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Die Chroniken der Vier Jahreszeiten

Winters Passion
von

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Mutters letzter Wunsch

Vor langer Zeit schickte Mutter Erde ihre einzigen Söhne auf den blauen Planeten, damit sie wachsen und stark würden. Doch die vier Brüder fürchteten diesen neuen fremden Ort. Sie sehnten sich nach der Wärme und Geborgenheit ihrer Mutter. Als eines Tages ein heftiger Sturm zu wüten begann, hatten die jungen Söhne solch große Angst, dass sie nicht mehr aufeinander achteten. Sie flohen so schnell sie konnten und suchten einen Unterschlupf.

Der jüngste Sohn stellte sich unter eine Tulpe. Dort hatte sich ein Tautropfen an den Kelchblättern verfangen: "Kleine Knospe, Sohn Mutter Erdes", sprach der Tautropfen und fiel hinab auf den Boden, "fürchte dich nicht länger vor dem Wind. Ich will dir Schutz in meiner Blase geben." So schlüpfte der Jüngste in den Tautropfen, dass er sich wie ein Ballon um die kleine Knospe legte.

Der zweite Sohn fand einen Baum, dessen Blätter wie wild durch die Luft wirbelten. "Kleine Knospe, Sohn Mutter Erdes-", sagte eines der Laubblätter und fiel neben den Sohn, "fürchte nicht länger den Wind. Ich will dir Schutz unter meiner Hülle geben." Und der zweite Sohn kroch unter das Laubblatt und war nun sicher vor dem Wind.

Den dritten Sohn hielt die Sonne auf: "Kleine Knospe, Sohn Mutter Erdes, fürchte dich nicht länger vor dem Wind. Klettere auf den höchsten Berg. Dort werden dich meine kräftigen Strahlen schützen." Also kletterte der junge Sohn bis auf die Spitze des höchsten Berges. Und die langen Strahlen der Sonne schienen auf ihn herab, dass er vor dem peitschenden Wind sicher war.

Der älteste Sohn fand schließlich eine schneebedeckte Wiese. "Kleine Knospe, Sohn Mutter Erdes", sprach eine Schneeflocke und näherte sich tänzelnd dem Ältesten, "fürchte nicht länger den Wind. Kriech' durch meine Brüder hindurch, dann bist du sicher." Der Sohn tat wie ihm geheißen und kroch in den Schnee, dass er zufrieden knackste.

Nun waren alle vier Sohne sicher vor dem Wind.

Als der nächste Tag anbrach, kam Mutter Erde hinaufgestiegen. Sie sah ihren Jüngsten und freute sich: "Anox, weil dich der Tautropfen vor dem Wind beschützt hat, will ich dir die Macht des Frühlings geben. Deine Kraft soll den Boden düngen und die Pflanzen nähren. Durch dich soll alles Leben beginnen und wachsen. Regen soll dein Weggefährte sein." Grünes Licht umfing den jüngsten Sohn. Er entwuchs dem Tautropfen. streckte sich und empfing die Wärme des grünen Lichts. "Hab Dank, liebe Mutter", er tat eine tiefe Verbeugung.

Mutter Erde zog weiter. Ihren zweiten Sohn fand sie schlafend unter einem der Laubblätter. Sie freute sich: "Autunis, weil dir das Laubblatt geholfen hat, will ich dir die Macht des Herbstes geben. Deine Kraft soll die Blätter von den Bäumen reißen und das Land mit einem rotbraunen Teppich bedecken. Blitz und Donner soll deine Gefährten sein." Und ein rotes Licht legte sich um den Sohn, dass er die Augen öffnete und unter dem Blatt hervorkroch. Er streckte sich und fiel der Mutter dankend in die Arme.

Mutter Erde setzte ihre Reise fort. Sie kam zu den Gebirgen und auf dem höchsten Berg erblickte sie ihren Sohn. Er lag warm und geborgen in den Strahlen der Mittagssonne. Das freute Mutter Erde: "Aestos", sprach sie, "weil dir die Sonne Schutz geboten hat, will ich dir die Macht des Sommers geben. Deine Kraft soll die Knospen zum Erblühen bringen und die letzten finsteren Wolken vom Himmel vertreiben Mit deiner Wärme sollst du jedes Eis zum Schmelzen bringen. Licht soll dein Weggefährte sein." Mutter Erde sandte ein goldenes Licht, dass den Sohn vollständig umschloss. Er erhob sich und tat eine tiefe Verbeugung.

Den ältesten Sohn fand Mutter Erde tief vergraben in einer Schneedecke. Der Älteste blinzelte als er seine Mutter sah. "Hiemes, weil du Schutz unter diesen Schneeflocken fandest, will ich dir die Macht des Winters geben. Deine Kraft soll die Natur in einen Schlaf hüllen und zur Ruhe kommen lassen. Eis und Schnee sollen deine Weggefährten sein." Und Mutter Erde schickte ein blaues Licht zu ihrem ältesten Sohn, dass er aus dem Schnee hervorlugte, sich streckte und das Licht in sich aufnahm. Er bedankte sich und Mutter Erde nickte erhaben: "Nun suche deine Brüder auf und forme gemeinsam mit ihnen eine einzigartige Welt, in denen Frühling, Sommer, Herbst und Winter Hand in Hand gehen. Dies ist mein letzter Wunsch, bevor ich euch verlasse." Der Älteste nickte. Mutter Erde war zufrieden und verließ ihre Kinder, denn sie waren nun groß und stark.

Hiemes folgte der Bitte der Mutter und versammelte seine jüngeren Brüder um sich. Er berichtete von Mutter Erdes letztem Wunsch. Die Brüder überlegten, was zu tun war. Sie beschlossen ihre Arbeit in gleichen Stücken aufzuteilen: Den Anfang machte Anox. Er brachte den Frühling. Der Boden spaltete sich, Bäume und Pflanzen begannen zu sprießen. Regen kam über die Länder. Samen keimten auf und ließen kleine Halme emporsteigen. Wenn die Sonne am höchsten stand und die Nächte am kürzesten waren, legte Anoxs seine Arbeit nieder und reichte sie seinem Bruder Aestos weiter. Es wurde Sommer. Er vertrieb die dunklen Wolken und ließ die Sonne über den ganzen Planeten scheinen. Blumen öffneten ihre Blüten und freute sich über die Wärme der Sonne. Erst wenn der Tag genauso lang wurde wie die Nacht, beendete der Bruder seine Arbeit. Dann kam der Herbst und Autunis färbte die Blätter bunt und ließ sie in der Luft tanzen. Gewitter, Sturm und Hagel halfen dabei. Eine rotbraune Blätterlandschaft legte sich über die ganze Welt. Wenn die längste Nacht hereinbrach, war seine Arbeit getan und der Älteste machte sich ans Werk. Hiemes rief den Winter herbei. Blättertanz und Sturmgetöse verschwanden. Er machte den Regen zu Schnee und Pfützen zu Eisbahnen. Die Natur war in einen Schneemantel gehüllt und ruhte sich aus. Waren Tag und Nacht wieder einander gleich, begann es erneut mit dem Frühling.

