Zum Inhalt der Seite

Seelenschatten

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Eine überfällige Entschuldigung

Zu Aeriths großer Freude sprach sich die Mehrheit der Gruppe beim Frühstück dafür aus, sich trotz des Schlüsseldiebstahls zum Tempel des alten Volks zu begeben. Vielleicht, so war die zu Grunde liegende Überlegung, hatten die neun Abenteurer ja Glück und die Turks würden die Tür offenstehen lassen. Also hatte die Truppe bereits im Morgengrauen „Tiny Bronco“ bestiegen und sich auf den Weg gemacht.

Als die golden schimmernde Spitze des pyramidenförmigen Gebäudes endlich in Sichtweite kam und sich kontrastreich von dem zartblauen Morgenhimmel abhob, atmete etwas in Aerith auf. Es war als übte dieser Ort einen geradezu magischen Sog auf die letzte Cetra aus, die sich nur allzu bereitwillig diesem Bann unterwarf.

Je näher die Gruppe dem Tempel kam, desto stärker wurde in Aerith das wohlig warme Gefühl des Heimkommens. All ihre lang unterdrückten Cetra-Sinne schienen aufzublühen wie Wüstenblumen nach der ersehnten Regenperiode. Sämtliche Farben schienen in der Nähe des Tempels mehr zu leuchten als üblich und Aerith stellte fasziniert fest, dass sie mit ihrer in dieser Gegend geschärften Wahrnehmung sogar die Energieströme von Pflanzen sehen konnte. Normalerweise nahm sie nur die Auren von Menschen wahr.

Ihr wurde in diesem Moment zum ersten Mal wirklich bewusst, dass alles Sein ein ewiger Kreislauf war. Jede Lebensform bezog seine Energie aus dem allgegenwärtigen Lebensstrom, in den nach dem Tod eines Wesens – sei es Mensch, Tier oder Pflanze – alle Energie auch wieder zurückfloss. Der Lebensstrom war so etwas wie die Seele des Planeten, in ihm war alles Wissen, das je gesammelt worden war, vorhanden und für alle Zeit konserviert. Die Cetra waren, das verstand Aerith nun ebenfalls, die Wächter des Lebensstroms gewesen und waren deshalb von ihm mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet worden.

Als die letzte Überlebende des alten Volks einen Fuß auf die zum Eingang führende Treppe setzte, zuckte sie wie schon beim letzten Mal ein wenig zusammen. Die Atmosphäre rund um den Tempel war von dem leisen Flüstern zahlreicher Stimmen erfüllt. Doch wann immer Aerith zu lauschen versuchte, musste sie enttäuscht feststellen, dass sie kaum etwas verstand, weil sich die einzelnen Worte überlappten und die durcheinander redenden Stimmen ineinanderflossen. Immerhin hatte sie sich schon bei ihrem ersten Besuch zusammenreimen können, dass es sich bei den Stimmen um die körperlosen Geister der einstigen Tempelwächter handelte.

Cloud trat mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck neben Aerith, die noch immer versuchte, dem Flüstern um sie herum zu lauschen. Gerne hätte sie einen ihrer Freunde um die Hilfe eines zweiten Paars Ohren gebeten, doch es war offensichtlich, dass die Anderen die Stimmen nicht hören konnten.

Mit einem prüfenden Seitenblick auf die wie entrückt wirkende Cetra fragte Cloud: „Wollen wir nachschauen, ob wir dieses Mal ins Tempelinnere kommen?“ Die Gruppe ließ sich nicht lange bitten und stieg rasch die letzten Stufen hinauf, doch schon in der kleinen Eingangshalle erlebte sie eine schockierende Überraschung.
 

Tseng lang mit aschfahlem Gesicht in einer beängstigend großen Blutlache und presste sich die inzwischen vollkommen rot gefärbten Hände auf den Bauch. Sein langes, schwarzes Haar hing ihm in wirren Strähnen ins Gesicht und selbst die blendendweißen Zähne, die zwischen den blassen, vor Schmerz verzerrten Lippen hervorblitzten, waren blutbefleckt.

„Tseng!“ Aerith stieß einen schrillen Schreckensschrei aus und stürzte zu dem schwerverletzten Turk, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was die Anderen wohl angesichts ihrer offensichtlichen Sorge denken mochten. Sie vergaß sogar, dass sie schrecklich zornig auf Tseng war und sich von ihm hintergangen, im Stich gelassen und für dumm verkauft fühlte. In diesem Moment zählte für sie nur, dass er starkblutend am Boden lag und zumindest früher einmal ihr Freund gewesen war.

Die Lider des womöglich tödlich Verwundeten flatterten und er richtete den umnebelt wirkenden Blick seiner trüben Augen auf Aerith, wobei er leise ihren Namen flüsterte. Obwohl er kaum hörbar gesprochen hatte, hatte er es trotzdem irgendwie bewerkstelligt, seiner Stimme einen erfreuten, glückseligen Klang zu verleihen.

