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Sommer in Hasetsu

von

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Teil 9 - Leben und Liebe

„Viktor, Schatz, endlich! Wie geht es dir?!”

„Es geht uns gut“, antworte ich und stelle mir Jelenas Gesicht vor, ihr Lachen, ihre Freude, während ich durch die Glasscheiben vor mir auf die Startbahnen des Pekinger Flughafen blicke und die Flugzeuge beobachte.

„Uns? Dann ist es offiziell?“, flüstert sie ehrfürchtig ins Telefon.

„Ja.“

Für einen Moment sagt sie gar nichts. Dann: „Bist du glücklich?“

„Ja, so sehr wie noch nie zuvor in meinem Leben.“

Auch wenn ich es nicht sehen kann weiß ich, dass ihr die Tränen in die Augen steigen und sie nach ihrem Taschentuch kramt.

„Jelena?“

Sie schnäuzt. „Ja?“

„Danke für alles.“

„Wofür bedankst du dich? Ich hab doch gar nichts gemacht!“, plappert sie aufgeregt. „Viktor, Schatz, du solltest stolz auf dich sein! Du hast für deine Liebe gekämpft und bist belohnt worden!“

Ich fühle meine Wangen glühen und kann für einen Moment gar nichts sagen.

„...Jelena?“

„Ja?“

„Ich kann das nicht gut erklären, was ich fühle, aber... Yuuri hat mich gerettet.“

„Natürlich hat er das! Er liebt dich!“

„Glaubst du das?“

Sie lacht kurz. „Sich den Anweisungen seines Trainers widersetzen und einen so bedeutungsvollen Sprung zum Ende der Kür raushauen? Das klingt nach dir, Schatz. Oder nach jemandem, dem du sehr, sehr wichtig bist.“

Ich muss kurz lachen und mein Blick huscht zu dem hinüber, der dafür verantwortlich ist, das es für mich wieder eine Liebe gibt. Yuuri sitzt auf einer der Sitzbänke und passt auf unser Handgepäck auf, aber vielmehr versucht er, nicht einzuschlafen und ich schaue zu, wie seine Augenlider langsam wieder schwer werden und auch der Kopf erneut in Richtung Schulter nickt. Was ich für ihn empfinde, ist mit der Verliebtheit, die ich früher empfunden habe, nicht mehr gleichzusetzen. Es greift viel tiefer. Diesmal ist es wirklich Liebe.

„Viktor. Schluss mit dem Telefonat, ich muss dich nicht sehen, um zu wissen, dass dein Blick sehnsüchtig an deinem Liebsten hängt. Los, geh' zu ihm und genieß' dein Leben.“

Ich greife das Handy fester.

Sie ist einfach die beste Frau der Welt.
 

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„Hee, Glückwunsch, Yuuri!“

Nishigoris Arm fällt einen Tick zu kraftvoll auf meine Schulter.

„Eh, wofür? Du hast mir schon gratuliert, Nishigori“, entgegne ich verwundert und versuche, den Schmerz zu ignorieren. Ich bin gerade mit Makkachin vom Hof wieder nach drinnen gekommen und offenbar hat er im Flur auf mich gewartet.

„Für die Medaille, ja. Aber die war sicher nicht das Beste, was du aus China mitgebracht hast, oder?“

„Wovon redest du?“, frage ich und überlege, wie ich seinen Arm am schnellsten von mir bekommen kann. Nishigori hat bereits einiges an Alkohol auf der spontan organisierten Feier bei meinen Eltern getrunken, um meinen Erfolg beim Vorentscheid zu feiern, und hängt fast mit seinem kompletten Gewicht auf mir.

„Na, von dem Kuss, den Viktor dir gegeben hat!“, poltert er und klopft mir noch einmal nicht weniger schmerzvoll auf die Schulter. „Ich hab gedacht, ich seh' nicht recht! Das muss 'ne Überraschung gewesen sein! Damit bist du der Erste, den er je öffentlich geküsst hat! Haben meine Kinder direkt recherchiert...!“

„Ja, das kam ganz schön überraschend...“, erwähne ich beiläufig.

