Zum Inhalt der Seite

All of our Flaws

Vi/Cait
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Kapitel 5: Verausgabt

Kapitel 5: Verausgabt
 

Vi wischte sich den Schweiß von der Stirn und lehnte sich rücklings an den Boxsack, auf den sie nun seit etwa einer halben Stunde einschlug, als gäbe es kein Morgen.

„Willst du nicht langsam mal eine Pause machen?“, fragte der Sheriff fast ein wenig besorgt und blickte zu ihrer Partnerin hinüber, die sich schon viel zu lange verausgabte.

Vi jedoch zuckte nur mit den Achseln. „Noch nicht“, antwortete sie knapp, ging wieder in Position und fuhr mit ihrem Training fort. Sie fühlte sich momentan nicht gut. Gar nicht gut, um genau zu sein. Seit diese Jinx aufgetaucht war, hatte sich etwas in ihrem Inneren zu bewegen begonnen und irgendwie kam sie damit nicht besonders gut klar. Überhaupt nicht. Seit Tagen verbrachte sie jede Minute ihrer Freizeit damit, sich körperlich völlig zu erschöpfen, sei es nun beim Training hier in der Wache oder bei wilden, halsbrecherischen Motorradfahrten in den Straßen. Und Sex, Sex hatte sie auch gehabt, zumindest einmal.
 

Caitlyn überschlug die Beine und lehnte sich auf der Bank zurück, die am Rand des Trainingsraumes stand und eigentlich für bestimmte Übungen gedacht war. Sie saß hier bereits seit über einer Stunde und bearbeitete Akten. Warum sie dafür nicht in ihrem Büro war, war relativ einfach zu erklären. Da Vi sich ja nicht direkt an dem Ausfüllen von Berichten beteiligte, ließ sie sie auf diese Weise wenigstens passiv teilhaben, indem sie ihr ab und an Fragen stellte, Aussagen treffen ließ und ihre Ansichten festhielt. Sie waren inzwischen ein eingespieltes Team, aber an Vi‘s Problemen mit Autorität und Regeln hatte sich noch immer nichts geändert. Doch Caitlyn hatte noch lange nicht aufgegeben, das zu ändern. Darum saß sie nun auf der unbequemen Bank und versuchte, Vi dazu zu bringen, behilflich zu sein – mit mäßigem Erfolg.
 

„Würdest du mir noch einmal diktieren, was die Zeugin Miss Anna Karell sagte, als du sie befragt hast?“, bohrte Caitlyn noch einmal nach, während Vi wieder wie eine Furie auf den Boxsack einschlug. Gut, dass sie einen aus besonderem Material bestellt hatte, der auch Vi‘s immenser Körperkraft standhielt. Das war aber auch wirklich nötig gewesen, nachdem Vi innerhalb weniger Tage zwei Stück zerlegt hatte – was auch immer in letzter Zeit in sie gefahren war.

„Hab ich doch schon“, knurrte Vi zwischen zwei Schlägen. Sie war ziemlich außer Atem, nicht unüblich für sie, wie Caitlyn festgestellt hatte. Vi war ziemlich stark und brandgefährlich auf kurze Distanzen, aber hauptsächlich auch aufgrund ihrer schweren Ausrüstung war sie keine gute Ausdauerläuferin und erschöpfte recht schnell.
 

„Aber jetzt möchte ich es festhalten“, antwortete Caitlyn ruhig und taxierte Vi mit einem strengen Blick. Sie sollte bloß nicht glauben, ihr davonzukommen.

Vi stöhnte und rollte mit den Augen, ließ dann den Boxsack für einen Moment in Ruhe und kam zu Caitlyn hinüber, um sich die Hände in die Hüfte zu stemmen und sich vornüber zu ihr hinunterzubeugen. Caitlyn konnte den Schweiß auf Vi‘s Haut deutlich sehen. Für einen kurzen Augenblick beobachtete der Sheriff fasziniert, wie ein Schweißtropfen von Vi‘s Kinn rann, den Hals hinunterlief und im Ausschnitt ihres eng anliegenden Muskelshirts verschwand. Kurz blinzelte Caitlyn und sammelte sich. Was war das denn eben gewesen.
 

„Also, Cupcake. Die Tante hat nix geseh‘n, wie ich dir schon gesagt hab. Hat gegen Mitternacht `n paar laute Schreie gehört, ausm Nachbarhaus. Hat die Wachen gerufen und sich dann in der Wohnung eingeschlossen, bis wir kamen. Kurz bevor wir da waren, haben die Schreie dann aufgehört und ab da hat sie nichts mehr mitbekommen.“

Caitlyn löste ihre Augen von Vi‘s Anblick und begann das, was ihr berichtet wurde, niederzuschreiben. Vi unterdessen strich sich die verschwitzten Strähnen aus dem Gesicht und richtete sich wieder auf, streckte die Arme über dem Kopf aus und dehnte ihre Seiten und ihren Rücken. Ein leises Knacken ihrer Gelenke ertönte und sie seufzte wohlig.
 

„Sonst noch etwas?“, fragte Caitlyn und blickte wieder von ihrem Bericht auf.

Vi schüttelte uninteressiert den Kopf: „Nein. Sonst nix. Hab‘ ich jetzt deine Erlaubnis, weiterzumachen?“ Sie nickte knapp zum Boxsack hinüber und an ihrem Gesichtsausdruck war deutlich zu erkennen, dass sie keinerlei Interesse dabei hatte, Caitlyn weiterhin zu assistieren.

„Nein, noch nicht. Ich wollte noch etwas mit dir besprechen“, antwortete diese jedoch und blickte Vi ernst an. Sie hatte schon ein paar Tage lang beobachtet, wie Vi sich völlig verausgabte und jeden Morgen todmüde zur Arbeit erschien. Und langsam begann sie, sich Sorgen zu machen.

„Was‘n?“, fragte Vi ungehalten und hockte sich breitbeinig und mit verschränkten Armen, beinahe wie ein trotziges Kind, auf eine Hantelbank. Immer wieder erstaunte es Caitlyn, wie trainiert ihre Partnerin war. Die Oberarme waren deutlich muskulös, vor allem jetzt direkt nach dem Training, ihr Hals stark und ihr Rücken für eine Frau recht breit. Bewundernswert. Sie selbst war zwar nicht unsportlich, aber für ein so exzessives Training wie es Vi betrieb, fehlten ihr Zeit und Motivation. Außerdem, wenn sie sich an die Worte ihrer Eltern erinnerte, gehörte sich solch ein Körperbau auch nicht für eine Frau von Rang und Namen.
 

Erneut blinzelte Caitlyn – schon wieder hatte sie sich dabei erwischt, Vi‘s Äußeres zu bewundern. Stattdessen blickte sie ihr nun ins Gesicht und erlaubte es sich, tatsächlich einen Funken Besorgnis in ihr sonst so unterkühltes, ernstes Gesicht dringen zu lassen.