Dicke Tränen der Hilflosigkeit und Verzweiflung rannen Aerith über die Wangen, während sie Tsengs Kopf vorsichtig auf ihren Schoß bettete. Dass sie sich dabei ihr Kleid vollkommen ruinierte, war ihr völlig egal. Der Rest der Gruppe beobachtete mit Mienen, die zwischen Überraschung, Mitleid und Widerwillen schwankten, wie ihre Freundin dem Turk beinah zärtlich das Haar aus der Stirn strich und schluchzte: „Tseng, oh, Tseng… Wer hat dir das nur angetan?“
 

Ein dünnes Rinnsal Blut sickerte aus dem Mundwinkel des Verletzten, als er rasselnd hustete und antwortete: „Sephiroth…“ Bei der Erwähnung seines Widersachers spannte sich Clouds gesamter Körper und der Blonde kniete sich mit aufmerksam gespitzten Ohren neben den Verwundeten, der stockend fortfuhr: „Gerade als ich den Schlüsselstein auf den Altar legen wollte, ist er wie aus dem Nichts aufgetaucht und…“ Tseng brach hustend ab und niemand verlangte, dass er den Satz beendete.

Jeder Einzelne konnte sich auch so schon gut vorstellen, was passiert war. Aerith hatte große Mühe, einen erneuten Schluchzer zu unterdrücken, als sie plötzlich das Bild vor Augen hatte wie Sephiroth dem arglosen Tseng sein überlanges Katana, welches das Markenzeichen des silberhaarigen Soldaten war, von hinten in den Unterleib gerammt hatte.

Yuffie hingegen machte einen langen Hals und linste auf den Altar mit der Vertiefung für den Schlüsselstein und machte ein enttäuschtes Gesicht. „Wo ist denn der Stein?“ Sofort machte sich in der Gruppe die Sorge breit, Sephiroth könnte den Schlüssel auf Nimmerwiedersehen mitgenommen und seinen Verfolgern so für alle Zeit den Zutritt zum Tempelinneren verbaut haben.

Doch Tseng verzog seine blutleeren Lippen zu einem listigen Grinsen und öffnete die Hände. Zum allgemeinen Erstaunen kam dabei der Schlüsselstein zum Vorschein.

„Meine Kräfte haben mich leider zu schnell verlassen, sonst hätte ich ihn vielleicht aufhalten können.“ Obwohl Tseng so laut wie möglich sprach, gingen seine Worte beinah in dem Jubel der Gruppenmitglieder unter. Endlich konnten sie ins Innere des Tempels vordringen! Nur Aerith drückte dankbar seine Schulter, küsste ihn sachte auf die Stirn und murmelte: „Du hast es zumindest versucht und dein Bestes gegeben. Das ist alles, was zählt.“
 

Unterdessen nahm Cloud den blutbesudelten Schlüsselstein an sich und legte ihn in die passende Vertiefung. Sofort ertönte ein quietschendes Schleifen wie von rostigen Scharnieren, die nach langer Zeit zum ersten Mal wieder bewegt wurden. Nur kurz darauf öffnete sich wie von Geisterhand eine Tür und helles, blendendes Licht strömte in die Halle.

Die Gruppenmitglieder versammelten sich im Lichtkegel und blickten zu Aerith herüber, die noch immer bei Tseng hockte und ihm beruhigend über die schweißbenetzte Stirn streichelte. „Möchtest du lieber hierbleiben?“ Tifa, die von der Freundschaft zwischen der Cetra und dem Turk wusste, lächelte der am Boden Knieenden sanft zu.

Aerith biss sich auf die Unterlippe und seufzte auf. Sie war hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, bei dem Verletzen zu bleiben, um ihm so gut wie möglich zu helfen, und der Sehnsucht, tiefer in das Cetra-Heiligtum vorzudringen. Die um sie herum unablässig wispernden Stimmen flüsterten ihr Verlockendes zu, doch ihr Gewissen hielt stur dagegen.

„Geh ruhig.“ Tseng versuchte ein Lächeln, das ihm wegen der vor Schmerz ganz verspannten Lippen gründlich misslang. „Bist du dir sicher?“ Aerith strich ihm zärtlich über die Wange und machte ein zweifelndes Gesicht, bis er ihr versicherte: „Mach dir um mich keine Sorgen, ich bin zäh. Außerdem sind Reno und Rude längst informiert und auf dem Weg hierher. Ihr solltet euch also allmählich beeilen.“

Erleichtert und dankbar über die Warnung wollte Aerith aufstehen und sich ihren wartenden Freunden anschließen, doch Tseng hielt sie trotz der gebotenen Eile noch einmal zurück: „Es tut mir leid, dass ich dich geschlagen habe und auch dass ich dich mit deiner Sorge um Zack allein gelassen habe.“ Eine Schmerzwelle ließ das Gesicht des Turks krampfen, doch er zwang sich, fortzufahren: „Dabei hast du ein Recht zu erfahren, was damals passiert ist.“

Aeriths Herzschlag beschleunigte sich rasant und sie hielt gespannt den Atem an. Doch dann ließ sie auf einmal traurig den Kopf hängen und legte Tseng mit Tränen in den Augen einen ihrer langen, fragilen Zeigefinger auf die Lippen. Die Gesundheit ihres alten Freundes hatte Vorrang – egal, wie sehr Aerith sich danach sehnen mochte, endlich die Wahrheit zu erfahren – und es war wichtig, dass Tseng seine letzten Kraftreserven nicht durch Sprechen vergeudete.

Also murmelte Aerith mit schwerem, schmerzendem Herzen: „Shht. Du überanstrengst dich nur. Die Geschehnisse von damals können warten.“ Dann hievte sie sich auf ihre auf einmal seltsam wackeligen Beine und stakste den Anderen hinterher ins Tempelinnere.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück