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Collide

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Nur ne kurze Warnung, Sprache ist zum Teil etwas derber... Fluchen kann was soooo Schönes sein ;)

(Updates kommen langsamer wegen Real Life-Arbeitsoverload... oder so...) Komplett anzeigen

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Sonnenstrahlen weckten ihn. Mit einem genervten Seufzen zog Cyril für einen Moment die Decke über den Kopf. Richtig, er war nicht in seinem Zimmer. Hier gab es ein verdammtes Deckenfenster, das natürlich direkt über seinem verdammten Bett sein musste. Und obwohl es erst Anfang Januar war, schien die Sonne genau heute entschieden zu haben, ihn aus dem Bett zu strahlen. Na, danke auch. Vorsichtig streckte er seine Hand unter der Decke hervor und tastete auf dem Nachtschränkchen neben dem Bett nach seinem Handy. Gefunden... kurz vor Zwölf. Zeit zum Aufstehen. Auch wenn er sich schönere Beschäftigungen vorstellen konnte als seinem Onkel einen Pflichtbesuch abzustatten, aber je schneller er es hinter sich brachte, um so schneller konnte er seinen eigenen Interessen nachgehen.
 

Für einen Moment lauschte er, den Kopf gerade soweit unter der Decke hervorgestreckt, dass seine Ohren frei waren. Keine Geräusche von unten. Sein Gastgeber schien nicht da zu sein. Umso besser, die Begegnung wäre vermutlich nicht sonderlich freundlich ausgefallen. Er rieb sich seinen schmerzenden Rücken. Nun, die nächtliche Reaktion war heftiger ausgefallen als erwartet, damit hatte er nicht gerechnet. Konnte noch spannend werden.
 

Mit einem leichten Grinsen schwang er sich aus dem Bett und tapste barfuß nach unten. Bei Tageslicht wirkte das Loft sogar größer, was vor allem von dem leeren Platz in der Mitte herrührte. André mochte es wohl eher spartanisch, wenn man die Einrichtung bedachte. Die einfache Küche sah aus wie ein Sammelsurium an Schränken, vermutlich von verschiedenen Flohmärkten zusammen gekauft. Die Theke, die aus Holz und Stein zusammengebastelt war, wies zahlreiche Kratzer auf, und hatte die ein oder andere Beschriftung mit Edding, die von gut gelaunten Gästen hinterlassen worden waren. Der Computertisch, der sich an der rechten Wand befand, wirkte simpel und funktional, genauso wie der sich darauf befindliche PC. Nicht so alt, dass er nicht einige moderne Spiele abspielen konnte, aber definitiv auch nicht das neueste Modell. Die riesige weiße Couch vor dem Fernseher war hingegen eindeutig alt und abgewetzt, aber, wie Cyril nach einem kurzen Testsitzen feststellte, unheimlich bequem und weich. Andrés Kleiderschrank passte sich ebenfalls perfekt in diesen Stil – oder, besser gesagt, das Nicht-Vorhandensein eines Stils – ein. Die Klamotten drinnen unterstrichen es noch zusätzlich: Bequeme Shirts, eine abgewetzte, alte Bikerjacke aus Lederm – scheinbar ein Lieblingsstück –, einige Jeans. Ein paar exquisitere Teile, die für Shows oder offizielle Anlässe dienen sollten, und einige nette Klamotten, die für Partys gedacht waren. Cyril gab einen unzufriedenen Laut von sich. Keine geheimen Bondageklamotten, kein SM, keine Sexspielzeuge. Wie langweilig.
 

Er wandte sich dem Bett zu, immerhin ein riesiges Wasserbett. Mit Schwung warf er sich drauf und rollte sich einmal über die komplette Breite. Hach, das war bequem. Seine Chancen, hier eine Nacht zu verbringen, standen im Moment aber wohl eher schlecht. Mit einem schiefen Grinsen widmete er sich dem Inhalt der Nachtschränkchen, immer noch auf dem Bett liegend. Na, immerhin. Gleitgel und Kondome. Und diverser unsexy Kram wie Taschentücher und Hustensaft. Himmel, der Typ sah aus wie ein Fleisch gewordener Sexgott, wo war denn der spannende Kram? Er hätte wenigstens irgendwo Geld versteckt haben können. Cyril sah sich um. Das einzige Interessante, was diese Wohnung zu bieten hatte, war die Soundanlage und die höchst bemerkenswerte CD-Sammlung. Seine Liebe zur Musik konnte André zumindest nicht verheimlichen, auch wenn der Rest wenig aussagekräftig war.
 

