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Kalendertage

Der Tag, an ...
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38 - Der Tag, an dem ich Shoppen ging

Kein Wort hatten wir darüber verloren. Weder über Kakashis nächtlichen Kurzbesuch im Strandhaus, noch über seinen geplanten Rücktritt. Als ich an dem Morgen danach von einem kühlenden Luftzug geweckt wurde, war die Schiebetür zum Vorbalkon noch immer halb geöffnet. Es erinnerte mich an die Stunden zuvor, als Kakashi noch hier war.

„Weißt du, was an diesen alten Häusern toll ist?“, hatte er mich rein rhetorisch gefragt, weil ich die Frage natürlich nicht beantworten konnte, denn noch nie hatte ich in solch einem Haus gelebt.

Daher erwartete er auch gar keine Antwort von mir und schob einfach wortlos die Tür auf. Ich verstand sofort. Die hereinströmende Nachtluft machte nicht nur ein angenehmes Schlafklima, sondern man konnte darüber hinaus von unserem Bett aus sogar in die freie Natur und in den Sternenhimmel blicken. Ich war so totmüde, dass es mir keine fünf Sekunden gelang, in die Sterne zu schauen. Das monotone seichte Rauschen der Wellen an den Strand taten ihr Übriges, dass mir schnellsten die Augen zufielen. Mein Körper lechzte nach Schlaf und als ich erwachte, da war mein Freund schon längst über alle Berge und die Sonne stand hoch am Himmel. Das rhythmische Gezirpe der Heupferde aus den nahen Grasstreifen und Vogelgezwitscher aus den hohen Bäumen übertönten die Meereswellen. Es klopfte an der Tür. Meine Bekannte kam lachend herein und fragte, ob ich ins Koma gefallen wäre, denn die letzten Tage wäre ich nicht so eine Schlafmütze und stattdessen immer die Erste am Frühstückstisch gewesen.

Es sollte das letzte gemeinsame Frühstück im Strandhaus werden, denn meine Bekannte und gleichwohl meine neue zukünftige Chefin musste zurück zu ihrer Firma. Auch für uns war nun die Zeit der Abreise gekommen. Nach einem ausgiebigen Mahl, welches ein halbes Mittagessen ersetzte, packten wir wieder unsere Taschen und folgten meiner Bekannten per Bahn zurück nach Keishi. Ich wollte mir vom Büro und der anfallenden Arbeit ein Bild machen und versprach den Kindern, wenn sie sich solange am Riemen reißen und die Langeweile ertragen würden, dass wir noch in den Freizeitpark am Stadtrand gehen könnten. Kinder in dem Alter sind so herrlich durchschaubar. Der Deal stand!

Im Büro sah es keineswegs so aus, wie ich es mir vorgestellt hatte. Nein, es war viel, viel schlimmer! Ein wahrer Alptraum in Form einer weißen Blättersammlung. Schockiert stand ich im Türrahmen, hatte die Hände beidseitig in die Hüften gestemmt und meinen Mund so weit offen, dass eine komplette Ananas quer hindurchgepasst hätte. Ich wollte etwas sagen, bekam aber meinen Mund nur dazu, dass die Lippen geräuschvoll aufeinander klappten. Seit Jahren waren hier lose Papiere und Aktenordner kein Rendezvous eingegangen. Es schien, dass jede eingegangene Nachricht und jedes Formular auf einem Haufen abgelegt worden war. Hatte der Haufen einen Turm von Zimmerdeckenhöhe erreicht und drohte umzustürzen, hatte man einfach den nächsten Papierwolkenkratzer daneben errichtet. Ich war fassungslos. Meine Bekannte hingegen hatte eine Gesichtsfarbe wie der einer roten Verkehrsampel gleich, schämte sich zu Tode und suchte das nächstbeste Erdloch, was sich einfach nicht für sie öffnen wollte. Ich dachte nicht weiter nach. Ich schlug in ihr Angebot ein. Allerdings drehte ich beim Aushandelns des Arbeitsvertrag viel zu meinen Gunsten zurecht. Die Bezahlung war akzeptabel, und ich bestand auf einen Heimarbeitsplatz. Wenigstens schienen die Papierstapel eine Chronologie zu haben. So könnte ich etappenweise die Stapel in Kisten verpacken und daheim in Konoha sortieren. Demnach vereinbarten wir, dass ich nur an zwei Tagen in der Woche zwischen Konoha und Keishi pendeln, aber auf stetigem Abruf bereitstehen müsste. Das kam mir sehr entgegen, auch wenn es umständlich werden würde. Es war aber eine gute Chance, Familie und Beruf unter einen viel zu kleinen Hut zu bekommen. Den Tag der Vertragsunterschrift zu meinem ersten Arbeitstag machend, verpackte ich eines der Papierhochhäuser noch vor Ort in fast ein Dutzend Umzugskartons und schickte es nach Konoha. Über die Lagerung und Archivierung der Akten würde ich mir Gedanken machen, wenn ich einen Großteil gesichtet und bearbeitet hätte.

