Nachhilfe
„Joe?“ Sora versuchte vergeblich ihren Freund hinter den Bücherstapel, welchen er in den Händen hielt, zu erkennen. „Jaa?“, keuchte dieser und betrat mit vorsichtigen Schritten die Wohnung der Takenouchis. „Ähm soll ich dir vielleicht helfen?“, fragte Sora und beobachtete mit hochgezogenen Augenbrauen wie der Ältere aus seinen Schuhen schlüpfte. „Wie? Ach nein, dass geht schoo~oon..“ Noch während er diesen Satz sprach stolperte Joe über seine eigenen Füße und fiel der Länge nach, mit einem lauten Knall zu Boden. „Ohje! Hast du dir wehgetan?“ Besorgt kniete Sora sich neben ihn. „Nein, alles okay“, murmelte Joe und rieb sich die schmerzenden Ellenbogen. Er warf einen Blick auf die Bücher, die im ganzen Raum verteilt waren und seufzte. Gemeinsam mit Sora begann er sie aufzusammeln. Gerade, als er erleichtert nach dem letzten Buch griff berührte er Soras Hand, die es ebenfalls aufheben wollte. Erschrocken sah er auf, in Soras große braune Augen. Sein Herzschlag beschleunigte sich augenblicklich. „Ich..äh..Entschuldigung!“, rief er schnell und zog verlegen seine Hand zurück. Sora lächelte ihn nur wortlos an. Gemeinsam standen sie auf und gingen in Soras Zimmer. „Danke, dass du mir hilfst“, sagte das Mädchen gerade und setzte sich an ihren Schreibtisch. „Ich weiß ja, dass du zur Zeit viel zu tun hast..“ Sie ließ diesen Satz unbeendet. Nächste Woche standen Joes Abschlussprüfungen an, so dass er eigentlich nur noch daheim saß und dafür lernte. „Ach“, Joe winkte ab und setzte sich neben sie. „Kein Problem. Ein bisschen Zeit kann ich schon entbehren. Außerdem habe ich doch versprochen dir vor der nächsten Mathematik Klausur zu helfen. Und ich halte mein Wort.“ Er warf einen Blick auf Soras Unterlagen. „Also, was genau verstehst du nicht?“
Nach zwei Stunden intensiven Lernens lehnte Joe sich lächelnd zurück. „Ich glaube jetzt hast du es raus!“ „Meinst du?“, fragte Sora hoffnungsvoll. „Ja. Wenn du dich ein bisschen mehr anstrengst wirst du sicher besser in Mathe. Du verstehst ziemlich schnell.“ Mit Grauen dachte Joe an seine letzte Nachhilfeschülerin. Mimi. Gut, er wusste, dass Mimi sich in Mathe ziemlich schwer tat, aber er hatte bis dato noch nie jemanden getroffen der sich – er konnte es leider nicht anders sagen – so dumm anstellte. Nach nur dreißig Minuten war sie auf einmal in Tränen ausgebrochen und hatte hysterisch herumgebrüllt, dass sie zu blöd für Mathe sei. Als Joe sie, zugegeben etwas unbeholfen, trösten wollte war sie dann komplett ausgerastet. Sie hatten ihn angeschrien, dass alles nur seine Schuld sei, weil er ein schlechter Nachhilfelehrer war und ihn zum Schluss mit ihren Büchern beworfen. Allein die Erinnerung daran schmerzte. „Joe?“ Sora sah ihn fragend an. „An was denkst du?“ „Ich habe nur an meine letzte Nachhilfestunde gedacht“, erklärte Joe zögernd. „Die lief leider nicht so gut wie heute.“ Sora begann zu kichern. „Ja, Mimi hat mir davon erzählt.“ Sie hielt einen Moment inne ehe sie ungläubig fragte: „Hat sie dich wirklich mit...Büchern beworfen?“ „Ja“, gab Joe kleinlaut zu. Sora biss sich auf die Lippen um nicht laut loszulachen, aber Joe bemerkte es natürlich. „Das war gar nicht lustig“, beschwerte er sich. „Es hat sogar ziemlich wehgetan! Wochenlang hatte ich blaue Flecken..“ „Das glaube ich dir.“ Sora sah ihn entschuldigend an und wechselte dann taktvoll das Thema:„Mh..hast du noch Zeit für eine Tasse Tee bevor du gehst?“ Joe warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr. Eigentlich sollte er gehen. Er musste noch soviel wiederholen, da war jede Minute kostbar. Ja. Er sollte gehen. Er öffnete den Mund um Soras Einladung höflich abzulehnen und sagte: „Klar gerne.“
