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Let's Run!!!

von

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it’s dangerous to go alone

/sonntag_

 

Ran hatte wie abgemacht „ausgeschlafen“, da Dash den Vormittag über noch einmal durchgecheckt werden und erst am Mittag entlassen werden sollte. Ausgeschlafen hieß in seinem Fall, dass er schon seit Sonnenaufgang zwischen Dashs T-Shirts, in die er sich vielleicht zum Schlafen ein bisschen eingekuschelt hatte, auf dem Bett lag und sich mit diversen Gedanken herumquälte. Damit, dass er es gestern nicht geschafft hatte, Dash noch einmal auf den Berserkermodus, den er Lunis gegenüber an den Tag gelegt hatte, anzusprechen. Und dass er es auch nicht schaffte, das Ganze in seinem Kopf so zu formulieren, dass er sich jetzt wagen würde, ihn darauf anzusprechen. Er wünschte, er könnte irgendeine Formulierung, irgendeine Erklärung für sich selbst finden, die bei ihm nicht das bittere Gefühl hinterließ, dass es da eine Seite an Dash gab, die er nicht kannte, die er nicht einschätzen konnte und mit der er vielleicht nicht klarkommen würde. Und dann wiederum hatte Dash gestern so viel von sich selbst mit ihm geteilt, ihm das Gefühl gegeben, ihm so nah und vertraut zu sein, dass er sich sagen wollte, dass es irgendeine einfache, offensichtliche Erklärung geben musste, und alles in Ordnung sein würde, sobald sie erst einmal darüber geredet hatten. Er dachte auch darüber nach, dass er Dash irgendwie dazu kriegen musste, endlich Anzeige gegen Lunis zu erstatten. Am besten direkt nachdem sie zusammen das Krankenhaus verlassen würden. Ja, Dash hatte Lunis wahrscheinlich auch verletzt. Aber er hatte sich wehren wollen, während Lunis ihn offensichtlich angegriffen hatte. Und was Lunis machte, war ganz klar Stalking. Aber selbst wenn sie ihn anzeigen würden, würde das Lunis, so wie Ran ihn einschätzte, vermutlich nicht davon abhalten, es immer wieder zu versuchen. Was bedeutete das? Für ihn, für Dash, für sie beide? Hieß das, dass Dash wieder umziehen müsste? Dass sie sich nicht mehr sehen durften, weil Lunis wusste, wo Ran wohnte? Nein, das war lächerlich. Aber noch lächerlicher war es, zu glauben, dass sie zusammen wegziehen würden, oder dass das, was sich da zwischen ihnen angebahnt hatte, als Fernbeziehung eine Chance hätte, wo sie sich doch erst so kurz kannten. Verdammt, er hatte doch gewusst, warum er das nicht hatte überstürzen wollen, sich nicht so schnell so große Hoffnungen hätte machen sollen… 

 

Er fasste den Beschluss, anstatt noch länger wie ein jämmerliches Häufchen Elend auf dem Bett herum zu liegen, lieber doch schonmal aufzustehen, sich fertig zu machen und ein bisschen früher als geplant in Richtung Krankenhaus aufzubrechen. Er nahm sein kaputt getretenes Handy in die Hand, das er gestern noch vom Boden aufgelesen hatte. Es war vollkommen tot. Er versuchte, den komplett verbogenen Rahmen zu öffnen und schaffte es schließlich, seine SIM-Karte, die halbwegs unbeschadet aussah, herauszuholen. Irgendwo hatte er doch noch… Er durchsuchte sämtliche Schubladen seines Schreibtisches, bis er schließlich irgendwo ganz hinten, unter unzähligen Kabeln und Netzteilen, sein treues altes Nokia3310 fand. Ein bisschen basteln und schon hatte er aus der alten SIM-Karte, die da noch drin steckte, einen Rahmen gezaubert, mit dessen Hilfe er seine kleine Karte aus dem Smartphone ins Nokia stecken konnte. Sein Blick fiel auf Dashs SIM-Karte, die immer noch auf seinem Schreibtisch lag. Vielleicht sollte er sie ihm mal zurückgeben, das war doch gefährlich, so ganz ohne Handy unterwegs zu sein. Was jetzt wohl oder übel auch auf ihn zutreffen würde, zumindest so lange, bis er den Akku vom Nokia aufgeladen hatte. Naja, die Stunde oder zwei, bis er mit Dash wieder hier war, würde schon nix passieren. Immerhin sein Notfall-Verbandsset hatte er im Rucksack – und entschloss sich nach einem für seine Verhältnisse deutlich zu sentimentalen Blick auf die Shirts auf seinem Bett dazu, Dashs gelbes Hoodie überzuziehen, um sich bei dem Gedanken an die Zukunft der beiden nicht ganz so elend und pessimistisch zu fühlen. Eine Entscheidung, die er spätestens, als er auf dem Weg zum Krankenhaus im Bus saß und feststellte, dass Gelb eindeutig eine gute Farbwahl war, wenn man möglichst viele fremde Blicke auf sich ziehen wollte, wieder bereute.