Nörgelnd meldeten sich die Kinder zurück in mein Gedächtnis und erinnerten mich an den Freizeitparkdeal. Ja, sie hatten wirklich tapfer durchgehalten, denn in dem Chaosbüro hatte ich nun schon gute drei Stunden zugebracht. Es wurde nun endlich Zeit, ein Versprechen einzulösen, obwohl ich Freizeitparks hasste. Also trottete ich den beiden von einem Fahrgastgeschäft zum nächsten hinterher, trank mindestens einen Doppelzentner Kaffee nebenbei und genoss die Sonne auf einer Parkbank wartend, während die Kinder irgendwo in irgendwelchen Warteschlangen zu den Karussells sich die Füße platt standen. Aber auch solche Tage gingen vorbei und jeder Park schloss gen Abend mal seine Pforten. Den letzten Abendzug nehmend, saßen wir Drei erschöpft, aber glücklich beisammen und freuten uns trotz der einmalig schönen Tage auf unsere heimischen vier Wände in Konoha.

Schon am nächsten Tag erreichten die Dokumentkisten meine Wohnung. Hui, sah es hier nun aber aus! Jede freie Quadratmillimeter wurde nun von Papier bedeckt. Arbeitsverträge, Kassenberichte, Abholscheine, Lieferscheine, Steuernachzahlungen, Zahlungsaufforderungen, Zollpapiere ... Alles, was tagtäglich in der Firma angefallen war, war wohl zum größten Teil ungesehen und unsortiert auf dem Stapel gelandet. Einige Dokumente waren sehr leicht und verständlich zu ordnen. Andere raubten mir das letzte Bisschen an Nerven, weil man nichts mehr nachvollziehen konnte. Und so langsam schwante es mir auch, weshalb meine Hilfe bittere Not war: Mit der Steuerbehörde und dem Zoll war nicht zu spaßen. Da steckte meine Bekannte doch sehr in der Tinte. Ein Wunder, wie die Firma solange hatte existieren können ohne Konkurs anmelden zu müssen. Wenn ich daran dachte, dass in Keishi noch viele dieser Papiertürme auf mich mit unentdeckten Schätzen und bösen Überraschungen warteten, wurde mir körperlich schlecht. Obgleich in mir Verzweiflung aufstieg, wie ich jemals in kürzester Zeit Herrin der Lage werden sollte, so fühlte ich mich trotzdem super. Ich hatte das Gefühl, gebraucht zu werden und nicht nutzlos mein Leben tagtäglich zu verplempern. Und was noch besser war: Ich hatte wieder festen, finanziellen Boden unter den Füßen.
 

Schon nach dem ersten Arbeitsmonat hatte ich fast alles abgearbeitet, offene Briefe beantwortet, mich als Kontaktperson bei Geschäftspartnern vorgestellt und unzählige Dialoge mit Behörden geführt. Als dann mein erstes Monatsgehalt auf meinem Konto auftauchte, schwebte ich schon voller übersprudelnder Glückshormone in luftigen Höhen und machte etwas, was ich seit Ewigkeiten nicht mehr getan hatte. Ich ging ausgiebig Schoppen.

