie Meister Quasiliam in Lairuinen absetzen. Er besitzt keine Möglichkeit zur Teleportation und wird daher Wochen brauchen, ehe er eure Fährte wieder aufgenommen hat – und weitere Wochen, ehe er euch eingeholt hat. Genug Zeit, um zum Tribunal zu kommen und euren Fall darzulegen.“

Reva nickte zufrieden. „Und wie wird das für uns ausgehen? Man könnte schließlich uns anlasten, dass Meister Quasiliam plötzlich in Lumiél landete.“

„Er handelt zum gegenwärtigen Zeitpunkt bereits entgegen seiner Direktiven. Das Tribunal wird den Status eurer in Frage gestellten Loyalität revidieren und ihn seines Amtes als aktiver Abtrünnigenjäger entheben.“ Das waren keine Vermutungen. Er wusste es. Weil er es gesehen hatte.

„Da der Zeitpunkt des Attentats mir überlassen ist – wie komme ich zurück? Spürst du, wann es soweit ist und reißt mich einfach hinaus?“, hakte Reva weiter nach.

Kaleran dagegen schüttelte den Kopf und zog eine kleine, steinerne Plakette aus der Tasche. Sie wirkte extrem dünn. „Brich sie, sobald du zurückzukehren wünschst.“ Angesichts der Umstände war davon auszugehen, dass das kleine Ding auch tatsächlich nur dann brechen würde, wenn sie das wollte.

Dennoch. Als er herantrat und ihr das dünne kleine Scheibchen überreichte, nahm sie es mit Bedacht an und blickte zu ihrem Gefährten herüber. „Erlaubst du uns einen Moment? Zum Verabschieden.“ Er nickte und Reva trat zu Alandor herüber. „Untersuch‘ das, rasch“, wies sie ihn an.

„Wer ist das?“, hakte der Bannwirker skeptisch nach.

„Kaleran. Siehst du doch“, erlaubte sich Reva tatsächlich einen Moment eine etwas spitzere Zunge. Ihr Begleiter warf ihr unter gehobener Braue einen skeptischen Blick zu. „Ich weiß es nicht“, gestand sie daher knapp darauf ein, „Aber ich habe vor, das herauszufinden. Er beherrscht Zeitmagie, also muss er ein Chronist sein. Duncan würde sich aber nicht all diese Mühe machen. Vielleicht ein Dritter, ein Neuer.“

„Das gefällt mir nicht“, gab Alandor wenig überraschend zurück.

„Als ob mir das gefallen würde! Aber er hat in einer Sache Recht – wir könnten die Unterstützung aktuell gut gebrauchen. Ich werde sehen, was ich über Meister Sarif herausfinden kann, bevor ich Schritte ergreife. Was sagt das Artefakt?“ Kaleran wartete in einiger Entfernung. Und Reva sah sich durch Alandors Einschätzung nur in ihrem Gefühl bestätigt. Von Anfang an war da etwas nicht richtig gewesen. Kaleran verstand vielleicht nicht viel von Emotionalität, aber er gönnte sich selbst dennoch üblicherweise große Auftritte. Es hatte jedoch keine Sturmfront gegeben. Es hatte nicht einmal die berüchtigten Blitzschläge aus heiterem Himmel gegeben, die in Geschichten sonst erwähnt wurden. Gar nichts. Er war einfach da gewesen.

Dazu kam, wie er im Gespräch reagiert hatte.

Dem echten Kaleran ins Wort zu fallen war letztlich eine Belanglosigkeit. Es störte ihn nicht weiter, und wenn er fünfzig Mal von vorne anfangen musste. Er hatte schließlich alle Zeit der Welt. Er war nicht reizbar. Dieser Kaleran jedoch hatte Spuren von Ungeduld gezeigt. Von Verärgerung. Frustration. Hinter diesem Gesicht steckte jemand, der sich Mühe gab, Kaleran zu sein. Kaleran zu spielen. Der aber ganz gewiss nicht Kaleran war. Und falls tatsächlich alle sogenannten ‚reinen‘ Chronisten emotionslos waren, dann konnte es sich nur um Duncan handeln – oder einen anderen Chronisten, der irgendwann einmal als Wesen mit der Veranlagung zur Zeitmagie geboren und erst später von den Chronisten rekrutiert worden war. Duncan jedoch würde sich nicht solche Mühe geben. Er war manipulativ, sicherlich. Aber er wiederum würde wissen, würde einfach wissen müssen, dass gerade Alandor und sie ihn inzwischen gut genug kannten, seine Tricks genug kannten, um ihn zu erkennen und zu durchschauen.

Alles deutete auf einen neuen Spieler hin.

Und Reva behagte einfach nicht, welche Implikationen das für die Welt haben mochte. Was war wiederum dessen Ziel und Agenda? Zu welchen Mitteln konnte er greifen? Kalerans Einflüsse waren schier überall zu spüren. Zu sehen. Wenn man nur gut genug danach grub, dann fand man rasch heraus, dass er so ziemlich jedes lebende Wesen an irgendeinem Punkt direkt oder indirekt beeinflusst hatte. Die Welt war geprägt von seinem Handeln. Und Duncan, obgleich weitaus weniger mächtig, schickte sich mit der Endlosigkeit seiner Existenz an, es dem einzig wahren Kaleran gleich zu tun. Konnte die Welt überhaupt noch einen Chronisten und dessen Spielchen verkraften?

„Funktioniert“, meinte Alandor und riss Reva aus ihren Gedanken. Sie wollte ihm bereits ein ‚wenig hilfreich‘ entgegen werfen, als ihr klar wurde, dass er lediglich überrascht davon war, dieses Ding überhaupt untersuchen zu können. „Es sendet ein Signal, wenn es gebrochen wird. Könnte vermutlich durch Zeit dringen?“

„Ist es personalisiert? Auf mich abgestimmt?“

„Nicht, das ich es sehen könnte, nein.“ Sie nickte. Damit galt es nur noch eine Sache auszutesten. Nach kurzer Anweisung umarmten sie einander – und möglicherweise, durch einen dummen Zufall, wurde dabei ein kleines Stück der Scheibe abgebrochen.

„Was macht ihr?“, kam prompt von Kaleran. Offenbar funktionierte der Sender ganz prächtig.

Mit ihrer besten Unschuldsmiene wandte sich Reva um. „Ich habe mich verabschiedet – wonach sah es denn aus?“

„Du hast die Scheibe gebrochen“, warf er ihr um Neutralität bemüht vor.