 

Schon bei seiner Ankunft am Krankenhaus bemerkte er, dass etwas nicht stimmte. Wieso war Dashs Auto nicht mehr auf dem Parkplatz, auf dem er es gestern abgestellt hatte? War er etwa abgeschleppt worden, weil er aus Versehen auf einem Behindertenparkplatz geparkt hatte oder so? Shit, das hatte gerade noch gefehlt. Zum Glück war er früher da und konnte sich noch darum kümmern, bevor Dash entlassen werden würde. Aber erst mal wollte er nach ihm sehen. Doch mit jedem Schritt wuchs in ihm die Befürchtung, dass er nicht abgeschleppt worden war, dass hier irgendetwas faul war. Er ging durch die Schiebetür ins Krankenhaus, schnurstracks auf die Aufzüge zu, und betete, dass Dash noch auf seiner Station sein würde und keine Dummheiten gemacht hatte. Doch noch bevor er dort ankam, hörte er eine bekannte Stimme nach ihm rufen. „Hey, du!“ Die Krankenschwester mit den rosa Haaren saß wieder an der Rezeption und rief ihm hinterher. „Wenn du zu deinem Kumpel Kevin-Justin willst, der ist schon weg.“ Sie sagte es mit einem unterdrückten Kichern über den Namen, der ihn gestern so amüsiert hatte. Sein Kumpel? Hatten die beiden wirklich so wenig wie ein Paar auf sie gewirkt? Zugegeben, er hatte noch nicht einmal seinen richtigen Namen gekannt, das sprach für Außenstehende vermutlich nicht gerade für eine besondere Vertrautheit der beiden, aber irgendwie hinterließ das trotzdem ein enttäuschtes Gefühl in ihm. Aber viel wichtiger… „W-w-was, wieso weg? Er hatte doch noch Untersuchungen heute Morgen.“ Die Schwester nickte. „Er wurde auf eigenes Risiko entlassen, er schien sich wieder ziemlich fit zu fühlen. Seine Freundin hat ihn abgeholt.“ Seine was?! Shit, das musste Lunis gewesen sein. „L-lange, weiße Haare?“, musste Ran sich noch einmal versichern, auch wenn bereits alle Glocken in seinem Hirn Alarm schlugen. „Ah, ihr kennt euch!“, lächelte die Krankenschwester. Fuck… Fuck, fuck, fuck… „Eine witzige Person, sie kam mit einem riesigen schwarzen Hut und Sonnenbrille hier rein, wirkte ein bisschen nach Mafia-Lady.“ Sie musste lachen. „Aber so ein niedlicher Mensch. Sie hatte ein Sträußchen gelbe Rosen für Kevin-Justin dabei, weil das seine Lieblingsfarbe ist, hat sie gesagt. Die beiden sind wohl seit über drei Jahren zusammen, aber jetzt musste er aus beruflichen Gründen umziehen und sie vermissen sich schrecklich.“ Lunis, du scheiß Lügner. Und Alter, komm zum Punkt. Dash wäre doch nicht freiwillig mit Lunis mitgegangen… Oder??? Das Gefühl, dass er Dash überhaupt nicht richtig kannte, legte sich immer beklemmender um Rans Eingeweide. „U-und sie sind zusammen hier runter gekommen und Dash … Kevin … hat einfach so seine Entlassungspapiere unterschrieben?“ Die Krankenschwester schaute ihn perplex an. „Du bist ja ganz aufgeregt. Es ging ihm gut, ehrlich, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Und seine Freundin passt bestimmt gut auf ihn auf. Die beiden sind schon ein süßes Paar, findest du nicht? Haben sich gestritten wie ein altes Ehepaar, weil Kevin fast seinen Blumenstrauß hier auf der Theke liegen gelassen hätte.“ Wie ein altes Ehepaar? Wo sie sich gestern noch fast gegenseitig umgebracht hätten? Das war alles ein schlechter Witz, oder? In Rans Kopf begann alles, sich zu drehen. „Haben sie irgendwas gesagt, wo sie hingehen?“, versuchte er noch eine letzte sinnvolle Info zu bekommen. „Oh, ich glaube sie haben was von frühstücken gehen gesagt… Zimtschnecken frühstücken.“ Zimtschnecken?!?! Am besten stellte er einfach gar nichts mehr in Frage. „Mh, danke“, lief Ran geistesabwesend los Richtung Ausgang, ohne die Rezeptionistin noch einmal anzuschauen.