Da war kleinlaut zugegeben auch ein Schuss Frust-Shoppen mit anbei, denn so prima es mit dem neuen Job lief, so schlecht lief es mit meinem Traumhaus. Oder wie mein Freund zu sagen pflegte: die Bretterbude. Häuser erbauten sich nicht einfach so von selbst. Irgendjemand musste es einst getan haben. Und so musste folglich auch irgendjemanden dieses Haus gehören. Nur leider erlitten in den Wirren des Ninjakrieges nicht nur die Ninjadörfer herbe Verluste. Auch viele Landstrichen wurden unbeabsichtigt verwüstet und viele Zivilisten waren unter den Opfern zu beklagen. Es war nicht ohne Weiteres auszumachen, wem denn nun dieses Domizil gehörte, um es käuflich zu erwerben. Aus den unvollständigen Unterlagen auf der Behörde war kein Besitzer zu entnehmen. Da hatte ich unzählige Besuchstage und somit den ganzen August auf Ämtern verbracht, nur um frustriert wieder aus den Amtsstuben herauszukommen. Kakashi krönte meinen Frust und zog mich mit seinem unbändigen Pragmatismus auf, ich sollte noch anfangen zu recherchieren, ob die Bretterhütte überhaupt ans örtliche Strom- und Wassernetz angeschlossen wäre. Andernfalls sollte ich mein Seifenblasenhaus lieber sofort zerplatzen lassen. Harte Worte für eine traurige Seele mit Traumhaus-Liebeskummer. Doch im Prinzip hatte er recht. Wenn man den Komfort von fließend Wasser und elektrischen Geräten gewohnt war, so war man kaum in der Lage, solch einen Luxus-Verlustschmerz über einen langen Zeitraum zu händeln. Und unsere Kinder könnten das wohl schon gar nicht.

Neulich erst herrschte bei Yuuki Weltuntergangsstimmung, als das Laufwerk seiner Spielekonsole den Geist aufgab. Natürlich an einem Sonntag, wo man nicht umgehend Ersatz beschaffen konnte, da die Geschäfte geschlossen hatten und sich die Stunden bis zur Öffnung des rettenden Ladens wie Kaugummi hinzogen. Schlaflosigkeit im Kinderzimmer und eine defekte Konsole. Und das alles kurz vor dem Endgegner. Ein Drama! Nein, unsere Kinder wären von einem Haus mit dem Komfort eines Igluzeltes nicht zu begeistern.

Dabei war es noch nicht mal klar, ob es ein Dauerwohnsitz werden würde oder nur ein Ferienhaus. Überhaupt war das Thema Haus nur ein Hirngespinst von mir gewesen und noch gar nicht näher innerhalb der Familienbande betrachtet worden. Das war wohl auch für den Anfang gar nicht mal so verkehrt. Viele Wogen mussten geglättet werden, bevor man mit neuen Wogen begann. Ich selbst hatte es als Kind noch hoch oben im heimatlichen Gebirge erleben müssen, wenn wir im Winter durch Schnee und Eis von der Außenwelt abgeschnitten waren. Da gab es Licht nur von der Kerze, Wärme von der Kochstelle und kaltes Wasser, nachdem man das Eis im Brunnen zerhackt und aufgetaut hatte. An Duschen oder gar Wäsche waschen war in der Zeit kaum zu denken. Die Erinnerungen an solche Entbehrungen verblassten umgehend mit dem Umzug in die neue Stadtvilla, welche meine Eltern nach dem Stahl-Boom bauen ließen.

Mit dieser Laune zwischen himmelhochjauchzend und tiefer Enttäuschung streifte ich durch mein geliebtes Konoha, welches mir seit meinen regelmäßigen Aufenthalten in der Großstadt so furchtbar klein vorkam. Trotzdem mochte ich es nach wie vor, und es ließ mich wieder zweifeln, in naher Ferne ein Strandhaus haben zu wollen. Es waren immerhin von Konoha bis raus zum favorisierten Strand rund 150 Kilometer. Luftlinie versteht sich. Für Normalos kein Katzensprung für einen Nachmittagsbesuch. Mit Chakra in ungefähr eineinhalb Stunden zu erreichen.