„Und? Geht da noch mehr? Seid ihr-“

„Er ist mein Trainer“, schneide ich ihm entschieden das Wort ab, als wir den Gästeraum wieder betreten. Unweigerlich wandert mein Blick durch den Raum zu Viktor, der von den Drillingen angehalten wird, ein Spiel mit ihnen zu spielen. Makkachin trottet direkt zu ihm, sodass Viktor sich kurz zu seinem Hund umdreht. Als er aufschaut, treffen sich unsere Blicke.

„Woho, nicht so bissig, Yuuri“, weicht Nishigori zurück. „Man könnt ja grad meinen, ich nehm' dir was weg. Er ist dein Trainer, das haben wir schon verstanden.“

Gut. Und dabei bleibt es. Ich hätte auch nichts dagegen, wenn diese Feier bald zu Ende wäre, denn ich kann in Viktors Augen sehen, dass er nur den einen Gedanken hat, so schnell wie möglich wieder mit mir alleine zu sein. Und weiß Gott, ich will nichts anderes.
 

Gegen Mitternacht sind wir endlich in Viktors Zimmer. Sich gegenseitig auszuziehen ist vielleicht gängige Praxis bei anderen Paaren und sicherlich schöner und sinnlicher, wenn man Zeit hat, aber gerade haben wir keine Zeit und entledigen uns wie die Male davor selbst unserer Kleidung. Nur eine Sache darf Viktor sich nicht mehr selbst ausziehen: Diese unscheinbare, schwarze Unterhose, die so unschuldig durchs Restaurant geflogen ist, ziehe nur noch ich von seinem hübschen Hintern. Darunter liegt jetzt mein Revier. Meine Finger fahren unter den Bund und von den Hüften weiter nach hinten um seine Backen zu kneten, ihn festzuhalten und den Stoff Stück für Stück ein bisschen tiefer zu streifen... Warum haben wir das nicht schon früher angefangen? Ich knie vor ihm, küsse seinen Bauch und er hält sich an meinen Haaren fest, bis die Unterhose auf den Boden fällt. Dann steigt er langsam heraus und mit dieser letzten Trophäe in der Hand erhebe ich mich, um den zu betrachten, der mir Lust beigebracht hat. Viktor steht nackt und mit sehnsüchtigen Blick vor mir, sein Zeige- und Mittelfinger spielen schon an seinen Lippen; er senkt seinen Blick und seine andere Hand wandert meinen Bauch hinab. Sie findet ihr Ziel und er schließt die Augen, seufzt meinen Namen und ich weiß genau, was er von mir haben will. Achtlos werfe ich die Unterhose auf den Boden und trete einen Schritt näher; Viktor macht einen Schritt rückwärts, lockt mich ihm zu folgen, bis er ans Bett stößt, sich setzt und zur Mitte rutscht, bis er liegen kann und mir seine Arme entgegenstreckt.

Ich kann mich an diesem Anblick nicht satt sehen.

Er ist der Schönste von allen und er will nur noch mich...
 

Am folgenden Morgen weiß wahrscheinlich jeder in meiner Familie Bescheid. Der Holzboden hat so geknarrt und wir konnten einfach keine Position finden, in der es weniger Geräusche gemacht hätte. Ich bete einfach inständig, dass alle schon geschlafen haben. Bei dem Grinsen im Gesicht meiner Mutter bin ich mir da aber nicht sicher, ob mein Wunschdenken mit der Realität übereinstimmt, aber ich kann ja versuchen mir einzureden, dass es von meiner Platzierung im Wettkampf kommt.