Alles andere als befriedigt rollte sich Cyril aus dem Bett und steuerte den Kühlschrank an. Erst da entdeckte er den Zettel auf dem Thresen, zusätzlich zu einem Schlüssel.
 

„Haustürschlüssel. Frühstück im Kühlschrank, Pizza im TK. Komme spät.“
 

Wow. Die Eloquenz ließ ihn förmlich erzittern. Er lachte leise in sich hinein. Mit einer herzerwärmenden Nachricht war ja wirklich nicht zu rechnen gewesen, aber André hätte wenigstens ein „Guten Morgen“ und ein „Bis später“ hinzufügen können. Für einen Moment setzte er sich an die Theke und legte seine Wange auf die kühle Oberfläche, während er seinen Blick durch den Raum schweifen ließ. Wie lange es wohl dauern würde, bis André ihn rausschmeißen würde? Cyrils grinste. Wenn er wetten müsste... nicht lange.
 

---

Es war schon dunkel, als sie das Café verließen. André zündete sich gedankenverloren eine Zigarette an und warf einen Blick auf sein Handy. Kurz vor acht Uhr. Irgendwann hatte Thomas ihm geschrieben, dass Cyril schon bei ihm gewesen und auch wieder gegangen war. Der Kleine sollte wohl schon längst wieder zuhause – in Andrés schönem, jetzt infiltrierten Loft – sein, aber es zog ihn nicht sonderlich dort hin. Nicht gerade ein vorbildlicher Erwachsener, dass er den Jungen so lange allein ließ, aber... naja. Nach dem gestrigen Abend musste er erstmal noch ein dringendes Gespräch mit Thomas führen. Der Kleine würde schon nicht beim Pizza machen die Bude abfackeln. Zumindest nicht unabsichtlich.
 

„Wollen wir noch zu dir?“
 

Aus den Gedanken gerissen betrachtete André seine Begleitung. Mike? Steve? Tim? Er konnte sich nicht mehr erinnern. Bei seinem Projekt 'Über Adam hinweg kommen' hatte er sich von irgendeinem Typen anquatschen lassen, doch seine Wahl war, gelinde gesagt, nicht sehr glücklich gewesen. Gut sah er ja aus mit seinen schwarzen Augen und dem durchtrainierten Körper, aber bei der Anzahl an Hirnzellen wurde er locker von drei Meter Feldweg überboten. Naja, für ne nette Nummer würde es ja vielleicht noch reichen...
 

„Geht nicht, ich habe... Besuch.“ Er schaute nochmal schnell auf die Uhr. „Ich muss noch kurz zum Paradise, dann können wir zu dir.“
 

MikeSteveTim legte ihm mit einem vielsagenden Augenbrauenwippen den Arm um die Schulter und grinste ihn an. „Lass es nur wirklich kurz sein, ich bin schon ziemlich heiß.“
 

André starrte ihn leicht entgeistert an und verdrehte innerlich die Augen, bevor er sich wieder fasste. Die Nummer würde wohl weniger nett werden als erwartet. Was seine Männerwahl betraf, war er wohl etwas aus der Übung. Unmerklich schüttelte er den Arm ab und setzte sich in Bewegung, während seine Begleitung mit inhaltslosem Zeugs auf ihn einblubberte. Ernsthaft, was war eigentlich in ihn gefahren? Normalerweise war seine Partnerwahl nicht so einfallslos. Und er konnte sich eigentlich auch recht frei am Buffet bedienen. Er gab ein leises Schnalzen von sich. So verzweifelt sollte er eigentlich nicht sein.
 

Während er versuchte, MikeSteveTims Gerede auszublenden – gerade legte er ihm ins kleinste Detail dar, wieviele Sit Ups er letztens im Fitnessstudio geschafft hatte –, näherten sie sich dem Partyviertel. Obwohl es früh am Abend war, wurde es voller auf den Straßen. Die Leute hatten sich herausgeputzt, fingen schon mit dem Vorglühen an und warteten nur darauf, bis die heiße Phase begann. Sehen und gesehen werden, flirten, Spaß haben, und am Besten die Nacht nicht alleine verbringen – André liebte es. Genau sein Leben, genau sein Feeling. Er atmete einmal tief durch. Wie gerne hätte er sich auch jetzt unter die Leute gemischt. Aber nein... er wusste nicht, wie oft er Thomas heute schon dafür verflucht hatte, ihm seinen Neffen aufgebürdert zu haben. Und sich selber dafür, so blöd gewesen zu sein, sich darauf einzulassen.
 

