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Die Chroniken der Vier Jahreszeiten

Winters Passion
von

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Sommer II

Sobald die Tür ins Schloss gefallen war, atmete der Wächter erleichtert auf. Jede weitere Minute in diesem Zimmer hätte nur das Eis zu seinen Füßen zum schmelzen gebracht - dessen war er sich sicher.
 

Es folgte ein schmieriges Grinsen, das er seit seinem Vorsprechen zurückgehalten hatte. Kurz drückte er seinen Rücken an die Tür, ließ die Muskeln entspannen und sah hinauf zur Decke.
 

Endlich hatte er eine Aufgabe gefunden, die ihn schon bald an die Spitze der Winterwächter bringen sollte. Lange hatte er dafür ausharren müssen. Seit er seinen einstigen Kontrahenten, den ehemaligen Prinzen Hellborus, aus dem Weg geräumt hatte, hoffte er darauf, dessen Platz einnehmen zu können. Trotz seiner Bemühungen war er damals nicht zum ersten Winterwächter ernannt worden. König Asparagos gewährte ihm den zweiten Platz - womit sich der schmächtige Winterling nicht zufrieden geben wollte. Schließlich war er es gewesen, der den Skandal entdeckt und den Verräter entlarvt hatte. Stipan hatte erwartet, dass ihm seine Heldentat gebührend entlohnt würde, doch der Winterkönig hatte ihm eine Stellung am äußersten Rand der Wächterschaft gewährt. Einen Platz, der seiner nicht würdig war.
 

Langsam setzte er sich in Bewegung. Die Kapuze über den Kopf geworfen spielte er den folgsamen Wächter - eine Rolle, die ihm nur wenig zusagte, und nur der Notwendigkeit geschuldet war, welche seine Stellung von ihm verlangte.

Seine Schritte klapperten über den gläsernen Boden des Palastes. Er nahm an Tempo zu. Er konnte einfach nicht anders; so schwer fiel es ihm, die Aufregung zu unterdrücken. Noch war niemand auf den Gängen, dass keinem sein unangebrachtes Verhalten weiter auffiel. Bis auf eine handvoll Soldaten, die an den entsprechenden Türen Wache schoben und kein Interesse an einem kleinen, schmächtigen Wicht wie ihm hatten, schlief die gesamte königliche Familie ihren erhabenen, königlichen Schlaf. Seine Blicke huschten zu den einzelnen Bereichen. Gerne würde er den Palast sein Zuhause nennen. Mit seiner einzigen Tochter hatte er manchmal die stille Hoffnung, der junge Prinz würde eines Tages Gefallen an ihr finden. Prinz Tyledion zeigte jedoch keinerlei Interesse an der jungen Blüte und Erika selbst war viel zu ungeschickt in ihrem Bestreben, dem Thronerben zu imponieren.
 

Durch die kristallklaren Flure ging es direkt in den Innenhof. Dort deutete die Morgenröte den bevorstehenden Tag an, dass die schlichten Gärten des Winterpalastes darunter verborgen blieben. Stipan beeilte sich aus dem Palast zu kommen. Durch eine kleine Tür, die versteckt in einem der vielen Winkel der umliegenden Eismauern geritzt worden war, gelangte er schließlich nach draußen. Eine lange schmale Brücke aus Eis- und Tannenzapfen trennte den Winterpalast von den restlichen Bewohnern des Reiches, die lediglich zur Wintersonnenwende das Recht erlangten, diese zu überqueren, um die Königsfamilie und deren Herrschaftlichkeit bestaunen zu dürfen.
 

Nebel - geformt aus kaltem Hauch der Wintermagie - umhüllte den Pfad der Brücke, dass er nie die Sonne erblickte. Dahinter endete der ewige Winter, den der Königspalast seit Jahrtausenden aufrecht erhielt. Das gesamte Reich hingegen war wie der Rest der Erde von König Gingkos Magie geküsst worden - so wie es Mutter Erdes Wunsch entsprach.