Aber auch ohne Mutters Grinsen fühlt sich heute morgen alles ganz anders an. Bisher habe ich selten mitbekommen, wie ein Morgen bei Viktor abläuft, denn wenn er für gewöhnlich aufgestanden ist, schlief ich meistens noch im Zimmer nebenan. Gerade aber frühstücken wir zusammen, etwas das in der Vergangenheit nicht oft passiert ist und nach einer Weile fällt mir auf, dass ich Viktor beim Essen genau beobachte. Was er isst, wie er es isst, in welcher Reihenfolge er es isst... Aber eigentlich dasselbe wie ich: Reis mit Sesam, Krautsalat, Fisch und dazu Misosuppe mit Wakame und Tofu.

Die Misosuppe hat scheinbar ihren festen Platz in seinem Speiseplan bekommen, seit Mutter ihm geraten hat, mehr Algen zu essen, weil seine Haut auf das andere Klima in Japan entzündlich reagiert hatte. Und offenbar hilft es, denn seitdem hat er keine Probleme mehr. Dennoch ich wundere mich. Warum denke ich überhaupt an so komischen Sachen? Als wäre Misosuppe zum Frühstück etwas Außergewöhnliches oder irgendwie erwähnenswert.

Nach zwei weiteren Stäbchen voll Reis verstehe ich. Es ist nicht die Misosuppe, die das Außergewöhnliche an dem Gedanken ist, sondern die Tatsache, dass Viktors Haut irgendwie nicht mehr nur seine Privatsache ist. Dass es mich in gewisser Weise auch etwas angeht, weil ich diese Haut anfassen darf.

Und mir fallen plötzlich noch mehr Dinge auf, die ich ganz anders wahrnehme. Als ich im Badezimmer stehe, um mir die Zähne zu putzen, wandert mein Blick zu Viktors Kulturbeutel und ich bin überrascht festzustellen, dass einige Dinge nicht weggeräumt wurden, sondern aufgereiht neben meinen Sachen stehen. Seine Zahnbürste und seine Zahncreme, beides in einem Glas. Sein Deo. Sein Parfum.

Gerade sein Parfum habe ich schon so oft gerochen, aber nie gefragt, welches er benutzt. Mir war nur klar, dass es kein Herrenduft sein kann und mit der Annahme lag ich auch nicht falsch: Black Opium von Yves Saint Laurent. Trotzdem, denke ich, weder Zahnbürste oder Zahncreme, Deo oder Parfum sind herausragend speziell oder besonders. Genau genommen sind sie erschreckend normal. Und dennoch fängt es an, überall zu kribbeln und mein Herz schlägt schneller, je länger ich die Zahnbürste betrachte. Dabei gibt keinen konkreten Grund dazu...! Nur den, dass diese kleinen Dinge mir auf subtile Weise still und leise erzählen, dass die Veränderung in unserer Beziehung real ist und wir ein Paar sind.

Bevor ich aber weiter über die Faszination einer Zahnbürste nachdenken kann, steht Viktor in der Tür.

„Kann ich nochmal kurz an meine Tasche?“

„K-klar“, antworte ich und gehe einen Schritt zur Seite.

„Sag' mal, Yuuri,“ beginnt er, während er in der Tasche kramt, „wie wolltest du den Tag heute verbringen?“

Hm, wozu die Frage? Ich warte und beobachte, wie Viktor die kleine Dose mit Lippenbalsam aus dem Beutel holt.

„Also, ich hatte dir ja gesagt, dass du heute frei hast, um dich zu erholen...“

„Ja, und was ist damit?“

„Hast du was Bestimmtes vor?“

Ich schaue ihn für ein paar Sekunden verwirrt an. Dann verstehe ich. Er weiß nicht, wie er fragen soll, ob wir etwas zusammen machen können, weil er denkt, ich hätte vor dem Cup of China vielleicht alleine irgendetwas anderes geplant. Oh Mann, Viktor. Als ob wir die letzten Tage überhaupt irgendwas getrennt gemacht hätten außer auf Toilette zu gehen.

