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Hundstage

Kein Hund wie jeder andere
von

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Waldspaziergang


 

A

ls der Inu no Taishou pünktlich um zehn seine Gemahlin abholte, stellte er mit gewissem Vergnügen fest, dass sie tatsächlich enge Jeans und ein langärmeliges T-Shirt trug. Damit konnte er zum ersten Mal einschätzen, dass nicht nur ihr Gesicht ein hübscher Anblick war. Sie bückte sich eilig und nahm eine dicke Jacke und einen kleinen Rucksack, eher wohl eine Art Handtasche.

„Ich bin fertig,“ verkündete sie. „Guten Morgen, Taishou.“

„Guten Morgen, meine Liebe. Ich habe nicht daran gezweifelt.“ Er sah zu den Dienerinnen. „Ihr habt dann bis morgen früh frei.“

Izayoi unterdrückte ihre Überraschung. Entweder wurde das ein sehr langer Spaziergang oder er wollte auch noch mit ihr zu Abend essen. Wollte er gar noch mehr? Aber dazu würde er doch kaum einen Spaziergang in einem Naturschutzgebiet vorschlagen, oder? Sie sagte jedoch, wie es wohl erwartet wurde: „Bitte, Misako, weck mich dann morgen erst um neun. Es ist ja Sonntag.“ Außerdem hatte sie das Gefühl, dass der kleine Ausflug ein gewisses Dankeschön ihres unwilligen Ehemannes sein sollte, dass sie sich Mühe gab.

„Gehen wir.“ Der Daiyoukai wandte sich um. „Kommen Sie nur an meine Seite. Später werden Sie hinter mir gehen müssen, es gibt enge Passagen. Ich möchte Ihnen einen alten Freund vorstellen – und, meinen Lieblingsplatz.“

„Einen alten Freund? Sicher ein Youkai?“

„Ja.“ Er sah sie an und sie erkannte wieder diesen schelmischen Funken in den goldenen Augen, der sie fast vergessen ließ, dass sie kein Mensch anblickte. „Ich fürchte, meine Liebe, ich habe keine menschlichen Freunde. Und auch unter den Youkai nur wenige. Sehr wenige. - Wir gehen dort am Schloss vorbei und durch den hinteren Garten. Sind Sie schon gewandert?“

„In der Schule, ja, wir hatten Ausflüge. In den letzten Jahren lernte ich eher, wie sich eine vornehme Dame benimmt. Vater ...“ Sie zögerte. Sollte sie ihren Vater überhaupt erwähnen?

Der Taishou konnte sich den Grund für das Zaudern denken, aber antworten, hatte er doch entsprechende Informationen bekommen. „Sie sollten zu einer gehorsamen Tochter werden, eine Geisha übte mit Ihnen die Teezeremonie und anderes, und Sie sollten nur Kimono tragen. Zumindest in zwei Punkten hatte Onigumo Erfolg.“

„Ja.“ Was hätte sie sonst sagen sollen? Irgendwie hatte sie noch immer Angst vor ihm, auch, wenn es wirklich bislang keinen Grund gab. Auch bei den wenigen Gelegenheiten, an denen sie seine Hand gespürt hatte, hatte er, bis auf den, allerdings abgesprochenen, Kratzer, ihr nicht weh getan. Andererseits empfand sie etwas wie Mitleid. Keine menschlichen Freunde, kaum Youkai? War das der Preis, den er dafür zahlte, eben der Mächtigste dieses Volkes zu sein? Und doch wollte er ihr einen seiner seltenen Freunde vorstellen? Nun, noch einen, denn sie war jetzt überzeugt, dass der kleine Flohgeist dazu zählte. Sekunde. Freunde und seinen Lieblingsplatz? Sie atmete tief ein. Närrin, die sie war. Er versuchte auf sie zuzugehen, ihr zu beweisen, dass er kein Monster war, sie sich nicht fürchten musste. Sie sollte sich bemühen ebenso auf ihn einzugehen. „Ich bin daher vermutlich viel leichter zu ermüden als Sie und werde eine Pause benötigen. Wie lange ist es denn zu Ihrem Lieblingsplatz?“

„Hm. Da fragen Sie mich tatsächlich etwas. Ich habe zugegeben keine Ahnung, wie ausdauernd oder schnell Sie wandern können. Nun, gleich. Gehen wir zunächst dorthin. Am Nachmittag sollten wir auf jeden Fall dort sein, auf dem Heimweg sehen wir noch bei Bokuseno vorbei. Er ist ein sehr alter, und sehr weiser, Baumgeist.“

„Ich habe von ihnen gehört,“ meinte sie eilig, um nicht als töricht dazustehen. „Aber ich dachte, sie sind ausgestorben.“

„Es gibt noch einige, aber sie leben verborgen in tiefen Wäldern. Sie halten nicht gerade viel von Menschen.“ Er schritt auf zwei Krieger zu, die die Grenze zwischen Garten und Naturschutzgebiet bewachen sollten.