So behielten es die Brüder viele Jahre bei. Doch irgendwann wurde der Älteste - Hiemes - neidisch auf seinen jüngeren Bruder Aestos. Denn der Somme war es, der von allen geliebt wurde. So ging Hiemes zu den Pflanzen und fragte sie: "Warum liebt ihr den Sommer mehr als den Winter?" Die Pflanzen antworteten: "Der Sommer bringt unsere Blätter zum Strahlen und die Blüten zum Blühen. Aber den Winter, den fürchten wir. Die Kälte friert uns die Stiele ein und der Schnee ist uns eine schwere Last." Hiemes wurde wütend. Er ging zu den Bergen. Auch sie fragte er, warum sie den Sommer lieber mochten als den Winter. Sie antworteten: Der Sommer wärmt unsere Spitzen und hüllt uns in gleißendes Licht. Aber den Winter wollen wir nicht. Der Schnee lässt uns ganz und gar verschwinden." Der älteste Bruder wurde wütender. Er kam zu einem See. "Warum liebst du den Sommer?" Der See sagte: "Weil er mein Haupt zum Leuchten bringt und mich in Wärme eintaucht." "Und der Winter", wollte Hiemes wissen. "Brrr", machte der See und schlug Wellen, "der Winter ist so bitterkalt. Er friert mich ein und lässt mich bis auf den Grund erkalten. Nein, den Winter will ich nicht!"

Voller Wut lief Hiemes zu seinem Bruder. Er sah, dass ihn die Blumen anlächelten und die Bäume freudig ihre Äste sinken ließen. Hiemes wurde so wütend, dass er seine Macht auf seinen jüngeren Bruder richtete und ihn zu Eis erstarren ließ. Dann fror er die Seen zu. Die Berge hüllte er vollständig mit Schnee ein. Er ließ es über der ganzen Welt schneien, dass der Schnee die Blütenblätter zu Boden drückte. Die Welt war in Schnee und Eis gehüllt. Und die Sonne verschwand unter dunklen und schweren Wolken, die noch mehr Schnee und Eis schufen.

Die anderen beiden Brüder sahen, was der Älteste getan hatte. Aus Furcht, er könnte sie ebenfalls in Eisskulpturen verwandeln, flohen sie in die tiefste und dunkelste Höhle, die sie finden konnten.

So geschah es, dass Jahrhunderte lang der Winter auf der Erde Einzug hielt. Am Anfang freute sich Hiemes und bewunderte sein Werk. Doch bald fühlte er sich sehr einsam. Ihm fehlten seine Brüder. Er suchte nach Anox und Autunis. Aber er konnte sie nicht finden. Traurig betrachtete er die Eisfigur, die sein Bruder Aestos war. "Ach", seufzte er, "was habe ich nur getan. Mein Neid ließ mich Mutters letzten Wunsch verraten, meinen lieben Bruder zu Eis gefrieren. Die anderen hab ich vertrieben. Ich wünschte, ich könnte alles ungeschehen machen." Leider wusste Hiemes nicht, wie er Eis und Schnee wieder verschwinden lassen konnte. Er war doch der Winter und konnte nur Kälte erschaffen. Verzweifelt drückte er sich an seinen erstarrten Bruder. Tränen rannen ihm übers Gesicht. Er weinte bitterlich. Da verwandelte sich eine Träne in blaues Licht, das immer größer und größer wurde bis eine riesige daraus entstand. Diese Kugel stieg hoch in die Luft und nahm all die Kälte in sich auf. Der Himmel wurde klar. Schnee und Eis schmolzen. Bäche entstanden. Flüsse und Seen. Meere und Ozeane spalteten die Erde. Blumen streckten ihre Hälse und schüttelten sich den Schnee von den Schultern.

Anox und Autunis kamen aus ihrem Versteck. Sie sahen die Sonne, die Blumen und das fließende Wasser und freuten sich. Das Gras wurde grün, die Natur blühte auf. Die Pflanzen öffneten ihre Blütenblätter, ein Blumenteppich breitete sich auf de kahlen Landschaft aus.

"Bruder", rief Hiemes, als die Eishülle des Jüngeren sich löste. E weinte vor Freude, des Aestos war wohlauf. Doch er war auch beschämt. Er fiel vor seinem jüngeren Bruder auf die Knie. "Vergib' mir meinen Zorn. Vergib' meinen Neid. Ich war im Unrecht. Aber nun habe ich verstanden. Nun weiß ich, dass ich den Sommer brauche. Ohne die Sonne kann ich nicht sein und ohne dich will ich nicht sein. Bitte vergib' mir." Da schüttelte Aestos den Kopf. "Alles ist gut", er lächelte seinen Bruder an, "deine Liebe hat das Eis geschmolzen. Es gibt nichts zu vergeben. Auch ich will ohne dich nicht sein." Dann liefen sie zu ihren Brüdern. Gemeinsam schworen sie, einander niemals mehr zu zürnen. Sie ehrten Mutter Erdes Wunsch bis an ihr Lebensende.

Frühling I

Inmitten von Maiglöckchen, die zaghaft ihre Hälse gen Himmel ausstreckten, war die Prinzessin des Sommerreiches umringt von den Wiesenkindern desselbigen Reiches, die gespannt den Geschichten der Urahnen lauschten.

"Habt ihr noch fragen?" Als sie das Buch zuklappte, wedelte eifrig ein junger Sprössling mit der Hand. Mit einem sanften Lächeln nickte sie ihm zu.

"Prinzessin Myoso, warum war der Urvater nicht böse auf seinen Bruder?"

"Das liegt doch klar auf der Hand", stupste ihn ein junges Wiesenmädchen an und sah zu ihrer großen Schwester herüber, die das Ahnenbuch beiseite gelegt hatte und schweigend dem Geschehen freien Lauf ließ. Malwa (so hieß die jüngste der drei Geschwister) zupfte ihr gold-weißes Seidenkleid zurecht und fuhr fort: "Unser Urvater war viel zu schlau. Er wollte nicht, dass sein Bruder noch einmal denselben Fehler macht."

"Er hätte sich auch einfach rächen und ihn von der Sonne verbrennen lassen können." Die anderen Kinder nickten ihm zu, bevor sie ihre Köpfe zu Myoso drehten. Diese schüttelte den Kopf.