„Nein“, antworte ich ihm ehrlich, dann spüle ich den Mund aus und einen Moment lang überlege ich, ob mir etwas einfällt, was wir zusammen unternehmen können. Mein Blick findet erneut die Zahnbürste.

„Also, es gäbe da schon etwas, das ich gerne machen würde...“

„Okay?“, sagt er, während er sich Lippen einreibt.

„Ich möchte meinen Viktor besser kennenlernen... Wäre das ok?“

Er sieht mich für einen Moment lang mit großen Augen an, dann lacht er. „Der Viktor, nach dem du fragst, ist ein ziemlicher Dummkopf. Aber seit deiner Kür ein ziemlich glücklicher Dummkopf.“

Darauf muss ich schief grinsen. „Ich hab von dir gelernt.“

Viktor lacht noch einmal und hält das Döschen vor mir hoch. „Du auch?“

„Nicht nötig“, sage ich und schließe die letzten Zentimeter zwischen uns.

Es ist ein unbeschreibliches Gefühl zu wissen, dass das keine Ausnahme mehr sein muss.
 

Wir haben uns in meinem Zimmer verkrochen. Mit den Kissen von Viktors Sofa im Rücken sitzen wir gegen das Fenster gelehnt auf meinem Bett, die Decke über unsere Beine gelegt. Unsere Handys liegen auf lautlos gestellt auf meinem Schreibtisch, dass uns niemand stören kann, sofern derjenige nicht das Privileg besitzt, an die Tür klopfen zu können.

Ich möchte so viele Dinge wissen. Dinge, die ich mich bisher nie getraut habe, zu fragen und mir schießen tausend Möglichkeiten durch den Kopf, aber eine dümmer als die nächste.

Die normalen Steckbriefdaten weiß ich natürlich schon lange aus verschiedenen Interviews und Berichten, wie zum Beispiel seinen Geburtstag (25.12.1988) und Geburtsort (St. Petersburg), seine Lieblingsfarbe (Royalblau), sein Lieblingsessen (so ziemlich alles, wobei mir eine Stimme flüstert, dass Katsudon sehr weit oben mit dabei ist), sein Lieblingstier (logischerweise Hund, merkwürdigerweise aber auch Schafe)... Eben die Dinge, über die Fans sich freuen, wenn sie sie wissen.

Aber das hat ihn ja nicht zum fünffachen Weltmeister gemacht, sondern das, was er auf dem Eis performt hat. Das Genie hinter den Programmen, das ihm zusammen mit seinem abnormalen Talent den Beinamen „Lebende Legende“ eingebracht hat.

Als er mit Odette im Jahr 2000 auftrat, war ihm zum ersten Mal internationale Aufmerksamkeit zuteil geworden, man könnte sagen, es war sein Durchbruch gewesen. Mit Lestat hat er sich abgesehen von seinem Rockstar-Image auch die höchste Punktzahl bei den Juniors, die bis heute nicht überboten wurde, erlaufen und als er nur zwei Jahre später mit Fighter auf dem Eis stand, gelang ihm der vierfache Flip, der bis heute noch sein Aushängeschild ist.

Da ich aber vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen kann, frage ich völlig unabsichtlich nach etwas ganz anderem, das gerade für einen kurzen Moment wieder in mein Blickfeld getreten ist: Viktor hat seinen Pullover ausgezogen, um sich an meine Brust zu lehnen und bis zum Kinn mit der Decke einzumummeln. An seinem rechten Oberarm hat er vier gleichmäßige, feine Narben, die mir im Onsen schon ab und zu aufgefallen sind. Sie liegen zu weit auseinander und sind zu dünn, um annehmen zu können, dass sie von Makkachins Pfote oder einem anderen Tier stammen könnten, aber auch generell habe ich eine solche Anordnung noch nie irgendwo gesehen und kaum dass ich gefragt habe, fängt er auch schon an zu lachen.

