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Secrets

von

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Fears

Ich saß auf einem der Stühle des Centers, die Hände krampfhaft in den Schoß gelegt, um mich von meinem letzten Gefühlsausbruch runterzubringen, den Rucksack zwischen meinen Füßen. Ich hätte Green nicht so angehen sollen, doch ich hatte den Eindruck, dass er verstanden hatte. Manchmal war es vielleicht auch notwendig, einen etwas raueren Ton anzuschlagen. Ich hatte es schließlich nur gut gemeint. Und ich hoffte, dass er es auch so sah.

Es dauerte nicht lange, da kam Green schon die Treppe herunter. Ich stand langsam auf, warf mir den Rucksack über die Schulter und ging auf ihn zu. Er hatte definitiv seine Fassade wieder aufgebaut, doch sie wirkte nicht mehr so übertrieben wie vorhin. Er wirkte wieder so großartig wie zuvor.

Wir tauschten bloß kurze Blicke, doch keiner sagte etwas. Ich konnte an seinen Augen sehen, dass es vorerst genug der Worte war. Dies war weder der richtige Ort, noch der richtige Zeitpunkt. Also gingen wir. Ohne überhaupt besprochen zu haben, welche Richtung wir einschlagen wollten, verließen wir das Pokémon-Center und wandten uns nach Westen auf die nächste Route. Route 8, die die kleine Stadt Lavandia mit meiner Heimat, Saffronia City, verband. Vielleicht war es an der Zeit, nach Hause zu gehen.

Wir erreichten den Weg, der uns aus der Stadt führt, als Green plötzlich noch einmal innehielt. Er wandte sich um, ich folgte seinem Blick, der sich auf den Pokémon-Turm richtete. Ich konnte es nicht länger mit ansehen.

"Lass es, bitte", flehte ich leise und schob ich sachte weiter auf den Weg. "Ich weiß, es ist nicht einfach. Aber du kannst mir glauben, ich weiß sehr gut, wovon ich rede, verdammt gut…"

Er wehrte sich nicht, und wir betraten die Route 8, die uns hoffentlich so schnell wie möglich weit weg von Lavandia bringen würde. In den letzten Wochen war so viel passiert, zu viel. Viel zu viel, das eigentlich nicht hätte sein sollen…

"Du warst auch nicht ohne Grund dort drin, hab ich Recht?", fragte Green plötzlich, nachdem wir bereits einige Minuten einfach schweigend nebeneinander hergelaufen waren. Ich nickte. "Ich war wegen Carnino dort."

"Wer ist Carnino?"

Ich holte tief Luft. Ich spürte erneut diese Anspannung, doch die Wahrheit zu sagen, war das einzige, das mir jetzt helfen konnte. "Das Arkani meines Vaters. Der treueste Kamerad, den man sich vorstellen kann. Mein Fukano ist im Übrigen sein Sohn."

"Wie - wie ist er gestorben?", fragte Green vorsichtig. Ich musste lächeln. Ich hatte ihn bisher noch nicht so reden hören. Er konnte also auch freundlich und mitfühlend sein. Als ob ich innerlich jemals daran gezweifelt hätte. Doch es erleichterte mir die Sache, ihm von Carnino zu erzählen. "Ich war selbst nicht dabei, ich habe erst später davon erfahren. Es passierte auf der Rückfahrt vom letzten Einsatz meines Vaters. Die Einheit sollte am Abend in Orania City ankommen. Ich habe mich damals so gefreut, meinen Vater endlich wiederzusehen. Wir alle haben am Hafen gewartet, meine Mutter, meine Großmutter und ich. Wir sahen das Schiff, und ich bin fast geplatzt vor Aufregung. Doch als es näherkam, da wussten wir, dass irgendetwas nicht stimmte. Ich hatte so ein seltsames Gefühl, etwas war anders. Wir konnten Menschen schreien hören, irgendetwas ging da vor sich, doch keiner konnte etwas erkennen."