"Aestos liebte seinen Bruder. Er musste ihm nicht verzeihen, denn er wusste, warum sein älterer Bruder so gehandelt hatte. Genauso musste er keine Rache oder Bestrafung ausüben. Hiemes hat so viele Jahre einsam und allein leben müssen. Dies war bereits seine Strafe. Und ihr sollt wissen, dass Rache keine Lösung ist. Sie führt zu mehr Leid als dass sie Genugtuung bringt. Das haben die Urväter verstanden und weil sie ihre Unsterblichkeit für unser aller Leben ließen, müssen wir den letzten Wunsch von Mutter Erde weiterführen." Der kleine Junge spielte mit seinen blonden Locken und drückte sein Gesicht in die rechte Schulter. Daneben verschränkte Cynos - der einzige Sohn des Sommerkönigs - die Arme vor der Brust. Ihm brannten tausende Fragen auf den Lippen. Er streckte den Arm aus und rief: "Aber wenn wir doch alle die Kinder unseres Urvaters sind, wieso sehen wir dann nicht so aus wie sie." Malwa schlug sich die Hand vor die Stirn.

"Aber das tun wir doch, du Dummerchen." Cynos betrachtete seine Füße, die sommerbraune Haut seiner Arme und fasste sich an die blonde Wuschelmähne. Aus den Porträts im Schloss wusste er, dass Aestos im Vergleich zu ihm lediglich wie eine Schattierung aussah, die von goldenem Licht umrahmt wurde. Arme, Beine, Kopf und Oberkörper waren bloß angedeutet und schienen wie von Wurzeln getragen.

Myoso sah den tief versunkenen Blick ihres Bruders und legte die Hand auf ihre Brust.

"Malwa hat Recht. Tief in uns gleichen wir unserem Urvater. Wir bestehen alle aus einem Teil seines Lichts - die einen stärker, die anderen weniger. Dieses Licht, unser wahres Erscheinungsbild, tragen wir schützend in uns. Sie ist unsere Kraft, die uns ein langes Leben beschert solange wir sie nicht frei vollständig lassen."

"Was passiert, wenn wir sie freilassen?", Cynos war neugierig geworden und fragte sich, wie man diese Kraft freisetzen könnte. Seine große Schwester setzte zu einer Antwort an als sich hinter sie Lathyrus stellte. Der junge Mann, der aus einer Zweigfamilie des Sommerkönigshauses entsprang kam auf den Prinzen zu und hockte sich neben ihm.

"Wir wären unglaublich stark und würden noch vor Sonnenuntergang verblühen." Die Wiesenkinder zuckten zusammen. Auch Cynos erschreckte der Gedanke zu Erde zu zerfallen, noch bevor er König geworden war.

"Schlag dir den Gedanken aus dem Kopf", Lathyrus strich dem jungen Sprössling lächelnd durchs Haar, worauf die anderen Wiesenkinder zu kichern begannen. Beleidigt schnaubte der junge Prinz. Doch Lathyrus wusste, wie er die Laune des Kleinen bessern konnte. Er ballte die linke Hand zur Faust und streckte sie Cynos entgegen. Zwischen den Fingern drängte sich blauweißes Licht, das als Strahlen herausdrang. Langsam öffnete er die Hand und heraus flatterte ein kleines blau leuchtendes Wesen mit langen schmalen Fügeln und tänzelte um den jungen Prinzen, der begeistert in die Hände klatschte. Auch Malwa und die anderen Wiesenkinder sprangen entzückt auf und liefen dem blauen Licht hinterher, das mit schnellen Zügen die Flügel hoch und runter schlagen ließ, dass die Kinder Mühe hatten, dem kleinen Wesen zu folgen.

Während einige Kinder bereits aufgaben es zu schnappen, war Cynos wie wild darauf, es als erster in die Finger zu bekommen. Dabei rannte er ungeachtet durch eine Gruppe von ausgebildeten Herbstkindern hindurch und rannte beinahe einen erwachsenen Mann des Herbstreiches um, der ihn mit zugekniffenen Augen hinterherblickte. Cynos vergaß, dass er nicht im Sommerreich war, sondern auf neutralem Gebiet.
 

Nach dem vierten großen Krieg, der die halbe Erde in einen fahle Landschaft aus verdörrtem Holz und steilen Wüstenhängen verwandelt hatte, schlossen die Reiche Frieden miteinander. Jeder opferte ein Stück seines Territoriums, woraus das neutrale Gebiet entstand. Sie ernannten das Gebiet zu einem Ort der Lehre und des Wissens. Gemeinsam erbauten sie die große Bibliothek, in denen die Geschichten und Taten ihrer Ahnen in Büchern und Schriftrollen verewigt worden waren. Zwar stand das Betreten der großen Bibliothek nur den Königsfamilien zu, aber Myoso konnte nicht anders als ab und an daraus vorzulesen und ihr Wissen mit den Jüngsten zu teilen.
 

Cynos breitete seine Hand aus und spürte bereits die Flügel des blauen Wesens, als sogleich ein Lufthauch um seine Fingerspitzen wehte und es ihm aus der Hand entwischte. Schnell flüchtete es in Richtung der großen Bibliothek. Es steuerte direkt auf eine Eiche zu, in der Hoffnung sich zwischen den Ästen verstecken zu können.

"Du entwischst mir nicht", rief Cynos und beschleunigte seine Schritte. Abrupt blieb er stehen als sich von einer Sekunde auf die andere das leuchtende Wesen auflöste.

"Oh", Cynos steckte die Hände in die Hosen und strich mit dem Fuß über das feuchte Gras. Seine blauen Augen sahen zu dem jungen Mann aus dem Winterreich hinauf, der lässig an dem Stamm der Eiche lehnte und in sein Buch starrte. Als er den kleinen Sommerprinzen bemerkte, sah er zu ihm herunter. Cynos grübelte kurz, bevor er ein breites Grinsen aufsetzte: "Es ist alles gut. Es gibt nichts zu vergeben."

"Wie bitte?" Doch Cynos rannte bereits zurück zu seiner Gruppe. Der junge Mann klappte wieder sein Buch auf und vertiefte sich erneut in seine Lektüre, bevor er ein weiteres Mal gestört wurde.

"Was soll ich nur mit diesem Burschen anstellen", schimpfte ein Wintergelehrter und schüttelte mit dem Kopf. Seufzend schlug der junge Mann nun entgültig sein Buch zu.

"Was gibt es für ein Problem?", sagte er und kam auf den Gelehrten zu. Kleinlaut erwiderte dieser: "Oh, Prinz, ich hoffe ich habe dich nicht gestört."