„So was willst du wissen?“, gluckst er. Im Schutz der Laken fahre ich mit meinem rechter Zeigefinger behutsam seinen Arm auf und ab, als könnte ich die Narben ertasten. „Das sind Überbleibsel einer misslungenen Flucht vor Hausaufgaben.“

Ich schaue ihn überrascht an. Mit so einer Antwort habe ich jetzt nun nicht gerechnet.

„Ich wollte nach draußen spielen“, erklärt Viktor und beginnt dabei, seinerseits mit dem Finger Muster auf meinen Oberschenkel zu malen. „Aber meine Mutter wollte, dass ich zuerst die Hausaufgaben mache. Ich bin in den Garten gerannt, sie hinter mir her und ich dachte, ich passe noch durch den Spalt der beiden Hecken. Durchgepasst habe ich, allerdings habe ich auf rechter Seite auch die halbe Hecke mitgenommen. Es war eine Rosenhecke. Und damit war die Flucht schneller beendet als mir lieb war.“

Ich staune nicht schlecht. Aber irgendwie amüsiert es mich, mir vor meinem inneren Auge vorstellen, wie der junge Viktor, zukünftiger Weltmeister im Eiskunstlauf, vor Schulaufgaben davon rennt.

„Hast du öfter solche Sachen gemacht?“, will ich wissen.

„Frag' lieber, wann ich so was nicht gemacht habe“, grinst Viktor und setzt sich wieder auf. „Und du? Du hast doch sicher auch mal was Blödes gemacht?“

„Hm, ich war eigentlich immer derjenige, der alles Blöde mitmachen musste, aber selbst habe ich eher selten was angestellt“, überlege ich und Viktor schaut mich erwartungsvoll an. „Als ich noch klein war, hat Mari den Blödsinn mit mir gemacht. Sie hat mich mal ins Spülbecken gesetzt und den Stuhl weggeschoben. Mir gesagt, dass das Kanji für Frauen das für Männer ist und umgekehrt und ich plötzlich bei den Frauen in der Umkleide stand. So Sachen eben. Was unter Geschwistern eben normal ist. Du hast keine Geschwister, oder?“

„Nein. Aber alleine war ich trotzdem nie.“

„Du hattest sicher viele Freunde.“

„Ja“, lacht er. „Fuchur, Finn und Sindbad. Und natürlich Sansibar, die Hübsche. Und die kleine Alice.“

Moment, was? Was zur Hölle sind das bitte für Namen? Heißen Kinder in Russland wirklich so?!

„Yuuri... was schaust du gerade so irritiert?“, lacht er mir bei meinem heillos verwirrten Gesicht entgegen und ich fühle mich ertappt. „Ich rede von Schafen. Nicht von Menschen.“

Ach so. Stimmt, die mag er ja auch. Moment, was, wie? Schafe?!

„Fuchur war der ältester Bock. Finn und Sindbad sind immer wieder ausgerissen und ich war jedes Mal mittendrin statt nur dabei. Sansibar war unser einziges dunkles Schaf, aber das Hübscheste. Eine wahre Lady. Und Alice -“

„Viktor, stopp!“, gehe ich dazwischen. „Schafe? Du redest von Schafen? Wie kommst du an Schafe?!“

„Die haben uns gehört.“

„Wo hattet ihr Platz für Schafe in der Stadt?!“

Viktor lacht erneut. „Nicht in St. Petersburg, Yuuri. Meine Familie wohnt da nicht. Nur ich wohne da.“

Ich komme gerade echt nicht mehr mit. „Ich dachte, du bist in St. Petersburg geboren?“

„Das ja. Aber gewohnt haben wir da nicht“, erklärt er und lehnt sich wieder an. „Erst als ich mit dem Eiskunstlauf angefangen habe, bin ich nach St. Petersburg gezogen.“

„Dann redest du gerade von deiner Kindheit?“

„Ja“, sagt er und gibt mir ein Küsschen.