Ich machte eine kurze Pause und wir gingen einfach weiter nebeneinander her, ohne dass Green weiter nachhakte. Er schien eher darauf zu warten, dass ich von selbst erzählte. Also setzte ich erneut an: "Wie gesagt, irgendetwas ging da vor sich. Was auch immer, ich wusste es nicht, wie konnte ich auch. Ich war zu klein, um es zu verstehen. Ich erinnere mich auch nicht mehr an alles. Aber ich weiß noch, dass plötzlich die Polizei am Hafen war. Wir wurden fortgeschickt, alle. Es brach eine Panik aus, alle liefen wild durcheinander … ich konnte nichts mehr sehen, weil ich zwischenall den Erwachsenen einfach viel zu klein war. Ich hab meine Mutter verloren, war völlig allein, meine Großmutter hat mich schließlich gepackt und von dort weggetragen. Ich weiß nicht, was genau passiert ist. Ich erinnere mich nur noch an die lauten Schreie, die Verzweiflung, die Angst … es war der Tag, an dem mein Vater verschwand. Einige Leute hatten das Schiff überfallen, dabei wollten sie wohl ein kleines Mädchen entführen, dass bei dem Einsatz gerettet wurde, aber sie haben es nicht geschafft. Dank Carnino. Carnino hat das Mädchen gerettet, und dafür sein Leben gelassen. Er starb auf diesem Schiff. Ich hab damals sehen können, wie sein lebloser Körper an Land getragen wurde. Er hat gekämpft, bis zum bitteren Ende. Er wurde getötet, um an dieses Mädchen heranzukommen."

"Das muss schrecklich gewesen sein…"

"Ja, war es", stimmte ich zu und warf ihm einen kurzen Blick zu. "Danach begann auch schließlich die große Suchaktion. Mehrere Soldaten aus der Einheit waren wohl plötzlich spurlos verschwunden. Darunter mein Vater. Natürlich war sofort klar, dass sie gegen ihren Willen mitgenommen worden waren, der Vorwurf, sie würden zu diesen Leuten gehören, war schnell vom Tisch."

"Und du bist sicher, dass es nicht freiwillig war?"

"Todsicher!", entgegnete ich scharf und funkelte ihn böse an. "Ich weiß, er ist meine Familie, aber ich schwöre dir, bei allem, das mir heilig ist, mein Vater würde sich niemals auf kriminelle Machenschaften einlassen! Erst recht nicht, wenn sein treuster Kamerad dafür sein Leben lassen muss! Außerdem hätte es seine Ehre verletzt!"

"Schon gut, schon gut, ich hab's nicht so gemeint!", sagte er hastig und hob entschuldigend die Hände. "War ja nur eine Frage. Ich meine, vielleicht steckte ja einer der anderen drin. Kann doch sein."

"Möglich. Ich kenne niemanden von ihnen, nicht mal einen Namen. Gut, ich weiß jetzt, dass Major Bob auch in der Einheit war, aber ich bezweifle stark, dass er in der Sache drinsteckte."

"Hat man denn je rausgefunden, wer dafür verantwortlich war?"

"Offiziell nicht."

"Was heißt das bitte, offiziell nicht?", fragte Green, und ich konnte seinen durchdringenden Blick förmlich spüren. Ich biss mir auf die Lippe und wandte ihm erneut das Gesicht zu. "Was glaubst du wohl? Carnino ist verblutet. Weil er ausgepeitscht wurde."

Es brauchte keine weiteren Worte, damit er begriff. Ich sah ihm direkt in die Augen, deren Ausdruck ich nicht ganz deuten konnte. Aber es reichte, um mich ihm zumindest ein wenig zu öffnen. "Ich hab die Vermutung schon länger. Sie kennen wohl auch meinen Vater, so wie sie reagiert haben, als ich ihnen gesagt habe, wer ich bin."

"Deshalb also hast du ihnen deinen Namen gesagt? Und ich hab mich schon gefragt, was um alles in der Welt du dir dabei gedacht hast."

"Ja, es war idiotisch nicht?", sagte ich und grinste. "Es hätte keinen Unterschied gemacht. Sie wüssten schon lange, wer ich war. Aber das war eben die wirkungsvollste Waffe, die mir zur Verfügung stand."

"Du hättest sie einfach erledigen können!"