Der Winterwächter sprang von der Brücke, dass er auf kahlem Gestein landete. Seine Augen fixierten den Boden, dann streckte er den rechten Arm aus. "Kommt, meine Freunde", flüsterte er, dass ein blauer Faden aus seinen Handfläche hinaus trat. "Es wartet Arbeit auf euch", das Licht erlosch. Stattdessen begannen aus dem Boden Schatten hinaus zu treten. Im Schutze der dunklen Ecken, welche ihnen die Brücke bot, erhoben sich die Schatten, nahmen Gestalt an, dass sie wie schwarze, nichtssagende Gesichtslose erschienen, die sich vor ihren Schöpfer stellten und auf dessen Anweisungen warteten. "Ihr habt mir schon einmal treue Dienste erwiesen. Ich erwarte viel von euch." Mit einem weiteren Hauch Wintermagie flößte er ihnen Befehle durch den Körper, dass sie sich sogleich in die Dunkelheit zurück zogen. Zufrieden sah der Wächter seinen Geschöpfen hinterher. Jetzt brauchte er nur noch zu warten und den Dingen seinen Lauf zu lassen. Er rieb sich zufrieden die Hände, hüpfte wie ein junges Wiesenkind auf die Brücke und wanderte dem Sonnenaufgang entgegen.
 

_______
 

Im Sommerreich reckten sich ebenfalls die Lichter des Morgens. Die Sonne hatte erst vor einigen Augenschlägen damit begonnen, ihren Pflichten nachzukommen, als Prinzessin Myoso bereits aus den Gemächern schritt. Den Flur entlang, der am Morgen so ruhig erscheinen konnte, dass Einsamkeit wie ein wandelnder Begleiter erschien, blickte sie auf die Türen, die sich ihr nacheinander offenbarten: Da gab es die Gemächer ihrer Geschwister, deren Holz Malwen und Blaugras zierte, und einen winzigen Spalt offen standen, damit die Jüngsten ruhig schlafen konnten. Manchmal jedoch schlichen sich die Wiesenkinder ganz leise aus ihrem Kämmerlein, klopften an Myosos Zimmertür und schlüpften in die flauschigen Baumwolldecken ihrer großen Schwester. Besonders Cynos liebte es, den Kopf auf Myosos Schoß zu betten und sich in die wärmende Kuhle der Älteren zu vergraben - so wie er einst im Schoße der Mutter geruht hatte. Kleiner Cynos - spielte ihr Bruder gerne den großen Sturkopf, der die Älteren davon zu überzeugen versuchte, aus dem Wiesenkindalter entwachsen zu sein, war er es doch, dem die Wärme seiner Mutter am meisten fehlte. Dessen Blicke in die Ferne gingen, sobald er die anderen Wiesenkinder mit ihren Müttern sah. Wie sie händchenhaltend Blumen pflückten oder Wasser von den Bächen schöpften - dann leuchteten seine Augen im blassen Blau der Erinnerungen.

War Malwa damals noch eine winzige Knospe am Ast des Lebensbaumes gewesen als Königin Lilith zu Mutter Erde zurückgekehrt war, dass sie nur von Bildern wusste, wie die Sommerkönigin ausgesehen hatte, konnte sich der Mittlere der drei Geschwister sehr gut an ihre warmherzigen Seelenspiegel erinnern - und daran, wie liebevoll sie ihn immer angesehen hatte. Ihren kleinen Prinzen. Nur sie hatte ihn so nennen dürfen. Ohne es auszusprechen, wusste Myoso um die Sehnsucht seines Bruders. Es schmerzte sie, sein Leiden nicht lindern zu können. Niemand wäre dazu fähig. Daran konnte auch ihre Tante, als streng liebevoller Ersatz, nichts ändern.

Wie sehr konnte die Sommerprinzessin mit dem kleinen Prinzen fühlen! Vermisste sie Königin Lilith tagtäglich, dass nur die Fürsorge der Geschwister ihr genug Kraft gab, die Trauer im Zaum zu halten. Hatte sie doch einst von ihrem Vater gelernt, dass die Toten nicht betrauert werden durften. "Es sind die Lebenden, die unserer Aufmerksamkeit bedürfen."
 

Myoso schaute zwischen den Spalt des ersten Kämmerleins. Es brauchte keine geschärften Blicke, um zu erkennen, dass Malwa und Cynos längst reißaus genommen hatten (was am ersten Sommermorgen recht ungewöhnlich erschien). Um die Tür der jüngsten Prinzessin wehte beschwingt die frische Morgenluft, dass sie sich weiter auftat und den Blick auf das leere Zimmer offenbarte. Und Cynos? Die aufgeregte Stimme des kleinen Sommerprinzen hätte er niemals unterdrücken können - nicht heute, wo es so viel für die Sommerlinge zu tun gab, dass der junge Prinz sich am liebsten unters Volk gemischt hätte, wenn ihm König Gingko nicht erst gestern die Leviten gelesen hätte.