Im nächsten Moment hätte er sich am liebsten mit der Hand gegen den Kopf geschlagen. Warum hatte er denn jetzt zugesagt? Was war nur los mit ihm? Hatte er nicht noch eine Sekunde zuvor beschlossen, dass er nach Hause musste? Aber jetzt war es zu spät, Sora war bereits aufgestanden. „Das freut mich. Ich bin gleich wieder da.“ Sie verließ das Zimmer während Joe weiterhin seinen Gedanken nachhing. „Das ist bestimmt der Prüfungsstress“, murmelte er. Genau, das musste es sein. Was sonst? Nur wenige Minuten später kam Sora zurück, ein Tablett, auf dem zwei Teetassen und einen Teller Keksen standen in der Hand. Dankbar griff Joe nach seiner Tasse und nahm einen Schluck. „Du Sora“, begann er dann leise. Es gab da noch etwas, dass ihm schon länger auf den Herzen lag. „Ich..es tut mir wirklich leid das ich am Wochenende nicht zu deinem Geburtstag kommen kann..“ „Ach das“, Sora winkte ab und griff nach ihrer Teetasse. „Mach dir keine Gedanken, halb so wild. Ich verstehe das, am Montag ist schließlich deine erste Prüfung oder?“ Joe nicke und Sora fuhr fort: „Ich bin froh, dass du mir heute geholfen hast, dass ist schon mehr als ich erwarten konnte.“ Joe wurde rot. „Probier doch mal einen von den Keksen.“ Sora hielt ihm den Teller hin. Es waren große, himmlisch riechende Choco Cookies mit weißer Schokolade. „Lecker“, sagte Joe nachdem er den ersten Bissen genommen hatte. „Ja? Schmecken sie dir?“ Auf ihrer Wange bildeten sich leichte rote Flecken. „Sehr“, bestätigte Joe. „Das ist wirklich ein Zufall, weißt du, Cookies sind meine Lieblingskekse.“ „Ich weiß..“, murmelte Sora so leise, dass Joe es nicht verstand. „Was?“, fragte dieser prompt. „Nichts“, beeilte Sora sich zu sagen. „Ich freue mich nur, dass sie dir schmecken.“ Joe runzelte die Stirn, als ihm plötzlich etwas klar wurde. „Moment mal..hast du die selbst gebacken?“ „Ja. Ich wollte es mal versuchen.“ „Die sind wirklich gut gelungen!“ „Oh.“ Sora sah ihn lächelnd an. „Weißt du was, wenn sie dir wirklich so gut schmecken gebe ich dir welche mit.“ „Was?“ Joe der gerade einen weiteren Schluck Tee nehmen wollte hielt inne. „Nein, dass ist doch wirklich nicht nötig..“ „Doch“, widersprach Sora ihm. „Als Dank für deine Hilfe.“ Das konnte Joe natürlich nicht ablehnen.
Und so stand er eine halbe Stunde später nicht nur mit seinen Büchern , sondern auch mit einem Beutel von Soras Keksen bepackt, an der Eingangstüre um sich zu verabschieden. „Danke nochmal für deine Hilfe“, sagte Sora. „Ich sage doch schon, kein Problem.“ Joe zögerte kurz dann griff er in seine Tasche und holte ein kleines Paket heraus. „Ähm..hier schon Mal dein Geburtstagsgeschenk.“ Verlegen, und ohne sie anzusehen hielt er ihr das Geschenk entgegen. „Oh.“ Überrascht nahm Sora es aus seiner Hand. „Vielen Dank“, sagte sie lächelnd. Sie sahen sich einige Sekunden an ehe Joe schnell in seine Schuhe schlüpfte, Soras Kekse in seiner Tasche verstaute und den Bücherstapel an sich nahm. „Also dann..Tschüss Sora.“ Langsam, um nicht wieder hinzufallen, verließ er die Wohnung. „Joe?“ Er blieb stehen. „Ich wünsche dir kein Glück für deine Prüfungen“, rief Sora ihm hinterher. „Denn das wirst du nicht brauchen. Du wirst auch so jede einzelne mit Bravour bestehen.“ Dann schloss sie die Haustüre.