"Schon in Ordnung", entgegnete Tyledion und verschränkte die Arme. Der Wintergelehrte wusste nicht, ob die plötzliche Unruhe durch das Erscheinen des Prinzen herrührte oder doch der Tatsache geschuldet war, dass Tyledion optisch gesehen die junge Version König Asparagos' war, der nach dem letzten großen Krieg als einer der gefürchtesten Herrscher galt. Und obwohl Tyledion nicht diesen eisigen und furcherregenden Blick besaß, wurde er von vielen mit seinem Vater gleichgesetzt.

"Es ist Winso", seufzte der Gelehrte und deutete auf den Braunhaarigen mit den strahlend blauen Augen, "es ist einfach sinnlos, mein Prinz. Ich kann ihn nicht die Abschlussprüfung bestehen lassen. Nicht mit diesen Fähigkeiten."

"Gelehrter", begann Tyledion und klemmte das Buch unter seinen linken Arm, "gib' ihm noch etwas Zeit. Vermutlich lassen seine Kräfte noch etwas auf sich warten." Angesprochener rümpfte die Nase. Er glaubte nicht daran, dass ein Mischbastard jemals seine Fähigkeiten gewinnen könnte. Nach siebzehn Jahren der Stagnation, war es Winso noch nicht einmal möglich die Eiskräfte zu beschwören. Nicht einmal Schneeflocken könnte er über sein Haupt rieseln lassen. Doch König Asparagos' Sohn wollte er nicht widersprechen. Also tat er eine ehrfürchtige Verbeugung: "Du wirst Recht haben, mein Prinz. Bis zum nächsten Winter bleiben uns noch einige Monate." Er sah hinauf in den Frühlingshimmel, der einige Wolken hinaufbeschworen hatte. Bis zum Ende des Tages würde sich ein Gewitter zusammenbrauen. Vermutlich das Lezte vor dem großen Sommer.

"Ich werde mich nun weiter um meine Schüler kümmern." Mit einer weiteren Verbeugung kehrte der Gelehrte zu einer Gruppe junger Winterschüler zurück, an dessen Außenrand Winso stand und der Ignoranz der anderen Schüler mit einem Lächeln entgegenwirkte, dass Tyledion ebenfalls über seinen heiteren Cousin schmunzeln musste, ehe sein Blick eine gewohnt kühle Aura ausstrahlte, die einzig seiner Stellung geschuldet war. Seine Augen wanderten hinüber zu dem Buch, von dem er das starke Bedürfnis empfand, es zurück in die Bibliothek zu stellen, nachdem er bemerkt hatte, dass die Wiesenkinder Lathyrus ins Sommerreich folgten.
 

Die Bibliothek des Wissens und der Lehre war nach menschlichem Vorbild erbaut worden. Die Mauern waren aus robustem Steinen, ebenso die mächtigen Säulen an deren Eingang. Rotbraun ragte die Spitze des Daches hervor, dass sie von allen Reichen sichtbar war. In ihrem Inneren begrüßte ein kastanienfarbener Teppich die Ehrenbesucher, welcher direkt in das Kernstück der Bücherei führte - in die Chronologie der vier Erdenbäume. Von dort verzweigte sich der Weg, führte durch die Geschichte der vier Reiche, weiter zu den Stammbäumen der Urfamilien.
 

Tyledion entdeckte das blond wallende Haar, das bis zum Fußboden ragte. Die junge Prinzessin des Sommerreiches legte die Chronik zurück an ihren Platz. Behutsam berührten die Fingerspitzen den Bandrücken und schoben das Buch zurück an seinen Platz. Vorsichtig näherte er sich der zarten Gestalt, die für eine Sommerprinzessin elfenbeingleiche Haut besaß, dass ihre Schönheit sich wie ein Schleier um ihre Haut legte. Die Erben des Sommers waren hellblonde Wesen mit frischem, sommerbedecktem Teint - Myoso stach zwischen ihnen hervor wie ein Schneeglöckchen im Juli. Sie war ihren Untertanen die strahlende Sonne, man vergötterte die liebliche Sommerprinzessin, obwohl ihre schwache Form ihr niemals den Platz als Königin einräumen würde.
 

Leise stellte auch Tyledion sein Buch an seinen rechtmäßigen Platz und näherte sich mit schleichenden Schritten der Sommerprinzessin. Trotz des Wissens, dass nur königliches Blut den Raum betreten durfte, wanderten seine Blicke suchend durch den Raum. Als er dicht hinter Myoso stand berührte ihr seidenes Haar sein Wange. Ruckartig drehte sich die zarte Gestalt zu ihm um. Ein Lächeln formten ihre geschwungenen Lippen, Rot verfärbten sich die Wangen, dass sie der bleichen Haut einen lieblichen Lebenshauch einatmeten.

"Tyledion". In der nächsten Sekunde lag der zerbrechliche Körper in seinen Armen. Erleichtert atmete die Prinzessin des Sommers aus und vergrub noch stärker ihren Kopf in seiner Brust. Auch Tyledion spürte, wie sein Körper entspannte, die Atemzüge sanft in ihr Ohr hauchten. Hier waren sie sicher, niemand würde sie stören, niemand die zwei entdecken, welche seit einem halben Jahr durch die Bibliothek wandelten - immer auf der Suche nach dem anderen. Ihr einziger Zufluchtsort war ihnen heilig, dass sie niemandem von ihrem Geheimnis. Zu unsicher waren noch die Zeiten, zu nahe die letzte Schmach zwischen den distanzierten Reichen des Sommers und des Winters. Selbst ihre engsten Vertrauten waren ahnungslos, das Prinz und Prinzessin der beiden größten Jahreszeiten einander die Liebe geschworen hatten.

Frühling II

Es war eine Mutter

Die hatte vier Kinder:

Den Frühling den Sommer,

Den Herbst und den Winter
 

Der Frühling bringt Blumen,

Der Sommer bringt Klee…

Der Herbst bringe die Trauben,

Der Winter den Schnee -
 

"Papa ist zurück!" Jauchzend kam Malwa ihrer großen Schwester entgegen, breitete die Arme aus und nahm Myoso bei der Hand. Die strahlte ebenfalls übers ganze Gesicht und folgte eilig der Jüngsten.
 

