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Gregors Necronomicon

von
Koautoren:  Sam_Linnifer  Gezeitenfeuer

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Danse Macabre

Der Tag ist trüb und grau. Seit einer halben Woche regnet es schon und um ehrlich zu sein, ich bin nicht bester Laune. Ich weiß, ich weiß – aber warum setzt du dich dann hin, um zu schreiben? Tja, werter Leser – weil die Stimmung, so gedrückt sie auch sein mag, passt. Passt zu dem Tag, der heute ist. Der Tag, wegen dem ich heute schreiben will und werde.

Heute ist Annas Jahrestag. Oder vielmehr: Es jährt sich, das Anna starb.

Anna, das war ein junges Mädchen aus Dardamen. Sie entstammte einer wohlhabenden Familie. Sie hatten etwas Land, gute Erträge, einiges an Vieh. Keine Händler und nicht reich genug, sich irgendwo einzukaufen. Sie waren nicht adlig. Einfach nur eine wohlhabende Familie. Ein großes Ding in der Region. Und Anna war die zarte Blüte ihrer Familie. So jung und voller Hoffnung. Voller Träume für ein größeres, besseres, schöneres Leben. Inzwischen denke ich sie weit besser zu verstehen. Anna wollte die Welt sehen. Wie so viele junge Leute. Sie wollte Abenteuer. Nicht die Welt retten oder Schurken mit einem Schwert bedrohen, nein. Kleine Abenteuer hätten ihr gereicht. Eine große Stadt besuchen. Vielleicht sogar dort leben. Exotische Waren auf den Märken aufstöbern. Fremde Gewürze ausprobieren.

Ihr war einfach nur Dardamen zu klein und eng.

Kann ich verstehen. Ich habe in meinem Leben inzwischen mehr als genug Dörfer besucht. Jeder kennt jeden – und jedermanns schmutzige Wäsche. Manche empfinden das als Traum oder kennen es nicht anders, können es akzeptieren. Aber nicht Anna. Sie war eine kleine Wunderblume. Mir eigentlich gar nicht unähnlich.

Mancher mag mich nun als Spaßvogel kennen. Und mich flatterhaft nennen. Aber nein, ich habe nie versucht, mit Anna ins Heu zu kriechen. Das überließ ich Lucy, die im dortigen Gasthaus angestellt war. Und selbst das hatte offenbar einfach nicht sein sollen, wurden wir doch ständig unterbrochen, bevor es lustig wurde.

Anna hatte sich damals ihrer Familie gegenüber um Kopf und Kragen geredet. Irgendwie hatte sie es geschafft, alle davon zu überzeugen, dass es diesmal anders wäre. Nicht nur eine dumme, flatterhafte Schwärmerei, nein, jener Aasimar, der seit Jahrzehnten zurückgezogen am Dorfrand lebte hätte wirklich zugestimmt, sie zu heiraten. Sie hatte einen Fehler begangen und es nicht übers Herz gebracht, ihn zu korrigieren. Alle waren so erfreut. So voller Hoffnung. Für sie, für ihr Glück in Liebe und Ehe, für ihre Zukunft.

Und wir, wir waren nur die reisenden Fremden, an die sie sich mit verzweifelter Hoffnung wenden konnte. Um zu verhindern, dass die Pleite ihre Familie entblößte und beschämte. Einen Aasimar zur Hochzeit umstimmen. Na wenn es sonst nichts weiter war. Natürlich scheiterten wir daran – der Kerl war so lebhaft und gefühlskräftig wie jeder ordinäre Fels, den man im Feld fand und anschrie, weil man nun den Pflug neu schärfen musste.

Aber es hätte andere gegeben. Wir… handelten nur nicht rechtzeitig. Anna nahm sich das Leben. Vor unseren Augen.

Das ist nun schon viele, lange Jahre her. Viel ist passiert. Aber selbst heute noch verfolgen mich die Bilder manchmal im Traum. Einzelne Nächte im Jahr, die die Erinnerungen wieder wachrufen. Jeden Satz, den ich zu ihr gesagt habe. Jeden Gedanken, den ich nicht aussprach. Alles, was ich tat – hätte tun können – hätte tun sollen.

Was Annas Todestag nun mit diesem Werk und dem Eintrag hier zu tun hat?