Izayoi wich instinktiv hinter ihn. In seinem Schatten fühlte sie sich deutlich sicherer, auch, wenn sich die Youkai nur verneigten und sie nicht einmal ansahen. Woher hätte sie auch wissen sollen, dass sich die jungen Krieger an einen törichten Kater vor einigen hundert Jahren erinnerten. Besser etwas zu vorsichtig als tot. Der Herr legte Wert auf sein Eigentum.

 

Nur wenige hundert Meter hinter dem Ende des Gartens wurde der Wald merklich dichter und dunkler. Unterholz, Beerensträucher wuchsen hier. Eindeutig hatte diese Wildnis seit Jahrhunderten keine Hand eines Försters kennengelernt.

Izayoi folgte dem Daiyoukai schweigend. Er schien einem gewohnten Weg zu folgen und sie erkannte bald, dass dort, wo er ging, auch Pfade im Unterholz waren. Nur für eine Person, aber er war hier wohl öfter. Nach fast einer Stunde blieb er stehen, da er hörte, dass ihr Atem schwer geworden war.

„Benötigen Sie eine Pause?“

„Ich möchte nur kurz etwas trinken.“ Sie nahm die kleine Wasserflasche aus ihrem Rucksack. „Können Sie jetzt abschätzen, wie lange wir gehen?“

„Ich denke, noch zwei oder drei Stunden. Es geht jetzt bergauf. Aber ich kann Ihnen von oben einen wundervollen Blick versprechen.“

Zwei oder drei Stunden bergauf? Sie schluckte das Wasser. Sie würde heute Nacht sicher sehr gut schlafen. „Können wir dann in ungefähr einer Stunde Mittagspause machen?“

„Ja. Es gibt eine kleine Lichtung, ungefähr in dieser Entfernung.“

„Danke. Sie kennen sich hier wirklich gut aus.“

„Ab und an laufe ich hier.“ Er sollte ihr gegenüber wohl besser nicht erwähnen, dass er dies in seiner wahren Gestalt machte. Sie hatte zwar immer weniger Angst vor ihm, aber offenbar war sie noch immer sehr vorsichtig, als ob sie fürchte ein Monster in ihm zu wecken.

 

Als das Paar die kleine Lichtung erreichte, war Izayoi wirklich nur mehr froh. Da sich der Daiyoukai wortlos an einem großen Baum niederließ und sich mit dem Rücken dagegen lehnte, die Beine nachlässig angezogen, sank sie daneben nieder und trank erst einmal durstig. Sie sollte etwas essen, aber im Moment wog die Müdigkeit zu schwer. Hoffentlich würden sie hier etwas bleiben. Sie war solch einen Querfeldeinmarsch von Stundenlänge nicht gewohnt. Aber, dämmerte es ihr, wenn sie nichts aß, würde der Taishou doch annehmen, sie sei fertig, und weiter gehen wollen. So packte sie das belegte Brot aus, das ihr Misako heute morgen in der Küche bestellt hatte.

Wie still es hier war, eigentlich viel zu ruhig. Sie war doch mit ihrer Klasse in einem Wald gewesen, sie hatten Eichhörnchen gesehen, Vögel. Sicher, nicht direkt bei den Menschen, aber hier schien das alles zu fehlen. Ob ein Raubtier ungesehen durch das Unterholz schlich? Ein Youkai, gar? Nein, letzteres konnte kaum der Fall sein, denn der Taishou hätte einen Artgenossen durch dieses Youki doch bestimmt wahrgenommen? Dennoch blickte sie sich unbehaglich um.