 

Noch bevor er die Schiebetür nach draußen erreichte, fing Ran an, panisch loszulaufen. Ohne Ziel, denn er hatte keine Ahnung, was er jetzt tun sollte. Wo war Dash? War er in Gefahr? Oder war er etwa wirklich aus freien Stücken mit Lunis mitgegangen? Ohne ihm irgendwie bescheid zu sagen? Ein lähmendes, bedrückendes und schrecklich hilfloses Gefühl machte sich in Ran breit. Er hätte das Auto nicht über Nacht stehen lassen sollen, verdammt. Natürlich hatte Lunis Dash so finden können. Das hatte er doch selbst noch gesagt. Wieso war er nur so dumm? Er wollte schreien und weinen, aber alles was passierte, war, dass seine Atmung immer schneller und seine Knie immer weicher wurden. Don’t panic, versuchte er sich immer wieder selbst zu sagen, don’t panic. So sehr er darüber nachdachte, konnte er sich nicht sicher sein, ob hier Dash das Opfer einer Art Entführung war, oder eher er selbst einfach nur ein totaler Idiot, der sich in sein Wunschdenken hineingesteigert hatte und nicht hatte sehen wollen, dass Dash kein bisschen über Lunis hinweg war. Aber was, wenn es doch ersteres war? Was, wenn Dash ihn brauchte? Er erinnerte sich an den hilfesuchenden Blick, den er ihm gestern Abend, als Lunis im Hof aufgetaucht war, zugeworfen hatte. Er musste etwas unternehmen. Aber was? Und wie? Er konnte es auf keinen Fall alleine mit Lunis aufnehmen, selbst wenn er die beiden finden würde… Immerhin hatte er Dashs Adresse noch so halbwegs im Kopf von gestern Abend, als er sie in das Formular eingetragen hatte. Bis auf die Hausnummer jedenfalls. Das war irgendwas Dreistelliges. Shit, das würde er nie finden. Ob er nochmal bei der Krankenschwester nachfragen sollte? Das würde bestimmt voll komisch kommen, und vermutlich durfte die solche Infos auch gar nicht rausgeben. Und selbst wenn, es war überhaupt nicht gesagt, dass Dash dort sein würde. Zimtschnecken essen. Die beiden konnten überall sein… Wenn er Dash doch nur früher seine verdammte SIM-Karte zurückgegeben hätte und ihn jetzt anrufen könnte… Ohne einen richtigen Plan stieg er in den Bus, der ihn wieder zurück nach Hause bringen würde, ein. Vielleicht nur, um die Option zu haben, sich verzweifelt aufs Bett zu werfen. Oder klarer denken zu können. Das gelang ihm unter Menschen nie, und von denen wimmelte es gerade überall.

 

Zu Hause ließ er sich aus Gewohnheit auf seinen Schreibtischstuhl fallen, einfach nur um kurz durchatmen zu können. Dann landete sein Blick auf seinem Nokia. Und auf Dashs SIM-Karte. Und er hatte zumindest eine Idee, wie er das Problem, dass er es nicht alleine mit Lunis aufnehmen konnte, lösen würde…