Sie zog das kleine Ding hervor und besah es sich. „Oh. Mir war nicht klar, dass es so empfindlich wäre. Hast du noch eine?“

Er schüttelte den Kopf. „Nicht nötig. Sie funktioniert immer noch, es war ja nur ein kleines Stück.“

Formulierung, mein Guter… du wirst unachtsam. Reva verzog keine Miene, nickte lediglich, ihr Lächeln weiterhin unantastbar auf ihren vollen Lippen. „Oh, gut, beruhigend. Sagen wir, ich gerade in eine etwas unangenehme Lage. Und habe nicht mehr so viel Zeit oder die Möglichkeit, die Scheibe bei mir zu behalten. Ich schaffe es, sie zu brechen, verliere sie dann aber aus den Händen. Was dann?“

Kaleran überlegte einen Moment. „Dann werde ich Bescheid wissen und muss dich eben in der Zeit suchen und zurückholen. Es wäre jedoch anzuraten, dass du zumindest  versuchst, einen Teil der Scheibe zu behalten. Als Zielmarker.“

„Ich werde mich bemühen“, erwiderte sie lächelnd. Ihr Blick schweifte umher und blieb einen Moment an Alandor hängen. Er würde sich wohl oder übel dem fügen müssen und man sah ihm seine diesbezügliche Begeisterung bereits bestens an. „Fein, ich denke… ich bin so weit.“ Sie nickte Kaleran zu, der herantrat und ihr die Hand entgegenhielt. Als sie Einschlug, spürte sie die Macht der Entität, mit der sie sich gerade eingelassen hatte. Auch wenn es nur für einen Sekundenbruchteil war.

Bei Kaleran war ihr davon schlecht geworden. Speiübel. Hier jedoch? Als sie sich wieder manifestierte, irgendwo anders, irgendwann anders, da brach sie sofort auf die Knie, kämpfte gegen die Übelkeit und die schier überwältigend scheinende Ohnmacht, kämpfte gegen leuchtende Sternchen, die vor ihren Augen tanzten. Da war kein Ende gewesen. Sie hatte versucht, das Ausmaß an Macht zu begreifen, mit dem sie es da zu tun hatte und hatte dabei unwissentlich versucht, die Unendlichkeit zu fassen.

„Amateur“, raunte jemand im Vorbeigehen amüsiert.

„Mein Herr, ich glaube, das ist euch heruntergefallen“, krächzte sie noch immer den Würgereiz bekämpfend. Offenbar gerade laut genug, dass der Angesprochene innehielt und sich zu ihr umwandte. Sie hielt ihm die kleine Steinplakette entgegen.

„Das gehört mir nicht“, kam prompt zurück.

„Seid ihr sicher? Es fiel gerade herunter“, beharrte sie und richtete sich langsam auf. Die Übelkeit ließ nach, die Ohnmacht zog sich zurück, aber dafür traf sie der Verlust ihres Gleichgewichtsgefühls dafür mit umso größerer Härte und ließ sie taumeln. Der Fremde, irgendein älterer Mensch in seinen Vierzigern, trat heran und versuchte sie stabilisierend zu greifen.

„Euer erster Teleport?“, hakte er amüsiert nach.

„Mhm. Das hier ist nicht Thethys, oder?“, seufzte sie bemüht. In der Tat, es war heiß. Brennend heiß. Enge Straßen, überspannt von Tüchern und Planen, alles war bunt, voll, laut, geschäftig. Es erinnerte an Sundergrads Straßen – nur etwas… multikultureller. Hier liefen nicht einfach nur dunkelhäutige Menschen zwischendrin herum. Hier liefen Drider und Agathion und allerhand andere Raritäten herum.

„Nein, ganz sicher nicht – willkommen in Ostwacht, Frischling“, amüsierte sich der Alte weiter, „Na dann zeig das Ding mal her.“ Er griff nach der Plakette und in dem Moment, als er das dünne Scheibchen zwischen Zeigefinger und Daumen zu nehmen versuche, knickte Reva es. Das Stück brach – und sie ließ das größere Teil fallen, während er das Kleinere noch hielt.

Binnen eines Wimpernschlages war er fort. Sie hatte nicht wissen können, ob es so funktionieren würde. Sie hatte spekuliert und es hatte geklappt. Reva sammelte die Plakette vom Boden auf und zog sich einen Schritt zurück. Wie erwartet tauchte Sekunden später ein sichtlich verwirrter Herr aus dem Nichts auf. Er schien einen Moment desorientiert, ehe er mit den Schultern zuckte und seines Weges ging. Teleportation war in den Landen der Magi nicht selten, daher erregte es keinerlei Aufmerksamkeit. Nicht einmal seitens der extraplanaren Geschöpfe, die hier herumrannten und unweigerlich die ganze Zeit alle Magie lasen und aufschnappten – denn für die meisten von denen war es nichts Außergewöhnliches. Sie wussten einfach nicht, was es in dieser Existenzebene bedeutete, wenn ein Mensch mal eben per Zeitmagie sprang.

Was nicht geschah war, das ein wütender nicht-Kaleran auftauchte. Aber sie rechnete fest damit, sich dafür später noch etwas anhören zu dürfen – was ja auch Sinn und Zweck der Sache war. Sie freute sich gewissermaßen schon darauf. Doch zunächst galt es Arbeit zu erledigen und Reva fügte sich mit Bravour in die oberste Gesellschaftsschicht Ostwachts ein. Es galt ein wenig im Trüben zu fischen…

 

Sie war so bezaubernd. So wunderschön. Sein Täubchen, seine zarte Blüte.

Vorsichtig trat Ignatius näher an den Tisch heran, auf dem sie aufgebahrt lag. Er hatte alles vorbereitet. Die Werkzeuge lagen parat. Vorsichtig nahm er das Erste. „Darf ich?“, erkundigte er sich höflich. Sie widersprach nicht. Also nahm er behutsam ihre Hand, führte das Werkzeug unter den Fingernagel ihres Daumens. Kratzte Schmutz und Dreck hervor. Spülte vorsichtig, behutsam nach. Die Flasche hing an einer Nadel, mit der er selbst feinste Stellen ausspülen konnte. Eine Eigenkonstruktion, auf die er stolz war. Er war kein Genie, kein großer Erfinder, gewiss nicht. Aber er verstand sich auf sein Handwerk.