„Ein Problem, meine Liebe?“

Sie zuckte fast zusammen, sah jedoch zu ihrem Ehemann, der noch immer vollkommen entspannt am Baum lehnte. „Es ist so still hier,“ flüsterte sie fast. „Keine Tiere, nichts.“

„Oh. War das anders, wenn Sie mit Ihrer Klasse unterwegs waren?“

„Ja. Damals sagte die Lehrerin, solche Ruhe sei immer ein Zeichen dafür, dass ein Raubtier in der Nähe sei.“

„Womit die Dame ohne Zweifel Recht hatte.“ Er sah, dass sie ängstlich wurde, und lächelte etwas, wie er hoffte, beruhigend. „Ich kann Ihnen versichern, dass sich im Umkreis von gut einem Kilometer kein größeres Raubtier aufhält und schon gar kein Wurmyoukai.“

Sie hatte Bilder gesehen. Wurmyoukai waren hässlich, gehirnlose Wesen, die außer fressen nicht viel taten. Leider hatten manche von ihnen Appetit auf Menschenfleisch. Allerdings hatte es immer geheißen, der Berater der Regierung, der Inu no Taishou, kümmere sich darum. Womöglich hatte er deswegen auch die Krieger? „Sie können das … spüren?“

„Die Raubtiere würde ich wittern. Ich bin ziemlich nahe am Hund, Inuyoukai.“ Er deutete auf seine Nase. „Und die Wurmyoukai würde ich spüren. In beiden Fällen allerdings nur, wenn irgendjemand dieser beiden Gattungen lebensmüde wäre.“

Sie dachte für einen Moment nach. Er konnte das wittern? Riechen? Wie gut war seine Nase? Oh, natürlich. Inuyoukai wurden auch von menschlichen Gerichten und der Polizei gern bei Zeugenaussagen benutzt. Lebende Lügendetektoren. Ihr Götter, ein Glück, dass sie nie auch nur versucht hatte ihn anzulügen. War es das gewesen, warum er ihr gestern Abend seine Hochachtung für ihre Ehrlichkeit ausgesprochen hatte? Er konnte sich sicher sein? Und spüren? Er würde das Youki, die dämonische Energie, dieser Würmer also spüren können. Youki. Hatte Myouga nicht gesagt, die Energie des Herrn sei weit entfernt von der eines Wurmyoukai? Sie begriff. „Aber die Wurmyoukai kommen nicht näher, weil sie andersherum auch Sie spüren können? Ihr Youki?“

Er lächelte sie ehrlich erfreut an, unbekümmert, dass er seine Fangzähne zeigte. „Ich glaube gerade, ich habe nicht nur das schönste, sondern auch das klügste Mitglied Ihrer Familie geheiratet. Ja, genauso. Ich halte es zwar zu einem gut Teil verborgen, aber sie wissen, mit wem sie sich einlassen würden. Wölfe oder andere Tiere spüren es ebenso, wenngleich irgendwie anders. Jedenfalls meiden sie das stärkere Raubtier.“

Das stärkere Raubtier. So also sah er sich, sahen sich Youkai? Er hatte es neutral gesagt, sachlich, ohne jede Wertung. War das etwa seine Welt? Izayoi blickte ihn nachdenklich erneut an, doch beruhigt durch sein Lächeln. Wer gab ihr das Recht über seine Art zu urteilen? Vater hatte auch eine Youkai geheiratet, Akiko … Traditionell sollte eine Ehefrau über Fehler ihres Mannes hinwegsehen, so hatte es ihre Mutter gesagt, auch erwähnt, dass darunter auch Geliebte verstanden wurden. Vater hatte Mutter diesbezüglich wenigstens nie Kummer gemacht. Und sie selbst zögerte auf ihren Ehemann einzugehen, der sich wahrlich bemühte, nur, weil er anders war? Youki besaß? Sie sollte ihm zeigen, dass sie ihr Versprechen in dem Ehevertrag auch wirklich gemeint hatte. So lächelte sie ihn an. „Mich etwa?“ Herzhaft biss sie in das Wurstbrot.

Es lag nicht im Wesen des Inu no Taishou in Gelächter auszubrechen, aber er klang mehr als amüsiert. „Oh, das arme Brot! - Ich sehe, das wird ein netter Ausflug, meine liebe Izayoi.“ Er hatte ja gehofft, dass die Zweisamkeit ohne Verpflichtungen sie etwas beruhigen würde, sie beide einander näher bringen würde, aber kaum zu träumen gewagt, dass sein Plan aufgehen würde. Frauen waren ein vermintes Feld, dachte der erfahrene Feldherr, oft allzu wohl verteidigte Festungen. Er hatte einst einen Fehler begangen, den er bei seiner zweiten Gemahlin nicht wiederholen würde. Er wollte aufstehen, bemerkte sofort, dass sie ihr Brot wegräumen wollte: „Nein, essen Sie nur. Ich überprüfe nur etwas.“ Der Wind hatte sich verändert. Hm. Zwei Stunden würde Izayoi schon von hier zurück in das Schloss benötigen, noch sicher zwei Stunden bis zum Aussichtspunkt, ergäbe sechs Stunden Weg. Das Gewitter war noch fern, aber er sollte es im Auge behalten. Notfalls musste Bokuseno noch ein wenig auf die Vorstellung warten. Aber er sollte etwas auf das Tempo drücken. Natürlich es ihr erklären. „Das Wetter ist nicht ganz auf unserer Seite, meine Liebe. Heute Abend kommt ein Gewitter.“