Wo können sie nur stecken, fragte sich die Prinzessin und zog beide Türen zu sich heran.
 

Eigentlich waren die Wiesenkinder des Königs am allerersten Sommermorgen so beschwingt, dass an den Wänden die Efeuranken zu ihren Tönen mit vibrierten. Nie schliefen sie länger als die Finsternis der Nacht es ihnen vorschrieb, dass der erste Sonnenstrahl ihre aufgeregten Stimmen auffing. Myoso lächelte. Dass sie nicht hier waren, konnte nur bedeuten, dass sie durch die hinteren Hallen des Palastes flitzten und die anderen Wiesenkinder zu einem Versteckspiel eingeladen hatten, dem ihre Tante sofort Einhalt gebot, sobald der Tag angebrochen wäre.
 

Vor jener Tür stehend, welche in die Räumlichkeiten der Königsschwester führte, hielt Myoso inne und lauschte an dem bleichen Holz. Doch es offenbarte sich ihr nur Stille. Darum klopfte sie zaghaft und fragte vorsichtig an. Wieder blieb es still. Myoso konnte es sich nicht erklären. Sonst war ihre Tante bereits mit den Vorbereitungen der ersten Unterrichtsstunde beschäftigt, dass man das Umschlagen der Bücher und Rascheln der Pergamentrollen aus ihrem Zimmer hören konnte. Seltsam, dachte die Sommerprinzessin, welcher das Verhalten ihrer Tante schon gestern Abend seltsam vorgekommen war. Während der Sommersonnenwende schien Pensea kaum ansprechbar gewesen zu sein. Als beschäftigte sie etwas. So geistesabwesend kannte Myoso ihre Tante nicht. Stets war sie der klare Kopf des Königs, Repräsentant der streng Konservativen des Sommerreiches. Für Pensea gab es keine Träumereien, die sie auch bei ihren Ziehkindern nur in Maßen duldete.
 

Die Sommerprinzessin wandte sich von der Tür ab und lief weiter. Allmählich rannte die Zeit. Hatte sie doch ein Versprechen einzulösen, dem sie sich noch vor dem Frühstück widmen wollte. Das war sie den Pflanzen schuldig - gerade dann, wenn der Sommer die Erde regierte. Also eilte sie aus dem Sommerpalast. Durch den Hintereingang, in Richtung des Baches, welcher ihr innerstes Leuchten an die letzten vergangenen Stunden erinnern ließ. Ihre Wangen erstrahlten wie frisch gepflückte Kirschen, dass die müden Augen nicht weiter auffielen. Ihre Empfindungen drohten über zu schäumen. Eine Hand auf die glühende Stelle gelegt ermahnte sie sich zur Ruhe. Sie atmete in tiefen Zügen und sah hinauf in den Himmel. Keine einzige Wolke hatte sich am Horizont erhoben, dass die Sonne bald in ihrer gesamten Schönheit erstrahlen sollte. Die Sommerprinzessin senkte lächelnd ihr Haupt und begrüßte die Morgenröte.

Gerade als sie ihren Weg Richtung Glockenblumenfeld fortsetzen wollte, erblickte sie ihre Tante zwischen den langen, herunterhängenden Ästen des Lebensbaumes. Aus der Ferne schien es als starrte Pensea zwischen die Knospen hindurch. So früh hatte die junge Prinzessin ihre Tante noch nie vor dem Baum des Lebens wachen sehen. Ihre Pflichten nahm die Königsschwester stets nach dem Unterricht auf, wenn Cynos und Malwa die Studien auf den Wiesen des neutralen Gebietes fortzusetzen hatten. Dann hatte sie die nötige Ruhe, sich ganz den frischen Knospen zu widmen, ihnen die Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen, die sie so dringend brauchten.
 