Nach und nach reinigte er ihre Fingernägel. Dann bestrich er sie mit einer Lösung, deren Rezeptur er ebenfalls selbst entwickelt hatte. Es würde die Nägel stärken. Eine klare, durchsichtige Substanz. Sie roch ein wenig streng, aber der Geruch verflog schnell. Er entschuldigte sich bei ihr für die Umstände, doch Abänderungen der Rezeptur zur Verbesserung des Duftes hatten bisher immer die Nachhaltigkeit und Wirksamkeit beeinträchtigt.

Er wiederholte den Prozess an ihren Füßen. Sie hatte kleine Füße. Schmal und zierlich. Geschickt und feingliedrig. Die Füße einer Tänzerin vielleicht? So stellte er sich die Füße einer Tänzerin vor. Hübsche Knöchel.

Vorsichtig öffnete er ihre Augenlider. Ein mattes Blau darin. „Das ist unangenehm, ich weiß, aber es wird helfen. Glaube mir, meine Hübsche.“ Er träufelte etwas aus einer Pipette in ihre Augen. Zwei Tropfen. Drei. Vier. Genug. Vorsichtig schloss er ihre Lider wieder, tupfte die überflüssige, ablaufende Substanz behutsam fort.

Mit den feinsten Ölen und aromatisierten Seifen wusch er ihre Haare. Wusch den Dreck daraus hervor. Den Staub, die Erde, das Blut. Knetete ihre Haare durch, bis sie sauber waren, trocknete sie mit einer Mischung aus Handtüchern und Magie, bis ihre unbändige, wundervoll duftende, dunkelbraune Mähne in Locken über den Rand des Tisches fiel.

Mit einem Lappen tupfte er ihr Gesicht ab. Grob, zunächst. Wusch ihr mit einem kleinen Stöckchen, an dem er Watte festgebunden hatte, die Ohren aus, die Nase, stoppte aber, als er zu ihren Lippen kam. Das war unhygienisch. Er spannte neue Watte auf. Fuhr zunächst über sie gebeugt mit dem Stab langsam die Konturen ihrer vollen Lippen nach. So zart und blass. Er beugte sich tiefer, betrachtete ihre Konturen aus nächster Nähe, ihre perfekte kleine Nase, die Position ihrer Wangenknochen, den schmalen Kiefer. Noch ein wenig tiefer und er glaubte eine Spur des Duftes zu vernehmen, der von ihren Haaren aufstieg. Sie selbst hatte keinen Duft mehr. Gleich als Erstes, als sie zu ihm kam, hatte er sie gewaschen. Lange und gründlich. Sie war sauber. So sauber, wie sie in ihrem Leben wohl nie gewesen war.

Er spürte, dass er zitterte. Seine Hand zitterte. Sein Herz flatterte. Noch ein Stück tiefer, ein kleines Stück nur. Warme Lippen trafen auf Kalte. Sie fror. Er wollte ihr seine Wärme schenken, doch… er spürte ein Pulsieren, ein Ankämpfen, das Ringen seines Herzens, Blut von jenem scheußlichen Ort fern zu halten. Es ruinierte die Unschuld des Momentes!

Zitternd vor Liebe und Zorn zugleich, entfremdete er sich ihr. „Verzeih“, hauchte sein Stimmchen leise, fast unhörbar leise. Bestimmt hatte sie ihn vernommen. Bestimmt verstand sie. Vergab ihm. Als er sich von ihr gelöst hatte, trat er ab. Trat hinüber zu seinem Schreibtisch. Den Hammer zur Hand genommen, den Gürtel gelöst, das widerliche, hässliche Ding auf den Tisch gelegt und schon zum Schlag ausgeholt. Es wäre das letzte Mal gewesen, dass es seinen hässlichen Kopf reckte und an seinem Leben teilzuhaben versuchte, seinen Spaß zu ruinieren versuchte, in seine Arbeit hineinpfuschte!

Doch der Anblick ließ ihn zaudern. Zögern. Vernarbt von Brandwunden, Schnittwunden, Stichwunden. Unter seinem zornig lodernden Blick wagte es nicht, fortzubestehen. Das hässliche Ding schrumpfte in sich zusammen, wimmernd, weinend, klagend, bis es fast zur Gänze verschwunden war. Langsam ließ er den Hammer sinken, legte ihn wieder auf den Tisch zurück.

„Gut so. Und bleib da“, wies er streng an. Er knöpfte die Hose wieder zu, schloss den Gürtel. Und kehrte an die Arbeit zurück.

Da lag sie noch immer, geduldig, wartete auf ihn. Nur auf ihn, niemanden sonst.

Er trat zu ihr heran, seinem Täubchen, streckte die Hand nach ihr aus und wagte doch nicht, sie zu berühren. Es war falsch. Es würde ihre Schönheit beschmutzen. Dabei gab er sich doch so viel Mühe, sie in vollem Glanz erstrahlen zu lassen. Sein Blick streifte von ihren verlockenden, verheißenden Lippen herab. Ein schlanker Hals. Zierliche Schultern. Sie war jung, keine zwanzig Jahre alt. Ihre Brüste waren noch straff und fest, klein und zierlich. Er beachtete sie kaum. Sein Augenmerk lag auf den unter der Haut sichtbaren Rippenbögen darunter. Er zählte sie, hoch und runter, runter und hoch.

„Du solltest mehr Essen, Liebste“, rügte er sie leicht. Er streckte abermals die Hand nach ihr aus, unterließ es jedoch. Sauber. Sie war sauber. So sollte sie bleiben. Schön und unschuldig und sauber.

Also nahm er den Lappen wieder zur Hand. Strich behutsam mit einer neuen, weiteren Tinktur versehen ihre Unterschenkel entlang. Hob sie vorsichtig an, um auch die Wade nicht zu vernachlässigen. Die Kniebeuge und das Knie selbst. „Entschuldige. Ich weiß, das muss… ungewohnt sein“, seufzte er leise, als er sich ihre Ferse auf die Schulter legte, „Es dauert nicht lange“, versprach er.

Behutsam wischte er ihren Oberschenkel entlang. Unterseite, Außenseite, Oberseite, Innenseite. Wiederholte die Prozedur auf der anderen Seite ebenfalls.