„Du wirkst seit einiger Zeit so anders, Vi. Ich mache mir Gedanken um dich. Gibt es etwas, was dich bedrückt, etwas, bei dem ich dir vielleicht helfen kann?“

Vi verharrte kurz in ihrer trotzigen Haltung, öffnete schon den Mund, bereit, etwas Gepfeffertes zu antworten, dann stutzte sie jedoch. Scheinbar hatte sie eine Rüge erwartet und war nun überrascht. „Ne, alles in Ordnung“, meinte sie schließlich abwehrend, sah Caitlyn dabei jedoch nicht in die Augen. Eine Lüge, das war offensichtlich.

„Vi, ich bin eine Meisterin des Verhörs. Meinst du wirklich, mich so einfach täuschen zu können“, antwortete Caitlyn mit beinahe weicher Stimme.

„‘S mir egal“, murrte Vi ein wenig ertappt und blickte Caitlyn dann jedoch an: „Ich hab in der letzten Zeit nur‘n bissel zu viel nachgedacht, das ist alles. Sollt‘ ich nicht machen, bekommt mir nicht gut.“
 

Caitlyn legte das Klemmbrett und den Stift beiseite und widmete Vi somit ihre volle Aufmerksamkeit. Diese schien dadurch ein wenig unruhig zu werden und wechselte ihre Sitzposition, stützte ihre beiden Arme auf den Knien ab und lehnte sich nach vorne.

„Worüber hast du nachgedacht?“, fragte Caitlyn auffordernd, aber hoffentlich nicht drängend. Vi redete selten über sich und noch seltener über das, was sie beschäftigte. Hoffentlich konnte sie sie heute dazu bringen. Außer ihnen war niemand im Trainingsraum und es war kein Einsatz geplant, eine hoffentlich gute Gelegenheit.
 

„Über meine Kindheit“, antwortete Vi ehrlich und blickte Caitlyn direkt an, während sie sich auf die Innenseite der Unterlippe biss. „Ich weiß‘ nich viel drüber. Eigentlich gar nix.“

Der Sheriff nickte langsam: „Über deine Familie meinst du?“ Sie selbst wusste nicht viel über Vi‘s familiäre Umstände. Genau genommen eigentlich gar nichts, denn ihre Partnerin tauchte in keiner städtischen Akte auf.

„Ja. Meine Erinnerungen setzen ein, da war ich… puh… acht oder so“, antwortete Vi und kratzte sich am Kopf. „Und ich war schon auf der Straße. Allein. Kurz darauf bin ich in meine Gang gekommen.“ Sie machte eine kurze Pause und erhob sich, begann, unruhig im Raum hin und her zu laufen, bis sie sich schließlich gegen die Wand neben Caitlyns Bank lehnte. „Keine Ahnung, wer ich eigentlich bin. Seit ner Weile denk ich viel drüber nach.“
 

„Du bist Vi“, antwortete Caitlyn sanft und blickte seitlich zu ihrer Partnerin hinauf.

Diese jedoch schnaubte: „Is nich‘ mal ein richtiger Name. So haben sie mich einfach genannt. Weil ich das sechste Mitglied war. Vi. VI. 6. Aber ich muss doch nen richtigen Namen gekriegt haben. Bei meiner Geburt. Bin ja nich einfach aus ner Mülltonne gekrabbelt.“

Caitlyn überlegte einen kleinen Moment, bevor sie wieder das Wort ergriff: „Möchtest du, dass ich Recherchen anstelle? Wenn jemand etwas darüber herausfinden kann, dann ich.“

„Lass stecken, Cupcake“, antwortete plötzlich Vi ruppig, brach abrupt den Blickkontakt und stieß sich energisch von der Wand ab, um wieder zum Boxsack hinüberzugehen. „Halt ma dein hübsches Aristokraten-Näschen aus meinen Angelegenheiten raus. Das is meine Sache und ich hab keinen Bock drauf, dass du da drin rumwühlst. Geht dich nix an.“ Mit diesem Worten holte sie aus und setzte ihr Training fort, schlug sogar noch heftiger und erbarmungsloser auf den Boxsack ein, ohne den Blick von ihm zu wenden. Das Gespräch war ganz offensichtlich beendet.
 

Für einen Moment spürte Caitlyn einen schmerzhaften Stich in der Brust. Vi vertraute ihr noch immer nicht, obwohl sie nun schon eine ganze Weile Partnerinnen waren. Aber warum auch? Sie hatte ja keine Ahnung, was Vi durchgemacht hatte in ihrem Leben und scheinbar wollte Vi auch nicht, dass sie das tat. Dass sie ein Teil von ihrem Leben wurde.

Caitlyn griff nach dem Klemmbrett und befestigte den Stift daran. „Wenn du deine Meinung änderst, melde dich bitte bei mir“, meinte sie knapp und blickte kurz zu Vi hinüber, die jedoch nicht auf ihre Worte reagierte.

Also erhob sie sich und verließ den Trainingsraum, die Treppe hinauf und in ihr Büro, um dort den Bericht fertig auszufüllen. Und aus einem unerfindlichen Grund musste sie auf dem Weg die Treppe hoch ein paar Tränen niederkämpfen.
 

-------------------------------------------------------------------------------
 

„Verdammte Drecksscheiße“, fluchte Vi laut und trat gegen die Backsteinmauer, vor der sie ihr Motorrad abgestellt hatte. Sie brachte es immer hierhin, da dies einer der wenigen unauffälligen, aber sicheren Plätze in der Gegend ihrer neuen Wohnung war, an dem man das Motorrad nicht von der Straße aus sehen konnte und es somit auch weniger Gefahr lief, gestohlen oder in seine Einzelteile zerlegt und dann gestohlen zu werden.

Der Tag war beschissen gelaufen. Sie hatte Caitlyns Blick gesehen, als sie sie zurückgewiesen hatte, auch wenn sie versucht hatte, sich völlig auf das Training zu konzentrieren. War sie beleidigt gewesen? Oder wirklich verletzt? Sicher hatte sie sich da nur geirrt. Der Sheriff war so eine unterkühlte Persönlichkeit, da würde sie doch nicht wegen so einer Kleinigkeit eingeschnappt sein… oder?
 

So ein Bullshit, all diese Bullen-Fassade, die sie aufrecht halten musste, seit sie bei der Wache arbeitete. Das war nicht sie. Das würde sie auch niemals werden. Sie war die ehemalige Verbrecherin von der Straße, die anderen die Tour vermasselte, von der Hand in den Mund lebte und auf Müllkippen hauste. Und nicht Caitlyns angeleinter Bluthund, den sie zu dressieren versuchte.
 