Jetzt bin ich sprachlos. Seit ich angefangen habe, mich für Viktor zu interessieren, hat er meines Wissens nach nie öffentlich über seine Zeit vor dem Eiskunstlauf gesprochen. Und gerade sitzt er bei mir auf meinem Bett und erzählt davon. Einfach so, ohne dass ich wirklich danach gefragt habe. Dass er vor Hausaufgaben geflüchtet ist und von Schafen, die seiner Familie gehört haben... Ich starre peinlich berührt zu ihm hinüber, er schaut mich mit einem amüsierten Grinsen im Gesicht an.

Wenn er mir solche streng gehüteten Dinge einfach so erzählt...dann... Soll ich wirklich? Für einen Weile überlege ich.

„Viktor?“

„Ja?“

„Ich würde dir gerne etwas zeigen“, sage ich schließlich. „Aber du darfst nicht lachen!“

„Das letzte Mal als du das gesagt hast, musste ich doch lachen, Yuuri.“

„Dann lach' mich einfach nicht aus, ok?“

„Okay, ich versuch's.“

„Lässt du mich kurz aufstehen?“

Viktor setzt sich wieder auf, ich schlage die Decke zurück und steige vom Bett. Ich weiß nicht, was mich gerade dazu bringt, das zu tun, aber irgendwie fühlt es sich so an, als wäre es der richtige Moment dafür. Viktor beobachtet neugierig, wie ich zu meinem Schrank gehe und von dort einen Karton hervorziehe und ihn vor Viktor aufs Bett hebe.

„Schau' rein“, fordere ich ihn auf.

„Da sitzt aber nicht irgendwas drin, das mich erschreckt, oder?“, fragt er mit skeptischem Blick, als er sich über den Karton beugt. Das kommt ganz darauf an, denke ich und lächele etwas beschämt, aber wahrscheinlich wirkt der Horrorfilm von vor dem Cup of China noch nach.

„Nein,“ entwarne ich und er hebt langsam den Deckel an.

Mein Puls schnellt in die Höhe, aber es gibt kein Zurück mehr: Der Karton ist offen und Viktor schaut sich selbst an. Es ist das gleiche Foto, dass er auch in seinem Zimmer stehen hat: 2012 beim Kürprogramm der Weltmeisterschaft in Kopenhagen, als er den ersten seiner fünf Titel in Folge gewonnen hat.

„Du hast das Bild auch?“

Ich muss aufpassen, nicht zu schreien. Meint er das ernst? Auch? Das ist alles, was ihm dazu einfällt? Das Bild haben wahrscheinlich alle seine Fans! Es ist das Bild, das für seine Autogrammkarten von 2012-2014 verwendet wurde. 2014 gab es wegen den Olympischen Winterspielen ein neues Motiv und die aktuelle Version seit Weltmeistertitel Nummer 5 ist ohne Foto, dafür aber mit dem Design seines Outfits zu Stammi Vicino, das er auch als Handyhülle hat.

Aber plötzlich hängen meine Gedanken in einem Vakuum fest. Ich hoffe doch stark, dass Viktors spontane Abreise nach Hasetsu nicht der Grund ist, warum es derzeit kein Foto auf den neuen Karten gibt und man auf das Kostümdesign zurückgegriffen hat...

Ich kneife die Augen zusammen, verdränge die Möglichkeit und wende mich wieder Viktor zu, der das Bild gerade aus dem Karton genommen hat und wieder sich selbst ansieht, diesmal ein Portrait. Es ist das Cover einer Zeitschrift mit einem Sonderartikel, nachdem Viktor den vierfachen Rittberger gemeistert hatte und seither in seinem Repertoire über alle derzeit möglichen Vierfachsprünge verfügt. Das Foto vom Cover war als Beigabe enthalten und die Zeitschrift dazu muss irgendwo noch weiter unten im Karton sein.