Sie waren nur noch wenige Straßen vom Paradise Hill entfernt, als sie an einer der Seitengassen vorbei gingen, die zur Parallelstraße führte. Kaum genutzt, waren sie ein beliebter Platz für heimliche, schnelle Dates. Und stillos, Andrés Meinung nach. Jedoch genau von dort hörte er plötzlich ein dumpfes Geräusch, ein lautes „Fick dich!“, und spürte nur einige Sekunden später, wie irgendwas – oder irgendjemand – mit voller Wucht gegen ihn lief. Instinktiv hielt er die Person fest, nur um im nächsten Augenblick festzustellen, dass er in das wenig begeisterte Gesicht von Cyril blickte. Die Götter schienen ihn gerade nicht sonderlich zu mögen.
 

„Scheiße“ war auch das Einzige, was dem Jungen in dem Moment herausrutschte, bevor er versuchte, sich aus Andrés Griff zu winden. Dieser ließ sich jedoch nicht beirren, schüttelte kurz seine Überraschung ab und wendte seine Aufmerksamkeit dem zu, was sich in der Gasse befand. In den Schatten war irgendein Typ mit herunter gelassener Hose, der seinerseits recht entgeistert drein schaute.
 

„Hey... hey, wir sind noch nicht fertig...“
 

„Für mehr hast du nicht bezahlt, du Wichser!“, zischte Cyril, während er sich leicht nach hinten drehte, merkte jedoch sofort, dass das ein Fehler gewesen war, als er Andrés zornigen Blick auf sich spürte.
 

„Was zum...“ André brauchte nicht lange, um eins und eins zusammenzuzählen. Er atmete tief durch. Das war ja noch eine größere Scheiße als er angenommen hatte. Fuck! Er wendete sich zu dem Typen in der Gasse. „Nur zu deiner Info, der Kleine hier ist fünfzehn, und wenn du dich nicht innerhalb der nächsten drei Sekunden verziehst, und zwar ganz, ganz weit weg, ruf ich die Polizei.“
 

„Fünfzehn? Er hat gesagt, er ist achtzehn, verdammt...!“
 

„Bist du blind?“ Seine Augen funkelten wütend. „Eins...“
 

So schnell hatte er noch nie jemanden mit heruntergelassener Hose rennen sehen. Immerhin. Als Nächstes sah er sein Date an, das mit seinen drei Gehirnzellen immer noch nicht gerafft hatte, was hier grade passierte. Zumindest nach seinem starren Blick und dem offenen Mund zu urteilen. André seufzte.
 

„Sorry, ich muss mich hier um den da“, er deutete mit dem Kinn auf Cyril, „kümmern. Heute wird das nichts.“
 

„Oh, okay.“ MikeSteveTim wirkte immer noch verdattert, kratzte sich dann am Hinterkopf und zuckte mit den Schultern. „Ich brauch aber noch deine Nummer!“
 

„Ehm... nein. Brauchst du nicht, keine Sorge.“
 

Für Höflichkeit hatte er im Moment wirklich keine Nerven. Ohne ein weiteres Wort zog er Cyril mit sich, blieb dann jedoch nochmal kurz außer Sichtweite seines Ex-Dates stehen und nahm sich die Zeit, den Jungen etwas genauer zu mustern. Cyril sah ihn trotzig an, doch das interessierte ihn nicht. Er hob Cyrils Kinn an, um die Schramme an seiner Schläfe zu betrachten.
 

„Der Typ wollte mehr, als ich geben wollte.“ Cyrils Stimme ähnelte dem Fauchen einer Wildkatze.
 

André schwieg und setzte seine Musterung fort. Die Knöchel an Cyrils rechter Hand wiesen ebenfalls Aufschürfungen auf.
 

„Und ich weiß, wie man sich wehrt.“
 

„Sicher.“
 

Er atmete nochmal tief durch, nahm den Jungen dann am Oberarm und zerrte ihn hinter sich her.
 

„Mann, lass mich los! Ich kann selber gehen! Fuck, du tust mir weh!“
 

Mit einem Ruck blieb er stehen und zog Cyril nah zu sich.
 