Ich bog durch eine Seitengasse und erreichte eines der viele Flussufer unseres Dorfes. An dieser Stelle, wo eine Brücke nach der anderen den Fluss überspannte, hatte es sich etabliert, dass regelmäßig Trödelmärkte stattfand. Fündig war ich zwar noch nie so recht geworden, aber zum Stöbern oder Schauen gab es immer etwas für Herz und Seele. An einigen Ständen wurde man aber den Verdacht nicht los, dass hier nur jemand seinen Hausmüll zu Geld machen wollte. Solch ein Ramsch! Mich fesselte plötzlich ein ganz besonderes Stück Stoff. Er war weder hochwertig, noch teuer, hatte aber eine ganz andere Bewandtnis. Er hatte ein auffälliges Karomuster in rötlichen Herbsttönen und war zu einem Trenchcoat verarbeitet worden. Man sah ihm sein Alter an. An den Ärmeln waren Wetzstellen. Das Innenfutter war lieblos repariert worden. An einer Außentasche ging die Naht auf. Dennoch probierte ich ihn an. Das Ding passte überhaupt nicht. Im Schulterbereich war es mir viel zu eng. Dafür waren die Ärmel umso länger. Von dem Grabbeltisch schnappte ich mir noch eine Ballonmütze in tiefstem Dunkelrot. Ich versteckte meine Haare darunter und ließ nur ein paar einzelne Strähnen ins Freie. Dann drehte ich mich zu einem alten Standspiegel, der mehr blind als sehend war, und war doch recht platt von der Kostümierung. Ein schelmisches Grinsen, so breit wie ein Brummkreisel, zierte mein Gesicht.

„Wie Yukie Fujikaze!“, schoss es mir verblüfft durch den Kopf.

Natürlich sah ich nicht ganz wie der berühmte Filmstar aus, aber sie trug in einer Schlüsselszene ihres bekanntesten Filmes eben solch einen Karo-Trenchcoat mit Ballonmütze. Dazu gehörte noch ein tuschkastenbuntes MakeUp und kniehohe Stiefel. Damit konnte der Grabbelstand nicht dienen, tat aber auch nicht Not. Was trug sie eigentlich drunter? Ich wusste es gar nicht mehr. Wer Fujikaze-san nicht kennt: Sie spielte unter anderem die Hauptrolle der Yunko in „Icha Icha Paradise“. Eine Traumbesetzung, wie Kakashi fand. Und er musste es wissen. Immerhin hatte er sie schon zweimal aus beruflichen Gründen beschützen müssen. Perfekte Figur, lackschwarzes Haar, knallblaue Augen und obendrein Prinzessin des Schnee-Reiches. Und diverse Starallüren. Sehr divenhaft. Da konnte man kaum konkurrieren. Ich hingegen fühlte mich in meinem eigenen Körper oft nicht wohl. Er war zu groß gewachsen und zu mollig geworden, wobei mein Freund mir sicherlich schon hunderte Male seufzend erklärt hatte, ich wäre sicherlich nicht zu dick, sondern an den richtigen Stellen perfekt kurvig. Und er mochte meine dunklen Kulleraugen. Wie Schokolade. Sie konnten aber auch ganz frech blitzen, fand er. Zusammen mit meinen lockigen Haaren sähe das schon fast durchtrieben aus.

Ich zahlte mein Kostümschnäppchen mit einem Zehn-Ryô-Stück. Den Spaß musste ich mir einfach geben, bei ihm mit diesen Klamotten aufzukreuzen. Auf das Gesicht war ich mehr als gespannt. Nun passte in meine vollen Einkaufstüten mein Neuerwerb nicht mehr hinein, also behielt ich die Jacke einfach an und die Mütze auf. Es war nicht mehr weit bis nach Hause. Die Sonne stand schon tief. Man merkte Anfang September doch sehr, wie der Sommer und die langen Tage sich verabschiedeten. Bald würde uns die Dunkelheit des Winters wieder in die Arme schließen. Ich schlenderte noch bis zum Ende des Trödelmarktes und bog dann in eine weitere Seitenstraße, die von den Sonnenstrahlen nicht mehr erreicht wurde. So eine richtige, filmreife Gasse, wo man von gruseligen Gestalten einen über den Kopf gezogen bekam und dann ausgeraubt und missbraucht zwischen den Mülltonnen versteckt wurde. Und in so einer Gasse hörte ich plötzlich quietschende Geräusche hinter mir, dass sich mein Puls erhöhte und sich meine Schritte verlängerten. Keine Frage, ich wurde verfolgt! Zumindest bildete ich mir das ein. Bis zum Ende der Gasse waren es noch einige Meter. Es war eine Kurzschlusshandlung meinerseits. Reflexartig drehte ich mich um, und schlug mit meinen Einkaufstüten brachial auf das ein, was auch immer sich da genähert hatte. Erst auf den zweiten Blick sah ich, wen ich erwischt hatte... Und schlug voller Wut auf jenen noch einmal zu. Und nochmal und nochmal. Mag es vielleicht politisch nicht korrekt sein, auf wehrlose Rollstuhlfahrer einzuprügeln, aber wenn sie in einem grünen Ganzkörperkondom steckten und eine Pilzkopffrisur trugen, dann hatten sie es verdient.