Vi versenkte ihre Hände in den Hosentaschen ihrer Hose und marschierte mit verkniffenem Gesicht die belebte Straße hinunter, bis sie zu einer Kreuzung kam. Sie war auf dem Weg in einer Kneipe, die bei ihr in der Gegend war und die sie seit ein paar Wochen häufiger besuchte. Vor ein paar Tagen hatte sie eine hübsche Blondine abgeschleppt und mit nach Hause genommen. Der Sex war gut gewesen, wenn ihr das Mädel auch mehrfach gesagt hatte, dass sie ein wenig zu rabiat war. Aber Vi mochte es, wenn der Sex leidenschaftlich und rau war. Letzten Endes war die Blondine, an deren Namen sie sich nicht mehr erinnern konnte, noch vor dem Morgen nach Hause gegangen und sie hatte am Fenster gestanden und geraucht. Und irgendetwas hatte nicht gestimmt, so wie schon die ganze beschissene Zeit.
 

In der Seitengasse angekommen, in der die Bar ‚Oilshale‘ lag, stieß Vi die Tür der Bar auf und blickte sich knapp um. Hier verkehrten hauptsächlich einige Bergarbeiter – daher auch der Name – und ähnliches hart arbeitendes Handwerkervolk, hier und da auch ein paar junge Leute aus der Gegend, die wenig Geld hatten und ein wenig Abwechslung suchten – und natürlich hin und wieder auch ein paar zwielichtigere Gesellen, wie in jeder billigen Schenke. Der Hauptraum war relativ niedrig, mit altem Holz verkleidet und lag drei Stufen unter Straßenhöhe, besaß eine minder gut erleuchtete Bar mit Hockern, dazu noch einige simple Holztische, von denen die meisten besetzt waren. Die große Attraktion war eine Hextechleinwand, auf der die größeren Kämpfe der Liga der Legenden übertragen wurden, musste den Besitzer der Bar, den alten Ed, wohl ein Vermögen gekostet haben – oder war irgendwo ‚vom Transporter gefallen‘.
 

Ed, ein älterer etwas schmieriger Mann mit Halbglatze und nach hinten gegelten weißem Resthaar nickte ihr knapp zu, er kannte sie schon. „Das Übliche“, knurrte sie ihm zu und suchte sich einen der wenigen noch leeren Tische. Ein Bier konnte sie jetzt wirklich gut gebrauchen. Und dann vielleicht noch einen oder zwei Schnäpse, bis sie endlich diesen verschissenen Dreckstag vergessen hatte. Und ihre Partnerin. Vor allem die.
 

Eds Bedienung, die besagte Blondine, brachte ihr das Bier und musterte sie kurz: „Siehst ganz schön mitgenommen aus. Schlechten Tag gehabt?“ Sie war eigentlich ziemlich hübsch, wenn man ihr auch ansah, dass sie viel arbeitete. Ihre Haare trug sie im Zopf und dazu einen mittellangen Rock mit schmutzigem Spitzenrand und abgewetzter, dreckiger Schürze und eine Bluse mit ein wenig Ausschnitt – je mehr Ausschnitt, desto mehr Trinkgeld.

„Kann man so sagen“, antwortete Vi knurrend und nahm den Krug, um ein paar tiefe Züge zu nehmen. Wie hieß das Mädel nochmal? Sie war sich sicher, dass sie es ihr gesagt hatte, aber sie konnte sich einfach nicht daran erinnern. War ja eigentlich auch egal.
 

„Marlen!“, rief Ed. „Keine Zeit für Smalltalk. Komm her und hol das Tablett für Tisch vier ab.“

Marlen. Das war es gewesen.

Die Blondine lächelte Vi entschuldigend an: „Tut mir Leid, ich muss weg. Reden wir, wenn ich Feierabend hab?“

Reden, soso. Vi zuckte mit den Achseln: „Muss schauen, muss morgen früh zur Arbeit.“

Marlen betrachtete sie beinahe bewundernd – tat gut. „Du arbeitest bei der Wache, richtig?“

„MARLEN“, brüllte Ed ungehalten und die Bedienung lächelte kurz nochmal. „Wir reden später“, meinte sie und huschte dann davon, um weiterzuarbeiten.
 

Vi war das ganz recht. Eigentlich hatte sie nicht vorgehabt, dass aus der Sache etwas anderes wurde als ein One Night Stand, aber scheinbar sah Marlen das anders. Das würde sie ihr austreiben müssen. Natürlich hatte sie auch früher schon die eine oder andere Affäre gehabt, aber niemals etwas Ernstes daraus werden lassen – dafür war ihr Leben zu gefährlich und zu unstet. Und eigentlich hatte sie auch nie das Bedürfnis danach gehabt.

Vi nahm einige tiefe Schlucke von ihrem Bier und blickte sich in der Bar um. An einem Tisch am Rand saß ein Stammtisch von eher zwielichtigen Leuten – nun nichts unbedingt Ungewöhnliches für die Gegend, doch sie behielt sie lieber im Blick. Gut, dass ihr Motorrad ein gutes Stück entfernt in der Nähe ihrer Wohnung stand, die hätten es ihr sicherlich unter den Fingern weggeklaut. Nicht, dass sie selbst früher anders gewesen war.

„Was starrste so?!“, hallte es von besagtem Tisch herüber. Einer der Kerle, ein recht großer Mann mittleren Alters mit auffälliger Narbe auf der Wange, die wohl von einem Messerstich stammte, mit breitem Kreuz und schiefer Nase, erwiderte ihren Blick hart.
 

Leider hatte er heute den falschen Tag erwischt, Vi anzupöbeln. Sie hatte schlechte Laune. Wirklich schlechte. „Wieso, haste ein Problem damit?“, erwiderte sie angewidert dreinblickend und richtete sich zu voller Größe auf. Trotz ihrer Lederjacke, die sie trug, konnte man ihre durchtrainierte Statur erkennen und sie wusste, dass sie einschüchternd wirken konnte. Scheinbar jedoch nicht auf diesen Kerl – er hatte ja auch erstens fünf Kumpels im Hintergrund und konnte sich zweitens vor einer Frau nicht die Blöße geben.
 

„Und ob ich das hab“, antwortete das Narbengesicht und legte seine Faust auffällig auf den Tisch – eine deutlich drohende Geste. „Du bist doch die neue Partnerin vom Sheriff. Für jemanden wie dich hat der gute Ed hier keinen Tisch.“ Er nickte zum Wirt hinüber, der die Situation besorgt betrachtete und Marlen zu sich hinter die Theke rief, damit sie nicht ins Kreuzfeuer geriet. Diese musterte Vi und deutete ihr mit einem unauffälligen Nicken zur Tür an, dass sie abhauen sollte.