Es waren sieben Tage vor Sommersonnenwende. Die Prinzessin des Sommerreiches wusste, dass ihr Vater vor Anbruch des Sommers von seiner Reise heimkehren würde - aus Menschenerde. Einem Ort, von dem sie bereits neugierig lauschte seit sie ein Wiesenkind gewesen war. Gingko hatte stets von den Menschen erzählt, die ebenfalls auf der Erde weilten, nur nicht sichtbar für die Erben Mutter Erdes, denn ein unsichtbarer Schleier trennte die beiden Arten, die sich doch so nahe schienen. Früher hatte die junge Prinzessin darum gebettelt, ihren Vater begleiten zu dürfen; zu seinen Wanderungen auf Menschenerde - durch die Territorien des Sommerreiches. Die Menschen wussten nicht um die Existenz der Wesen, die seit Jahrtausenden Einfluss auf die Erde besaßen und ihre Machtdemonstration am liebsten auf menschlichem Territorium zur Schau stellten. Die Schattenseite der großen Krieges hatten Menschenerde nicht verschont. Und auch wenn Frieden auf Erden weilte, wurde ein stiller Kampf auf Menschenerde weiter gefochten.
 

Als die liebliche Sommerprinzessin zusammen mit ihrer Schwester den Palast erreichte, funkelten ihre Augen aufgeregt. König Gingko stand zusammen mit seiner Schwester an der Eingangspforte. Ihre Blicke wanderten zu den Töchtern herüber, die ihm gleichzeitig um den Hals fielen.

"Nur ruhig, meine Kinder", sagte der sanfte König und schloss seine Kinder in die Arme.

"Wo ist Cynos?" Seine Schwester, Pensea, übernahm das Wort: "Ich hatte ihm angeordnet, sich auf die Sommersonnenwende vorzubereiten. Er sollte an der Trauerweide sein."

"Ich hole ihn", rief Malwa als Erste und rannte, ohne die Antwort ihrer Tante abzuwarten, den Hügel hinunter.
 

"Lass' mich dich ansehen", Gingko betrachtete seine älteste Tochter, die mit den Jahren nicht nur schöner wurde, sondern auch immer mehr seiner Frau, Königin Lilith, ähnelte.

"Bin ich nur eine Wintersonnenwende fort gewesen, und schon ist aus meiner Tochter eine junge Frau geworden." Er lächelte gütig, während Myoso das Gesicht gen Boden richtete.

"Allmählich sollten wir über ihre Zukunft sprechen." Die Worte ihrer Tante trafen sie wie Blitze. Bevor ein weiteres Wort gesprochen wurde, kamen Malwa und Cynos herbeigeeilt. Die Begrüßung wurde mit lauten Freudengesängen und heiterem Lachen fortgesetzt, dass sich Pensea bereits zurückzog und weitere Vorkehrungen für die Sommersonnenwende traf. Unsicher folgten die Blicke Myosos ihrer Tante, die mit sicheren Schritten durch die Palasthallen schritt.
 

Pensea war seit Liliths Rückkehr in die Arme Mutter Erdes eine zweite Mutter für Cynos und Malwa. Eine strenge Mutter, die stets die königliche Stellung im Auge behielt. Doch Myoso wollte ihre Tante mit nichts missen. Während der Abwesenheit ihres Vaters war sie immer für die Kinder da gewesen und hatten ihnen die Pflichten des Sommerreiches nähergebracht.
 

"Genug der ausschweifenden Begrüßung", ließ Gingko schließlich von den klammernden Umarmungen seiner Kleinsten, "lasst uns reingehen. Die Sonne wird allmählich schwächer", dabei sah er auf Myoso, welche an den Armen bereits eine leichte Gänsehaut hatte. Die Kinder nickten und folgten ihrem Vater in den Sommerpalast. Warmes, gleißendes Licht erfüllte die Vorhalle. Wärme umhüllte die Sommerkinder, dass die Kälte aus Myosos Körper wich. An den hohen Wänden rankten Efeublätter und spendeten frische Luft. Dazwischen versteckten sich kleine Schröpflinge; Sommergeschöpfe, die wie Glühwürmchen aussahen und blau-weiß leuchteten. Nur in den Sommermonaten trauten sie sich aus ihren Verstecken und schenkten den heißen Nächten kühles, erfrischendes Licht. Aufgeregt sprangen sie umher, als die Königsfamilie an ihnen vorbeilief. Myoso bemerkte, dass eine Efeuranke lose hervorstach und hielt inne. Vorsichtig verband sie es mit einer Gegenüberliegenden, dass es von selbst zusammenwuchs. Das aufgeregte Summen hielt inne, die Schröpflinge verschwanden zurück unter den Efeublättern.
 

"Hast du uns Geschenke mitgebracht?", Malwa spielte mit ihren Fingern und sah dabei ihren Vater mit großen Augen an. Cynos hingegen brachte nur ein eifriges Nicken hervor.

"Später", meinte Gingko bloß und setzte sein sanftes Lächeln auf, "es ist höchste Zeit für euch zu ruhen. Wir reden in der Morgendämmerung weiter."

Ja, Vater", grummelten die Wiesenkinder und schlurften in ihre Zimmer."

"Myoso", Gingko fasste sie am Handgelenk, als diese die Tür zu ihrem Gemach öffnete, "komm' bitte nachher in die kleine Nebenhalle. Es gibt noch ein paar Dinge zu besprechen."

"Ja, Vater", hauchte Angesprochene und senkte ihr Haupt, dass er ihr wie früher durchs Haar strich. Schließlich ließ er von ihr ab und gewährte ihr, allein in ihren Gemächern zu verweilen.
 

Die junge Frau lehnte sich an die geschlossene Zimmertür und seufzte. Sie war froh, ihren Vater wohlauf zu sehen, gespannt, was er von seiner Reise zu erzählen hatte und besorgt um die Vorahnung seiner Ankündigung betreffend.

Ihre Augen wanderten umher, betrachteten die Gemälde an den Wänden: König Gingko hatte zu ihrem sechzehnten Geburtstag vier Zeichnungen aus Menschenerde mitgebracht. Ein jedes zeigte die Jahreszeit in Form einer weiblichen Gestalt. Myoso liebte die Vorstellung der Menschen von den Jahreszeiten, bewunderte ihre Fähigkeiten mit den Händen zu zeichnen, ohne vergleichbare Kräfte Mutter Erdes zu besitzen. Sie näherte sich den Bildern, die zwischen Tulpen und Pfingstrosen hingen. Efeu schlängelte sich besitzergreifend um die Malereien. Mit den Fingern berührte sie den Winter - das Bild zeigte eine Frau in einem Seidentuch umwickelt; schützend klammerte sie sich an die kahlen Äste, während ihre nackten Füße den schneebedeckten Boden antippten. Die Hände waren zum Gebet gefaltet und berührten die Lippen. Die Sommerprinzessin fragte sich, wieso der Winter vor seiner eigenen Kälte erschauderte. Was in den Menschen vorging, die Bilder wie diese zeichneten. Sie dachte an den echten Winter. Tyledion. Das Leuchten ihrer Sommerknospe brannte tief in ihrer Brust. Während Menschen Herzklopfen verspürten, begannen die Geschöpfe der vier Jahreszeiten im Inneren zu leuchten. Es war ihnen kaum möglich, ihre geheimsten Gefühle zu verbergen. Nur ein hohes Maß an Disziplin erlaubte es Myoso, ihr Leuchten im Zaum zu halten, wenn sie Tyledions in ihrer Nähe spürte. Und sie spürte sofort seine Anwesenheit, sei er noch so unscheinbar. Aber sein kühles Wesen bemerkte die Sommerprinzessin auch in den abgewinkelsten Verstecken.

Mit Vorsichtig, als besäße das Gemälde Gefühle, berührte sie die Stelle, an dem die Fußspitze den Schnee berührte. Im Gegensatz zu der zerbrechlichen Winterfrau waren Hiemes' Erben starke und robuste Geschöpfe. Ihre bleiche Haut täuschte nicht darüber hinweg, dass sie kühl und unberechenbar sein konnten. Vor den anderen Reichen hielten sie sich weitestgehend fern. Unnahbar schienen die schwarzhaarigen Wintererben, deren hohen Wangenknochen unverkennbar waren. Ebenso der stolze Gang und der Verzicht auf jeglichen Umgang mit den Geschöpfen des Sommerreiches. Myoso schloss die Augen. Der Hass, welcher tief vergraben in den Reichen des Sommers und des Winters waren, versetzte ihr einen Stich in der Brust. So gern wollte sie etwas dagegen unternehmen, so gern die Vergangenheit aus den Köpfen vertreiben. Doch die derzeitigen Umstände waren schwierig. Die Unruhe, die seit siebzehn Jahren bestand, ließ sich nicht auslöschen. Nachdem bekannt geworden war, dass Asparagos' jüngerer Bruder eine Verbandelung mit einer Frau des Sommerreiches eingegangen war. Dass daraus sogar eine neue Knospe geschaffen wurde...Myoso war selbst kaum aus Mutter Erdes schützenden Armen entstiegen, als die Gerüchte Wahrheit wurden. Gingko, welcher kaum zum neuen König gekrönt worden war, stand damals vor der Aufgabe, den brodelnden Krieg zu verhindern. Die Diplomatie leistete Asparagos' Forderungen Folge und übergab dem Winterreich die Obhut des Jungen.
 

Wie von Sinnen riss die junge Prinzessin die Augen auf, vergewisserte sich, in ihren Gemächern zu sein. Sie tat einen tiefen Atemzug, bevor sie schließlich von dem Bild abließ. Ein letztes Mal fiel ihr Blick auf die verängstigten Augen der jungen Wintersfrau, bevor sie den Wunsch ihres Vaters befolgte und in die kleine Nebenhalle lief. Der König und Pensea saßen auf den Thron ähnlich hergerichteten Holzstämmen einer Jahrtausenden alten Fichte. Goldene Blätter umschmückten die Stuhlbeine, grün schimmernde Knospen zierten die Armlehnen.

Als Gingko seine Tochter erblickte, lächelte er. In seiner linken Hand konnte Myoso etwas blau Schimmerndes ausmachen.

"Ich habe es auf meiner Reise gefunden. Ich glaube es funktioniert nicht mehr wie es sollte." Er reichte ihr eine kleine gläserne Kugel.

"Menschenerde", lächelte Myoso und betrachtete das Geschenk, welches einen kleinen Riss genau zwischen zwei Kontinenten hatte. An einer Stelle war eine Art Knopf angebracht, der jedoch nichts bewirkte, wenn man ihn betätigte.

"Sie sieht wunderschön aus", die junge Sommerprinzessin bewunderte das strahlende blau Menschenerdes, die verschiedenen Landschaften, von denen Myoso lediglich aus Erzählungen wusste, dass es viele Reiche gab.

Reiche, die einander nicht verstanden, respektieren, noch akzeptierten. Andererseits begeisterte Myoso die Vielzahl ihrer Kulturen und Bräuche. Ihre Lebensweise blieb der jungen Prinzessin jedoch ein Geheimnis.
 

"Wenn ich eines von den Menschen gelernt habe", begann ihr Vater und betrachtete grübelnd die Kugel, "dann, dass die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt werden dürfen." Myoso wandte ihr Gesicht dem Sommerkönig zu und kniete sich neben ihn. Dann fuhr er fort: "Es gibt ein paar Dinge, die ich gerne mit dir besprechen möchte." Dabei sah er kurz zu seiner Schwester herüber, die ihn stoisch anblickte.

"Oder besser gesagt: ich möchte dich um deine Meinung, deinen Rat bitten."

"Ich höre dir zu Vater." Zufriedene lächelte Gingko, bevor der ernste Blick zurückkehrte. "In sieben Nächten ist Sommersonnenwende. Die Zeichen für eine friedliche Beisammenkunft stehen günstig. Der junge König Asteros wird sich in Kürze vermählen. Ich möchte diese beiden Ereignisse zusammenführen... Wie es der Brauch ist." Seine Augen sahen durch Myoso hindurch, in eine längst abgelegene Vergangenheit. Die letzte standesgemäße Vermählung eines Königspaares lag in zu weiter Ferne und wurden von den meisten durch die darauffolgenden Ereignisse überschattet.
 

"Das ist eine wundervolle Idee", strahlte ihn seine älteste Tochter an.

"Asteros und seine Braut sollen von uns den Segen erhalten, wie es ihnen zusteht. Darum werde ich auch die anderen Reiche zu unserer Feierlichkeit einladen... Das Winterreich eingeschlossen." Pause. Hinter Myoso kam ein leiser Pfiff Seitens Pensea, welche die Augen gen Decke - eine gläserne Decke, welche einen direkten Blick auf den bewölkten Regenhimmel gewährte - wandern ließ.

"Ausgeschlossen, dass ein Sturkopf wie Asparagos auch nur einen Fuß in das Sommerreich setzt."

"Lasse ich das Winterreich außen vor", begann Gingko und wandte sich seiner Tochter zu, "werden sie es als Beleidigung ansehen. Das Winterreich soll keinen Anlass bekommen, sich der Außenseiterrolle anzunehmen. Außerdem", er legte eine Hand auf Myosos Schulter, "möchte ich in Friedenszeiten keine Unruhe oder gar falsche Zeichen setzen."

"Vater", begann die junge Frau und nahm die dargebotene Hand ihres Vaters entgegen, "ich bitte dich. Gib ihnen die Möglichkeit deine Einladung anzunehmen. Nichts nähert die Reiche aneinander als eine Bindung zweier Seelen während einer Sommersonnenwende. Ich bin davon überzeugt, dass die Idee Asteros gefallen wird."
 