Sie starrte ihn an und vergaß fast zu kauen. Da sie es merkte, schluckte sie erst. „Sie können das Wetter vorhersagen?“

„Nein. Aber ich kenne den Geruch des Windes, die Strömungen in der Luft. Wir sollten uns beeilen und wohl den Ausflug zu Bokuseno ausfallen lassen.“

„Oder nur zu Boskuseno? Ich würde gern Ihren alten Freund kennen lernen.“

Zu ihrer Freude dachte er nach. „Nein, da nehmen wir uns ein anderes Mal viel Zeit, das verspreche ich Ihnen. Es liegt doch tief in den Wäldern und ich möchte Sie ungern dem Unwetter aussetzen.“

„Danke. Dann gehen wir lieber.“ Sie packte zusammen, froh ob der Tatsache, dass sie sich zumindest irgendwie höflich und, ja, freundschaftlich, unterhalten konnten. „Die Jacke hier soll zwar regendicht sein, aber sie hat keine Kapuze.“

Er dachte erneut nach. „Ich nehme die Abkürzung. Das wird schneller gehen, ist aber recht steil. Am Beginn des Steilhanges gehen Sie dann vor mir.“

„Ich kenne den Weg nicht, Taishou,“ wandte sie zögernd ein.

„Sie wissen jedoch besser als ich, wohin ein Mensch fassen und treten kann. Falls Sie abrutschen kann ich Sie so auffangen.“

Eine so sachliche Erklärung – und hundert Fragen, die sie jetzt hatte. Er wusste nicht, wohin man fassen oder treten konnte? Wie kam er dann da hoch? Springen, wie sie es auf dem Trainingsplatz gesehen hatte? Er konnte sie abfangen? Ja, aber wie? Nun ja, sie würde es ja wohl sehen. „Wie Sie meinen. Ich kenne mich nicht aus.“

Sie war intelligent, nüchtern. Ja, gut, sehr gut. Überdies, aber das sollte er ihr besser nicht sagen, hoffte er doch, so von hinten, sie einmal genauer beobachten zu können. Diese neumodischen Hosen zeigten eindeutig mehr als ein Kimono. Er lächelte unwillkürlich fast, als er daran dachte, was seine Krieger wohl dazu sagen würden. ER, der Herr und Fürst über sie, hoffte auf einen heimlichen, anregenden, Blick auf seine eigene Frau … „Dann gehen wir.“

 

Keine Stunde später blieb der Daiyoukai stehen und drehte sich um. „Sind Sie sehr müde, Izayoi?“

„Ich bin sehr durstig,“ gestand sie lieber die halbe Wahrheit. Sie käme sich so schwach und jämmerlich in seine Augen vor, würde sie zugeben, dass dieser Hang vor ihr sie wirklich in Schrecken versetzte. Es ging sicher fast zweihundert Meter empor, wenngleich immerhin nicht gerade senkrecht. Steine ragten heraus und boten Tritte auf dem Grasboden. „Und ich habe nichts mehr zu trinken.“

„Ich muss mich entschuldigen. Wenn man selbst nichts benötigt, vergisst man so etwas leicht. - Nun, ich kann Sie beruhigen. Oben, am Aussichtspunkt, gibt es eine Quelle.“

„Das ist dort oben?“ Sie hatte noch nie Quellwasser getrunken, aber das erschien ihr im Augenblick wie das größte Ziel.

„Ja.“ Er musterte sie, plötzlich besorgt. Ihr Haar war noch immer wundervoll, aber er konnte wittern, dass sie verschwitzt war, müde. Er hatte es wohl übertrieben. „Schaffen Sie es bis dort hinauf?“

Sie nickte tapfer, gewillt, bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit durchzuhalten. Sie war untrainiert, sie war ein Mensch. Wie mochte das auf ein so mächtiges Wesen, einen so starken Mann, wirken, der bislang nicht einmal schwerer atmete und selbst seinen Kriegern derart überlegen war? Nein, nur nicht blamieren. „Wenn ich oben dann eine Pause bekomme?“ schlug sie mit einem schwachen Lächeln vor.