"Sie wären alle auf einmal auf uns losgegangen, hätte ich sie damit nicht einschüchtern können! Wie auch immer, wir leben. Eigentlich wäre es unser Glück, wenn wir diesem Team Rocket nie wieder begegnen würden. Aber ich bezweifle, dass das der Fall sein wird. Ich glaube, die werden wir schneller wiedersehen, als uns lieb ist. Und für den Fall, der mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eintreten wird, da ich garantiert nach diesen Mistkerlen suchen werde, will ich vorbereitet sein." Ich drehte mich und lief rückwärts weiter, um Green direkt ansehen zu können. "Ich habe also vor, mich gleich ins Training zu stürzen. Ich bin in den letzten Wochen so weit zurückgefallen, dass wir einiges wieder aufholen und uns verbessern müssen. Ich werde mich noch mehr reinhängen als bisher, denn dieser Kampf wird kein gewöhnlicher sein. Es ist kein Kampf mehr, es ist Krieg. Und darauf muss ich vorbereitet sein. Bist du dabei?"

"Was, mit dir Krieg zu führen?", fragte Green mit hochgezogenen Brauen und lachte. Ich warf ihm einen vielsagenden Blick zu. "Ich werde dich nicht mitziehen lassen, falls du darauf aus bist. Aber ein Training ist nicht besonders effektiv, wenn man dabei nur gegen schwache Gegner antritt. Ich brauche Hilfe von jemandem mit Erfahrung."

"Ich weiß, dass ich gut bin", gab er zurück und breitete die Arme aus, als ob dies selbstverständlich wäre. Ich zwinkerte ihm zu. "Natürlich bist du das. Du bist eben der Beste."

"Na, sag ich doch."

"Also, was ist, wird der großartige Green Ōkido mir nun helfen oder nicht?" Ich blieb stehen und sah ihn erwartungsvoll an. Green hielt ebenfalls inne und musterte mich abschätzend. Es hatte offensichtlich funktioniert. Er schien langsam wieder der alte, arrogante, selbstgefällige Trainer zu werden, wie ich ihn bisher kannte. Auch wenn ihn diese Eigenschaften sicher bei einigen Leuten anecken ließen, ohne sie war er einfach nicht mehr er selbst. Und ich würde kein zweites Mal mit ansehen wollen, wie so etwas passierte.

"Ja, ich denke, das wird er", sagte Green schließlich. "Ein bisschen Training würde wohl auch meinem Team guttun, also ist uns beiden damit geholfen."

"Gut, dann los", strahlte ich und ging voran, um mich nach einem geeigneten Platz umzusehen. Green wartete einen Moment, bis er mir schließlich folgte und mir nachrief: "Übrigens: Schön, zu sehen, dass du auch zu sowas wie einem herzlichen Lächeln fähig bist!"

Es war, als würde ich wieder anfangen zu leben. Ich konnte mich endlich frei bewegen, ohne Schmerzen, die mich wieder zu Boden warfen. Ich fühlte mich besser, seit wir diese Stadt verlassen hatten. Ob es nun die eigenartige Aura von Lavandia war, oder einfach, weil ich mit Green trainierte, ich konnte es nicht sagen. Aber endlich fühlte ich mich wieder frei. Als würde ich mich zum ersten Mal in meinem Leben richtig austoben, meine angestaute Energie endlich freilassen.

Die Stunden rasten nur so dahin, doch müde wurde keiner von uns. Sogar Fukano war wieder fröhlich und strotzte nur so vor Energie. Und als die anderen eine Pause einlegten, wollte er immer noch nicht aufhören. Erst, als es langsam dunkel wurde, beendeten wir das Training. Fukano schien davon gar nicht begeistert. Doch uns beiden war klar, dass er nur darauf aus war, Greens Fukano zu sehen. Die beiden verstanden sich wie Brüder.

Inzwischen war es Abend. Wir hatten eine gute Stelle gefunden, an der wir die Nacht verbringen konnten. Und so saßen wir nach unserem knappen Abendessen zu zweit am Feuer und waren bloß in Gedanken. Ich wollte es nicht sagen, aber an diesem Tag hatte ich so viel Spaß gehabt wie schon lange nicht mehr. Es hatte gutgetan. Mehr als gut. Doch jetzt, wo wir einfach so dasaßen und uns anschwiegen, kehrten unzählige Gedanken in meinen Kopf zurück, die ich eigentlich lieber beiseite schieben wollte. Außerdem war es beinahe unerträglich warm.

Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und sah bloß stier ins Feuer. Das Knistern beruhigte mich, doch die Hitze wurde beinahe unerträglich.

"Wieso ziehst du die Jacke nicht aus?", fragte Green plötzlich. Mein Magen verkrampfte sich. Ich sah ihn nicht an und schüttelte den Kopf. "Nein, es geht schon."

"Was ist mit dir los? Dir ist doch total warm, und sonst bist du doch auch immer nur mit Top rumgelaufen. Außerdem ist es heiß, du schwitzt wie ein Jugong in der Sonne! Ich -"

"Ich sagte nein!"

Meine Stimme war so laut geworden, als ich ihm wütend das Gesicht zuwandte, dass Green mich erschrocken ansah und augenblicklich verstummte. Sein Blick ruhte eine Weile auf mir, doch ich wandte mich gleich wieder dem Feuer zu. Mein Magen verkrampfte sich nur noch mehr. Mir wurde schlecht.

Green nickte und wandte seinen Blick ebenfalls in Richtung Feuer. Er hatte hoffentlich verstanden, dass ich es nicht wollte. Dass ich etwas verbergen wollte. Kein Wunder, er war doch schließlich alles andere als dumm. Und dennoch…

Ich hielt es nicht mehr aus. Ohne ein Wort zog ich mir die Jacke aus und warf sie achtlos neben mich. Meine Augen waren immer noch auf die tänzelnden Flammen gerichtet, die nun durch das Licht das Ausmaß meiner Verletzungen beleuchteten. Ich hörte, wie Green erschrocken einatmete. Er wartete eine Weile, bis er etwas dazu sagte. "Das ist es also, was du die ganze Zeit versteckst."

Ich sagte nichts. Am liebsten hätte ich mir Jacke sofort wieder übergezogen, um diese Narben zu verdecken…

"Es hat damit zu tun, was im Felstunnel passiert ist, nicht wahr?"

Wie gern hätte ihm gesagt, er sollte einfach seinen verdammten Mund halten. Ich wollte nicht, dass diese Sache jemals den Felstunnel verließ, niemals.

Ich lehnte mich ein Stück zur Seite, um besser an eine meiner linken Hosentaschen zu kommen, und zog etwas heraus. Ich hielt es Green hin.

"Hundemarken?", sagte er und nahm sie in die Hand. Ich nickte. "Ja. Die meines Vaters."

Ich ließ sie in seine Hand fallen, damit er sie sich besser ansehen konnte.

"Wenn er nicht im Einsatz war, habe ich sie immer bei mir getragen. Sie sind sowas wie ein Glücksbringer für mich. Als wenn mein Vater immer bei mir wäre, egal, was passiert." Ich war wieder um einiges ruhiger. Eigentlich hatte ich nie vorgehabt, mit irgendwem darüber zu reden, doch jetzt, wo ich schon einmal an diesem Tag zu reden angefangen hatte, bemerkte ich, wie gut es eigentlich tat. Ich schaffte es sogar, Green endlich anzusehen. "Mein Vater hat mich früher viel auf seine kleinen Expeditionen mitgenommen. Wir haben versteckte Orte erkundet, sie erforscht, nach Schätzen und unentdeckten Pokémon gesucht. Seen, Wälder … und auch Höhlen."

Ich senkte den Blick auf den Boden.

"Ist … ist irgendwas damals passiert?" Ein Zögern lag in Greens Stimme. Ich versuchte es mit einem Lächeln, ohne den Blick vom Boden abzuwenden, und sprach einfach weiter: "Ich habe unsere Expeditionen geliebt. Und ich hatte Angst. Aber ich war nun mal ein Kind, und dann ist es normal, Angst zu haben. Mein Vater hat mich immer ermutigt, versucht, mir die Angst zu nehmen. Er hat mir Mittel und Wege gezeigt, wie ich aus jeder unangenehmen Situation wieder rauskomme. Wir waren beide immer schon sehr naturverbunden. Er hat mir viele Tricks gezeigt, um mich allein in der Wildnis zurechtzufinden, sollte ich einmal in eine solche Situation geraten."

Er grinste leicht. "Tja, das erklärt wohl, wieso du immer so gut vorbereitet bist."