Asteros wurde zur letzten Herbstwende zum König seines Reiches gekürt. Kaum älter als Tyledion übergab ihm sein Vater den Stab des Herbstes, und der Stab selbst akzeptierte seinen neuen Gebieter, in dem er selbst seinen neuen Platz an der Hand Asteros' einnahm.

"Derselben Meinung bin ich auch", Gingko lächelte, " Ceantho war ein gerechter Herrscher, wir wollen seinem Sohn denselben Respekt erweisen." Myoso nickte, selbst Pensea konnte dem nur zustimmen. Es konnte nicht schaden, die langsam keimende Freundschaft zwischen dem Sommer- und dem Herbstreich weiter auszubauen. Der junge Herbstkönig war belesen und weitaus ruhiger als seine Vorgänger, denen ein starkes Temperament nachgesagt wurde - eine weit verbreitete Eigenschaften der Erben Autunis'.
 

"Ich werde die Einladungen morgen früh sofort aussenden lassen", betonte der Sommerkönig sein Vorhaben. Myoso hingeben erhob sich.

"Es gäbe noch eine wichtige Angelegenheit zu besprechen", hob Pensea die linke Hand und bedeutete die Sommerprinzessin sich erneut zu setzen.

"Es ist allmählich an der Zeit über deine Vermählung zu sprechen. Lathyrus' Familie sprach deinen Vater bereits darauf an." Myosos Kopf erhob sich schlagartig in Richtung ihres Vaters. Dieser entgegnete: "Es spräche nichts gegen eine Verbindung. Er stammt aus der königlichen Zweigfamilie, ist ein kluger junger Mann, der eines Tages das Regiment seines Vaters übernehmen könnte." Die junge Sommerprinzessin blickte starr zu Boden. Ihre Tante nickte zustimmend: "Die Sommersonnenwende wäre eine passende Gelegenheit, die Verlobung offiziell bekannt zu geben."

"Vater", hauchte Myoso und legte die Hand an ihre Brust, "bitte stimm' der Verlobung nicht zu. Ich", sie hielt inne, sammelte ihre unruhigen Gedanken, die in einem Meer von Gefühlen schwammen und drohten unterzugehen. Sie rang mit sich, rang mit der Wahrheit und schüttelte den Moment der Schwäche von sich: "Lathyrus ist ein guter Freund, den ich als diesen schätze und Liebe. Aber", sie schluckte, "meine Gefühle könnten nie zu dem werden, was ihm rechtmäßig zustünde."

"Gefühle wandeln sich mit der Zeit", widersprach Pensea, die ihre gut durchdachten Pläne in Bedrohung sah, "und Freundschaft ist ein wunderbarer Grundbaustein für eine ewig bindende Liebe." Aber ihre Nichte schüttelte mit dem Kopf und wandte sich erneut an ihren Vater: "Bitte zwinge mich nicht dazu. Ich bin nicht bereit zu heiraten."

"Du bist alt genug-", konterte ihre Tante.

"Das genügt", schnitt schließlich König Gingko ihr das Wort ab, "Myoso. Ich werde dich nicht zwingen eine Verbindung mit Lathyrus einzugehen."

"Aber Gingko", erwiderte Pensea, doch dieser schüttelte den Kopf, "Myoso ist nicht die zukünftige Königin des Sommerreiches. Ihre Entscheidung zu heiraten kann also noch etwas warten."

Frühling III

Mehrfach hallte das Echo der Schritte Tyledions durch die Flure des Winterpalastes. Kristallklares Eis spiegelte die großgewachsene Gestalt des einzigen Königsohnes, während meterlange Zapfen von den Wänden seine markanten Gesichtszüge einfingen: er besaß wachsame Augen, die von zwei tiefenblauen Seelenspiegeln dominiert wurden. Geschwungene, in Kohle getunkte Brauen umrahmten den nachdenklich strengen Ausdruck, der so stark an König Asparagos erinnerte und so manchen Untertan ins Schaudern geraten ließ. Dazu ein kantiges Kinn, das fließend in zwei weiche Lippen überging, das nur selten ein Lächeln zu Tage brachte, aber umso eindrucksvoller war, wenn es sich zeigte. Das bleiche Gesicht, das sich kaum von den restlichen Bewohnern des Winterreiches unterschied, strahlte besonders hell als die tief stehende Sonne einen Fühler nach dem kalten Reich ausstreckte, spitze Strahlen kämpften sich mit aller Kraft ins Innere des Palastes um letztendlich als Diamantenschimmer auf Tyledion herab zu regnen. Sobald ihn sein Spiegelbild auf eines der mit Eis besetzten Wände entgegenblickte, wandte er sich ab - die Ähnlichkeit zu seinem Vater war auch ihm in jeder Sekunde seines Lebens bewusst, dass er das Gefühl hatte, von seiner eigenen Spiegelung gemustert und getadelt zu werden. Die Untertanen des Palastes schienen ihn darin noch unterstützen zu wollen. Abrupt zuckten sie zusammen als die junge Version ihres Königs an ihnen vorbeischritt. Ihre Köpfe neigten sich fast bis zum gläsernen Eisboden. Mit zitternder Stimme begrüßten sie den Prinzen, der lediglich seine rechte Hand schwenkte, dass die Wachen in ihre gewohnte Position gingen. Ihre Augen verfolgte den Winterling, wissend um ihren baldigen Herrscher. Tyledion legte die Stirn in Falten. Noch immer konnte er sich nicht an die Blicke des Wintervolkes gewöhnen. Zu viele Erwartungen lagen auf den Nachfolger, von dem sich die Winterbewohner ruhige Zeiten versprachen, während sie gleichzeitig darauf bauten, ihr Reich in den kommenden Jahren wachsen zu sehen - so wie es seit Jahrhunderten versprochen wurde. Dass bereits in zweiter Generation Frieden herrschte und die Territorien nicht mehr verschoben wurden, hatte die Wenigsten zufrieden gestellt. Verletzter Stolz, der seit dem vierten großen Krieg verwurzelt war, hatte das Wintervolk zu Unzufriedenheit und Frust erzogen. Die verlorenen Gebiete auf Menschenerde, sowie die Stagnation in ihrer eigenen Welt hatten zu Verdruss im Winterreich geführt. Mit jeder Thronfolge stiegen die Erwartungen, wuchs der Druck auf die nahen Erben Hiemes'. Es läge viel Arbeit, die Bewohner zufrieden zu stellen, ohne den Geschmack des Krieges in ihnen reifen zu lassen. Wenn Tyledion von seinen Vorfahren gelernt hatte, dann die Sinnlosigkeit einer weiteren niederschmetternden Schlacht, welche vielleicht gewonnen werden konnte, aber nie die Befriedigung erreichte, die sich jeder Winterling erhoffte.
 