Ich schrieb ihrer Familie. Gelegentlich. Später, als ich mich das traute und die Last der Schuld mir an manchen Tagen die Luft zum Atmen zu rauben drohte. Ich bettelte sie um Vergebung an und natürlich waren sie… sehr verwirrt. Also erklärte ich meine Lage. Meine Taten. Jedes Wort von mir, jedes von ihr – so gut ich mich erinnern konnte. Auch wenn es wie erwähnt die Träume nicht völlig vertrieb, so linderte es die Last. Es auszusprechen. Darüber zu sprechen, was geschehen war. Warum es geschehen war. Was ich sonst hätte tun können. Dass es Dinge gab, die ich hätte tun können. Ich fand in ihrer Familie zwar keine vollständige Vergebung… aber zumindest Verständnis.

Sie bekam eine kleine Schwester. Sehr viel später. Victoria.

Es ist seltsam, den eigenen Lebenszyklus so stark von dem der Menschen gelöst zu sehen. Sich zu erinnern, wie diese ersten Briefe waren. Zu hören, dass sie geboren worden war, welchen Namen man ihr gegeben hatte. Wie sie ihre ersten Schritte wagte. Irgendwann schrieb ich nicht mehr mit Victorias Mutter, sondern mit ihr selbst. Ich las ihre Geheimnisse. Ihre Wünsche. Und es war schmerzhaft, wie oft sie mich an Anna erinnerte. Wie viele Träume beide teilten. Ich weiß bis heute nicht, wie Victoria eigentlich aussah. Also stelle ich mir irgendwie immer Anna vor, wenn ich an sie denke. Vielleicht etwas jünger.

Victoria wollte auch die Welt sehen. Dringender, drängender, sehnsüchtiger noch als ihre große Schwester. Sie hatte ein Handwerk ergriffen und sparte jede Münze. Sie wünschte sich keine Puppen, kein Pferd, keinen Tand für ihr Zimmer. Sie wünschte sich Wanderstiefel. Einen derben Rucksack. Münzen. Und in jedem Brief, in der letzten Zeile, rechnete sie mir vor, wie viel Geld sie hatte, wie lange sie noch sparen müsse und wie viele Tage das noch wären, bis sie aufbrechen konnte. Bis sie die engstirnigen Grenzen Dardamens hinter sich lassen und die Welt sehen würde, auf eigene Faust und nach ihren eigenen Regeln.

Sie war wagemutig, meine kleine Victoria. Sie hat in einer Woche Geburtstag. Oder hätte gehabt.

Mir war die Regelmäßigkeit nicht klar, in der wir einander schrieben. Aber mir fiel sofort auf, als sie mir zu schreiben aufhörte. Der erste fehlende Brief war ungewöhnlich. Der Zweite besorgte mich. Beim Dritten packte ich meine sieben Sachen und zog los, um sie zu besuchen.

Dardamen gab es nicht mehr, wie ich bei meiner Ankunft feststellen musste.

Nur eine Menge Hüten und Häuser in unterschiedlich gutem Zustand. Nicht angegriffen, wohlgemerkt. Man sah ihnen nur an, wer mit seinem Tagewerk zu beschäftigt war, um das Dach auszubessern. Wer sich Leute leisten konnte, die sowas taten. Und all die Leute? Die Einwohner Dardamens? Die lagen in den Straßen. Kreidebleich und reglos. Es stank nach Verwesung und unzählige Vögel pickten an ihnen herum.

Sie waren tot. Alle. Wirklich restlos alle. Das ganze Dorf war ein Geisterdorf geworden und ich fand keine Kampfspuren, keine Flüchtlinge. Die Tiere waren tot, die Leute waren tot, alles war tot. Die Vögel, die hier das Mahl ihres Lebens fanden, mussten von außerhalb gekommen sein.

Ich weiß nicht recht. Vielleicht hatte ich geglaubt, Annas Andenken besser in Ehren halten zu können, wenn ich mit ihrer kleinen Schwester schrieb. Vielleicht hoffte ich, irgendetwas wiedergutmachen zu können. Aber als ich blass und grün durch diese Straßen lief, der Geruch mich würgen ließ und mir klar wurde, das Victoria irgendwo zwischen diesen Kadavern liegen musste… da brannte bei mir irgendwas durch.