"Ja, das erklärt es", gab ich zurück und schaffte es nun wirklich zu einem Lächeln. "Man kann nie gut genug vorbereitet sein, gerade, wenn man allein da draußen ist. Es kann immer irgendetwas passieren, die Vorräte gehen aus, man wird angegriffen, man verliert die Orientierung…"

"Ich nehme an … dir ist sowas schon mal passiert?"

Das seltsam verkrampfte Gefühl in meinem Magen löste sich allmählich auf. Es war, als hätte ich all das schon lange jemandem erzählen wollen, jemandem wie Green. Und in dem Moment verlor ich auch all die Hemmungen und durchbrach die Barriere, die ich mir mühsam aufgebaut hatte, um mich vor anderen zu schützen.

"Nein, nicht direkt…", setzte ich an und sah hinauf in den sternenbesetzten Himmel. Es war ein klarer Abend. "Dank des Survival Trainings, das ich mit meinem Vater gemacht habe, war ich bisher nie in einer wirklich ausweglosen Situation, wenn ich draußen irgendwo war. Zudem war er ja immer bei mir, er hat mich nie wirklich aus den Augen gelassen. Er war immer für mich da, egal, was passierte. So auch dieses eine Mal…"

"Was ist passiert?", fragte Green leise, aber deutlich. Ich zögerte, dann begann ich, ihm meine Geschichte zu erzählen: "Mein Vater hatte eine Höhle entdeckt, die er erkunden wollte. Und begeistert wie ich war, wollte ich ihn natürlich begleiten. Er stimmte zu und nahm mich mit. Meine Großmutter war besorgt und zweifelte daran, dass es das Richtige für mich wäre, schließlich war ich noch klein. Doch ich wollte so unbedingt. Also kam ich mit. Wir machten uns auf den Weg zu dem Ort, den er entdeckt hatte, mit kompletter Ausrüstung, sollte etwas passieren und wir vielleicht länger fort sein müssen. Er war immer auf alles vorbereitet. Wir durchstreiften den Wald, beobachteten die Pokémon aus sicherer Entfernung und genossen einfach den Anblick der Natur. Und schließlich erreichten wir diese Höhle, von der er so begeistert und neugierig gesprochen hatte. Er war immer Feuer und Flamme, wenn er einen neuen Ort entdeckt hatte, den er erkunden wollte. Er lebte dafür. Nun … jedenfalls sind wir dort rein. Es war stockdunkel, doch Carnino, der uns immer begleitet hat, beherrschte Blitz. So konnten wir uns gut durchschlagen. Mein Vater markierte die Wände, damit wir uns nicht verlaufen würden. Ein bisschen Angst hatte ich schon, doch mein Vater wusste, wie er mich aufmuntern und mir die Angst nehmen konnte. Er gab mir seine Hundemarken und sagte, sie würden mich beschützen, egal, was passiert. Ich hab sie fest in meine Hand geschlossen, und hatte dann auch keine Angst mehr. Also gingen wir weiter, und drangen immer tiefer in die Höhle ein, hinein ins Unbekannte."

Ich sah Green an. Er lauschte gespannt meinen Worten und sagte nun kein einziges mehr. Das machte es mir leichter, über meine Vergangenheit zu sprechen. Über etwas, das ich bisher noch nie jemandem erzählt hatte. "Dann ist es passiert. Irgendwo musste es einen Erdrutsch gegeben haben, die ganze Höhle erzitterte unter dieser Last … Felsbrocken fielen herab, ich verlor die Orientierung, ich hatte keine Ahnung mehr, wo ich war. Und dann war es nur noch dunkel. Ich war eingeschlossen, ich sah nichts, ich hörte nichts. Ich war völlig allein. Ich hab versucht, irgendein Geräusch zu hören, was zu sehen, ich hab mich an den Wänden entlang getastet, doch ich konnte mich nicht mal wirklich rumdrehen … ich war komplett eingeschlossen … ich wartete, lange … es kam mir vor wie Stunden … doch nichts geschah…"

Unbewusst fuhr ich mit den Fingern über die Narben und wandte wieder den Blick ab. "Du hast keine Ahnung, wie das ist. Eingeschlossen in einer vollkommenen Dunkelheit, viel zu eng, um sich zu bewegen. Ich wusste nicht einmal mehr, aus welcher Richtung ich gekommen war, da waren überall nur Felsbrocken, die mir den Ausweg völlig versperrten … ich habe damals wirklich geglaubt, ich würde dort nie wieder rauskommen. Ich war mir sicher, das wäre das Ende. Ich würde dort sterben. Ich hab geweint vor Angst, die Hundemarken umklammert und bloß noch auf den Tod gewartet."