„H-h-hi, hier ist Ran, ich bin~“ „Ran, Schätzchen, ist das eine Überraschung, dich endlich mal persönlich kennen zu lernen! Dash redet ja von nichts anderem mehr als von dir!“ SCHÄTZCHEN?! Redeten die alle so, da wo Dash herkam? Er hatte Dashs SIM-Karte ins Nokia gesteckt, all seinen Mut zusammen genommen und sich schließlich überwunden, Piroska anzurufen. Wenn ihm jemand helfen konnte, dann sie. Zumindest hatte er den Eindruck gehabt, dass sie auch nicht besonders gut auf Lunis zu sprechen war. „Das ist … beruhigend“, sprach er ohne nachzudenken seinen ersten Gedanken aus und ohrfeigte sich im nächsten Moment innerlich selbst, sowas Blödes gesagt zu haben. „Was führt dich dazu, bei mir anzurufen? Willst du bei Mutti um Dashs Hand anhalten?“, lachte Piroska ein bisschen zu laut und selbstgefällig für seinen Geschmack ins Telefon. „Nein, das ist sowas wie ein … Notfall … glaube ich“, stotterte Ran und Piroskas Lachen brach schlagartig ab. „Lunis ist hier.“ Er hörte sie am anderen Ende der Leitung erschrocken nach Luft schnappen und gab ihr eine Kurzzusammenfassung der Ereignisse von gestern Abend und heute Morgen. „Ich glaube nicht, dass ich alleine was gegen Lunis ausrichten kann, falls Dash in Gefahr ist…“, gab er leise zu. „Okay, Kleiner, hier ist der Plan“, hörte er Piroska in fast militärischem Tonfall sagen. „Du machst dich auf den Weg zu Dashs Wohnung und schickst mir eine SMS, sobald du die Hausnummer rausgefunden hast und weißt, ob Dash und Lunis da sind. Nevis und ich sind in ungefähr zwei Stunden da. Wenn dir die Lage zu heikel ist, warte einfach dort auf uns. Falls sie nicht da sind, sucht Nevis auf der Fahrt schonmal alle Cafés raus, in denen man Zimtschnecken bekommt, und wir klappern die zusammen ab. Nevis kann auch versuchen, Lunis auf dem Handy anzurufen und was rauszufinden, aber ich verspreche mir nicht all zu viel von dem Ansatz.“ „Wow … machst du sowas öfter?“, zeigte Ran sich von ihren planerischen Fähigkeiten beeindruckt. „Ich bin Management-Studentin, Süßer. Sowas ist mein Job.“ Naja, vielleicht wäre Event-Management wirklich nicht das richtige für Dash gewesen… „Okay, dann geb ich euch bescheid, sobald ich die Adresse hab“, bestätigte Ran noch einmal.

 

Seit einer f*cking halben Stunde lief er jetzt schon panisch schnaufend wie ein Idiot die Innenhöfe dieser scheinbar endlos langen Straße ab, in der Hoffnung, irgendwo Dashs Auto oder wenigstens ein übergroßes LED-Klingelschild mit der Aufschrift Kevin-Justin Glückauf zu finden. Die Leute hielten ihn bestimmt schon für einen verwirrten Obdachlosen auf Pfandflaschensuche oder so. Zusammen mit der Busfahrt hatte er jetzt schon über eine Stunde vergeudet. Eine Stunde, in der schon sonstwas hätte passieren können. Gerade wünschte er sich ein bisschen, auch so einen Quadrocopter zu haben wie Lunis. Er war schon kurz davor, sich zu sagen, dass das alles doch eh sinnlos war, als er den unverkennbar zitronengelben Lack zwischen den anderen Autos auf dem Parkplatz, über den er gerade lief, hervorblitzen sah. Wie plötzlich wieder mit neuem Antrieb begann er, die Klingelschilder der angrenzenden Häuser abzusuchen und fand tatsächlich beim zweiten Eingang die Aufschrift K. Glückauf. Er schickte Piroska so schnell er konnte eine SMS mit der Hausnummer und der Anmerkung ‚Dashs Auto ist da‘, bevor er sich überwand, die Klingel zu drücken. „Hallo?“, hörte er Lunis’ unverkennbar schnippische Stimme nach längerer Wartezeit antworten. Shit, was machte er jetzt? Er hatte keinen Plan. „H-hier ist Ran, ist Dash da?“, fragte er panisch. Das Dümmste, was er hätte sagen können. Wieso fiel in solchen Situationen denn immer sein Hirn aus? „Bist du das, Lauchhackfresse?“ Lunis stieß den Satz mit einem herablassenden Schnauben aus. „Dash und ich sind wieder zusammen, er will nicht mit dir reden. Verschwinde.“ Und damit hing Lunis den Hörer einfach wieder auf. Ran begann zu zittern. Beruhig dich, versuchte er sich selbst zu sagen. Das war nicht wahr. Lunis log wie gedruckt, das hatte er jetzt schon mehrmals festgestellt. Und trotzdem wurde er mit jeder Sekunde, in der er vergebens darauf wartete, dass Dash den Sprechanlagenhörer noch einmal selbst abnehmen oder zu ihm herunterkommen würde, unruhiger. Hatte Dash das Gespräch gar nicht mitbekommen? War er überhaupt da? Ging es ihm gut? Hatte er sich noch einmal hingelegt (würde er das tun, wenn Lunis da war)? Vielleicht war er auch eher bewusstlos. Oh Gott, er musste irgendwie da rein. Er konnte nicht auf Piroska und Nevis warten. Nerd-Hirn, streng dich an…

 