„Verdammt nochmal, Gai! Du hast mich zu Tode erschreckt!“ brüllte ich aus vollen Lungen, dass über uns aus den Fenstern neugierige Nasen in die Gasse hinunter guckten, was sich dort für ein Lärm abspielte.

Gai sagte zu seiner Verteidigung gar nichts. Der rieb sich nur die dicke Beule am Kopf und sah ziemlich verstört aus. Nanu? Das sollte doch wohl nicht von dem Tütenschlag herrühren? Nein, dahinter musste etwas anderes stecken, dass der aussah, als würde er gleich losheulen. Was war dem bloß über die Leber gelaufen?

„Ist das wahr, Nina? Ihr zieht weg?“

Wir zögen weg? Nicht die Bohne! Was redete der da? Nun war ich total verdattert und merkte, dass Gai eine Alkoholfahne hinter sich herzog, wie die Kinder im Herbstwind ihre Drachen. Das war ungewöhnlich und hatte ich bei ihm noch nie erlebt, seit ich ihn kennen lernen und ertragen musste. Ich lud ihn auf ein Entschuldigungsgetränk ein und teilte Yuuki per Telefon mit, dass ich wohl etwas später nach Hause kommen würde. Mit Sicherheit so gegen Neun. Später bestimmt nicht. Er bräuchte sich keine Sorgen machen.

Die nächstbeste Kneipe wurde unsere und schon nach einer Flasche Sake kam ich Gais Traurigkeit auf den Grund. Es war ihm irgendwie durchgesickert, dass Kakashi sein Amt demnächst niederlegen würde. Nun musste man sich einmal Gais soziales Umfeld anschauen, um festzustellen, dass die Anzahl an Personen, mit denen er sehr eng verkehrte, sich an einer Hand abzählen ließen. Der Großteil an Zeit fiel dabei auf Kakashis Gesellschaft. Da dieser jedoch nun neben seiner Arbeit oft bei uns war, stand Gai schlagartig oft ganz allein da. Zugegeben, das war hart.

„Du nimmst ihn mir weg!“ heulte er da unerwartet wie ein Wasserfall los, dass es schon fast peinlich wurde.

Hatte er es anfänglich noch begrüßt, dass Kakashi mich getroffen hatte, fürchtete er nun um die Nachteile. SEINE persönlichen Nachteile. Ich brauchte noch mindestens zwei weitere Sakeflaschen, um Gai zu beruhigen, dass es niemals meine Absicht wäre, ihm seinen allerliebsten Lieblingsrivalen auszuspannen. Ihre freundschaftliche Rivalität wäre doch so unglaublich einzigartig, erklärte ich eindringlich, dass ich mir fast selber glaubte. Vor allem war die Rivalität so einzigartig einseitig. Während Gai die Erfüllung seines Lebens darin sah, spielte Kakashi hingen zu Beginn das Spiel mit, um Ruhe zu haben. Der Weg des Geringsten Widerstandes. Später folgte er der blanken Gewohnheit. Es mochte zudem Gais Hartnäckigkeit gewesen sein, die die Verbindung aufrecht hielt. Selbst dann, als phasenweise keiner mehr Kakashis Gesellschaft suchte. Gai aber war immer irgendwie da. Wie so eine Klette. Natürlich nahm ich ihm auf eine ganz eigene Weise Kakashi weg. Zeiten veränderten sich nun mal. Aber ich blieb bei meinem tröstenden Märchen für Gai, welches in den buntesten Farben schillerte. Da könnte doch niemals irgendjemand einen Keil zwischen die beiden treiben, beteuerte ich. Darauf musste ich dann auch noch einen Schwur vor Gai ablegen, wobei ich nun selbst sternhagelvoll kaum noch die Hand heben konnte. Ohje, Kakashi sollte dringend mal mit Gai reden. Am Besten, wenn der wieder nüchtern wäre.
 

Wir hatten komplett die Zeit vergessen und wurden ganz plötzlich wieder daran erinnert, als ein Schatten in der Eingangstür vorbei zischte und umgehend Gestalt annahm. Nur einen Wimpernschlag später war sie von dem Türrahmen verschwunden und bei uns. Eher direkt vor uns. Mit ernster Haltung und verschränkten Armen vor der Brust wurde eiskalt auf uns Trunkenbolde herabgeblickt.