„Natürlich. Und Wasser.“ Er sollte sich wirklich Gedanken um den Heimweg machen. Unverzeihlich von ihm sie so zu erschöpfen, wo sie sich offenkundig mehr als bemühte seine Ansprüche zu erfüllen. Aber die Alternative, sie einfach empor zu tragen, kam wohl auch nicht in Frage. Sie würde erst recht wieder vor dem Beweis, dass er kein Mensch war, zurückzucken. Nun gut. Sie sollte voran gehen und er musste sie im Notfall vor einem Absturz bewahren.

Gut. Es war nur noch bis da oben, dann würde sie zu trinken bekommen und Ruhe. So wandte sich Izayoi dem Hang zu und suchte sich eine Route, ehe sie empor zu steigen begann, sich immer wieder instinktiv auch mit den Händen an Felsvorsprüngen einhaltend. Seltsamerweise erinnerte es sie an Kindertage, an einen Ausflug in eine Halle mit einer Kletterwand. Mutter hatte damals noch gelebt und sich so über das Foto gefreut … Mutter. Was sie wohl dazu sagen würde, dass sie mit einem Mononoke verheiratet war? Flüchtig warf sie einen Blick zurück und erschrak fast vor der Höhe. Aber ER war nur zwei Meter unter ihr, stand locker da, als müsse er sich nicht mit den Händen festhalten.

Der Taishou hatte den Blick zurück bemerkt. „Sehen Sie nicht hinunter,“ mahnte er, da ihm einfiel, dass Menschen so etwas wie Höhenangst kannten. „Sie haben schon die Hälfte hinter sich. Sehr gut.“ Sollte er sie doch nehmen und mit ihr hoch springen? Aber er fürchtete, dass sich dann das Zutrauen, das sie zu ihm anscheinend entwickelte, in Nichts auflösen würde.

„Ja.“ Sie keuchte, als sie die nächsten Höhenmeter überwunden hatte. Das lag an ihrer Müdigkeit, aber auch an etwas, das sie an einer etwas ebeneren Stelle im Hang entdeckte. Es handelte sich um einen Pfotenabdruck eines gigantischen Wesens. Jähe Panik schoss in ihr auf.

Der Taishou bemerkte es sehr wohl. „Was haben Sie?“ Er hatte nicht erwartet, dass sich ein Pfotenabdruck so lange halten konnte. Es war Wochen her, seit er hier gewesen war. „Keine Sorge. Es ist ein Naturschutzgebiet, auch und gerade, weil hier Youkai leben. Und das dort ist der Abdruck … eines sehr guten Bekannten von mir. Sie brauchen ihn nicht mehr fürchten als mich. Und ich hoffe doch, das tun Sie nicht mehr.“

Sie schüttelte nur den Kopf, reden war zu anstrengend geworden. Nur noch wenige Meter, dachte sie verbissen, bis sie begriff, dass sie irgendwie plötzlich oben war, und sich nur mehr auf den Stein kniete, um Atem rang.

„Es tut mir Leid, meine Liebe,“ sagte der Herr der Hunde etwas schuldbewusst. „Erschrecken Sie jetzt nicht.“ Bevor Izayoi begriff, wurde sie emporgehoben, in seinen Armen getragen, an seine Brust gedrückt. „Ich bringe Sie zu der Grotte, dort gibt es die Quelle.“

Sie fühlte sich abgesetzt, an die Felswand gelehnt und zu ihrer Überraschung etwas enttäuscht. Es war so warm und sicher dort in seinen Armen gewesen. Auf den zweiten Blick erkannte sie, dass es sich in der Tat um eine kleine Höhlung im Fels handelte, neben ihr eine Quelle entsprang, die aus der Grotte lief, nur, um nach vielleicht zwanzig Metern über die Steinplatte im Nichts zu verschwinden. Dort endete die Plattform, die der Taishou als Aussichtspunkt bezeichnet hatte. Offenbar ein kleiner Wasserfall, denn in der Ferne und weiter unten konnte sie das Meer der Hochhäuser Tokyos erkennen. Etwas zerrte an ihr und sie erschrak, ehe sie verstand, dass ihr Ehemann ihren Rucksack öffnete und ihre Flasche herausnahm. Ja, sie hätte sich auch nicht mehr rühren können.