„Halt... die Klappe!“, grollte er, bemüht, seine Beherrschung nicht zu verlieren. Er war nun wirklich keine Mutter Teresa, aber er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, wann er das letzte Mal so wütend gewesen war. Und gerade war ihm sehr danach, diesen kleinen Mistbengel auf Taschenformat zusammenzufalten. Nett ausgedrückt.
 

Cyril spürte wohl, dass jedes weitere Wort sein Letztes sein konnte, denn er schwieg auf dem restlichen Weg, wobei er jedoch nicht versuchte, seinen Unmut zu verbergen, und eher wie ein bockiger Esel hinter André herstolperte. Doch das kümmerte André nicht im Geringsten. Für einen kurzen Moment spürte er Erleichterung, als sie endlich beim Paradise Hill angekommen waren. Zumindest konnte er gleich das perfekte Ventil für seine Wut aufsuchen.
 

Durch den Mitarbeitereingang begaben sie sich zum Aufenhaltsraum, der zum Glück leer war.
 

„Setz dich.“ Ohne auf Cyrils Reaktion zu warten, drückte André ihn auf einen Stuhl. „Beweg dich nicht. Wenn du dich verpisst, kriegst du Ärger.“
 

„Kannst du auch was anderes als mit leeren Drohungen um dich zu schmeißen?“, zischte Cyril, zuckte jedoch unter Andrés Blick zusammen.
 

„Du kannst es ja gerne drauf ankommen lassen, ob sie wirklich so leer sind.“
 

Er wusste, der Junge war zu schlau, um tatsächlich abzuhauen. André verließ den Aufenhaltsraum und begab sich zu den Türen, die zu den Theken führten. Er öffnete eine und ließ kurz den Blick über die Barkeeper schweifen, die sich mitten in der Arbeit befanden. Die Disco war voll, sie hatten gut zu tun. Wie gerne hätte er sich jetzt unter die Menge gemischt. Fuck! Aber wenigstens in einem Punkt war ihm das Glück hold. Er fand, wen er suchte.
 

„Muse!“
 

Muse zuckte zusammen, drehte sich zu ihm, und hob dann überrascht und verunsichert eine Augenbraue, als er ihn erkannte.
 

„André... was... du arbeitest heute doch gar nicht?“
 

„Nein.“, knurrte André. „Ich muss ein Gespräch mit Thomas führen. Und ich hab eine Aufgabe für dich.“
 

Ohne eine weitere Erklärung nahm er ihn am Ärmel und führte ihn in den Aufenhaltsraum. Cyril saß tatsächlich immer noch dort, wo er ihn zurück gelassen hatte, wobei er es schaffte, mit seinem ganzen Körper puren Trotz auszudrücken.
 

„Darf ich vorstellen, das ist Thomas' liebenswürdiger Neffe, Cyril. Er hatte vorhin eine nicht so nette Begegnung, könntest du ihn bitte verarzten? Und auf ihn aufpassen, damit er nicht abhaut?“
 

„André...“ Muse und Cyril musterten sich für einen Moment, wobei Cyrils Gesichtsausdruck bei seinem Anblick von Trotz zu reinster Freundlichkeit wechselte. „Okay... okay.“
 

„Gut, bis gleich.“
 

Mit einem grimmigen Zug um die Lippen machte sich André auf den Weg zu Thomas' Büro. Sein Puls hatte sich immer noch nicht beruhigt. Gut so. Ohne Anzuklopfen trat er ein. Thomas und einer der anderen Tänzer, Jesse, befanden sich wohl gerade in einer Besprechung, sahen aber erschrocken bei seinem Eintreten auf.
 

„André, was...“ Thomas kam nicht weit.
 

André deutete auf Jesse und dann mit dem Daumen hinter sich.
 

„Raus!“
 

„Hey, wir...“ Auch Jesse kam nicht weit.
 

„Raus! Sofort!“
 

Thomas und Jesse wechselten einen verwirrten Blick, bevor Thomas nickte. Der andere Tänzer musterte für einen Moment André pikiert, bevor er das Büro verließ. Mit Wucht knallte André die Tür hinter ihm zu.
 