„Hier seid ihr also. Was soll der Blödsinn?“, wurden wir getadelt.

„Wieso Blödsinn? Ich habe Gai mit den Einkauftüten verhauen, und nun haben wir uns wieder vertragen“, gab ich alkoholgeschwängert zur Verteidigung zu verstehen. „Und ich hasse das, wenn du immer so auftauchst. So, so...“

Dabei fuchtelte ich mit den Armen ungelenk in der Luft herum, um dieses Plop-Auftauchen pantomimisch nachzuahmen. Das gelang mir gar nicht. Aber Gai war auch nicht besser. Der freute sich wie ein Honigkuchenpferd über Kakashis Auftauchen, wollte seinen Lieblingsrivalen überschwänglich begrüßen und kippte dabei mit seinem Rollstuhl laut scheppernd um. Ein schmerzhaftes Gejaule drang da jetzt vom Boden an unsere Ohren. Das sah so bescheuert aus, dass ich irre los kichern musste, obwohl das ganz schön gehässig von mir war.

„Ach, und irgendwas passt mit deiner Bankkarte nicht“, informierte ich noch belanglos nebenbei. „Ich glaub', die is' gesperrt.“

Ich fand schon, dass diese Information wichtig war. Nicht, dass er sich in den nächsten Tagen wundern würde, wenn er etwas bezahlen wollte. Nein, nein. Soviel hatte ich nun wirklich nicht gekauft, winkte ich innerlich ab. Und die ersten vier Tüten hatte ich ja noch selber bezahlt. Kakashi wiederum blickte fast unmerklich zwischen einem Junko-Abklatsch, zwei Dutzend Einkaufstüten einschlägiger Boutiquen und einem absolut verrenkten Gai unter dem Tisch hin und her. Der hing immer noch hilflos unter seinem Rollstuhl fest und konnte sich Dank Alkohol im Blute nicht mehr selbst befreien. Ich war mir sicher, dass Kakashi bei mir am meisten starrte, weil sein Augenschweifen immer wieder den Weg über meine Gestalt machten, aber Mister Vollprofi ließ sich selbstverständlich nicht in die Karten schauen. Menno, ich sah doch echt so süß aus. Ich schmollte sichtbar.

„Also doch Blödsinn!“, kommentierte Hokage-sama emotionslos die Szenerie.

Es war schon eine Besonderheit, wie Kakashi da so stehen konnte ohne auch nur eine einzige Gefühlsregung erkennen zu lassen. Der musste sich doch von uns beiden echt auf den Arm genommen fühlen. Innerlich war der echt geladen. Man konnte die Luft knistern hören. Vielleicht fühlte er sich gar nicht wie in einer Kneipe stehend, sondern in der Außenstelle der geschlossenen Psychiatrie.

„Yuuki rief bei mir an. Der hatte sich schon große Sorgen gemacht und wollte dich suchen gehen.“

Ich zog den Kopf ein, denn seine Stimme klang so ungewohnt scharf. War es denn echt schon so spät? Oh ja, es musste spät sein. Die Uhr über dem Tresen zeigte wahrlich eine extrem vorgerückte Stunde. Der Wirt hatte schon die Stühle hochgestellt und gefegt. Jetzt beobachtete er hinter dem Tresen wie ein altes Tratschweib das ungewöhnliche Gästetrio in seinem Lokal, denn Gai und ich waren die beiden letzten Besucher. Na, das gab ja wieder etwas zu erzählen im Dorfe. Wenn man es mal von einer anderen Seite betrachtete, so beschäftigten Gai und ich Hokage-sama weit mehr, als ihn sein ganzes Dorf es je getan hatte. Mit Gai und mir brauchte das Dorf wahrlich keine Feinde. Wir beide konnten Hokage-sama echt gut auf Trab halten. Welch Negativrekord.