Ich übergab mich ein Stück außerhalb des Dorfes. Und reiste weiter. Einfach auf gut Glück zum nächsten Dorf. Ich fand lebendige, vergnügte Leute vor. Also verweilte ich nicht, sondern zog einen Kreis um Dardamen. Und fand beim dritten Dorf, das ich auf diese Weise passierte, das gleiche Schauspiel vor. Damit hatte ich eine Richtung. Was immer es war, kam aus Dardamen und war in Willingen eingeschlagen. Wenn es seine Richtung hielt – dann wusste ich, wohin es zog. Und dorthin zog auch ich.

Ich musste es wissen. Musste es sehen. Und das tat ich auch.

Ich weiß nicht ganz, wie das Dorf eigentlich hieß. Ich… irgendwie reizte mich nie, danach zu fragen. Aber ich fand dort die Leute vor, alle Leute vor, wie sie feierten. Wie sie tanzten. Manche edel und anmutig, andere wild und feurig und voller Leidenschaft. Es wirkte… freudig, auf den ersten Blick.

Auf den ersten Blick.

Auf den Zweiten dagegen? Diese Gesichter waren verzerrt von Angst und Schmerz und Erschöpfung. Ihre Haut blass, verschwitzt. Ihre Füße blutig. Sie tanzten, tanzten, tanzten, konnten einfach nicht damit aufhören. Ihre Gesichter spiegelten ihre endlosen Qualen wieder. Sie erschöpften sich, verhungerten, verdursteten, übermüdeten, überanspruchten. Und in ihrer Mitte stand der Schuldige. Oder vielmehr, das Schuldige.

Eine Skelettgestalt, gekleidet wie ein Hofnarr. Der Umhang, die Mütze, seine übergroßen Hosen, selbst die spitz nach oben laufenden Schuhe waren in einem ausgewaschenen Rot gehalten. Man sah von seiner untoten Gestalt nicht viel – außer dem Gesicht. Hier, mit allen Leuten des Dorfes in seinem Bann, da brauchte er keine Magie mehr, um seine wahre Natur zu verbergen. Ein Skelettschädel mit boshaftem Grinsen. Er spielte eine Flöte, dann und wann, aber auch wenn die nicht an seinem lippenlosen Mund lag, hörte ich die Musik, zu der alle tanzten.

Sie klang wirklich hübsch.

Ich hatte meinen Schuldigen. Und ich war rasend. Dieses… dieses Monster hatte Victoria getötet! Irgendwie, irgendwo in meinem Hinterkopf, war mir durchaus klar, für wie viel mehr Tod er verantwortlich war, als ich ihm gerade zur Last legte. Aber die anderen kannte ich nicht. Ich kannte nicht ihre Namen. Ich wusste nicht, wovon sie träumten. Dass sie als Kinder Angst vor dem Monster unter dem Bett gehabt hatten. Oder Rübensuppe widerlich fanden. Ich wusste nicht, dass sie sich in einen Burschen namens Wilbert verliebt hatten, obwohl der ein Scheusal war und sie sich selbst nicht begriffen. Das alles galt nur für Victoria.

Also nahm ich einen Stein. Ich ging ein Stück herum und suchte mir den wuchtigsten Stein, den ich heben und verlässlich werfen konnte. Ich ließ mir Zeit – er sich ja offenbar auch. Ob er mich nicht bemerkte oder mich ignorierte, war mir nicht klar. Er hatte diese eindrucksvolle Sense, aber schien seine Flöte vorzuziehen. Während ich meinen Stein suchte, starb jemand aus der Menge. Eine alte Frau, weiße Haare, gekrümmte Gestalt. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und drehte Pirouetten, ein ums andere Mal, bis sie völlig entkräftet zusammenbrach. Aus ihrem Körper löste sich ihre Seele. Ich konnte es sehen. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass jeder das hätte sehen können. Das jeder das gesehen hatte. Dieses Ding machte kein Geheimnis mehr daraus, wozu es fähig war und warum es hier war.

Also zielte ich und warf. Der Stein ging durch ihn durch. Einfach so. Er sah zwar nicht danach aus… aber dieser Hofnarr war so tot und körperlos wie die Seelen der Toten, mit denen er tanzte.