„André...“
 

„Wann zum Teufel nochmal wolltest du mir erzählen, dass dein verfickter Neffe sich prostituiert?“ André ballte die Hände zu Fäusten, um seinen Freund und Chef nicht am Kragen zu packen und gegen die nächste Wand zu knallen. „Und wann wolltest du mir erzählen, dass er es geil findet, ältere Männer zu verführen? Weißt du, wie ich heute Nacht aufgewacht bin? Mit ihm auf mir drauf! Und nicht, weil ich so ein scheiß bequemer Stuhl bin, verdammt! Weißt du, welchen Ärger ich kriegen kann, wenn er irgendeinen Scheiß erzählt? Verdammt, Thomas, was hast du dir dabei gedacht?“
 

„André, beruhig dich...“
 

„Beruhigen?“ Er versuchte nicht mal, leise zu sein. „Verdammt, ich hab ihn gerade dabei erwischt, wie er irgendeinem dahergelaufenen Wichser einen geblasen hat. Und es wäre vermutlich noch mehr passiert. Sag mal, spinnst du? Du hast was von nett und süß erzählt. Der ist nicht nett und nicht süß und nicht lieb und sonst auch nichts. Der ist ein kleiner, verfickter Teufel. Was soll der Scheiß? Was, zum Teufel nochmal, soll der Scheiß?“ Mit einem tiefen Ausatmen ließ er sich auf einen der Sessel fallen und fixierte Thomas. „Der bleibt nicht noch eine Nacht bei mir.“
 

„André...“ Thomas sah ihn betreten an und knetete nervös seine Hände. „Ich weiß... was er so macht. Deswegen ist er von der Schule geflogen, irgendwas mit ein paar älteren Schülern... und er hat wohl einen Lehrer verführt und... ach, keine Ahnung. Ja, er ist kein unbeschriebenes Blatt. Aber wenn ich dir das erzählt hätte, hättest du ihn nicht bei dir aufgenommen.“
 

„Aus gutem Grund, verdammt.“ André zündete sich zittrig eine Zigarette an. Eigentlich war im Büro Rauchverbot, aber er war sich sehr, sehr sicher, dass Thomas diesmal nichts dagegen haben würde.
 

„Hör mal...“ Thomas strich sich durch die Haare. Er fühlte sich sichtbar unwohl in seiner Haut. Scheinbar hatte er heute Abend nicht so ein Gespräch auf seiner ToDo-Liste gehabt. Pech für ihn. „Ich liebe meine Schwester, aber sie ist keine gute Mutter. Eigentlich ist sie gar keine Mutter. Sie wechselt ihre Partner öfter als andere Leute ihre Unterwäsche, sie hat ein Alkoholproblem und hatte schon mehrmals einen Entzug hinter sich. Ich kann ihn nicht bei ihr lassen. Dann wird es nur schlimmer mit ihm. Ehrlich gesagt... als ich ihr vorgeschlagen habe, ihn zu mir zu nehmen, war es ihr scheißegal. Oder, besser gesagt, sie war froh, sich nicht um ihn kümmern zu müssen. Sie hat ihn mir quasi mit Kusshand mitgegeben.“
 

„Schön, dann nimm ihn auch zu dir, Thomas.“ André verdrehte die Augen. „Bitte, ziel nicht auf mein Mitleid. Du kennst mich besser, ich bin kein Samariter. Der Kleine tut mir leid, ja. Er hatte wohl ein Scheißleben, und hat ne beschissene Mutter. Aber das hat gottverdammtnochmal nichts mit mir zu tun. Steck ihn in irgendeine Therapie, beglück ihn mit deiner unendlichen Liebe und lass mich aus dem Scheiß raus. Ich mag dich und ich bin dein Freund, aber für die Brut deiner Schwester halte ich nicht den Kopf hin.“
 

„Ich red mit ihm. Das passiert nicht nochmal.“
 

„Willst du mich verarschen?“ Er bemühte sich, ruhig zu bleiben. „Glaubst du ernsthaft, wenn du ein bisschen mit ihm schimpfst und Dutzidu machst, dass er damit aufhört? Sag mal, kennst du ihn überhaupt? Der lügt dir das Blaue vom Himmel, wenn es sein muss, und macht dann sein Ding.“
 

„André, bitte...“ Der Chef vom Paradise Hill vergrub für einen Moment sein Gesicht in seinen Händen. „Ich weiß, ich verlange viel. Aber... er ist ein guter Junge, ich weiß es. Er braucht nur andere Leute. Ich hab ihn extra an der Schule von Muse und Adam angemeldet, damit sie sich um ihn kümmern können. Er braucht Freunde, er braucht jemanden, der ein Vorbild für ihn ist. Das kriegt er bei mir nicht.“
 

„Aber bei mir?“ Andrés Stimme überschlug sich fast. Er wusste nicht, ob er belustigt, entrüstet oder schlicht weg geschockt sein sollte.
 

