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Die Angst vor der Einsamkeit

von

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Der Abend dämmerte bereits, als Mo in ihren Kunstkurs zockelte. Mo malte gerne, allerdings am liebsten für sich alleine, ihre Mutter hatte sie in diesen Kurs gedrängt. Für Mo war das Malen eine Art, sich auszudrücken. Zumeist schmierte sie intuitiv Farben auf die Leinwand und verzierte sie mit den Fratzen und Figuren, die aus ihrem Unterbewusstsein aufstiegen. Euryia sah das allerdings als Vergeudung von Zeit und Geld an und vertrat die Meinung, dass ihre Tochter, wenn sie schon unbedingt malen musste, etwas Vernünftiges malen solle. Und daher saß Mo hier und versuchte, eine Schale Birnen akkurat abzuzeichnen und scheiterte dabei kläglich. Ihre Birnen waren nicht symmetrisch genug, nicht perfekt genug, worauf sie ihre Professorin bei jedem ihrer Rundgänge hinwies. Bis aus der hinteren Reihe die Frage laut wurde, warum Birnen eigentlich perfekt oder symmetrisch sein mussten.

Mo drehte sich auf ihrem Hocker um. Scheinbar hatten sie einen Neuen im Kurs, denn Hyperion, der sich ganz hinten auf seinem Stuhl im Kreis drehte und die Arme hinter dem Kopf verschränkt hatte, war bisher noch nie hier gewesen. Mo seufzte, als der Professor zu einem Standpauke ansetzte. Natürlich hatte Hyperion Recht. Birnen sollten – wie alle Lebensmittel – gut schmecken und den Hunger stillen und nicht gut aussehen. In Erebos wurden jedes Jahr Unmengen Lebensmittel weggeworfen, weil sie nicht der Schönheitsnorm der Gesellschaft entsprachen. Zu krumme Karotten, deformierte Kartoffeln, Äpfel mit Tupfen. Kam alles in den Müll, weil es nicht ästhetisch aussah. Als wäre das nicht völlig egal. Lebensmittel waren wertvolle Güter und die unfaire Verteilung dieser war einer der Mitgründe gewesen, warum es zum Dritten Weltkrieg gekommen war. Für die wenigen Bessergestellten war es selbstverständlich geworden, dass Lebensmittel immer in ausreichender Menge zur Verfügung gestanden waren, während der Großteil der Weltbevölkerung unterernährt war und jeden Tag Kinder starben, weil ihre Eltern sie nicht ernähren konnten. Die Wohlstandsgesellschaft hatte keinen Bezug mehr zum Essen, alles wurde fertig abgepackt im Supermarkt gekauft, aber dass das Fleisch von Tieren aus grausamen Massenhaltungsbetrieben stammte und quer über den Globus gekarrt wurde, bedachte dabei niemand. Und wenn das Verfallsdatum dann erreicht war, zack, ab in den Müll damit, tatsächliche Haltbarkeit hin oder her. Aber der Kunstunterricht in der Universität von Erebos war wahrlich nicht der richtige Ort für Diskussionen darüber. Wozu auch? Hyperion fasste eine gehörige Portion Nachsitzen aus und ändern würde sich hier sowieso nichts, ihre Professorin kritisierte Mos Birnen nach wie vor weil sie nicht perfekt waren. Mo sah Hyperion noch einen Augenblick an, dann wandte sie sich wieder ihrer Staffelei zu.

Hyperion war hier quasi das Gegenteil von Moros-Kronos. Wurde letzterer hier von allen als Held verehrt, war erster der Bösewicht. Dabei hatte ihn die Gesellschaft erst zu einem solchen gemacht. Hyperion war durch eine Genveränderung mit einem grauen und einem grünen Auge zur Welt gekommen. An sich nicht weiter tragisch, es hatte keine Schmerzen deswegen, keine Defizite, nur eben zwei unterschiedliche Augenfarben. Das Problem an sich war vielmehr das Streben nach Makellosigkeit in Erebos. Frauen ließen sich die Knochen brechen und operieren, weil sie der Ansicht waren, dass ihre Beine nicht lange genug waren und für Mos Mutter Eurybia war es schon eine Ohnmachtsgrund, wenn ihre Tochter zwei verschiedene Socken trug, demnach konnte man sich wohl vorstellen was das für die Leute hier hieß, wenn man zwei ungleiche Augen hatte. Und wenn es nicht operabel war. Sonst wurde hier alles, was optisch nicht makellos war, makellos gemacht, nicht umsonst gingen hier so viele Ärzte von der Uni ab. Aber für Hyperions „Problem“ hatte sich noch kein Arzt finden lassen, um es zu kurieren. Hyperion war der älteste Sohn der Familie und damit eigentlich ihr ganzer Stolz. Mo verglich Erebos oft mit dem Mittelalter und auch hier traf dieser Vergleich zu, denn die ältesten Söhne waren dazu auserkoren, das Familienimperium zu übernehmen, während die Mädchen wie Vieh an den Meistbietenden verkauft wurden. Drei Jahre lang hatten Hyperions Eltern alles versucht, um die Augenfarbe ihres Sohnes zu korrigieren, danach war sein jüngerer Bruder auf die Welt gekommen und nachdem der Erstgeborene ja Schande über die Familie gebracht hatte (als ob er etwas für seine Augenfarbe könne, wenn dann sollten ja wohl seine Eltern für die genetische Mitgabe verantwortlich gemacht werden), wurde stattdessen Hyperions jüngerer Bruder zum Stammeshalter erkoren. Seither war Hyperion ein Kind zweiter Klasse, eigentlich grenzte es an ein Wunder, dass ihn seine Eltern nicht ausgesetzt hatten. Die meiste Erebos behandelten Hyperion wie eine Missgeburt, einen Aussätzigen, aber ausschließen konnten sie ihn auch nicht, immerhin war er ja trotzdem noch das Kind eines hohen Ratsmitgliedes. Deswegen konnten sie ihn auch nicht aus der Schule rauswerfen, trotz Unzähliger Verwarnungen wegen allem Möglichen. Oder eigentlich nur wegen einer Sache: weil er nicht so war wie alle anderen und sich nicht ans System anpasste.



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