Dann wieder eine andere Tinktur. Er begann, ihre Flanke damit einzureiben. Ganz vorsichtige, kreisende Bewegungen. Nicht zu viel Druck – er wollte ihr schließlich nicht wehtun. Behutsam beugte er sich wieder tief herab, als er mit dem Lappen über ihren Beckenknochen strich. Sehr dünne Haut, empfindlich – da musste man vorsichtig sein. Sein Blick aber glitt ab, zur rechten Seite weg. Ihr Hügel bot nur noch getrimmtes Haar auf, doch sein scharfes Auge sah es ganz genau, jawohl!

„Na das darf doch wohl nicht wahr sein“, fluchte er leise, erhob sich, sah zu ihrem Gesicht auf, „Warum hast du mir nichts gesagt? Wirklich, du brauchst dich nicht schämen…“ Er starrte sie an. Wartete auf Antwort. Bis es ihm dämmerte. Sie schämte sich nicht. Nicht hier, nicht vor ihm. Sie hatte nur nicht gewollt, dass er mit seiner Arbeit unzufrieden war. Sie bedeutete ihm schließlich so viel. Er war so stolz darauf. Er hatte etwas übersehen, aber sie befand es nicht für wichtig.

Aber das war es!

Eilig legte er den Lappen bei Seite, nahm die feine Schere zur Hand. Eine Hilfskonstruktion auf die linke Seite gerollt, um den Schenkel darauf abzulegen, und eine auf die Rechte für den Anderen. Ihre Beine weit gespreizt, hatte er den perfekten Zugang und beugte sich weit vor, setzte sich sogar die verhasste Brille auf. Eins. Zwei. Vier. Fünf. Acht. Acht Haare. Acht! Gute Güte. Vielleicht wurde er wirklich alt? Oder blind?

Ganz behutsam griff er zu. Er wollte die Haare schließlich nicht herausziehen. Nur genug entkräuseln, dass er sie vernünftig schneiden konnte. Auf die gleiche Länge wie alle anderen auch. So gehörte sich das schließlich. „Halt still, Liebste“, bat er leise. Sein Blick glitt etwas ab. Weiter runter. Auf ihre Lippen, die plötzlich, irgendwie, so einladend wirkten. Verlockend. Verheißend. Er näherte sich behutsam, sog tief die Luft ein und roch… nichts. Sie war sauber. Völlig und absolut sauber. Und wunderschön. Es war betörend, wirklich.

Dann aber kam er zu Sinnen. Da war es wieder, das hässliche Ding, pulsierte, stahl im Blut, wagte sich hervor. „Nein!“, zischte er erbost, „Du wirst sie nicht haben! Du wirst sie nicht besudeln!“ Sein Blick glitt durch den Raum, blieb fast schon furchtsam an einem der anderen Tische hängen. Sein Augenstern hatte dort drüben gelegen. Er hatte sich Mühe gegeben, wirklich viel Mühe gegeben. Aber er konnte an dem Tisch nicht mehr vorbei gehen, ohne sich bei ihr zu entschuldigen.

Er hatte sie beschmutzt. Er hatte ihre Schönheit ruiniert. Weil das hässliche Ding sich nicht in seine Schranken hatte weisen lassen. Ein fürchterliches Monster, das solche Schönheit ruinierte. „Sie ist mein!“, fauchte er erbost. Ein bisschen Spucke flog dabei von seinen Lippen. Haftete nun an ihren. Sein Blick folgte schockiert dem Geschehen. Besah sich die Stelle an ihr, die er nun beschmutzt hatte. Vorsichtig, wie in Trance, näherte er sich. Öffnete die Lippen. Um sich zu entschuldigen, so glaubte er. Doch je näher er kam, desto unwahrscheinlicher wurde das. Bis er die Zunge das winzigste Stück nur hervor schob und ganz behutsam, ganz langsam, ganz vorsichtig über die betroffene Stelle führte. Das Gefühl ihrer Haut, die Textur, ihr Geschmack nach Lavendel und Flieder, es brannte sich regelrecht in seine Erinnerungen. Er wollte mehr, so viel mehr davon und-

Und dann besann er sich. Was um alles in der Welt tat er hier nur gerade?

Er rückte von seinem Täubchen ab. Hastig ergriff er den Lappen, tränkte ihn in der Reinigungsflüssigkeit. „Verzeih mir, Liebste, bitte verzeih mir!“, würgte er von Tränen halb erstickt hervor. Er bemühte sich, sie fortzublinzeln. Er musste doch schließlich sehen, was er tat! Und noch viel wichtiger war, dass sie nicht fallen durften – nicht auf sie, allemal. Also machte er sie sauber. Bereinigte seinen Fehler. Sühne würde es geben – später.

Als er die acht Haare geschnitten und vom Tisch entfernt hatte, legte er ihre Schenkel behutsam wieder zusammen, rollte die Hilfskonstrukte bei Seite. Vorsichtig besah er sich sein Werk. Zufrieden. Voller Genugtuung. „Du wirst die Schönste von ihnen allen sein, mein Täubchen.“ Er streckte die Hand aus, strich ihre Konturen nach, ohne sie wirklich zu berühren. Sie war perfekt. Sie war wundervoll. Sie war schön und sauber und-

Ein jähes Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken.

Ignatius verzog das Gesicht. Er war hier fertig, ja, aber er hatte sich von ihr verabschieden wollen. Seufzend wandte er sich ab. „Ich bin gleich wieder da, Liebste.“ Langsam stieg er die Treppen aus dem kühlen Keller auf und wanderte durch das opulente Haus. An seiner Haustür fand sich eine Magierin.

 

„Meister Sarif, nehme ich an?“ Reva musterte den Mann unauffällig, der die Tür kaum einen Spalt öffnete. Gerade genug, um selbst hindurchspähen zu können. Er schien Mitte dreißig begonnen zu haben, sein Elixier zu nehmen. Der für Akkara typische dunkle Hautton sprach von einem Einheimischen, dazu die bemerkenswert nonchalante Kleidung, die eher auf einen Handwerker hinwies als auf ein Mitglied des Ordens – es passte alles zu ihren Informationen.

„Da nehmt ihr richtig an“, erwiderte der Hausherr und öffnete die Tür ein gutes Stück weiter, „Wie kann ich euch behilflich sein, Fräulein…?“

„Meisterin Reva Tanveer, vom Zirkel. Erfreut, eure Bekanntschaft zu machen.“ Sie knickste, wie sich das gehörte und er bat sie herein. Führte sie in einen Salon, der ganz offensichtlich selten genutzt und für Gäste vorgesehen war.