Noch während er seinen Plan formte, öffnete sich die Haustür und ein älterer Herr kam heraus. Ran schaffte es, schnell genug zu schalten und so zu tun, als würde er in seinen Taschen nach einem Schlüssel kramen. „Oh, Dankeschön!“, ging er an dem Mann vorbei ins Gebäude ohne ihn dabei anzuschauen. Puh. Für den zweiten Teil seines Plans brauchte er viel Glück. Er stellte die Haustür mit dem Türstopper so fest, dass er sich hinter der geöffneten Tür an der Wand verstecken konnte, kramte sein Verbandsset aus dem Rucksack und schnitt ein Stück Klebeband ab. Dann drückte er Dashs Klingel herunter, klebte sie mit dem Klebeband fest und versteckte sich so schnell er konnte hinter der Tür. Lunis fluchte gefühlte fünf Minuten in die Sprechanlage, bevor er sich entschloss, die Treppe herunter zu kommen. Rans Herz rutschte ihm fast in die Hose, als er Lunis’ Schatten an sich vorbei nach draußen huschen sah. So schnell er konnte löste er den Türfeststeller und beschleunigte das Schließen der Haustür, indem er noch zusätzlich dagegen schob. Er hatte Glück, Lunis hatte sich auf der Suche nach dem Übeltäter ein paar Meter vom Eingang entfernt und schaffte es nicht, schnell genug zur Tür zurück zu springen, bevor sie sich komplett geschlossen hatte. Er hörte noch, wie er ihm eine unverständliche Beschimpfung hinterherschrie, während er so schnell er konnte die Treppen hochrannte.

 

Das Schloss von Dashs Wohnungstür sah aus, als hätte sich jemand gewaltsam daran zu schaffen gemacht, und die Tür ließ sich einfach so öffnen. Das hatte garantiert nichts Gutes zu bedeuten. „Dash?“, betrat er vorsichtig die Wohnung, die ein einziges Chaos aus halb ausgepackten Umzugskartons und eingerahmten ‚inspirierenden Zitaten‘ in kitschiger, knallbunter Wasserfarben-Typografie an den Wänden war. „Dash, bist du da? Ich bin’s, Ran.“ Er bekam keine Antwort, aber nach einigen Augenblicken nahm er eine Art Wimmern wahr, das aus dem einzigen Zimmer mit geschlossener Tür kam. Er öffnete sie und wollte im ersten Moment fast losschreien. Dash saß vor dem Bett in einem Umzugskarton, an dem ein mit ‚BOX OF SHAME‘ beschriftetes Blatt Papier klebte. Er war nackt, sein Mund war mit Paketklebeband zugeklebt und seine Hand- und Fußgelenke ebenfalls mit Klebeband zusammengebunden. Scheiße, was war hier passiert? Was war das für eine vollkommen groteske Szene? Er eilte zu Dash, kniete sich vor die Kiste und schaute ihm in die scheinbar vom Weinen geröteten Augen. „Dash, bist du okay?“, brachte er, selbst immer noch ganz verstört über den Anblick, gerade noch so heraus, und Dash gab ihm ein schwaches Nicken, das von neuen Tränen begleitet wurde und das Ran ihm irgendwie nicht so ganz abnehmen konnte. Er legte für einen Moment seine Arme um Dash und drückte seinen Kopf an sich, bis er sich ein wenig beruhigt hatte. „Ich hab Lunis ausgesperrt“, versuchte er kurz zu erklären, „Ich versuch das Klebeband abzumachen, das könnte ein bisschen wehtun.“ Vermutlich mehr als nur ein bisschen. Oh, er hasste es, Pflaster abzuziehen. Und Paketband hatte deutlich mehr Klebkraft. Und dann auch noch über den Lippen… „Ich mach schnell, okay?“ Dash nickte. „Eins.“ Er verwendete den Trick, den Iku früher zu oft bei ihm zum Pflaster abreißen benutzt hatte, und zählte erst gar nicht bis Drei. „Aaaaaaaaaahhh“, schrie Dash vor Schmerz auf. Die Haut, von der er das Klebeband abgezogen hatte, war feuerrot, aber zumindest schienen keine Hautfetzen mit abgekommen zu sein, wie er kurz befürchtet hatte. „Scheiße, Dash, was hat er mit dir gemacht?“, blickte Ran ihm in die Augen, während er in seinem Rucksack nach einer Schere kramte, um das Klebeband von seinen Handgelenken und Knöcheln zu entfernen. 

 

Er bemerkte, wie Dash panisch begann, schneller zu atmen. „Das ist nicht so schlimm, wie es aussieht“, versuchte er zu lächeln. „Also schon schlimm, aber … Die gute Nachricht ist, dass Lunis und ich schon öfter so Sex hatten … Die schlechte Nachricht ist, dass wir Sex hatten.“ Was? „Was?“ Ran öffnete seinen Mund, aber es kam nichts anderes heraus, als noch ein lauteres „WAS?!“ Dash hatte mit Lunis geschlafen?! Und sagte ihm das, als wäre es ein dummer Scherz? Ran merkte, wie in seinem Inneren etwas, von dem er bisher nicht gewusst hatte, dass es existierte, einzustürzen begann. „Es tut mir leid“, hörte er Dash flehen, „Ich wollte das nicht.“ Gut. „…Dachte ich zumindest.“ Was? Scheiße, was?! Er hätte es wissen müssen… All seine Befürchtungen waren wahr gewesen. Seine Befürchtungen waren immer wahr gewesen. In der Schule hatte ihn jeder gehasst, er war nicht gut genug um als Spieleentwickler zu arbeiten, niemand würde sich jemals in ihn verlieben, er würde den Rest seines Lebens einsam und verbittert einen deprimierenden Job arbeiten. Warum war er so dumm gewesen, zu glauben, dass dieses Mal irgendetwas anders sein würde? „Ran“, weinte Dash und versuchte nach Rans Arm zu fassen, aber Ran wich zurück, „Ran, es tut mir leid. Ich mach das wieder gut.“ „Da gibt’s nichts wieder gut zu machen“, antwortete Ran unterkühlt. Er würde Dash nie wieder vertrauen können. „Es tut mir so leid … Danke, dass du mich gerettet hast.“ Gerettet? Wovor? Vor seinen eigenen Gefühlen? Davor, dass er immer noch an Lunis hing, genau so, wie Ran es hätte wissen sollen, so wie er es an ihrem ersten Videospiele-Abend selbst gesagt hatte? Was war Ran für ihn gewesen? Ein schlechter Ersatz, eine Ablenkung? Bestimmt hatte Dash keine bösen Absichten gehabt, selbst gehofft, dass etwas aus den beiden werden würde. Dash war naiv. Aber wie hatte Ran glauben können, dass er Dash genug sein könnte? Er war ein langweiliger, hässlicher Nerd. Immer schon gewesen und würde nie etwas anderes sein. Und würde niemals ernstzunehmende Konkurrenz für den ach so charmanten und verführerischen Lunis sein, und wenn er Dash noch tausend Mal verletzen würde… „Ich wollte dir nicht weh tun, Ran“, versuchte Dash es noch einmal. „Hast du aber“, wandte Ran sich weiter von ihm ab. Es tat so weh. Schlimmer als alles, was er je gefühlt hatte. Er wusste, wie es sich anfühlte, unglücklich verliebt zu sein. Das war alles, was er über Liebe gewusst hatte. Aber das hier war schlimmer. So viel schlimmer. 

 

„Lunis ist heute Morgen ins Krankenhaus gekommen, mit einem Blumenstrauß, und hat gesagt, dass es ihm leid tut, was passiert ist. Dass er wieder heim fährt und bloß im Reinen auseinandergehen will. Ich hätte ihm nicht glauben dürfen“, wimmerte Dash neben ihm, aber er konnte gar nicht so richtig zuhören. Alles, was er hörte, war, dass Lunis nur mit einem romantischen Rosensträußchen zu wedeln brauchte und plötzlich alles, was zwischen ihnen gewesen war, bedeutungslos wurde. Was war mit ihrem Versprechen, aufeinander aufzupassen, und mit dem, dass Lunis das zwischen ihnen nicht kaputt machen würde? War das Dash alles egal? Rans Lippen zitterten, er musste sich zusammenreißen, nicht loszuweinen. „Er hat gesagt, dass er nur mit mir frühstücken gehen will, damit wir in Ruhe reden können, und dass ich wieder zurück bin, bevor du am Krankenhaus bist. Er ist gefahren, weil er gesagt hat, dass ich verletzt bin und mich schonen muss, aber dann hat er einfach auf dem Navi auf ‚nach Hause‘ gedrückt und ist mit mir hierher gefahren und…“ Hat Dash verführt, Ran hatte es verstanden. Wow. Dash heulte wie ein Schlosshund. „Ich bin so ein Idiot. Bitte verzeih mir.“ Ran schüttelte traurig den Kopf. Er tat weh. Alles tat schrecklich weh. „Dash, ich … Ich weiß nicht wie … du hängst noch viel zu sehr an Lunis~“ „Aber ich will, dass er wieder verschwindet. Und nicht mehr zurückkommt. Er soll weggehen“, jammerte Dash ihm mitten in den Satz. „Ich hab Piroska angerufen, sie ist mit Nevis unterwegs hierher, die nehmen ihn mit. Ich warte noch mit dir, bis er weg ist. Aber du musst das alleine abschließen.“ Jetzt kamen Ran selbst die Tränen. „Das kann nichts werden mit uns, solange du nicht über Lunis hinwegkommst, das musst du doch selbst sehen.“ Er warf einen traurigen Blick auf Dash, wie er immer noch nackt in seiner Kiste saß, weinend und zitternd. Er stand auf, ging zum Bett und nahm eine Decke, um sie ihm ohne Worte umzulegen. „Liegt hier irgendwo dein Handy?“, fragte er emotionslos. „Ich mach deine SIM-Karte wieder rein, damit du Hilfe rufen kannst, wenn das nächste Mal sowas ist.“ Er fand das Handy auf Dashs Nachttisch-Umzugskiste, setzte die SIM-Karte aus seinem Nokia ein, und setzte sich auf die Bettkante, um das unangenehme Schweigen, das sich zwischen Dash und ihm eingestellt hatte, in vollen Zügen auszukosten.