"Tante", hauchte Myoso und lief langsam auf den Lebensbaum zu. Pensea schien die junge Sommerprinzessin erst gar nicht bemerkt zu haben. Erst als Myoso dicht bei ihr stand und einen guten Morgen wünschte, zuckte sie kurz zusammen, bevor sie damit anfing, die Bänder der Feierlichkeiten von den Ästen zu ziehen. Eigentlich bedurfte es keiner helfenden Hand - bloß einen Hauch Magie, der die Bänder in Luft aufzulösen vermochte. Aber Myoso wusste, dass sie ihre Tante nicht daran zu erinnern brauchte. Darum ergriff die Prinzessin die Gelegenheit, gesellte sich hinzu und pflückte Band für Band von den Ästen. Dabei würdigte Pensea ihr keines Blickes. Nicht aus Ignoranz - viel mehr als hielte sie ihre Nichte für eine Illusion. Es gab keine Tadelungen für Myosos unangemeldeten Ausgang. Kein erinnern, an die königlichen Pflichten. Nicht einmal der strenge Blick zierte ihr Gesicht. Was hatte ihrer Tante bloß so missfallen, dass sie aus ihrer klassischen Rolle entwichen war?
 

Die bunten Stücke zur Hand knotete sie diese zusammen bis sie eine lange Kette bildeten. Sie dachte an den gestrigen Abend. Daran wie fröhlich alle gewesen waren. Es wurde so viel gelacht und getanzt wie seit Jahren nicht mehr. Noch nie hatte Myoso die Vertreter der vier Jahreszeiten so ungezwungen erlebt. Sogar der Herbstkönig hatte heiter mit der Königin des Frühlings geplaudert. Die distanzieren Erben Autunis' zeigten nur selten vor Außenstehenden ihr wahres Gesicht. Doch diesmal hatten selbst Asteros und seine Braut ein feuriges Grinsen auf den Lippen, als sie vor dem Abschied noch ein letztes Mal über den Hügel geschwebt waren. Um den Tanzkreis hatten die Winterkönigin und ihr Adel mit ihren behandschuhten Händen zum Rhythmus der Sommermelodie geklatscht. Wenn ihre Bewegungen steif waren, verstand die junge Sommerprinzessin doch die Symbolik dahinter. Die Erinnerungen ließen die Wärme in Myosos Brust erneut aufleben, dass sie zwei Bänder gleichzeitig ergriff - hoffend, die Unruhe in ihrem Innersten bändigen zu können. "Von allen Sommersonnenwenden", sagte sie, wobei ihr Leuchten in ruhigeren Bahnen erstrahlte, "war diese die schönste - findest du nicht auch, Tante?" Myoso drehte den Kopf zu Pensea, die nicht in ihrer Arbeit pausierte. Als sie sicher sein konnte, dass ihre Tante keine Antwort geben würde, versuchte Myoso erneut, die drückende Stille zu durchbrechen: "Asteros'... ich meine natürlich König Asteros' Braut sah einfach wunderschön aus", ihr Blick senkte sich, "besonders als sie den Segen in sich aufgenommen hat. Das muss ein ergreifendes Gefühl gewesen sein - wenn alle vier Mächte durch einen durch fließen." Myoso drehte die Bänder in ihrer Handfläche: "Wie es wohl damals gewesen sein musste-" Neben ihr hielt Pensea inne.

"Vater meinte, dass zur letzten gemeinsamen Sommersonnenwende die Hochzeit des Winterkönigspaares stattgefunden hatte." Behutsam verknotete Myoso die Bänder ineinander. "Stimmt es, dass Königin Cyclas Erscheinung kaum zu übertreffen gewesen war?"

"Von allen Erinnerungen", entgegnete Pensea mit trockener Stimme, "fragst du mich gerade nach dieser", sie zerknüllte eines der dunkelblauen Bänder. "Myoso", sprach ihre Tante und sah sie strengen Blickes an, "es ist an der Zeit, dich von deinen blauäugigen Vorstellungen einer friedvoll vereinten Welt zu verabschieden."

"Aber Tante-"

"Nein! Du hörst mir jetzt zu! Wenn die Vergangenheit eines gelehrt hat, dann dass die Keime des Friedens nichts weiter als ein Hirngespinst der eigenen naiven Träume sind. Zu glauben, dass sich in den letzten siebzehn Jahren irgendetwas geändert hätte-", sie stockte und schüttelte den Kopf, "es ist besser, du erfährst es auf diese Weise. Als Prinzessin unseres Reiches solltest du klug genug sein zu verstehen, dass unsere Welt nicht so funktioniert, wie du es gerne hättest. Am Ende wirst du nur enttäuscht."

"Das glaube ich nicht", hauchte Myoso und presste die Bänder an ihre Brust.

"Du bist jung", entgegnete ihre Tante als akzeptierte sie diese Entschuldigung nicht, "du weißt nichts von der Vergangenheit. Du weißt nichts über sie. Was sie getan haben - nur um ihre eigenen Fehler zu verschleiern. Dieser egoistische-." Grelle Funken traten zwischen ihre Faust. Das Band begann in Flammen aufzugehen. Kleine Schnipsel flogen durch die Luft, ehe sie sich im Himmel verflüchtigten. Die Prinzessin erschrak ob des plötzlichen Ausbruchs ihrer Tante.

"Es tut mir leid, dass du so denkst", entgegnete Myoso traurig.

Mit leerem Blick sah Pensea hinauf zur Baumkrone: "Die Morgenröte neigt sich dem Ende. Du solltest dich langsam auf den Sommermarsch der jungen Blüten vorbereiten." Damit winkte Pensea in Myosos Richtung. Der jungen Prinzessin fiel es schwer, ihre Tante zu verlassen, die ihren Blick noch immer nach oben gerichtet hielt. Nur der Ausdruck ihrer Augen hinderte Myoso daran, ihr zu widersprechen. Aus irgendeinem Grund wollte sie alleine sein, und Myoso musste diesem Wunsch nachkommen.

Leicht neigte sie ihr Haupt zum Abschied. Die Bänder zur Hand kehrte sie schließlich dem Baum des Lebens den Rücken zu und lief weiter. Sanft strich eine Brise durch die Grashalme - die letzte für diesen Tag. Myoso beobachtete die seichten Schwingungen. Sie dachte an Penseas Worte. So schwer sie diese getroffen hatten, konnte sie ihnen keinen Glauben schenken. Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft konnte und wollte sie nicht verlieren. Ebensowenig an eine Zukunft des Friedens und der Einigkeit.
 

"Welch trüben Gedanken verderben dir den Morgen?", sprach eine Stimme nicht weit von ihr. Myosos Gesicht erhellte sich.

"Guten Morgen, Vater", begrüßte sie den König, der gerade seinen allsommerlichen Begrüßungsspaziergang durch das Reich beendete. Seine Aufmachung war noch dieselbe wie am Abend, dass einzelne Farbkleckse an die gestrige Feierlichkeit erinnerten. Der Sommerstab ruhte in seiner rechten Hand, dass die Sonnenkugel gen Boden gerichtet war. Die letzten Funken Magie sprossen aus ihm - Halme begannen sich daraufhin zu recken als streckten sie ihre Fühler nach dem Sommerkönig aus.

Eilig kam Myoso ihrem Vater entgegen: "Ich war nicht betrübt, Vater", schüttelte sie mit dem Kopf, "nur etwas in Sorge." Dabei deutete sie auf den Lebensbaum weit hinter sich. "Unsere Tante...sie ist heute so verändert. Verbittert und traurig zugleich, dass ich es nicht verstehe. So habe ich sie noch nie erlebt." Die junge Prinzessin sah ratlos zu ihrem Vater hinauf. "Wieso hat sie kein Vertrauen in die Zukunft?"

"Gib' ihr etwas Zeit", antwortete dieser, "die Nacht war schwer für sie." König Gingko ließ den Stab aus seiner Hand verschwinden, dass die Gräser zu ihrer Ursprungsform zurück schrumpften. Die wissenden Augen des Königs sahen zu seiner Schwester, welche stoisch ihrer Arbeit nachkam. Auch Myoso sah in die Richtung: "Was bedeutet das, Vater?" Daraufhin griff er die Sommerprinzessin an ihrer Schulter und führte sie behutsam aus dem Sichtfeld seiner Schwester.

"Es ist wegen Winso."

"Winso?"

Ihr Vater nickte. "Damals, vor siebzehn Jahren, als dieser...Skandal aufgeflogen ist. Deine Tante war die erste, die davon wusste. Wächterin Hedera vertraute sich ihr an. Die beiden standen sich früher sehr nahe. Pensea versprach, keinem davon zu erzählen und sich um die frische Knospe zu kümmern. Und tatsächlich: Sie hat mit niemandem darüber gesprochen. Nicht einmal ich wusste davon."