„Was führt euch in mein bescheidenes Heim, Meisterin Tanveer? Wünscht ihr einen Tee?“

„Oh, sehr gern.“ Ignatius wirkte ein paar Zauber. Was bedeutete, dass irgendwelche immateriellen Krafteffekte sich gerade um heißes Wasser und ein paar Blätter in einer Tasse kümmerten. Gut genug für die meisten Gäste, die dieses Haus aufsuchten, aber es bedeutete wohl auch, dass sie ihre Erwartungen an die Qualität des Tees drastisch herabschrauben musste. Dabei hieß es doch, das Akkara bemerkenswert gute Tees zu bieten hätte. Zu schade, dass Meister Sarif sich diesem Gerücht nicht zu fügen gewillt schien. „Ihr seid der Lehrmeister von Rasimow Quasiliam, richtig?“

„Meister Quasiliam“, korrigierte er ohne sonderliche Gefühlsregung, „Und ja – der war ich. Er war der vorletzte Schüler, den ich ausbildete. Aber das ist schon gut anderthalb Jahrhunderte her. Wieso, bereitet er euch Schwierigkeiten?“

„Oh keineswegs, wie kommt ihr darauf?“ Reva gab sich aufrichtig verwundert – offenkundig erfolgreich. Ignatius machte nicht den Eindruck, sonderlich oft unter Leute zu kommen und das war wohl auch wenig verwunderlich. Sie hatte auf Gedeih und Verderb nicht herausfinden können, welchem Handwerk er eigentlich nachging – aber er verließ wohl selten je sein Heim. Viele Leute in Ostwacht wussten nicht einmal, dass es ihn überhaupt gab… und das, obwohl sie zwei Häuser weiter wohnten.

„Oh, nun, er ist immer ein gelehriger Junge gewesen, talentiert, aber er war auch immer anfällig für Schnapsideen. Wie die Jugend eben so ist.“ Ignatius zuckte mit den Schultern. Kurz darauf klopfte es an der Tür und einmal hereingebeten schwebten zwei dampfende Tassen herbei, ehe die Tür sich wieder schloss.

„Nein, nichts dergleichen, seid unbesorgt. Ich kam nach Ostwacht, weil ich ein Handelsnetzwerk betreibe. Die örtlichen Märkte bieten allerhand exotische Waren an, an einigen davon habe ich Interesse. Ich überlege sie in meinen Warenkatalog aufzunehmen und bei ihrem Vertrieb behilflich zu sein. Manche der Händler verwiesen mich jedoch an euch, dass ihr einen Großteil ihrer diesbezüglichen Vorräte regelmäßig aufkaufen würdet. Ich möchte nur sicherstellen, dass ich nicht in jemandes Revier wildere.“ Mit einem charmanten Lächeln versuchte sie, ihn ein wenig einzulullen, aber etwas an Meister Sarif war… befremdlich. Üblicherweise hatten sämtliche Gesprächspartner zu diesem Zeitpunkt schon mindestens ein oder zwei Mal auf ihren Ausschnitt gestarrt, auf ihre Hüfte und ihre Lippen – in der Reihenfolge. Meister Sarif dagegen schien weitestgehend uninteressiert und verfolgte nur gelegentlich ausgerechnet die Bewegungen ihrer Hände.

Sie hatte zumindest in ihrer Recherche nichts darüber vernommen, das er eher Männern zugetan sei…

„Da müsst ihr euch keine Sorgen machen, Meisterin Tanveer. Und solltet ihr erfolgreich Verträge mit den hiesigen Händlern abschließen können, dann sorgt euch auch da nicht – dann kaufe ich eben bei euch. Das ist mir einerlei, solange ich bekomme, was ich braue. Bringt mir bei Gelegenheit euren Katalog vorbei, vielleicht findet ihr in mir sogar einen treueren Kunden, als ihr glaubt.“ Er lächelte, aber es war unmissverständlich, dass er das Gespräch nicht länger als nötig führen wollte. Also akzeptierte Reva den indirekten Rauswurf. Ob ihm überhaupt klar war, wie überdeutlich das für jeden war, der etwas von Subtilität verstand? Der arme Mann war sozial so unterentwickelt wie fünfundneunzig Prozent der Bevölkerung Lumiéls.

„Gut, danke – das werde ich. Ich gedenke bis zum erfolgreichen Abschluss meiner Verhandlungen in einem der hiesigen Gasthäuser zu verweilen. Dann will ich sehen, dass ich morgen nochmal her komme und jetzt erstmal nicht weiter eure kostbare Zeit verspiele.“ Sie trank nochmals von ihrem Tee und stellte die halbleere Tasse ab.

Er begleitete sie nach draußen, schloss die Tür und das war’s. Reva… fühlte sich seltsam vor die Tür gesetzt. Sie war dergleichen schon gewohnt, sicherlich, aber üblicherweise wusste sie dann wenigstens, warum eigentlich. Meister Sarif war ein wahrlich seltsamer Kauz – wie es ihr auch mehrfach gesagt worden war…

 

Ignatius kehrte zu seinem Täubchen zurück. Beendete die Arbeiten. Heute würde er zu nicht mehr viel kommen. Er musste Geschirr abwaschen, den Salon herrichten, die Beschmutzung durch Herrin Tanveer beseitigen. Sei hatte hübsche, schmale Hände gehabt.

Erst tief in der Nacht war es soweit.

Meister Sarif erwachte aus seinem Schlaf, keine Stunde, nachdem er in ihm versunken war. Er konnte sich nicht rühren, war paralysiert. Seine Glieder steif, seine Hände, Füße, Finger, Zunge. Selbst die Lippen konnte er nicht bewegen und jetzt, da die Augenlider offen waren, konnte er sie auch nicht mehr schließen.

Ich kann nicht atmen…

Er starrte an die Decke herauf und rätselte, was wohl der Grund für all das sein mochte. Herzprobleme hatte er nie gehabt. Vielleicht ein Nervenschaden? Dann begann plötzlich seine Haut zu jucken. Es wurde immer übler, bis das Jucken in ein Brennen überging. Alles brannte, alles schmerzte.

Wundervoll… ah – der Tee? Wie hieß diese Magierin doch gleich…?