 

Solange, bis sich die Wohnungstür öffnete, er in Panik aufsprang, weil er befürchtete, dass es Lunis sein würde, und er verwirrt in dessen Gesicht blickte – aber auf einem Kopf, dessen naturschwarzes Haar zu einem adretten Dutt zusammengebunden war. Und der statt seinem Goth-Trash ein ordentliches, hochgeschlossenes Hemd zu engen grauen Jeans trug. Oh… „Du musst Nevis sein, hi“, versuchte Ran trotz seines katastrophalen Gemütszustandes eine anständige Begrüßung von sich zu geben. „Ich bin Ran … Cooler Man-Bun.“ Nevis’ Blick wurde plötzlich eiskalt. Shit, hatte er etwas falsches gesagt? „Das ist ein Human-Bun“, entgegnete er (Moment, das hieß er Schrägstrich sie bei Nevis, oder?) fast ein bisschen verletzt und schien Rans Entschuldigung absichtlich zu überhören, während er / sie mit einem Kopfschütteln Dash musterte. „Ich hab dich schon signifikant öfter nackt gesehen, als nötig und wünschenswert wäre“, wandte er / sie den Blick wieder ab, sichtlich uninteressiert daran, wie es zu dieser Situation gekommen war. „Och, komm schon, Nevis, diesmal hab ich sogar ‘ne Decke um“, lachte Dash verlegen. Ran war sich sicher, dass er diese Unterhaltung unter anderen Umständen witzig gefunden hätte, aber gerade wollte er einfach nur nach Hause und weinen. „Wir nehmen Lunis mit, ich schick dir Piroska nochmal hoch“, drehte Nevis sich wieder um und war schon auf dem Weg Richtung Tür, als Dash ihn / sie noch einmal aufhielt. „Wollt ihr echt so schnell schon wieder abhauen, wo wir uns endlich mal wiedersehen?“, fragte Dash enttäuscht. „Was stellst du dir denn vor? Wollen wir alle zusammen mit Lunis Kaffee trinken und Kuchen essen gehen? Wie eine große, glückliche Familie? Würde ihm Schrägstrich ihr bestimmt gefallen.“ Wow, da war jemand noch besser in Zynismus als er. Dash schniefte. „Aber ihr kommt mich doch mal besuchen, oder?“ Nevis nickte mit etwas, das wohl seine / ihre ganz eigene Art des Lächelns war, und verschwand dann wieder.

 

Ran und Dash wechselten kein Wort, bis kurz darauf Piroska in der Tür stand – eine auf den ersten Blick einnehmende Erscheinung mit voluminöser Lockenpracht und einem auffällig mit Stickereien verzierten Outfit in lebhaften Rot- und Goldtönen, das ihren kurvigen Körper betonte. „Bist du in Ordnung, Schätzchen?“, schritt sie sofort zu Dash hin, kniete sich zu ihm und schien sich im Gegensatz zu Nevis kein bisschen an seiner Nacktheit zu stören. Er hatte ja auch eine Decke um. Dash nickte. „Alles in Ordnung“, lächelte er sie an, „Ran hat mich gerettet.“ Rans Hände verkrampften sich. Er mochte nicht, wie Dash so tat, als wäre alles okay zwischen ihnen. Aber er schaffte es auch nicht, vor Piroska die Wahrheit zu sagen. „Und mit was für einem Einsatz“, lächelte sie ihm zu, „Hat er dir schon die ganze Geschichte erzählt? Lunis flucht immer noch über die Klingel“, lachte sie. „Ich würd gerne noch bleiben, aber ich glaub ich verliere Punkte bei Nevis für jede Minute, die ich ihn Strich sie mit Lunis alleine lasse.“ „Dann will ich deinem Glück nicht im Wege stehen“, lächelte Dash sie an. Offensichtlich ein bisschen wehmütig darüber, dass sie nicht bleiben konnte. „Danke für alles!“ Piroska winkte ab. „Ich will eurem Glück auch nicht im Wege stehen“, zwinkerte sie Ran und Dash noch einmal zu, bevor auch sie aus der Wohnung verschwand und sich das unangenehme Schweigen zwischen den beiden wieder einstellte.