Joe wartete gerade an der U-Bahn Station auf seine Bahn als jemand seinen Namen rief. „Joe!“ Verwirrt drehte er sich um. „Tai“, sagte er dann. „Hallo. Bist du auf den Weg zum Training?“ Tai stand grinsend, seine Sporttasche in der Hand ,vor ihm. „Dachte ichs mir doch, dass hinter sovielen Büchern nur du stecken kannst! Und ja“, fügte er dann hinzu. „Ich gehe zum Training. Und du? Hätte nicht gedacht dich vor deinen Prüfungen nochmal außerhalb deines Zimmers zu sehen!“ „Ich komme von Sora, sie hatte mich gebeten ihr ein bisschen bei Mathe zu helfen.“ Tai hob erstaunt seine Augenbraue. „Sora? Hilfe bei Mathe?“ „Ja?“, sagte Joe unsicher. Tai brach in lautes Gelächter aus. „Und was genau ist an Mathe Nachhilfe so witzig?“, fragte Joe pikiert. „Nichts“, stieß Tai, nachdem er sich einigermaßen beruhigt hatte, hervor. „Nichts, außer der Tatsache, dass Sora bei der letzten Klausur Klassenbeste war. Ich glaube sogar sie hatte die volle Punktzahl.“ Joe starrte ihn mit großen Augen an. „Klassenbeste?“, fragte er fassungslos. „Volle Punktzahl?“ „Ja“, sagte Tai schulterzuckend. „Aber..“, stotterte Joe. „Warum sollte ich ihr dann helfen?!“ „Was weiß ich. Vielleicht wollte sie dich einfach sehen“, witzelte Tai.. „Ohje“, rief er dann, als er einen Blick auf die große U-Bahn Uhr warf. „Ich muss los sonst komme ich schon wieder zu spät! Tschüss Joe!“ Er klopfte ihm noch kurz auf die Schulter bevor er mit schnellen Schritten verschwand. Joe stand immer noch wie vom Blitz getroffen da. Das war doch Unmöglich, es ergab überhaupt keinen Sinn! Wenn Sora so gut in Mathe war warum sollte sie ihn dann um Hilfe bitten? War das alles nur ein schlechter Scherz? Nein, so war Sora nicht. Es musste einen Grund für ihr Verhalten geben! Tais Worte hallten in seinem Kopf nach. „Vielleicht wollte sie dich einfach sehen.“ War es vielleicht tatsächlich möglich, dass...und plötzlich kam ihm ein Gedanken. Wieder schlug sein Herz viel zu schnell und er merkte wie eine unnatürliche Hitze in ihm aufstieg. Nein, das konnte nicht sein! Oder doch? Er schüttelte den Kopf, als könne er den Gedanken so wieder loswerden. Er hatte keine Zeit für sowas, er musste sich auf die bevorstehenden Prüfungen konzentrieren! In diesem Moment fuhr seine Bahn ein. Joe stieg ein, ließ sich auf einen freien Sitzplatz fallen und betrachtete nachdenklich seine rechte Hand. Er schaffte es vielleicht seine Erklärung für Soras Verhalten zu verdrängen, aber trotzdem lag auf dem ganzen Heimweg ein Lächeln auf seinen Lippen.
„Und hast dus ihm gesagt?“, kam Mimis Stimme neugierig aus dem Telefonhörer. Sora seufzte. „Nein, ich konnte einfach nicht. Außerdem hatte ich auch ein schlechtes Gewissen, ich meine ich habe ihn völlig unnötig vom Lernen abgehalten...“ „Das kann doch nicht wahr sein!“ Sora hielt das Telefon ein paar Meter von sich weg, weil Mimi so laut war. „Da denke ich mir extra diesen super tollen Plan für dich aus und du machst alles kaputt, ich..“ Sora blendete Mimis Monolog aus und sah lächelnd auf ihre rechte Hand. „..alles umsonst!“ Sie schreckte hoch als Mimi plötzlich aufhörte zu sprechen. „Nein“, sagte Sora mit fester Stimme. „Umsonst würde ich jetzt nicht sagen...übrigens er hat mir mein Geburtstagsgeschenk gegeben, weil er doch nicht zur Feier am Samstag kommen kann..“ „Und was ist es?“, unterbrach ihre Freundin sie aufgeregt. „Ich hab es nicht aufgemacht, schließlich habe ich ja noch gar nicht Geburtstag..“ „Sora!“, rief Mimi genervt. „Mach es auf! Sofort!“ „Na gut..Moment.“ Sora legte das Telefon zur Seite und griff nach dem kleinen Paket. Sie schmunzelte als sie die tausend Tesa Streifen entdeckte, die das Papier zusammenhielten. Joe hatte es wohl selbst eingepackt. Vorsichtig schlug sie das Papier auseinander und... „Was ist es? Was ist es???“ Sora nahm den Telefonhörer und hielt ihn sich wieder an ihr Ohr. „Ein Taschenrechner“, sagte sie. „Ein..Taschenrechner?!“ Mimi konnte es nicht glauben. „Also mal ehrlich, was soll das denn? Das ist doch kein Geschenk für ein Mädchen..“ Während Mimi sich lautstark und ausführlich über dieses „Geschenk“ beschwerte, öffnete Sora die Packung und ließ den Taschenrechner in ihre Hand fallen. Ein kleiner Zettel war darauf geklebt. „Mit diesem Taschenrechner wirst du jede Aufgabe im Nu gelöst haben! Ich wünsche dir alles Gute, Sora. Joe“ Sora lächelte. „Wer freut sich denn über sowas..“, kam Mimis Stimme, immer noch meckernd, aus dem Hörer. „Ich“, murmelte Sora leise. Es war ein wunderbares Geschenk von Joe. Ihrem Joe...