Ich hob den Kopf, um Green in die Augen zu sehen. Es war schwierig, ihren Ausdruck zu deuten. In ihnen lag eine Mischung aus Entsetzen und Mitgefühl, das ich bisher so gar nicht von ihm kannte. Und er sagte immer noch kein Wort.

"Irgendwann, als ich schon dachte, ich wäre tot, da hab ich was gehört", fuhr ich fort. Meine Stimme war inzwischen nicht mehr so fest. Die Erinnerungen fanden zurück in meinen Kopf und spielten sich wie lebende Bilder vor meinem geistigen Auge ab, als wäre das alles soeben erst passiert. Als wäre es erst kürzlich gewesen, und nicht vor Jahren. Ich schluckte. Ich versuchte bloß, die Fassung zu bewahren und weiterzusprechen. "Es war eine Stimme. Die meines Vaters. Er rief nach mir, doch ich war zu erstarrt, um zu reagieren. Ich bekam zunächst keinen Ton raus. Ich war verstummt. Als ob ich zu sprechen verlernt hätte. Ich saß einfach nur da, weinte stumme Tränen. Und wartete auf den Tod. Ich hatte noch nie solch eine Angst. Nie. Irgendwann … da hörte ich ein Geräusch, und die Stimme meines Vaters drang immer lauter zu mir vor. Ich begriff, dass sie real war, dass sich das nicht in meinem Kopf abspielte. Ich versuchte ebenfalls, laut zu schreien. Ich weiß nicht einmal mehr, ob ich es geschafft habe. Ich weiß nur noch … wie ich eine Art Graben gehört habe … und die Stimme meines Vaters, die immer wieder nach mir rief … und irgendwann sah ich ein Licht. Es hat mich fast geblendet. Ich brauchte eine ganze Weile, bis ich realisieren konnte, was dort geschah. Carnino hatte angefangen, zu graben. Er war es, der mich aus dieser Enge befreite. Ich hab nur noch mehr geweint, als ich das Licht sah, und mein Vater hob mich über die Felsbrocken und trug mich raus. Carnino führte uns, den ganzen Weg zurück, ich hab bloß die Augen geschlossen und die Hundemarken fest umklammert … und dann sah ich wieder das Tageslicht. Die Sonne. Und mir wurde klar, dass es nichts Schöneres auf der Welt geben würde als das Licht und die Wärme der Sonne. Aber seit diesem Tag … habe ich Angst vor Höhlen."

Als ich den Satz beendet hatte, sah ich Green erwartungsvoll an. Ich rechnete mit irgendeiner Reaktion, doch tatsächlich schien er zu getroffen, um irgendetwas zu sagen. Ich konnte ihm ansehen, dass er innerlich nach Worten rang, doch er brachte zunächst nichts heraus.

"Tja, jetzt weißt du es", sagte ich schließlich, lehnte mich zurück und stützte mich auf den Händen ab. "Ich dachte, ich könnte irgendwann damit umgehen. Im Mondberg ging es ja auch, aber ihr wart dabei und es war hell, vielleicht deswegen. Aber der Felstunnel…"

"Der ist stockdunkel, ich weiß", brachte Green schließlich heraus, wenn auch recht leise. "Das muss ein Alptraum für dich gewesen sein. Hattest du denn keinen Blitz?"

Ich schüttelte den Kopf. "Nein. Wir sind im Dunkeln da durch."

"Himmel, du bist doch verrückt!" Er fand offensichtlich seine Stimme wieder. "Nach dem Ereignis wäre ich niemals allein im Dunkeln dort reingegangen!"