Es war nur eine eindeutige Handbewegung von Kakashi, die unmissverständlich zum Abmarsch blies. Er schob kommentarlos Gais Rollstuhl samt körperlichem Inhalt durch die Tür ins Freie, dicht gefolgt von mir, aber mit respektvollem Abstand des schlechten Gewissens zu ihm. Zu Gais Wohnung hatten wir einige Häuserblocks zu passieren. Die kühle Nachtluft traf mich wie ein Keulenschlag in den Unterleib. Plötzlich wurde ich wach. Alles drehte sich um mich herum. Orientierungslos suchte ich schutzsuchend den Arm meines Freundes, als vorwarnende Krämpfe meine Magengegend heimsuchten.

„Ich warne dich...“, hörte ich ihn noch sagen.

Ja, ja, schon kapiert. Dass er keinen Bock auf vollgekotzte Schuhe hatte, war einleuchtend. Meinem Drehschwindel folgend und statt Kakashis Arm lieber eine Straßenlampe erwischend, suchte viel halbverdauter Sake seinen Weg in die Freiheit. Wie Regenwasser lief er in der Rinne hinab und verschwand im Gulli. Komischerweise ging es mir dann schlagartig besser. Bis auf das bisschen Schwindelgefühl im Kopf. Wieder eine halbwegs senkrechte Körperhaltung einnehmend, stolperte ich hinüber zu Kakashi, der mit einem mittlerweile schlafenden Gai etwas weiter die Straße hinab auf mich gewartet hatte. Wie solch ein Kleinkind im Buggy. Mit offenem Mund, Speichelfäden in den Mundwinkeln und hängenden Gliedmaßen in alle Richtungen. Für mich aber galt: Bloß nicht den Anschluss verlieren! Also stolperte ich auf Kakashi zu wie ein Kind, dass Mama samt Kinderwagen in der Ferne erblickte.

Man gut, dass Gais Wohnung zweckmäßig im Erdgeschoss lag. Die Wohnung war klein und bestand nur aus zwei Räumen und einem Bad. In dem einen Raum stand Gais Bett und ein Kleiderschrank, in dem anderen war eine Küchenzeile und ein Essbereich untergebracht. An der einen Wand stand ein Sofa. In nächster Nähe eine Anrichte mit einem alten Fernseher. Irgendwie hatte Kakashi es geschafft, seinen Lebzeit-Rivalen in dessen Bett zu bugsieren, währenddessen ich mit dem Kopf unter dem Wasserhahn hing, um mir den ekelhaften Geschmack aus dem Munde zu spülen. Frisch gereinigt lehnte ich nun an dem Küchentisch und wartete. Gai musste zwischenzeitlich von der Sabberschlafphase zum Tiefschlaf gefunden haben, denn selbst als Kakashi leise die Tür zu seinem Schlafzimmer schloss, dröhnte sein Schnarchen wie ein komplettes Sägewerk durch das gesamte Wohnhaus. Gai war in allen Lebenslagen einfach nur unheimlich.

„Wie war das? Du hast Gai mit den Tüten gehauen?“, hakte Kakashi mit grinsendem Unterton jetzt doch nochmal genauer nach, den die Geschichte klang schon recht sonderbar.

„Na, da ist doch diese Gasse, die ich oft als Abkürzung nehme, wenn ich vom Trödelmarkt komme. Und als ich hinter mir ein Geräusch hörte, hab ich einfach zugeschlagen. Ohne nachzugucken. Ich dachte, ich werde überfallen...“, plapperte ich ohne Punkt und Komma los und stutzte dann plötzlich.

Moment mal, wurde ich hier eben ganz nebenbei befummelt? Ich sah an mir herab, wie seine Hände schon den Gürtel vom Trenchcoat entknotet und langsam Knopf für Knopf durch die Knopflöcher schob.

„Was machst'n du da?“, fragte ich vernebelt die kleine Drecksau, die immer ganz schüchtern tat und rot anlief, aber nur Unfug und Schweinereien in der Birne hatte.

„Du wolltest deine Geschichte weiter erzählen“, ließ er sich überhaupt nicht beirren.

„Nix weiter. Ich habe mich dann mit ein paar Flaschen Sake entschuldigt.“

Dass Gai mir sein halbes Herz ausgeschüttet hatte, unterschlug ich. Das passte hier jetzt einfach nicht in die Stimmung. Mit einem tiefen Knarzen merkte die Tischplatte an, normalerweise nur das Gewicht von Tellern und Töpfen zu tragen, aber nicht meines. Na, ob das gut ging und nicht zusammenbrach? Egal, war ja nicht meine Wohnung. Es klirrte wie zerbrochenes Glas, als er sich vornüberbeugte und uns beide sanft auf die Tischplatte drückte. Das waren wohl die Kanne und die beiden Tassen gewesen, die über die Tischkante hinweg nun ihren jähen Scherbentod gefunden hatten. Wilde Küsse, die brannten. Hände überall, wo ich es liebte. Ich quiekte kurz auf. Am Bauch war ich kitzelig. Mein Herz raste vor Aufregung doppelt so schnell und in meinem Bauch kribbelte es schlimmer als in einem Ameisenhaufen, weil ich einen Anflug von Unwohlsein verspürte. Hoffentlich wachte Gai nicht auf und meinte, er müsste mal die Küche auf dem Weg zur Toilette durchkreuzen. Mein jetzt schon knallroter Kopf wurde noch eine Spur dunkler bei dem Gedanke, wenn man uns hier so sehen würde. Halb entblößt und auf dem Küchentisch flachgelegt. Doch es würde wohl niemand auftauchen oder von außen durch die Fenster spähen. Da war sich Kakashis Instinkt anscheinend sicher. Wenn er hier so ein Ding abzog, dabei sein Gesicht nicht verhüllt und die volle Aufmerksamkeit bei uns hatte, so musste es totsicher sein. Eine befremdliche Arhythmik erfüllte den Raum. Gais dröhnendes Schnarchen, das tiefe Knarzen des Tisches und dazwischen unsere keuchendes Atmen.

Zu meinem eigenen Erstaunen störte es mich hinterher keineswegs, wie ich aufstand und es überall klebte. Wie mir die Haare wie ein Wischmop zu Berge standen und wie ich immer noch halbnackt das Kehrblech über dem Mülleimer auskippt, auf das Kakashi zuvor die Scherben gefegt hatte. Unter dem Tisch fand ich dann auch meinen Slip wieder.

Es roch nach uns, doch der Luftzug durch die gekippten Fenster würden bis zum Morgengrauen auch diese Spur beseitigt haben. Die Reflektion der Fensterscheibe zeigte mir ein unbekanntes Bild meiner selbst. Verschmiertes MakeUp, zerzauste Frisur, zerrupfte Kleidung. Wie eine Straßenschlampe nach der Arbeit. Fast schon ein bisschen erschreckend, aber dennoch mochte ich es zugleich. Trotzdem wurde es nun Zeit für ganz neue Gefilde.

„Bringst du mich auch in mein Bett?“, nuschelte ich, weil ich nun die späte Nachtstunde gepaart mit dem Sake in den Knochen merkte.

„Soll ich dich auch so verrenkt aufs Bett schmeißen wie Gai?“, wurde gescherzt.

Ich schüttelte den Kopf und grinste.

„Wenn du mir vorher noch die Schuhe ausziehst und mich zudeckst?“

„Lässt sich bestimmt einrichten...“

Und so zogen wir dann leise und unauffällig vom Tatort des Geschehens in die Nacht hinaus, dessen Finsternis uns in den engen Gassen Konohas schon bald verschluckte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Daniela23
2017-08-16T17:40:17+00:00 16.08.2017 19:40
Es wehre toll wenn es weiter gehen würde .den deine Geschichte liest man als ob Mann selbst da wehre.
Ich würde mich freuen wenn es weiter geht.
Antwort von:  sakemaki
16.08.2017 20:35
Guten Abend und vielen Dank für dein Kommi. Natürlich wird die Geschichte weitergehen. Heute Abend lade ich das nächste Kapitel hoch. Leider werde ich nicht mehr so viele Updates in so kurzen Zeitabständen schaffen. Es geht mir gerade gesundheitlich nicht so gut. :-(
Von:  shirly88
2017-07-31T19:11:26+00:00 31.07.2017 21:11
Ich LIEBE deine Fanfiction ^^ hoffe die geht noch weiter ;)

Antwort von:  sakemaki
01.08.2017 10:23
Herzlichen Dank,
leider muss ich gestehen, dass sich die Fanfic langsam dem Ende nähert. ich habe zwar noch tausend Idee, doch ich habe Sorge, dass es langweilig werden könnte, wenn ich die Geschichte noch weiter in die Länge ziehe. ich bin mir da eben echt unschlüssig, ob nun die letzten 2-3 Kapitel kommen sollen oder ob ich da noch ein bisschen mehr einbaue.
LG sakemaki


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