"Aber der Lebensbaum", entgegnete Myoso, denn sie wusste, dass der Baum einst unter Königin Liliths Obhut gestanden hatte. Ihre Mutter hätte etwas bemerkt haben müssen. Irgendeine Veränderungen in den Blütenblättern, ein Farbwechsel in der Knospe - irgendetwas.

"Die Zeiten waren...schwierig", erwiderte König Gingko, "schon damals hat Pensea deiner Mutter unter die Arme gegriffen. Es war ganz natürlich, dass sie immer in seiner Nähe war. Sicher wird sie alles getan haben, um die Identität des Kindes zu verbergen", er unterdrückte einen Seufzer, "wie du weißt, flog ihr Geheimnis letztendlich auf. Jemand musste von dem Kind gewusst haben. Die Delegation des Winterreiches stand sehr bald vor den Palasttoren. Ganz vorne König Asparagos. Er forderte die Auslieferung Winsos."

"Und du hast seinen Forderungen Folge geleistet", fügte Myoso betrübt hinzu.

"Das nimmt sie mir noch heute übel", König Gingko lächelte schwach und richtete seinen Blick wieder nach vorne, "aber die Umstände ließen mir keine Wahl. Auf beiden Seiten herrschte eine gefährliche Stimmung. Das Wintervolk fasste die Ereignisse als Beleidigung ihrer Abstammung auf, während die Sommerlinge die Schuld bei der winterlichen Königsfamilie suchten. Der Konflikt drohte zu eskalieren. Die Übergabe des Mischlings war damals die einzige Möglichkeit, einen drohenden Krieg zu verhindern. Ich weiß, der Winterkönig hätte die Ablehnung dafür genutzt, seine Armee zu mobilisieren und die südlichen Grenzen anzugreifen. Das konnte ich nicht zulassen."

"Nein", flüsterte Myoso.

"Deine Tante - sie hat sich vehement dagegen gewehrt. Hat das Kind gepackt und wollte es nicht hergeben. Nicht, dass ich sie nicht verstanden hätte. Seit der Mischling am Baum des Lebens hing, hatte sie sich um ihn gekümmert. Er war der Sohn, den sie nie haben konnte."

"Tante hat nie geheiratet", bemerkte die junge Sommerprinzessin.

"Ihr Verlobter erkrankte sehr früh. Danach hatte sie nie wieder heiraten wollen."

"Und nie eigene Kinder haben können."

"Winso zu verlieren - damit hatte sie viele Jahre zu kämpfen gehabt."

"Was war mit Großcousine Hedera? Sie wollte doch sicher auch nicht ihr Kind verlieren."

"Sicher. Sie wusste aber auch, dass sie keine andere Wahl hatte. Als Wächterin ist es ihre oberste Pflicht neutral zu bleiben."

"Selbst wenn es um ihr eigenes Kind geht."

"Auch dann. Sie wusste, worauf sie sich eingelassen hatte. Dafür hat sie die Konsequenzen tragen müssen. Ich weiß, dass es dir hart vorkommen muss, Myoso. Aber so sind nun einmal die Gesetze. Glaube mir, ich wünschte, es hätte einen anderen Weg gegeben." Der König blieb stehen. "Und vielleicht können wir in Zukunft Schicksale wie diese vermeiden. Wenn wir alle nicht nur in Frieden leben könnten. Sondern auch in Harmonie und Freundschaft. Myoso, es liegt in den Händen eurer Generation, den Frieden zu wahren. Die Aufgabe meiner Generation ist es, euch auf diesen Weg zu leiten. Darum habe ich die drei Reiche zu uns eingeladen. Darum wollte ich Frühling, Sommer, Herbst und Winter vereint sehen. Damit ihr Kinder lernt, ohne Hass und Zwietracht aufzuwachsen. Ich weiß, du denkst genauso wie ich. Doch geht es um alle; die Wiesenkinder, Malwa, und ganz besonders Cynos. Sie können es nur dann besser machen, wenn wir mit gutem Beispiel voranschreiten. Ich hoffe, dass ich euch genug mit auf dem Weg geben kann, damit euer Leuchten einmal heller erstrahlen wird als jeder einzelne davor es jemals konnte."

"Das tust du, Vater", entgegnete Myoso und faltete die Hände vor der Brust. Voller Entschlossenheit erwiderte sie seinen eindringlichen Blick. "Und ich will alles dafür tun, damit diese Zukunft eines Tages zu unserer Gegenwart wird."



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