Aber ich war nicht mehr der naive junge Mann, der mit Geistern nicht umzugehen wusste. Ich hatte neue Magie gelernt. Und ich zwang diesen Bastard, wieder körperliche Gestalt anzunehmen. Und als es soweit war, da ging ich auf ihn los. Rannte im Zickzack zwischen den Tänzern hindurch. Ich spürte natürlich, wie er auf mich eindrang. Geistig. Wie dieser Drang wuchs, selbst zu tanzen, mitzutanzen, wie schön die Melodie doch war, wie ansteckend der Rhythmus. Aber ich erreichte diese Missgeburt und ich prügelte ihm sein hässliches Grinsen vom Knochenschädel.

Es dauerte fast eine halbe Woche, bis die Heiler des Dorfes – in Ermangelung der Dorfältesten, die als eine der ersten an Entkräftung gestorben war – alle Knochensplitter in meiner Hand gefunden hatten. Und noch weit länger, bis die Hand vollständig genesen war. Ishara sei Dank – andernfalls hätte ich vermutlich heute noch Probleme, sie richtig zu bewegen. Doch in dem Moment war es mir das wert.

Ich vernichtete ihn. Schlug seinen Schädel in Stücke. Und als mein Zauber endete und er wieder geisterhaft wurde, da war auch diese Existenz verloschen. Die Tänzer stürzten zu Boden, reihenweise, erschöpft. Und die Geister, die Seelen, die er gefangen hatte, flohen. Zu besseren Orten, hoffe ich. In Ereshkigals Arme, hoffe ich. Sie wurden unsichtbar, wie sich das eigentlich auch gehörte. Ich konnte natürlich manche noch immer sehen, aber nicht alle.

Und dann war da diese Kraft. Sie hob meine Hand. Ich spürte sie an meiner Hüfte. Ein Zug nach links. Ein Zug nach rechts. Ein Schritt nach vorne, einer zurück. Es dauerte, bis ich das Muster erkannte.

Ein ziemlich simpler, klassischer Tanz. Einer, von dem Victoria mir vorgeschwärmt hatte. Ich weiß nicht… ich hoffe, dass sie es war. Dass ich für ein paar wenige, kostbare Minuten mit meiner kleinen Victoria tanzte. Als ein großer, prächtiger Rabe von einem der Hausdächer herunter krächzte, spürte ich es. Diese tiefe… Gelassenheit. Diese Ausgeglichenheit. Ich kann keine Worte finden, um den Frieden in Worte zu fassen, der mich in jenem Moment überkam. Der Rabe glitt auf seinen pechschwarzen Schwingen herab, flatterte einen Moment vor mir, ganz nah. Als würde er auf jemandes Schulter sitzen, so rede ich mir ein. Er krächzte mich an, leise. Und als er sich wieder in die Lüfte erhob, da war mein Tanzpartner fort. Die Kraft verschwunden, die gerade eben noch meine Hand etwas fester gedrückt hatte.

Victoria… ich vermisse deine Briefe. Jeden Tag.

Und Anna… es tut mir noch immer so schrecklich leid.

Dir aber, treuer Leser, rate ich eines. Siehst du einen Fremden im Narrenkostüm, der Flöte und Sense trägt und dessen Musik von weitem zu hören ist, obwohl er allein kommt und die Flöte nicht an den Lippen hat – renn!



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Nhaundar
2018-06-03T09:45:16+00:00 03.06.2018 11:45
Auch die Geschichte hat mir lange keine Ruhe gelassen, besonders weil sie so kurz nach den Ereignissen im RPG aufgetaucht ist. ;)
Die Stelle hat Gregor nämlich tatsächlich übel mitgenommen, wie viel man davon jetzt noch merkt oder nicht, kann ich mir sehr gut vorstellen, dass das alles genauso weiter gelaufen ist. Auch wenn es traurig ist. Ich finde es schön, dass Gregor vermutlich einen letzten Tanz mit Victoria hatte, bevor sie vom Raben weiter getragen wurde. Übrigens finde ich es auch toll, dass das hier eingebaut wurde. Das ist einer der Gründe weswegen ich Raben mag. Nicht nur weil sie hübsch aussehen und clevere Tiere sind, sondern auch, weil sie als Symbol so eine tiefe Bedeutung haben und schon immer hatten. Auf jeden Fall auch eien sehr schöne Geschichte. <3


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