Er füllte die Flasche. „Hier, trinken Sie, langsam. Es ist ziemlich kühl. - Möchten Sie dann etwas schlafen?“

Sie trank einen Schluck, fühlte die Kälte im Magen. Ja, das Wasser sollte sie nur langsam trinken, da hatte er recht. „Danke. - Ich bin sehr müde,“ gestand sie. „Aber hier ist nur Fels.“ Überrascht erkannte sie wieder diesen spitzbübischen Funken in seinen Augen.

„Sollte es Ihnen entgangen sein, dass ich an meinen Schultern ziemlich wärmende Fellteile trage? Trinken Sie und dann legen Sie sich darauf. Ich werde mich nicht bewegen, solange Sie schlafen.“

„Das darf ich?“ erkundigte sie sich zögernd, in der unsicheren Erkenntnis, dass ihr da soeben ein ungewöhnliches Vorrecht zugestanden worden war.

„Einigen wir uns auf: Sie ja.“ Niemand zuvor hatte das getan, nun ja, außer seinem Welpen, als er ganz klein gewesen war, aber er konnte sich auch nicht daran erinnern, dass er seine erste Ehefrau bis zur Erschöpfung gehetzt hatte, von seinen Geliebten ganz zu schweigen. Er sollte seinen Fehler ausgleichen.

„Danke.“ Täuschte sie sich in ihrer Müdigkeit oder wurde das Fell länger und dichter auf seinem Rücken? Jedenfalls setzte er sich neben sie und breitete eines dieser weißen, flauschigen Teile neben ihr aus. Sie konnte nicht widerstehen und legte sich mit dem Kopf darauf. Es war in der Tat warm und weich. Und es roch so angenehm, wie eine Sommerblumenwiese, auf der sie in ihrer Kindheit gewesen war. Fast schon am Wegdösen merkte sie, wie das zweite Fell über sie gebreitet wurde. Das genügte, um sie in einen traumlosen Schlaf zu schicken.
 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Euch allen Frohe Ostern.

Schlaf gut, Izayoi, denn das nächste Kapitel zeigt: Folgen.

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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Teilchenzoo
2018-04-09T21:52:11+00:00 09.04.2018 23:52
Wenn ich das so lese, merke ich, wie gerne ich auch mal wieder wandern gehen würde ... und das da ist sicher ein besonders sehenswertes Gebiet. Wobei ich WIRKLICH auf eine 200-m-Steilwand verzichten kann. Das dürfte ziemlich heftig sein. Gerade für jemanden, der wie Izayoi ja nicht einmal die üblichen Einkäufe und Wege hat, um eine gewisse Kondition zu erhalten... armes Mädchen. Ob es sie dazu bringt, ihre Kondition aufzubauen, um ihren Ehemann auch in Zukunft auf derartige Ausflüge begleiten zu können? Sie gibt sich ja immer Mühe, ihm zu gefallen.

Wow, das nenne ich ein Privileg! Jetzt sollte wirklich besser niemand vorbei kommen, das würde Ärger geben.
Von:  Miyu-Moon
2018-04-06T19:17:49+00:00 06.04.2018 21:17
Gott, wie süß. Mein inneres Fangirl quietscht wegen der Niedlichkeit der Situation. Und das die Fellteile wachsen und schrumpfen können, kennt man ja von Sesshomaru im Anime. Das beide aufeinander Rücksicht nehmen ist auch toll. Wobei ich auch neugierig darauf bin, ob es noch öfters Erwähnungen zu Akiko geben wird? Ich meine, sie war Narakus Mutter.
Antwort von:  Hotepneith
07.04.2018 06:55
Danke, nein, Narakus Mutter hieß Saichi und war eine Spunnedame aus dem Waldgebirge. Akiko ist mit einem Youkai (Fledermaus) verheiratet und Izayois "Erklärbär" zum Thema Youkai, oder auch Hofdame.

hotep
Von:  Sanguisdeci
2018-03-30T09:42:17+00:00 30.03.2018 11:42
Ein sehr schönes Kapitel! Ich befürchte zwar, Izayoi wird furchtbaren Muskelkater haben, aber der Ausflug hat sich dennoch für beide mit Sicherheit gelohnt. Ich bin gespannt, wie beide den Rückweg meistern werden, wo doch ein Unwetter näher kommt.


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