"Ich hatte nicht mehr die Zeit, mich darum zu kümmern … ich wollte so schnell wie möglich nach Lavandia, und hab dabei nicht vorausgedacht. Green, sollte ich jemals wieder so etwas Dummes machen, bitte, halt mich auf." Doch ich konnte dabei sogar lachen. Green starrte mich ungläubig an. "Sowas Dummes? Du kannst dich drauf verlassen, dass du sowas nie wieder in deinem Leben tun wirst! Das ist nicht mal dumm, das ist wahnsinnig! Das wär ja fast, als würde ich in den Pokémon-Turm einziehen!"

Doch auch er lachte darüber. Es tat unheimlich gut.

"Apropos Pokémon-Turm", warf ich ein und musterte ihn mit einem Grinsen. "Warum um alles in der Welt hast du Angst vor Geistern?"

"Keine Ahnung, was weiß ich!", antwortete er und gab mir die Hundemarken zurück, die ich nun wieder sorgfältig in meine Hosentasche steckte. "Gewöhnlich hat sowas doch einen Grund, so ziemlich jede Angst entwickelt sich erst später im Leben."

"Ich hab ehrlich keine Ahnung", lachte er und zuckte die Achseln. "Ich weiß es nicht, das hatte ich irgendwie immer schon. Jetzt zieh mich aber nicht jedes Mal damit auf!"

"Nein, mach ich nicht", sagte ich augenzwinkernd und hörte nicht auf, zu grinsen. "Ich werde dich nur dein Leben lang daran erinnern, wie du Red schreiend in die Arme gelaufen bist und ihn umarmt hast, den Grund dafür lasse ich schön außen vor."

"Hey!"

Ich sprang lachend auf, bevor er mich schlagen konnte, und hielt gezielt von ihm Abstand. "Na, war das nicht so? Und hast du dich nicht später wieder an ihn geklammert, als wir weiter oben waren?"

"Das - das ist doch nicht wahr!", rief er entsetzt und sprang nun ebenfalls auf. "Das hab ich nie gemacht!"

"Doch, hast du", sagte ich und lief weiter davon.

"Hab ich nicht!"

"Oh doch, das hast du."

"Das ist nie passiert!"

"Doch, ist es."

"Na warte!"

Ich lief ums Feuer herum und blieb stehen, während Green mir hinterherrannte und mich offensichtlich packen wollte, doch ich war schneller, ergriff seine Handgelenke und hielt sie fest. "Ja, worauf soll ich denn warten?"

Er funkelte mich an, doch er wusste wohl, dass ich nur meine Späße trieb. Ich musste zugeben, dass es auch geradezu verlockend war. So konnte ich mein Grinsen auch nur langsam abstellen, als wir uns so gegenüberstanden und direkt ansahen. Ich hörte augenblicklich auf, ihn zu ärgern, und sah ihm einfach nur in die Augen. Lange. Und es war beinahe, als ob die letzten Wochen nie gewesen wären. Ich hatte mich lange nicht mehr so gut gefühlt.

"Green … es gibt zwei Dinge, die ich gerne loswerden möchte."

"Was denn?", fragte er.

Einen Moment zögerte ich. Es war wieder so ein Moment, in dem mir das Sprechen schwerfiel. "Zum einen … das, was ich dir vorhin gesagt habe … das habe ich dir nie erzählt, okay?"

Er nickte. "Verstanden. Von mir wird niemand etwas erfahren, kein Wort. Und was ist das zweite?"

Ich öffnete den Mund, um es zu sagen, doch brachte ich zunächst wieder kein Wort heraus. Ich versuchte, den Blick von ihm abzuwenden, ließ ihn aber immer noch nicht los. "Keine Lügen mehr. Bitte. Es ist das eine, über bestimmte Dinge nicht zu reden. Du willst nicht über deine Eltern reden, ich nicht über meine Mutter oder was genau im Felstunnel vorgefallen ist. Das müssen wir jeweils respektieren. Aber ich will nicht, dass wir uns gegenseitig anlügen. Diese Schauspielerei, ich hab das so satt. Es ist für mich kein Problem, Fremde anzulügen. Aber was uns betrifft, und auch Red, da will ich diese Lügen nicht. Versprich mir bitte, dass wir das sein lassen, okay?"

Green starrte mich einen Moment lang nur an. Er zögerte, doch dann nickte er schließlich. "Ab jetzt keine Lügen mehr. Versprochen."

"Ich danke dir", sagte ich leise, und ich ließ meine Hände langsam sinken.



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