„Ja.“ Thomas sah ihn eindringlich an. „Ja. Er braucht jemanden, dem er vertrauen kann. Und du bist vertrauenswürdig.“
 

„Thomas, deine gute Meinung über mich in allen Ehren, aber ich habe heute einen Typen abgeschleppt, der dumm wie Brot war, nur um endlich mal wieder nen richtigen Fick zu haben. Und das, obwohl ein einsamer, kleiner Junge theoretisch zu Hause auf sein Essen wartet. Nennst du das vorbildhaft oder vertrauenswürdig?“
 

„Und du hast diesen Fick sausen lassen, um den Jungen vor einem übergriffigen Typen zu retten.“
 

„Nein.“ André lehnte frustiert seinen Kopf nach hinten und starrte an die Decke. „Um seinem dämlichen Onkel den Marsch zu blasen und diesen Jungen loszuwerden.“
 

„Du wolltest ihm ein, zwei Monate geben.“
 

„Ja, da wurde er mir auch noch als süß, nett und unschuldig verkauft.“
 

„André...“
 

Er hätte gerne das Flehen und die Verzweiflung in Thomas' Stimme überhört. Hätte gerne diesen Blick übersehen, der tatsächlich keinen anderen Ausweg wusste. Der einfach nur seinem Neffen helfen wollte, ohne wirklich zu wissen, wie er es anstellen sollte. André seufzte. Er war zwar keine Mutter Teresa und auch kein Samariter, aber er hatte auch kein Herz aus Stein. Verdammt!
 

„Thomas... er bringt mich in Teufels Küche. Wenn irgendjemand auf falsche Ideen kommt, weil er bei mir wohnt oder sich nachts sonstwo rumtreibt, bin ich meinen Job als Tanzlehrer schneller los als ich gucken kann. Die Eltern der Kids machen sich doch jetzt schon in die Hose, nur weil ich offen schwul bin.“ Müde rieb er sich die Augen. „So viel Narrenfreiheit hab ich nicht, dass ich solche Gerüchte überleben würde.“
 

„Ich rede mit ihm. André, bitte... nur vorübergehend, bis ich eine bessere Lösung gefunden habe. Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll. Ich will ihn nicht alleine lassen. Ich kann ihn nicht zu seiner Mutter zurück schicken. Damit würde ich ihn aufgeben. Er hat eine Chance verdient. Bitte...“
 

Für einen Moment starrten sie sich an. Schwiegen. Resigniert seufzte André.
 

„Bis Ende Januar. Und wenn er nochmal Scheiße baut, fliegt er sofort.“ Er überlegte kurz. „Und er wird mir helfen, wenn ich in der Tanzschule arbeite.“
 

„Was... klar, aber... wieso?“
 

„Weil ich ihn mir nicht auf den Bauch binden kann.“ Er gab einen genervten Laut von sich. „Ich kann ihn nicht rund um die Uhr überwachen, das ist mir klar, aber wenigstens während meiner Arbeit in der Schule kann ich ein Auge auf ihn haben. Und je weniger freie Zeit er hat, umso weniger Zeit hat er, um Mist zu bauen.“
 

Thomas sah ihn mit gerunzelten Augenbrauen an. „Du könntest ihm auch einfach vertrauen. Wenn er verspricht, nichts mehr in die Richtung zu tun, macht er es auch nicht.“
 

André sah ihn fast sprachlos an. „Ernsthaft... deine Naivität übertrifft noch die von Adam. Ein Monat, bis er geht, und in der Zeit arbeitet er in in den Tanzstunden mit. Und du solltest lieber direkt damit anfangen, einen neuen Platz für ihn zu suchen.“ Erschöpft massierte er sich die Schläfen. „Ich werde ihn füttern und dafür sorgen, dass er nicht eingeht, aber erwarte nicht von mir, dass wir Freunde werden oder so ein Scheiß. Das ist nicht mein Ding.“ Er stand auf und öffnete die Bürotür. „Du schuldest mir einiges. Und jetzt führ bitte ein vernünftiges Gespräch mit ihm. In unser aller Interesse...“
 

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Muse sah André etwas verdattert nach, bevor er sich seiner neuen Aufgabe widmete. Er kannte Thomas nun schon einige Jahre, und er hatte immer wieder mal seinen Neffen erwähnt, aber irgendwie... der Junge vor ihm hatte definitiv mehr Feuer als der Junge aus Thomas' Erzählungen. Von dem süßen Unschuldsengel, dem tollen, lieben, netten Jungen, dem nur noch der Heiligenschein fehlte, sah er gerade wirklich nicht viel. Manchmal zweifelte er ernsthaft an der Wahrnehmung seines Chefs.
 