 

„Ich … geh dann auch mal“, stand Ran auf und schlurfte langsam Richtung Zimmertür ohne Dash noch einmal anzuschauen. „Lass mich nicht allein“, hörte er ihn aus Richtung des Pappkartons wimmern und unter einem schmerzverzerrten Stöhnen aufstehen. „Ich … wollte das nicht. Es tut mir so leid.“ Ran ließ sich nicht von ihm aufhalten, aber redete weiter, während Dash ihm in seine Decke gewickelt zur Tür hinterherlief. „Was denkst du denn, wie es mir dabei geht? Ich wär auch lieber nicht allein.“ Dash versuchte nach ihm zu greifen, aber er schob seine Hand wieder weg. „Können wir morgen früh nochmal reden? Erst mal eine Nacht drüber schlafen?“, schaute er ihn traurig an. „Ich glaube nicht…“ Was gab es da drüber zu reden, drüber zu schlafen? Dash hatte ihm so weh getan wie noch nie jemand in seinem Leben. Wie sollte er das einfach so wieder vergessen können? Ohne ein weiteres Wort öffnete er die Wohnungstür und zog sie hinter sich wieder zu.

 

Er ging die ganze Strecke nach Hause zu Fuß, um nicht im Bus vor allen anderen zu weinen. Das änderte nichts daran, dass er weinte. Er zog die Kapuze so weit er konnte über sein Gesicht und merkte erst in diesem Moment, dass er immer noch Dashs gelbes Hoodie trug. Langsam wichen die verletzten Gedanken einer gleichgültigen Leere. Sie hatten sich nur eine Woche lang gekannt. Wie lange konnte es schon dauern, Dash zu vergessen? Lieber würde er in sein altes Leben zurückkehren, für den Rest seiner Tage einsam und verbittert sein, als noch einmal diesen Schmerz zu fühlen. Er würde Dash nicht mehr die Tür öffnen. Nicht morgen, nicht den Rest der Woche, nie mehr. Irgendwann würde er eh wieder weg ziehen. In eine andere Stadt oder zurück zu Lunis oder was auch immer. 

 

War ihm auch egal.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich hoffe, ich konnte euch mit diesem letzten Kapitel von Teil I alle zum weinen bringen (was?).

Wir lesen uns wieder, wenn es in ein paar Wochen bei Teil II aus Dashs Perspektive weitergeht! Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  KaFurke
2017-09-24T10:15:38+00:00 24.09.2017 12:15
Das was Maire sagt.
Ich mag nicht warten. x.X

Danke für den tollen 1.Teil
Antwort von:  Mezzo
24.09.2017 13:02
Vielen Dank für deinen Kommi, das motiviert zum schnell weiterschreiben! =D
(Und alles, was ich bei Maire geantwortet habe. ;P)
Von:  Maire
2017-09-24T08:43:00+00:00 24.09.2017 10:43
O_______________________________O

Äh... Man was seid ihr gemein.... *schnief*
Das war wohl wirklich ein packendes Kapitel... Der arme Ran. Erst so krass verzweifelt und voller Sorge um Dash und dann DAS!!!
Argh! Ich mein, man kann ja irgendwie gar nicht sauer auf Dash sein, wegen er wollte nicht, aber dann doch aber... BOAH!! Er hat Ran damit echt das Herz raus gerissen... Armes Baby... -.-
Wie lange genau wird es dauern bis der 2 Teil kommt? Müsst ihr mich wirklich so lange quälen bis mein Herz wieder Ruhe und Frieden finden darf? Nach so was gemeinem.....
Seid lieb und ladet es bald hoch <3
Bis dahin eure Maire
Antwort von:  Mezzo
24.09.2017 12:47
Ja, wir sind schon fies… 0:
Ich verrate nur schonmal so viel, dass Dashs Perspektive die Geschehnisse einerseits nochmal relativieren, aber in anderer Hinsicht auch dramatischer machen wird… Das nächste Kapitel steht schon seit längerem zu ~75%, aber da ich für Teil II noch keine so klare Struktur vorgearbeitet habe, wie ich das bei Teil I hatte, will ich mir noch ein bisschen Zeit dafür nehmen bevor es mit Elan daran geht, dass wieder alles gut wird bei den beiden (kein leichtes Unterfangen, so zerstört wie Ran gerade ist... .___. Aber wait and see! ;) )


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