„Das hattest du aufgehängt?!“, ruft er entsetzt und deutet auf die Reste der Tesafilmstreifen an den Ecken. „Yuuri! Das Foto ist fürchterlich!“

„Warum?“, frage ich platt.

„Ich seh' doof aus auf Frontalbildern!“, beschwert er sich und ich fange an zu lachen. Als ob er aus irgendeinem Winkel doof aussehen könnte.

„Schau' weiter“, wiederhole ich. Viktor schlägt das Bild um und sieht das nächste. Er blättert zum Nächsten. Und noch eins weiter. Es kommt die erste Zeitschrift. Dann lässt er alles zurückfallen und starrt auf den Karton.

„Yuuri... sind das alles...?“

„Ja.“

Es entsteht eine Pause zwischen uns. Sie ist nicht unangenehm und das Gesicht, das Viktor zieht, weil er gerade begriffen hat, dass das ein Karton voller Viktor ist, der vor ihm steht, ist zu niedlich, aber irgendwie sieht er gleichzeitig auch hilflos irritiert darüber aus.

„Ich hätte dir das vielleicht schon früher zeigen sollen...“, beginne ich unsicher.

„Yuuri, darf ich das anschauen?“, fragt er und deutet auf den Karton, als hätte er ihn jetzt erst richtig bemerkt.

„Viktor, das sind alles Artikel über dich. Da wird nichts dabei sein, was ein Geheimnis wäre, oder?“

„Aber das ist das, was dir wichtig war...!“, ereifert er sich aufgebracht. „Was dich bewegt hat...! Was dich,“ seine Stimme wird leiser, „begeistert hat...und...“ er bricht ab, senkt den Kopf und streckt beide Arme nach mir aus. „Yuuri...?“

Ich weiß nicht, was gerade mit ihm los ist, aber ich krabbele zurück auf meinen Platz neben ihm und sofort hat er mich umarmt und drückt mich an sich.

„Danke, Yuuri.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Misosuppe = Suppe aus fermentierter Bohnenpaste.
Wakame = Eine Art Grünalgen.
Black Opium = Ich habe Beschreibungen von Viktors Parfum aus den 4-DX-Vorstellungen gelesen und bin damit im Hinterkopf in die Parfümerie gegangen. Es war definitiv kein Herrenduft beschrieben worden, also ging ich direkt zu den Damen und noch bevor ich es gerochen hatte, war es eigentlich schon entschieden. Gesehen und fertig. Dass es wirklich noch auf die Beschreibungen gepasst hat... Jackpot! XD

Odette = Die Vergangenheit des „Agape“-Kostüms (2002/2003). Meine süße, kleine Odette. Kam neugierig zu mir geschwommen und wollte einfach nur lieb gehabt werden.
Lestat = Die Vergangenheit des „Eros“-Kostüms (2004/2005). Dieser Rotzlöffel-Vampir. Was könnt' ich ihm die Ohren lang ziehen, dass es so lange gedauert hat, ihn aus seinem Versteck zu locken...
Fighter = Viktors Kür während „Die Sache mit Michal“ (2007/2008).

Und als letztes: Schafe. Ja, Schafe XD (Siehe "2nd Season: Russian Diaries" Kapitel 4 als Referenz.) Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  --lina--
2018-02-04T19:52:32+00:00 04.02.2018 20:52
Jelena, die Frau muss man einfach lieben, ich grinse immer noch doof vor mich her und bin einfach nur happy, dass es sie gibt.

Und da ist er wieder: VIKTORS HINTERN!
Hach ich bin hin und weg :'D

Yuuris dummes Gesicht bei den Schafen kann ich mir nur zu gut vorstellen, aber du hast recht, es passt einfach zu gut :D
Ein so schönes Kapitel!! Ich grinse immer noch dämlich.
Ein gelungener Sonntag Abend <3
Antwort von:  Flokati
04.02.2018 21:04
Vielen Dank wieder für den Kommi <3
Und was hab ich mit dem Hintern nur angerichtet...? XD


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