„Okay. Cyril, richtig? Willst du was trinken?“
 

„Cola?“ Cyril musterte ihn immer noch mit diesem ungewöhnlich freundlichen Lächeln. „Und du bist...?“
 

„Muse.“
 

Muse holte aus dem Kühlschrank eine Cola und reichte sie seinem Patienten in spe, stellte den Verbandskasten daneben und hob dann Cyrils Kinn an, um seine Wunde an der Schläfe zu begutachten.
 

„Muse... ah, der, der zur gleichen Schule geht? Und... eh, der andere, Adam? Mein Onkel hat mir von euch erzählt...“ Cyril verzog unwillig das Gesicht. „Ihr sollt quasi meine neuen besten Freunde werden oder so...“
 

„Naja...“ Muse tupfte mit einem Wattebausch etwas Desinfektionsmittel auf die Schramme, wobei er Cyrils Zusammenzucken ignorierte. „Er sagt, wir sollen ein Auge auf dich haben. Scheinbar aus gutem Grund.“ Er warf ihm einen fragenden Blick zu. „Ich habe André noch nie so wütend erlebt. Was hast du angestellt?“
 

„Hm...“ Der Junge zuckte mit den Achseln. „Ich habe etwas unorthodoxe Methoden, mir etwas Geld dazu zu verdienen. Scheint André nicht so geil zu finden.“
 

„Unorthodox?“
 

„Ich lass mich für Geld ficken.“ Cyrils Stimme nahm einen provokativen Ton an. „Problem damit?“
 

Muse starrte ihn einen Moment schweigend an, bevor er Cyrils Kopf etwas zur Seite drehte, um Salbe auf der Schramme zu verteilen und ein Pflaster drauf zu kleben. Erst dann sah er ihn wieder an.
 

„Du bist fünfzehn. Jeder hätte ein Problem damit.“ Er nahm Cyrils Hand und betrachtete die Fingerknöchel. „Vermutlich hätte auch jeder ein Problem damit, wenn du älter wärst. Warum tust du das?“
 

Cyril zuckte wieder mit den Achseln. „Warum nicht? Mein Körper, meine Regeln.“
 

„Hm. So einfach ist das nicht.“
 

„Falsch. Es ist so einfach.“ Cyril hielt für einen Moment Muse Hand fest, die gerade seine Knöchel verarztete, und zwang ihn, ihm in die Augen zu schauen. „Besser, als wenn jemand anderes die Regeln macht, oder? Oder meine Regeln bricht.“
 

Er musste nicht mehr sagen, Muse verstand auch so. Langsam nickte er.
 

„Okay. Trotzdem. Lass es, zumindest so lange du bei André wohnst. Er ist einer von den Guten, er würde nur Ärger dafür bekommen.“
 

Cyril lächelte Muse verschmitzt an. „Nett. Es gibt keine Guten, Muse. Es gibt nur Schlechte und weniger Schlechte.“ Er beugte sich etwas vor. „Wobei... Hm, hast du einen Freund?“
 

„Häh?“ Muse sah überrascht durch den plötzlichen Themenwechsel auf. „Ja... ja, hab ich.“
 

„Schade. Du bist süß.“ Er grinste. „Und wenn es die Guten gibt, gehörst du wohl dazu, hm?“
 

„Das weiß ich nicht.“ Mit einem dünnen Streifen Mullband verband er die Knöchel. Es war alles halb so wild, aber er wollte es ordentlich machen. „Es liegt nicht an mir, das zu beurteilen.“ Er zog den Verband fest. „Fertig.“
 

Cyril setzte an, etwas zu sagen, doch da öffnete sich die Tür und André trat ein. Der Blick des Tänzers war jenseits von Gut und Böse, aber er machte nur eine kleine Bewegung mit dem Kopf nach hinten.
 