Das Brennen war Agonie und Euphorie. Es schmerzte und weil es schmerzte, tat es gut. Er wusste, dass er starb. Seine Atmung hatte bisher nicht wieder eingesetzt. Er verstand nicht, warum Meisterin Tanveer ihm dieses Geschenk gemacht hatte. Ob sie ihn tatsächlich verstand. Oder ob das nur Zufall war. Hatte er vielleicht irgendetwas getan, um irgendwem im Weg zu stehen?

Sein Sichtfeld begann bereits trotz der Dunkelheit in seinem Schlafzimmer allmählich zu schrumpfen. Aber es genügte noch, damit er aus dem Augenwinkel heraus eine Gestalt dort im Dunkeln stehen sah. Ihn beobachten sah.

Kaleran? Bist du das?

Still und schweigsam verfolgte die Gestalt mit dem dritten Auge auf der Stirn sein Scheiden.

Meister Ignatius Sarif verstand den Grund nicht. Und hegte auch kein gesteigertes Interesse daran. Es war gut so. Sein Täubchen war hübsch. Makellos sauber und unbeschmutzt.

 

Als Reva die Scheibe brach, kehrte sie in die Prärie einer Insel Nervaals zurück.

Was sollte das?!“, blaffte Kaleran wenig überraschend direkt los.

Reva dagegen konnte sich beim besten Willen an dieser Stelle nicht verkneifen, amüsiert aufzulachen. Spätestens jetzt hatte er jegliche Chance verspielt, glaubhaft Kaleran den Sehenden, Chronist der Weißen Halle, spielen zu können. Spätestens jetzt. Natürlich hatte sie immer noch mit der Übelkeit zu ringen, weshalb sie etwas würgte und nicht direkt antwortete, wie sie das gewünscht hätte.

Nicht-Kaleran dagegen wartete ihre Antwort auch gar nicht ab. Er öffnete sein drittes Auge und besah sich… nun, die Veränderungen, die sie herbeigeführt hatte, vermutete sie. Und der mühelos an seiner Mimik abzulesenden Reaktion nach zu urteilen… gefiel ihm nicht, was er sah.

„Nein… nein, das… das kann nicht sein… sie sollte wieder leben…“, krächzte er, würgte er an Tränen vorbei, während er sich zu Boden sinken ließ.

Reva erholte sich zunehmend von der Übelkeit und sah nun eine gute Gelegenheit gekommen, diesen Hochstapler zu enttarnen. „Nicht ganz zufrieden mit dem Ergebnis? Ignatius ist tot, das kann ich garantieren.“ Der Hochstapler nickte lediglich benommen. „Wer sollte wieder leben?“, bohrte sie weiter nach. Sie trat an ihn heran und obgleich das nicht unbedingt ideal war, sie würde einen Teufel tun und sich hinhocken. Das war unbequem. Also blieb sie bei ihm stehen und blickte auf ihn herab.

Als er verheult zu ihr aufsah, rührte das Reva nur bedingt. Sie hatte schon ganz andere Schicksale gesehen, mehr darüber gewusst und sich entschieden, es an sich abprallen zu lassen. „Anna“, krächzte eine bemerkenswert vertraute Stimme. Etwas kratzte an ihrem Hinterkopf. Sie kannte den Namen. Sie kannte diese Stimme. Aber woher?

„Ignatius ist tot“, bestätigte nicht-Kaleran, „Aber es hat nichts geändert.“

Von jenen Worten alarmiert, hob Reva eine Braue. „Ich werde nicht so lange herumspringen und deine Arbeit erledigen, bis du hast, was du wolltest. Wir hatten ein Abkommen. Es kann nachverhandelt werden, aber dann erwarte ich auch mehr Entschädigung für meinen Aufwand“, wagte sie forsch vorzustoßen.

Er schüttelte den Kopf. „Es spielt keine Rolle. Nichts kann sie zurückbringen.“ Mühsam rappelte sich die Gestalt auf und die Illusion fiel ab. Was darunter zum Vorschein kam, erzürnte Reva. Nicht, das sie es sich anmerken oder ansehen ließ. Nach allem, was sie im Widerstand mitgemacht hatte, nach all der Involvierung mit der Rebellion in Lumiél, nach all den obskuren Geschichten über ihre Teilnehmer und deren Abenteuer, war eine Geschichte darunter gewesen, die ihr wirklich im Gedächtnis hätte bleiben müssen.

Und sie hatte sie vergessen.

Es gab eine Kreatur, die Zeitmagie wirkte, ein drittes Auge besaß und kein Chronist war. Hans. Hans Laye aus La Coeur. Oder wie er sich scherzhaft seiner Freundin Ishara gegenüber genannt hatte, Möbius der Große, Meister aller Dinge.

„Du…?“, entfuhr es ihr nach einem Moment der Benommenheit dennoch.

Was hieß das? Was bedeutete das? Hans. Hans und Anna. Wer war Anna? Anna war tot. Jemand, der ihm nahe stand. Sonst hätte er nicht versucht, sie zurückzuholen. Und offenbar konnte er dazu jemanden durch die Zeit schicken. Was bedeutete das für seine Kräfte? Was bedeutete das für ihre Situation?

Kannst du uns überhaupt helfen?“, stolperte die nächste Frage ungeschickt hervor, bevor Reva sich wieder völlig unter Kontrolle bringen konnte. Wie hatte diese Enthüllung sie derart aus der Fassung werfen können?

Er nickte lediglich vage. Irgendwo dort hinten, wo Meister Quasiliam in Deckung gegangen war, sah sie kurz etwas aufblitzen.

„Er ist eine Tagesreise nördlich von Lairuinen“, begann Hans mit kläglicher, unsteter Stimme, „Du hast in Ostwacht eine Notiz für den Stadtverwalter hinterlegt, also werden ein paar Sekunden, nachdem ich weg bin, ein paar Ordensmagi des Tribunals hier auftauchen. Und ich wollte euch warnen. Ihr solltet das Ritual von Chequech studieren. Unter Thethys gibt es ein Höhlensystem. In knapp dreihundert Jahren werden die Untoten Arvum überrennen, oder es zumindest versuchen. Sie bezwingen Thethys und sämtliche Magier darin, indem sie die Stadt desintegrieren. Da. Du hast alles, was du wolltest.“

Die Situation, das war sie durchaus bereit zuzugeben, überforderte sie. Sie. Gerade und ausgerechnet sie, die sonst immer Mittel und Möglichkeiten hatte. Er war ein Gott. Ein frischer und neugebackener  Gott vielleicht, aber nichtsdestotrotz ein Gott. Aber zugleich war er auch ein junger Mann, der noch Flaum am Kinn hatte und mit seiner emotionalen Instabilität nicht umzugehen wusste. Wollte man das beides wirklich kombiniert sehen?!

Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Empathie war eine Sache. Sie war empathisch. Sie konnte sich in Leute hineinversetzen. Ihre Motive erkennen und durchschauen. Erkennen, wann jemand sie zu manipulieren versuchte. Sich Dinge von ihr erhoffte. Was jemand brauchte, wollte. Und Hans, der schrie ihr regelrecht entgegen, was nötig war. Aber sie konnte es nicht umsetzen. Sie war nunmal nicht sein Freund. Keine Vertraute, bei der er sich anlehnen und ausheulen konnte. Es wäre bestenfalls fragwürdig gewesen, würde sie ihn nun in den Arm nehmen. Lächerlich, regelrecht.

Aber wollte sie wirklich, dass er in dem Zustand, in dem er sich nun befand, verschwand und… Dinge tat?

„Du solltest zu Ishara gehen“, erklärte sie daher. Es war das Klügste, was sie sagen konnte. Denn nach allem, was sie wusste, war Ishara wiederum tatsächlich seine Freundin. Stand ihm nahe. Bot ihm eine Schulter. Konnte ihn legitim in den Arm nehmen. Ihm Trost spenden. Ihn beruhigen.

Als sein Blick abrupt härter und verschlossener wurde – nicht verschlossen genug, als das sie plötzlich Probleme hätte, ihn zu lesen -, da dämmerte ihr auch, dass sie möglicherweise nicht alle nötigen Informationen hatte. Oder Fehlinformationen aufsaß. „Wenn nicht zu Ishara, dann zu irgendwem sonst. Jemandem, dem du vertraust. Hans, du bist aufgewühlt, du solltest nicht-“

Diesmal kam der Blitz aus heiterem Himmel.

Ohrenbetäubender Donner und gleißendes, grelles Licht. Sie taumelte, blinzelte, aber da war nichts zu sehen, nichts zu hören. Jemand fing sie auf, als ihr Gleichgewicht ihr sagte, dass sie stürzte. Als Form und Farbe in ihr Sichtfeld zurückkehrte, stand da ein wirklich besorgt aussehender Alandor. Er half ihr, sich aufzurichten und als sie sich umsah, erblickte sie wie zu erwarten gewesen war ein gutes Dutzend Magi des Ordus Haereticus – und keinen Hans.

„Einen Moment noch, meine Herrn?“, bat sie die Magi. Die wiederum nickten ihr zu und wahrten respektvollen Abstand.

„Was ist passiert?“, erkundigte sich Alandor nahezu augenblicklich.

„Sagt dir das ‚Ritual von Chequech‘ irgendwas?“, begann sie frustriert.

„Nein. Sollte es?“ Sie seufzte. Natürlich war es nicht so einfach. Er hätte ihnen wohl kaum mehrere Jahrhunderte Vorwarnung gegeben, wenn es so einfach gewesen wäre.

„Dann müssen wir uns offenbar anlesen, was es damit auf sich hat. Hans steckte hinter der ganzen Sache. Wir sollten zusehen, dass wir so schnell wie möglich Ishara kontaktieren. Irgendwer muss ihn aufstöbern und mit ihm reden. Offenbar hat Meister Sarif irgendein Mädchen Namens Anna umgebracht, direkt oder indirekt. Er hat versucht, durch das Attentat auf ihn sie zurückzuholen. Hat wohl nicht funktioniert. Sie müssen sich überdies sehr nahe gestanden haben, sonst wäre er nicht so... instabil gewesen, als er entschied, mich mit klingelnden Ohren und blind stehen zu lassen. Jemand muss sich darum kümmern. Möglicherweise gab es irgendeinen Streit zwischen den Beiden, aber mir würde sonst erstmal niemand einfallen, den wir damit beauftragen können. Wir haben schließlich mehr als genug Eigenes zu erledigen. Dennoch sollte sich jemand darum kümmern – niemand will einen wütenden, frustrierten Zeitgott herumlaufen lassen. Das Ritual wiederum hat wohl irgendetwas mit dem möglichen Untergang von Thethys in ein paar hundert Jahren zu tun, durch die Hand von Untoten, die offenbar versuchen, Arvum zu überrennen.“

Natürlich war Reva bestens bewusst, was es hieß, Alandor hier und jetzt mit so vielen Informationen zu erschlagen. Doch er hielt sich wacker und sortierte so viel wie möglich davon für ‚später‘ weg. „Gut, dann lass uns gehen. Ich glaube, ich habe für die nächsten Dekaden erstmal genug von Nervaal gesehen.“ Reva nickte ihrerseits und gemeinsam traten sie an die Magi des Ordens heran. Ein Teleport später und sie befanden sich in den Hallen des Tribunals…

 

„Es tut mir leid“, krächzte Hans heiser. Noch immer war seine Stimme nicht vollständig zurückgekehrt. Doch hier, auf der Astralebene, der Ebene der Träumer, Träume und Träumenden, wurde das Echo seines Elends gewaltiger, je stärker er daran dachte. Alle Gedanken manifestierten sich in dieser Endlosigkeit.

„Ich bedauere deinen Verlust“, kam eine gewaltige, wuchtige Stimme, die sich in diesem Moment so sehr bemühte, kleiner zu sein, naher zu klingen. „Ich versuchte dich zu warnen, dass es nur eine sehr geringe Chance gibt, dass Meister Sarifs Tod etwas ändern würde.“

Hans nickte beklommen, sank nieder und schlang die Arme um sich selbst. „Ich weiß… ich weiß“, würgte er leise hervor, „Ich… ich hatte dennoch gehofft, das… ich hatte dennoch gehofft.“

„Natürlich hast du das. Es ist nur menschlich.“

Ein schweres Seufzen drang nach einer gefühlten Ewigkeit aus Hans‘ Kehle. „Sie hat meine Fassade durchschaut. Ich… ich weiß nicht, wann genau. Vermutlich früh. Es wird immer wieder solche wie Reva geben. Die einfach besser im Durchschauen sind, als ich im Vorspielen bin. Ich weiß nicht… irgendwann wird irgendwem auffallen, das Kaleran nicht mehr da ist. Oder Duncan. Oder sonst irgendeiner der Chronisten. Irgendwann wird irgendwem auffallen, dass die Weißen Hallen leer sind.“ Ein Umstand, der ihn sichtlich besorgte – anders als seinen Gesprächspartner.

„Dann werde ich dich lehren, besser zu sein. Du wirst lernen können, ihn besser zu imitieren. Bis du fähig bist, seine Rolle adäquat zu spielen. Vertrau mir – es wird nicht lange nötig sein.“

„Wie lange?“, hakte Hans fast augenblicklich ein. Er war kein guter Schauspieler. Nie gewesen. Er war nicht so klug wie eine Ninafer oder so geschickt wie eine Ishara, nicht so mutig wie ein Thorin oder so redegewandt wie ein Mortimer. Er war… einfach nur er. Hans Laye. Der kleine Schneidersjunge. Er war in nichts je wirklich herausstechend gewesen.

„Nur wenige hundert Jahre“, kam die demotivierende Antwort. Hätte er ‚ein paar Stunden‘ gesagt, gut, das hätte sich Hans vielleicht noch zugetraut. Ein paar Tage, in Ordnung. Wochen… waren dagegen schon kritischer. Aber Jahrhunderte?! Wie sollte er das denn zustande bringen? Selbst mit all dem Training und all der Lehre in der Astralebene war das ein Zeitraum… der schien einfach nicht realistisch überbrückbar zu sein.

„Du hast gut reden. Für einen Drachen muss das ein Katzensprung sein, aber ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll!“, verlieh er seinen Bedenken auch nach kurzer Zeit Ausdruck. Er hatte mit ihm immer offen reden können – also gab es auch jetzt keinen Grund, zu zögern.

Es schmerzte, als sich plötzlich Anna manifestierte. Keine paar Schritt von ihm entfernt. Sie tanzte. Kreiste um die eigene Achse. Wirbelte mit ihrem schicken Rock herum. Sie hatte ihn selbst bestickt. Es brach ihm das Herz, sie so zu sehen. So fröhlich und unbeschwert, so voller Feuer und Leben. Voller Leben, das sie jetzt nicht mehr hatte. Hans wusste, dass sie nur ein Echo seiner Erinnerungen und Gedanken war, seiner Sehnsüchte und Gefühle für sie. Vielleicht hatte er sie auch hierher  gebracht, um ihn zu trösten. Oder daran zu erinnern, wofür sie all das hier eigentlich taten. Aber dessen ungeachtet war es bittersüß. Schmerzhaft bis ins Unaussprechliche und zugleich doch das Schönste, was er nun hätte erblicken können. Er liebte sie. Er liebte sie so sehr, dass es wehtat.

„Hast du je geliebt?“, fragte Hans leise, die tanzende Gestalt verfolgend. Zögerlich nur wagte er aufzustehen, an sie heranzutreten. „Hey… willst du?“ Er bot Anna eine Hand und sie griff zu. Hier in der Astralebene fühlte sie sich so… lebendig an. Sie fühlte sich so real an, wie er es wollte. Alles, was ihn davon abhielt, es zu glauben… war das Wissen in seinem Hinterkopf, dass das hier die Astralebene war. Dass das hier alles nicht echt war. Nicht real.

Wie sehr er sich in dem Moment wünschte, er könne das vergessen. Und sie hier als real annehmen. Selbst wenn sie nur ein Nachhall seiner Erinnerungen war – war das nicht besser als nichts?

„Das habe ich – und tue es noch“, kam von jener Stimme die leise, deutlich verzögerte Antwort. Es klang, als würde auch dahinter eine schwierige Geschichte stecken. Zu gegebener Zeit mochte er sich vielleicht danach erkundigen. Aber nicht jetzt. Jetzt schuldete er jemandem einen Tanz.

Er schmiegte sich an Anna an und um sie herum füllte sich die Astralebene mit weiteren Tänzern. Ein Feuer sprang aus dem Nebel in die Existenz hinein, Hütten manifestierten sich, Tafeln, Gerüche, kläffende Hunde. Sie waren zurück in dem Dorf. Wie hieß es noch? Damals, als er sie kennengelernt hatte. Anna war eine verrückte Gans gewesen. Niemand sonst wäre ihm, einem dummen, unbedeutenden Schusterjungen, einfach nachgereist.

Sie hatte ihn gerettet. Auf mehr als einer Ebene und zu mehr als einer Gelegenheit.

Und dann hatte Meister Sarif sie getötet. Oder Meister Ereborn. Und hätte der es nicht getan, wäre es einfach nur der nächste Magier gewesen. Falls sein Mentor ihn wirklich daran erinnern wollte, wofür sie das alles hier taten, weshalb sie es taten, dann… nun, es funktionierte. Er erinnerte sich. Verinnerlichte es.

Er tat das für Anna, in erster Linie.

In Zweiter für alle Annas dieser Welt.

In Dritter für die Welt als Ganzes.

Als der Tanz zu einem Ausklang kam, da weigerte er sich schlicht, sie gehen zu lassen. So mochte die Erinnerung vielleicht weitergehen – aber das hier war die Ebene der Träume. Gedanken wurden Realität. Und wenn er sich an die Tafel setzen, sie auf seinen Schoß ziehen und die Stirn an ihre Schulter legen wollte, wenn er wollte, dass sie die Hand auf seinen Rücken legte und sachte darüber herab strich, während sie mit der anderen durch seine Haare kraulte – dann würde das geschehen. Das trug nicht unbedingt dazu bei, dass das hier sich echter anfühlte, realer. Wenn immer alles nach seinem Wunsch lief, nach seinen Gedanken. Aber hier und jetzt… war es tröstlich. Sie bei sich zu wissen. Sie zu spüren. Sich zu erinnern.

„Wofür tust du das eigentlich, Großer?“, hakte Hans nach einer ganzen Weile nach. Als sein Innerstes sich allmählich etwas beruhigt hatte. Er glaubte, wieder sicher atmen und ebenso sicher reden zu können. Er hatte seine Fassung zurück. War bereit, weiter zu lernen, zu üben.

Sein Gegenüber zögerte abermals. Vielleicht brauchte er einfach stets so lange, um seine Gedanken auf ein verständliches Maß zu reduzieren, um Antworten zu geben, die nicht Jahre brauchten, um sie auszusprechen?

„Für meine Tochter. Sie verdient eine bessere Welt.“



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