„Piltover is ne freie Stadt. Und ich trink mein Bier wo ich will“, gab Vi zurück. Klein beigeben war nicht ihr Ding und sie hatte sich schon öfter gegen mehrere Gegner gleichzeitig durchgesetzt. Außerdem war sie heute auf Krawall gebürstet. Dass sie sich heute im Trainingsraum schon mehrere Stunden lang verausgabt hatte und eigentlich völlig fertig war, ignorierte sie dabei gekonnt.

„Solang ich hier das Sagen hab, machst du gar nichts“, antwortete der Kerl und erhob sich nun von seinem Sitz. Die Handwerker, die an einem Tisch zwischen ihnen saßen, erhoben sich rasch und zogen sich mitsamt ihrer Bierkrüge an einen anderen Tisch mehr am Rand der dunklen Kneipe zurück.
 

„Und muss man von dir gehört haben? Ich bin bei der Wache und hab keine Ahnung wer du bist. Kannst also nur‘n kleiner Fisch sein“, feixte Vi und erhob sich ebenfalls. Ihre Hände steckten in engen Handschuhen, die die Fingerkuppen frei ließen, gut für eine Prügelei, darum mochte sie sie auch so. Sie ballte ihre Fäuste und machte sich bereit für den Kampf.

„Rugen aus Zaun“, fauchte das Narbengesicht beinahe rasend. „Merk dir den Namen, damit du ihn in deinen Bericht schreiben kannst. Falls du den Abend überlebst.“

„Und Rugen aus Zaun braucht vier Mann, um eine Frau zusammenzuschlagen?“, antwortete Vi breit grinsend und winkte ihn herausfordernd herbei. „Na komm, trau dich.“
 

Als der Kerl zu einem kurzen Sprint ansetzte, dabei mit einem Stoß seines Armes den Tisch zwischen ihnen beiseite fegte, wusste Vi, dass sie ihn unterschätzt hatte. Den ersten Schlag seiner linken Hand blockte sie ohne Probleme, doch der zweite traf sie in die Magengrube. Doch nicht umsonst hatte sie Jahre auf der Straße verbracht. Sie konnte einstecken wie keine zweite. Sie hob das Knie, verpasste Rugen einen Tritt in die Weichteile, woraufhin er sich jaulend nach vorne beugte, packte dann seine beiden Schultern und gab ihm mit ihrem gefühlt eisenharten Schädel eine Kopfnuss, die bei ihm sicherlich die Glocken ringen ließ. Er knirschte mit den Zähnen, hielt seine Position und nutzte seine gebeugte Haltung, um sie frontal mit seinem gesamten Körpergewicht zu rammen und tatsächlich von den Füßen zu fegen und ihr seinen Fuß auf den Bauch zu stellen. „Nicht mehr so mutig jetzt, huh?“, meinte er grinsend und spuckte ihr ins Gesicht. Noch gab sie sich jedoch nicht geschlagen. Sie nutzte seinen aufgrund des Tritts in die Weichteile recht wackeligen Stand, drehte sich unter ihm, fegte ihn mit einem Tritt von den Füßen, sprang selbst auf die Beine, beugte sich über ihn und verpasste ihm einen Schlag ins Gesicht, der mit einem fiesen Knacken seinen Kiefer brach, unter blutigem Spritzen zwei Zähne fliegen ließ und die Haut über ihren eigenen Fingerknöcheln platzen ließ, sodass sich Blut in ihrem Handschuh sammelte. Scheinbar hatte sie genug Eindruck gemacht und Rugen genug zugesetzt, als dass seine Männer nicht mehr tatenlos herumstehen wollten. Vi schlug die noch unverletzte Faust in die offene Handfläche der anderen und schaute sie herausfordernd an: „Kommt nur und holt euch auch `ne Tracht Prügel ab.“
 

---------------------------------------------------------------------------------
 

Caitlyn stieg aus der mit Hextechmagie angetriebenen Kutsche und dankte dem Fahrer, bevor sie ihn bezahlte. Dann blickte sie das hohe Gebäude hinauf, vor dem sie sich befand. Die Gegend war heruntergekommen und sah nicht besonders vertrauenserweckend aus. Es war ein Arbeiterviertel, knapp an der Grenze zu den verbrechensdurchzogenen und verlassenen Außenbezirken von Piltover. Das Haus selbst war ziemlich hoch, aus Stein gebaut und offensichtlich wurde es seit vielen Jahren nicht mehr ordentlich gewartet oder repariert. Der Putz bröckelte an einigen Stellen ab, ein paar der Glasfenster waren eingeschlagen oder eingeworfen worden und die unteren Stockwerke waren mit farbenfrohem, mehr oder weniger künstlerisch wertvollen Graffiti verschandelt worden. In den wenigen Metern Hof, die das Haus von der vielbefahrenen Straße trennten, lagen Müllbeutel, Schutt und ein riesiger Haufen Metallreste.

Was genau hatte Vi sich dabei gedacht, sich hier häuslich niederzulassen? Mit ihrem Gehalt hätte sie sich doch definitiv eine bessere Bleibe leisten können.

Caitlyn sammelte sich kurz, atmete tief durch und ging dann hinüber zur Eingangstür. Sie durfte nicht vergessen, warum sie hier war. Zum ersten Mal würde sie Vi in ihrer neuen Wohnung besuchen – in der Hoffnung, dass sie überhaupt da war.
 

Vi war heute nicht zur Arbeit erschienen. Und das war noch nie vorgekommen. Nicht nur dass sie trotz ihrer sonstigen Einstellung zu Regeln und Gesetzen ziemlich zuverlässig und pünktlich war, nein. In den Monaten, die sie zusammen arbeiteten, hatte sie auch nicht einen Tag gefehlt.

Es wäre unmöglich gewesen zu leugnen, dass Caitlyn sich Sorgen machte. Erhebliche Sorgen. War Vi etwas zugestoßen? War sie krank? Oder war sie etwa wegen ihrer gestrigen Unterhaltung im Trainingsraum nicht zur Arbeit gekommen? Hatte sie gar eine Dummheit begangen?

Der Sheriff schüttelte den Kopf. Nicht zu viele Gedanken machen. Erst einmal die Tatsachen untersuchen und dann abwägen – da war diese Situation nicht anders als ein Verbrechen.
 

Sie selbst war in Zivil unterwegs – sie wollte ja nicht zu viel Aufmerksamkeit erregen. Sie trug ihre langen Haare in einem unauffälligem, hohen Pferdeschwanz, den sie mit der Kapuze eines Pullovers verdeckte. Dazu eine schlichte Hose, ein Instrumentenkoffer, in dem sie sicherheitshalter ihre Waffe mit sich führte, und eine Brille mit Fenstergläsern, damit man sie schlechter erkannte.