„Dein Onkel will mit dir reden. Treppe hoch, Bürotür ist offen. Du kannst es nicht verfehlen.“ Er wartete, bis Cyril sich mit einem unwilligen Gesichtsausdruck an ihm vorbeigeschlängelt hatte, bevor er seine Aufmerksamkeit Muse zuwandte. „Danke. Sorry, dass ich dich von der Arbeit abgehalten habe. Ich denke, du kannst weitermachen... oder dir ne Pause gönnen. Hast du verdient. Der Kleine ist anstrengend.“
 

Muse lächelte ihm aufmunternd zu, während er den Verbandskasten wegräumte. „Für mich nicht so sehr wie für dich, würde ich sagen. Er kann ganz nett sein, weißt du.“ Er tippte ihm leicht auf die verschränkten Arme. „Entspann dich. Ich muss weitermachen. Wir sehen uns.“
 

André sah entnervt seinem Freund hinterher, wie er den Raum verließ. Er hätte sich gerne ein Bier aufgemacht. Sich hingesetzt. Irgendwas. Aber er war zu unruhig. Und musste noch fahren. Verdammt, sein Auto stand noch beim Café. Wo er mit dem kleinen Teufel im Schlepptau gleich noch hinlaufen musste. Gerade, als er zum gefühlt millionsten Mal an diesem Abend seufzen wollte, kamen Cyril und Thomas zurück. André verdrehte die Augen. Anhand der kurzen Zeitspanne wusste er, dass es nicht mehr als ein nettes Dutzidu gewesen war. Wie zu erwarten.
 

„Alles geklärt. Cy ist mit allem einverstanden. Alles bestens.“
 

Die aufgesetzt gute Laune und Cyrils Mimik, die alles, nur nicht komplettes Einverständnis ausdrückte, sagte ihm alles. Er gab einen unwilligen Ton von sich.
 

„Wir gehen.“
 

Als sie das Paradise Hill verließen, schlug ihnen die kalte Nachtluft entgegen, gemischt mit dem Lärm der Partygänger. André hätte es gerne genossen, aber er war müde. Genervt. Verärgert. Die Nacht hatte gerade erst angefangen, und er wollte jetzt schon ins Bett, sich die Decke über den Kopf ziehen und einfach nur schlafen. Aber er hatte ja leider dieses Anhängsel, das ihm mit einigen Schritten Entfernung folgte, Hände in den Jackentaschen vergraben, Schultern hochgezogen, mit einem verschlossenen Gesichtsausdruck. In diesem Leben würden sie beide sich wohl kaum noch anfreunden.
 

Cyril brach als erstes das Schweigen, nachdem sie einige Zeit kein Wort gesprochen hatten.
 

„Warum tust du das?“
 

André machte sich nicht die Mühe, ihn anzuschauen. „Was?“
 

„Mich aufnehmen. Du kennst mich nicht. Oder hat mein Onkel auf die Tränendrüse gedrückt? Von der süchtigen Nutte erzählt, die sich Mutter nennt? Oder was?“
 

„Du bist mir egal, Cyril. Und deine Mutter sowieso.“ Seine Stimme klang müde. „Ich mach das für Thomas. Er hat mich drum gebeten. Ende Januar bist du wieder weg, so oder so. Thomas ist mein Freund. Wenn es ihm hilft, bitte.“ Er warf Cyril einen kurzen Blick zu. „Du musst mich nicht mögen, und ich muss dich nicht mögen. Wäre nett, wenn wir die nächsten paar Wochen halbwegs miteinander auskommen, ohne uns gegenseitig an die Gurgel zu gehen. Und danach findet sich jemand Neues, dem du auf den Sack gehen kannst.“
 

„Zumindest bist du ehrlich.“
 

„Gewöhn dich dran.“ André drehte sich zu Cyril um und betrachtete ihn für einen Moment. Er hatte wieder Trotz erwartet, aber diesmal sah Cyril ihn nur ernst an. Ruhig, mit einem erstaunlich offenen Blick. Vertrauen, hm? Für einen Augenblick hielt er inne, bevor er die Hand ausstreckte. „Hier ist der Deal: Ich bin ehrlich zu dir, und lass dir so viele Freiheiten wie möglich. Du baust diesen einen Monat keinen Scheiß, und verdienst dein Geld ausschließlich in der Tanzschule. Ich nehm dich ernst, du nimmst mich ernst. Keine Spielchen, keine Verarsche, nichts. Und danach können wir beide wieder unser Ding machen wie gewohnt. Deal?“
 

Er merkte, wie Cyril ihn intensiv musterte. Zögerte. Versuchte, etwas in seinem Gesicht zu sehen. Keine Ahnung, was er suchte, aber offensichtlich war es nicht da. Langsam nickte er und schlug ein, sein Griff so fest und warm wie bei ihrer ersten Begegnung.
 

„Deal.“



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