„Entschuldigung“, wandte sie sich an eine ausgemergelte, müde Frau mittleren Alters, die gerade aus der Haustür trat, offensichtlich auf dem Weg zur Arbeit in einem Bergwerk unter Piltover, wie Caitlyn aus der Uniform schlussfolgerte, die sie trug.
 

„Ja?“, erwiderte die Frau vorsichtig und musterte Caitlyn misstrauisch. „Was ist?“

„Wohnt hier eine Vi? Große Frau, pinke Haare mit Sidecut?“, fragte Caitlyn knapp, versuchte aber, einen freundlich neutralen Gesichtsausdruck zu behalten und nicht zu sehr nach verhörender Ermittlerin zu klingen.

„Ja, aber mit der hab‘ ich nix zu tun. Dritter Stock“, antwortete die Bergarbeiterin und setzte sich ohne ein Wort der Verabschiedung in Bewegung.

Caitlyn seufzte unhörbar und nutzte die Tatsache, dass die Eingangstür noch offen war, um sich Zutritt zum Treppenhaus zu verschaffen.
 

Drei Treppen später stand sie vor einer Holztür mit abblätternder Lackierung und mehreren Kratzern, die sie von Vi‘s Apartment trennte. Kein Name an der Tür, auch sonst nichts, was auf ihre Partnerin hinwies, doch sie klopfte an. Keine Reaktion. Caitlyn nahm die Brille ab, verstaute sie in einem Fach an ihrem Koffer und versuchte es erneut.

„Vi?“, rief sie leise, aber deutlich hörbar und klopfte erneut. Nichts.

In Caitlyns Bauch machte sich ein unruhiges Gefühl der Besorgnis breit. Hier stimmte doch irgendetwas nicht. Definitiv nicht. Sie beide hatten viele Feinde, von der Arbeit her und Vi auch aus ihrem früheren Leben. Sie musste nachschauen, ob es ihr gut ging.

Ohne sich wirklich etwas davon zu erhoffen, testete sie die Türklinge aus – und wurde überrascht.

Die Tür war offen.
 

Nach kurzem Zögern und einem kurzen „Vi, ich komme jetzt rein“ drückte sie die Tür knarzend auf und erhaschte den ersten Blick in Vi‘s Wohnsituation, die einen sehr bleibenden Eindruck bei ihr hinterließ.

Der Raum, in den sie blickte, war wohl der Hauptraum der Wohnung, denn sie sah nur eine einzige Tür, die von ihm abging, wohl ins Badezimmer. Das Zimmer war nicht besonders groß und besaß ein einziges, ziemlich schmutziges Fenster ohne Gardine. Die blanke Wand zu Caitlyns Rechten hatte einen recht langen, besorgniserregenden Riss und die Tapete war fleckig. In der Ecke stand ein Ofen mit Kochstelle dabei, nebendran ein ziemlich abgewetzter Kochtopf. Eine Kommode stand an der Wand - auch diese hatte deutlich bessere Jahre gesehen. Auf ihr lag Vi‘s neuer Koffer, in dem sie ihre Hextechhandschuhe herumtrug, und nebendran der Seesack, zusammen mit jeder Menge Hextechmechanik und Gerümpel. In der Mitte des Raumes stand eine alte Couch, bezogen mit verblasstem grünen Stoff, schon ziemlich durchgelegen - das war alles, was sich an Möbeln in Vi‘s Wohnung befand.
 

Auf der Couch lag Vi, auf der Seite, offensichtlich in tiefem Schlaf, unter einer dünnen Flickendecke, die Caitlyn auch schon im Revier gesehen hatte.

„...Vi?“, fragte Caitlyn ruhig, doch sie erhielt keine Reaktion ihrer Partnerin. War sie etwa…?

Caitlyn schloss die Tür schnell aber leise hinter sich und huschte zu Vi hinüber, nicht ohne kurz auf sonstige Geräusche aus der Wohnung zu lauschen. Nun, da sie vor dem Sofa stand, erkannte sie zwei Dinge deutlich. Vi war in eine Prügelei geraten. Und sie hatte sich offensichtlich in den Schlaf getrunken. Das Gesicht ihrer Partnerin war ziemlich übel zugerichtet, ihre rechte Wange war blauviolett angelaufen und die Haut war an einer Stelle aufgeplatzt, die Lippe war blutverkrustet. Vor der Couch lag eine leere Flasche mit billigem Alkohol, dessen Etikett Caitlyn nichts sagte – musste wirklich günstig sein.
 

Caitlyn lehnte sich vor und hielt zwei Finger an Vi‘s Halsschlagader, nur um wenige Momente später erleichtert auszuatmen. Vi lebte noch. Zum Glück.

Ohne genau zu wissen, warum, spürte Caitlyn, wie ihre Beine ein wenig wackelig wurden und sie ließ sich rasch auf der Lehne des Sofas nieder. Ein Gefühl unendlicher Erleichterung durchströmte sie und sie konnte nicht anders als auf Vi‘s malträtiertes Gesicht hinabzuschauen und ihr mit zittrigen Fingern einige Strähnen ihres verwuschelten und veschwitzten pinken Haares aus der Stirn zu streichen. Es ging ihr gut – mehr oder weniger. Und das war für den Moment alles, was zählte.

Ihre Blicke fokussierten nun genauer die Umstände des Raumes, für den sie zuvor nicht wirklich viel Aufmerksamkeit übrig gehabt hatte. Wirklich schmutzig war der Raum nicht, aber alt und unwohnlich. Außerdem voller Gerümpel und Ersatzteile, bestimmt aufgrund des fehlenden Stauraumes überall im Zimmer verteilt. Ein kleiner Hocker stand hinter der Kommode, die wohl auch als Tisch genutzt wurde, darauf Vi‘s Werkzeuge, die sie immer in einem Ledermäppchen hatte. Warum hatte Vi sich entschieden, hier zu leben, statt sich in einem der besseren Viertel eine Wohnung zu nehmen, die ihrem Gehalt entsprach? Sie würde es sie wohl irgendwann fragen. Aber nicht jetzt.
 

„Vi…?“, fragte Caitlyn sanft und rüttelte sie leicht an der Schulter. War sie ohnmächtig oder schlief sie nur ihren Rausch aus?

„Hnggnnnh“, grummelte Vi und kniff die Augen zusammen, nur um dann im nächsten Moment aus ihrer liegenden Haltung hochzufahren und mit abrupter Geste Caitlyn am Kragen ihres Pullovers zu packen.

„Was willst du hier?“, zischte sie bedrohlich und fixierte Caitlyn mit bedrohlich verengten Augen. Der Sheriff war von Vi‘s Verhalten völlig überrumpelt und hielt in allem inne, dann jedoch sprach sie möglichst beruhigend und neutral: „Vi, ich bin es. Caitlyn. Lass mich los.“

Vi stutzte kurz, hatte Caitlyn wohl ob der gänzlich anderen Aufmachung nicht erkannt, ließ sie dann jedoch los, während ein Funken des Erkennens in ihre Augen trat. Scheinbar kehrten nach dem anfänglichen Schock auch die Schmerzen in ihren Körper zurück und stöhnend stützte sie sich mit einem Arm auf der Couch ab.
 

Caitlyn rümpfte unwillentlich die Nase. Vi stank nach Alkohol, Schweiß und Blut, eine Kombination, die ihr alles andere als gefiel. „Vi, was ist passiert? Du warst heute nicht bei der Arbeit, da habe ich mir Sorgen um dich gemacht.“

„Scheiße, ist der Tag schon rum?“, fragte Vi orientierungslos und blickte aus dem Fenster in die bereits anbrechende Nacht.

„Ja“, antwortete Caitlyn schlicht und musterte ihre Partnerin genau. Außer den Blessuren im Gesicht sahen ihre Hände alles andere als gut aus. Sie hatte wohl ziemlich heftig zugeschlagen, anders konnte sie sich die geplatzte Haut an den Fingerknöcheln und das dort getrocknete Blut nicht erklären, das sicherlich nicht nur von ihrer Partnerin stammte. „Du hast ziemlich was abbekommen. Das sollte sich ein Arzt anschauen.“
 

„Ne, kein Arzt“, knurrte Vi abwehrend. „Mir gehts gut.“

„Verarsch mich nicht, Vi“, fauchte Caitlyn und blickte sie streng, aber auch voller Besorgnis an. Sie konnte Vi‘s selbstzerstörerisches Verhalten nicht mehr mit ansehen.

Diese starrte sie wie vom Donner gerührt an und grinste dann ein wenig schief: „Cupcake, du kannst ja fluchen.“

Caitlyn rollte mit den Augen: „Natürlich kann ich das. Und wenn du nicht zu einem Arzt willst, darf ich mir deine Verletzungen dann wenigstens ansehen?“

Der Ausdruck in Vi‘s Gesicht veränderte sich kurz – Caitlyn konnte ihn beim besten Willen nicht deuten, dann nickte sie: „Wenn du drauf bestehst.“
 

Mit diesen Worten zog sich Vi ohne Vorwarnung das Shirt über den Kopf und präsentierte nebst ihres Sport-Bhs, den sie auch beim Training immer darunter trug eine Vielzahl an blauen Flecken am Oberkörper, dazu noch eine verkrustete, leichte Schnittwunde am Oberarm. Caitlyn, kurz überrumpelt von Vi‘s plötzlichem Drang, sich zu entkleiden, musterte diese kurz: „Ich bin kein Arzt, also kann ich dir nicht sagen, ob etwas gebrochen ist. Zumindest was die Rippen angeht. Aber die Schnitte am Arm und die Platzwunden im Gesicht und an den Händen müsste man desinfizieren und verbinden. Hast du Verbandsmaterial da?“

Vi nickte: „Da hinten in der oberen Kommodenschublade.“

Ohne Zeit zu verlieren, erhob sich Caitlyn von der Couchlehne und begab sich zur Kommode hinüber, um in der besagten Schublade nach Vi‘s Verbandskasten zu suchen. Es dauerte eine Weile, der Inhalt der Schublade war völlig wild zusammengewürfelt und eng gestopft.
 

„Ganz schön erbärmlich, was?“, fragte Vi kaum hörbar.

Caitlyn blickte über die Schulter zu ihrer Partnerin hinüber, die ihr noch immer den Rücken zugewandt hatte, sodass sie ihr Gesicht nicht sehen konnte. „Was meinst du?“

„Wollte nicht, dass du mich so siehst“, fuhr Vi leise fort.

„Verletzt?“, fragte Caitlyn und nahm, als sie ihn nun endlich gefunden hatte, den Verbandskasten aus der Kommode.

Vi drehte sich noch immer nicht zu ihr um. „Schwach.“

Caitlyn betrachtete beinahe schon zärtlich Vi‘s sturen Hinterkopf und musste ein wenig traurig lächeln. Vi war es nicht gewohnt, Schwäche zu zeigen. Da waren sie schon zwei. „Du bist nicht schwach, Vi...“, meinte Caitlyn mit sanfter Stimme.

„Hab mich ganz schön verprügeln lassen. Passiert mir nich oft“, brummte Vi ungehalten und verschränkte die Arme vor der Brust. „Und dann musst du mich auch noch finden. Scheiße.“
 

Einem spontanen Impuls folgend trat Caitlyn hinter sie, beugte sich hinab und schlang von hinten die Arme um sie. Vi roch nicht gut – wie auch nach einer durchzechten Nacht mit Prügelei, doch das störte sie nicht. „Ist schon in Ordnung“, sagte sie ruhig und drückte Vi kurz sanft an sich, darauf achtend, sie nicht zu fest anzufassen, immerhin war sie über und über mit Blessuren bedeckt.

Vi spannte sich kurz in der Umarmung an, dann fragte sie mit deutlich hörbarer Skepsis in der Stimme: „Cupcake, was machste da?“

Beinahe fühlte Caitlyn sich ein wenig ertappt, als sie die Umarmung löste. „Ich dachte...“

„Was dachtest du?“, fragte Vi und drehte nun doch den Kopf, um sie mit einem feixenden Grinsen anzusehen.

Auf Caitlyns Wangen schlich sich eine leichte Röte. „Du sahst aus, als könntest du eine Umarmung gebrauchen.“

Vi‘s Grinsen veränderte sich, wurde… beinahe etwas sanfter und verlegener, ein Gesichtsausdruck, der Caitlyn überraschte und auch irgendwie berührte. „Dann präg‘ dir das ein. Wirste nie wieder sehen.“
 

Mit wenigen Schritten hatte Caitlyn die Couch umrundet und ließ sich neben Vi darauf nieder. „Dann komm mal her, lass dich verarzten.“ Es war nicht das erste Mal, dass sie sich um eine von Vi‘s Verletzungen kümmerte, doch die anderen Male war es nach einem Einsatz gewesen, bevor der Sanitäter übernommen hatte. Diesmal war es… anders.

Vi hielt still, während Caitlyn sich über sie beugte und mit einem sauberen Tuch und Desinfektionsmittel die Wunden im Gesicht säuberte. Sie zuckte kaum zusammen, obwohl sie sicherlich Schmerzen haben musste. Aber so war Vi eben. Was Schmerzen aushalten anging, konnte ihr kaum einer das Wasser reichen, das hatte Caitlyn schon feststellen dürfen. Was sie wohl alles hatte durchmachen müssen, um sich diese Fähigkeit zu erarbeiten? Sie kannte sicherlich nur einen Bruchteil davon.
 

Vorsichtig und so sanft wie möglich strich sie mit dem Tuch erst über Vi‘s Wange und dann über ihre Lippen, bis die Wunde wieder leicht zu bluten begann und der Dreck herausgewaschen war. Auch wenn sie ein wenig angeschwollen waren, hatte Vi schöne Lippen, wie Caitlyn zum ersten Mal festellen musste. Voll, aber nicht zu voluminös, mit schönem Schwung der Oberlippe. Merkwürdig, dass ihr das jetzt auffiel. „An der Lippe kann ich nicht viel tun, das wird von alleine heilen müssen“, meinte Caitlyn und riss sich von dem Anblick und diesen merkwürdigen Gedanken los.

„Ja, kenn ich schon“, antwortete Vi gleichgültig und zuckte mit den Achseln. „Is ja nich‘ das erste Mal.“
 

Caitlyn nickte und klebte dann ein Pflaster über die Wunde auf Vi‘s Wange. „So, mit dem Gesicht bin ich fertig.“ Vi blickte sie aus ihren türkisblauen Augen an und nickte ebenfalls: „Als nächstes der Arm?“

„Ja, am Besten“, antwortete Caitlyn und ließ sich von Vi den Arm über den Oberschenkel legen. Während sie die Schnittwunde am Unterarm verarztete, glitt ihr Blick über Vi‘s Oberkörper. Da sie sie gerade zum ersten Mal oben ohne sah, fielen ihr erstmals die sonst verdeckten Tätowierungen und Narben an ihr auf. Die Zahl ‚6‘ oberhalb der linken Brust, der komplette Verlauf der tätowierten Zahnräder und Hextechmechanik am Hals, die sich die komplette Schulter hinunterzogen und nicht zuletzt zwei Einschussnarben am unteren Bauchbereich. Die waren sicherlich lebensgefährlich gewesen… Nicht nur Vi‘s Verhalten sprach Bände über ihre Vergangenheit, auch ihr Körper.

Und als die Wunde am Arm verarztet war und sie sich um ihre Hände kümmern wollte, fiel ihr noch etwas auf.
 

Der gesamte Handrücken, vor allem die Fingerknöchel und die Finger selbst waren überzogen von Narben, manche Jahre alt, manche relativ frisch, teilweise nebeneinander, teilweise überkreuzt, manche wohl von tiefen Schnitten, manche Platzwunden, wohl auch der eine oder andere Bruch dabei. Mit vorsichtigen Bewegungen streichelte Caitlyn Vi‘s Finger entlang und fuhr ein paar der Narben am Handrücken nach. „Was ist passiert, Vi?“, fragte sie beinahe atemlos und blickte auf, in Vi‘s Gesicht – und musste feststellen, dass diese sie die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen hatte.

„Sieht ziemlich übel aus, hm?“, fragte sie mit schiefem Grinsen. „Meine Hände sind ziemlich hinüber.“

„Ist das wegen der Handschuhe?“, fragte Caitlyn. Es war klar, dass sie über die Narben sprachen und nicht über die Wunden.
 

Vi zuckte mit den Achseln: „Man muss sich eben durchschlagen draußen auf der Straße. Aber das meiste kommt von den Handschuhen. Bevor ich angefangen hab, sie auszupolstern. Waren halt eigentlich nicht für so `ne Benutzung gedacht.“

„Du hast dir beim Kämpfen die Hände blutig geschlagen?“, fragte Caitlyn ruhig, doch es entsetzte sie ein wenig. Dass Vi rabiat vorging, war ihr immer klar gewesen, doch dass sie so wenig Rücksicht auf sich selbst nahm… ging ihr nahe.

„Ja. Passiert auch heute noch oft. Das ist eben Metall und wenn ich zu fest zuschlage, dann wirkt sich das halt trotz Puffer und Polsterung auch auf die Hände und Arme aus.“

Caitlyns Blick wanderte wieder zu den Händen und erneut fuhr sie die Narben nach. „Gibt es… langfristige Schäden?“
 

„‘N paar“, antwortete Vi vage, doch als Caitlyn sie erneut anblickte, wurde sie genauer. „Kommt auf die Tagesform an. An schlechten Tagen hab ich kaum Gefühle in den Fingern. Taub. Klobig. Dann fallen mir feine Arbeiten schwer. An solchen Tagen lass ich die Hände immer von der Mechanik, klappt dann eh nich. An guten Tagen ist‘s etwas besser. Aber so gut wie früher sind sie nicht mehr. Ein Arzt hat mir mal gesagt, dass da wohl ein paar Nerven hinüber sind. Hab kein Fingerspitzengefühl mehr.“
 

Das war die offenste und ehrlichste Antwort, die sie von Vi jemals erhalten hatte und Caitlyn konnte darauf nur schlucken und nicken. „Das tut mir Leid“, antwortete sie ehrlich.

„Muss es nich. Denen, denen ich damit die Fresse poliert hab, geht‘s schlimmer“, gab Vi feixend zurück, doch Caitlyn konnte erkennen, dass hinter der taffen Antwort auch etwas anderes steckte. Es machte Vi zu schaffen, natürlich.
 

„Das glaube ich dir aufs Wort“, meinte Caitlyn mit leichtem Lächeln und machte sich daran, die Wunden an den Händen zu säubern.

Für einige Minuten schwieg Vi, dann fragte sie ruhig, aber auch ein klein wenig herausfordernd: „Willst du mir gar keinen Vortrag halten, Cupcake? Dass ich mich nicht betrinken und prügeln soll?“

Caitlyn antwortete, ohne von ihrer Arbeit aufzublicken. „Nein, will ich nicht.“

Vi stutzte: „Und warum nicht? Sonst lässt du dich doch auch nicht davon abhalten.“
 

Mit einem Streifen Klebeband befestigte Caitlyn den letzten Verband, bevor sie nun doch den Kopf hob und Vi‘s Blick erwiderte: „Ich bin nicht als deine Chefin hier. Ich bin hier als deine Freundin. Weil ich mir Sorgen um dich gemacht habe.“ Sie lächelte leicht und Vi erwiderte das Lächeln matt.

Dennoch konnte Caitlyn nicht anders, als mit erhobenen Augenbrauen hinzuzufügen: „Und dass du deine Arbeit nicht wegen deiner Eskapaden verpassen solltest, weißt du sicherlich selbst.“

Vi lachte laut los und klopfte Caitlyn mit der frisch verarzteten Hand grob auf die Schulter – heute war wohl ein schlechter Tag, was die Hände anging. „Kannst nicht aus deiner Haut, Cupcake.“

Caitlyn lächelte leicht: „Gut, dich lachen zu sehen. Und entschuldige, dass ich dich… gestern bedrängt habe. Im Trainingsraum.“

Vi blickte Caitlyn mit schiefem Grinsen an und fuhr sich durch die verwuschelten Haare. „Ich bin nur nicht so gut mit sowas.“
 

„Mit was?“, fragte Caitlyn und musterte Vi aufmerksam. Ihre Mimik war so aussagekräftig. Das war etwas, das sie aus ihren Kreisen nicht kannte. In der Welt der Reichen und Schönen zeigte jeder stets den gleichen Ausdruck. Höfliche, distanzierte Freundlichkeit. Etwas, das sie sich schon in jungen Jahren angewöhnt hatte. Jetzt hier mit Vi war es einfach anders… echter… lebendiger.

„Na ja. Es ist Jahre her, dass ich jemanden hatte, den es interessiert, wie‘s mir geht. Ich glaub, daran muss ich mich erst wieder gewöhnen. Bin nicht so gut darin… Freunde zu haben.“

Mit einem Lächeln zuckte Caitlyn mit den Achseln: „Ich auch nicht, Vi.“
 

Vi zog eine Augenbraue hoch, bevor sie Caitlyn musterte: „Na wenn du die ganze Zeit dreinschaust wie ne Oberlehrerin, dann ist das auch kein Wunder.“ Sie hob eine ihrer mit Verband umwickelten Händen und legte sie Caitlyn an die Wange: „Du musst öfter lächeln, Cupcake.“

Vi‘s Hand fühlte sich überraschend gut an, wenn sie auch grob und rau war. Caitlyns Herz begann heftig zu schlagen, ohne dass sie sich erklären konnte, warum und sie biss sich auf die Unterlippe. „Warum das?“, fragte sie schließlich mit leicht belegter Stimme.

„Weil ich es mag, wenn du du selbst bist“, antwortete Vi mit einem leichten Lächeln und blickte sie mit für ihr Verhältnis geradezu ernstem Gesicht an. Etwas in Caitlyns Magengegend flatterte aufgeregt.

„Das kann ich nur zurückgeben“, antwortete Caitlyn leise und schloss für einen sehr kurzen Moment die Augen, atmete durch und genoss das Gefühl von Vi‘s warmer Hand an ihrer Wange. Dann löste sie sich mit einer seitlichen Kopfbewegung von ihr und blickte sie wieder ein wenig strenger an: „Dann kann ich erwarten, dass du morgen wieder bei der Arbeit bist?“

„Aye, aye, Sheriff“, antwortete Vi grinsend und salutierte.
 

Noch einmal löste ein leichtes Lächeln Caitlyns strenges Gesicht ab: „Gut. Wie wärs. Du wäschst mal das ganze Blut von dir runter und dann gehen wir uns etwas zum Abendessen holen? Ich bin noch nicht dazu gekommen, nach der Arbeit was zu essen und du siehst aus, als könntest du etwas gebrauchen.“

Vi grinste breit: „Gib‘s zu, du willst dir bloß noch nen zweiten Cupcake holen.“

„Den habe ich mir verdient, immerhin hast du mich heute für zwei arbeiten lassen“, antwortete Caitlyn mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Ich lad dich ein. Als Entschädigung“, meinte Vi und erhob sich leise ächzend. Als sie stand, streckte sie sich unter deutlich hörbarem Knacken ihrer Gelenke. „Und als Dank.“

Sie blickte Caitlyn kurz ehrlich an, dann öffnete sie die Tür ins Badezimmer und entschwand ihrem Blick für den Moment.
 

Caitlyn lehnte sich mit einem langen Ausatmen in der Couch zurück und schloss die Augen. Irgendetwas hatte sich verändert – zwischen Vi und ihr. Und was auch immer es war, es hatte ihr Inneres in Aufruhr versetzt und ließ ihr Herz schnell schlagen. Zwar hatte sie auch heute nicht wirklich etwas aus Vi herausbekommen, doch sie spürte, dass ihre Partnerin ihr nach und nach immer mehr vertraute. Vielleicht würden sie ja eines Tages offen über alles sprechen können. Es war ein ungewöhnlicher Wunsch, das stellte Caitlyn fest, denn bisher hatte sie niemanden gebraucht, um gut zurechtzukommen. Natürlich hatte sie ihre Familie, doch die Gespräche waren nie tiefgründig, waren von ihrem tiefen Respekt vor ihren Eltern gekennzeichnet und nicht von ehrlicher Zuneigung. Natürlich hatte sie bei der Arbeit Kollegen, mit denen sie seit vielen Jahren zusammenarbeitete, aber wirkliche Freunschaften waren nie entstanden. Doch jetzt, mit Vi, wünschte sie sich plötzlich, sie kennen zu lernen, auch abseits von der Arbeit. Sie wollte alles über sie wissen, sie wollte… von sich erzählen - ein Wunsch, den sie noch nie verspürt hatte und der sie ziemlich überforderte. Sie atmete mehrfach tief durch und versuchte, sich zu sammeln und zu konzentrieren, während sie aus dem Nebenzimmer das Geräusch von fließendem Wasser hörte.

Und als Vi wieder aus dem Bad zurückkehrte, sauber und mit klatschnassen Haaren, grinsend und hungrig, war sie wieder die alte Caitlyn, distanziert und kontrolliert.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallo, ihr Lieben, hier das neue Kapitel, diesmal ein wenig länger, um die lange Wartezeit zu entschuldigen.

Endlich mal ein bisschen privatere Gespräche und ein bisschen Annäherung zwischen Cait und Vi. Ich freu mich :D
Nächstes Mal gibts wieder ein wenig Story! Bin gespannt, wie es wird. Geplant ist ja schon alles.
Hoffe, es hat euch gefallen.
Greetings,
Lei Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Darkdragon83
2017-05-22T22:57:15+00:00 23.05.2017 00:57
Sehr schönes Kapitel. Super dass die beiden sich endlich näher kommen!
Und so schön lang
Antwort von:  Leilan
23.05.2017 02:15
Schön, dass es dir gefällt! Und mal sehen, wie die Länge vom Nächsten wird, vielleicht krieg ich ja wieder was Längeres hin.
Ich find's auch schön, dass ich endlich ein bisschen romantischer werden kann mit meinen Beschreibungen. Aber die FF ist so mit 30 bis 40 Kapiteln angesetzt, da wäre es ja langweilig, wenn sie schon im 5. zusammen sind XD da muss ich das Ganze leider ein wenig rauszögern. Außerdem finde ich es schöner, wenn es sich natürlich entwickelt :)
Antwort von:  Darkdragon83
24.05.2017 00:42
Das war auch keine Kritik, ich finde es schön dass du dir zeit lässt das ganze langsam aufzubauen.
Antwort von:  Leilan
24.05.2017 00:45
Hab's nicht negativ aufgefasst ^^ Wollte es nur erklären


Zurück