Tyledion blieb stehen, das Gesicht zur doppelseitigen Flügeltür gerichtet, welche in die königlichen Gemächer des Schlosses führte. Er wollte, nein, er musste sein Mutter sprechen. Ein zweites Paar Schuhe klackerte über den Boden - die Bewegungen waren weniger geschmeidig, eher holprig und sprunghaft. Es gab nur einen, der Schwierigkeiten hatte, sicher auf Eis zu laufen.
 

"Guten Abend, Cousin", grinste ihn von hinten der kaum jüngere Winso an. Tyledion neigte seinen Kopf, dass er in das muntere Gesicht des Mischlings blickte, der einen blauen, Gummi ähnlichen Ball in die Luft warf, dass dieser nur knapp den Deckenboden verfehlte.

"Wie ich sehe, bist du wieder fleißig am Lernen", sagte Tyledion. Doch der Braunhaarige zuckte lediglich mit den Schultern.

"Ich wünschte es wäre so" grinste er beschämt, "ich habe eher den Eindruck, dass mich dieser Ball verspotten will."

"Nur Geduld", Tyledion beobachtete die blaue Kugel, die sich strickt weigerte von Winsos Magie in Eis verwandelt zu werden; ein einfacher Trick, den die Wiesenkinder erlernten um ihre Fähigkeiten zu kontrollieren. Für seinen Cousin war es eine Herausforderung, auch nur in die Nähe der Eiskräfte zu gelangen, dass sie lediglich zu einem leichten Beschlagen des Balles ausreichten. Diesmal schien jedoch auch das nicht zu wirken, dass nicht zum ersten Mal der Gedanke aufkam, sein Cousin hätte auch den kleinen Funken seiner Winterfähigkeiten verloren. Das optimistische Gesicht des Jüngeren ließ seinen Gedanken unausgesprochen. Der Sohn seines Onkels - der laut dem Gerede der anderen ebenfalls das genaue Abbild seines Vaters darstellte und sich nur durch sein mandelfarbenes Haar und dem dunkleren Teint abhob - blieb von den Gaben der hoch gestellten Zweigfamilie unberührt. Es war nur der Gipfel der Schmach, die sein Wesen innerhalb der Reihen hervorrief. Der Mischbastard des Königshauses, die Personifizierung der königlichen Beleidigung. Bis heute fragte sich Tyledion, was König Asparagos mit seinem Onkel gemacht hatte. Seit Jahren hatte man den jüngeren Bruder des Königs nicht mehr zu Gesicht bekommen. Er war weder zu Mutter Erde zurück geschickt, noch aus dem Winterreich vertrieben worden. Sein Vater musste eine andere Art der Bestrafung mit ihm vorgehabt haben. König Asparagos allein wusste um seine Pläne. Winso, der in die Obhut des winterlichen Königshauses genommen wurde, war dafür ein umso eindeutiger politischer Schachzug gewesen - getragen von Angst und Unwissenheit, dass die Fähigkeiten des Winters in die Hände des Sommerreiches gelangen könnten. Wenn er gewusst hätte, dass der junge Mischling weder eine Begabung noch besondere Fertigkeiten besaß, hätte Asparagos wohl anders gehandelt und die junge Knospe schnell seiner entledigt.
 

"Ich bin sicher", fuhr Tyledion fort und widmete sich wieder der Tür zu, "deine Mühen werden sich eines Tages auszahlen."

"Wenn ich von Hiemes Licht geküsst werde, sage ich dir Bescheid" grinste sein Cousin, dass kleine Grübchen zum Vorschein kamen, die nur einem Nachfahren des Sommers vergönnt waren. Der Ball landete unverändert in seiner Hand, was den Braunhaarigen weniger verwunderte als die Tatsache, seinen älteren Cousin vor den königlichen Gemächern vorzufinden. Nicht zu dieser Stunde, in der Tyledion meist seine Kräfte sammelte und in Meditations ähnliche Zustände verfiel.

Winsos Augenbraue schnellte in die Höhe, der Blick wanderte zu dem Prinzen und der Tür hin und her.

"Bist du auf dem Weg zum König? Wie ich hörte, soll er nicht bester Stimmung sein." Tyledion zuckte mit den Schultern. "Ist mir auch zu Ohren gekommen."

"Dann sind die Gerüchte wahr? Das Sommerreich lädt zur Sommersonnenwende ein?"

"Ich weiß genauso viel wie du, Winso", entgegnete der künftige Winterherrscher etwas schroff. Auch er hatte das Gemurmel der Untertanen vernommen, die den König mit einer Eilschrift des Sommerreiches davon marschieren gesehen hatten. Nur zu gut konnte er sich das Gesicht seines Vaters ausmalen, der die Geste weniger als Zeichen der Annäherung als eine Anmaßung der derzeitigen Situation ansähe. Es war nicht verwunderlich, dass sein Vater kein Wort darüber verlor, vermutlich hatte er das Schreiben längst aus dem Palast schaffen lassen.

Wenn die Gerüchte also stimmten und das Sommerreich zum Zeitenwechsel einlud, musste er schleunigst in die königlichen Gemächer, bevor die Entscheidung endgültig gefallen wäre.

"Ich werde sehen, ob etwas an den Gerüchten dran ist", meinte Tyledion lediglich und setzte die Hand zur Klinke. Winso kratzte sich derweil an den Kopf. "Jeder scheint darüber brüskiert zu sein, dass König Gingko zur Sommersonnenwende eingeladen haben soll. Nur du scheinst völlig entspannt ob der Tatsache", Winso grinste schief.

"Es wundert mich eher die Tatsache, dass das Wintervolk nichts über den Sommerkönig zu wissen scheint. König Gingko ist schon immer bekannt für seine diplomatische und freundschaftliche Herrschaft. Wenn er zur Sommersonnenwende einlädt, würde er keines der Reiche außen vorlassen." Dies gab dem Jüngeren zu Denken. "Wieder einmal wirst du recht haben", Winso warf erneut den Ball über seinen Kopf, "aber Onkelchen scheint nicht von der Idee begeistert." Er fing den Ball und schüttelte sich: "In den letzten Stunden ist es eindeutig kälter geworden."

"Dann rate ich dir, noch ein wenig weiter zu üben. Bewegung hilft. Nicht dass du dir noch eine Erkältung holst", ein leichtes Lächeln huschte über Tyledions Gesicht, dass ihn sein Cousin anstrahlte.

"Schon verstanden, Cousin", damit verbeugte sich der Jüngere und setzte seinen Weg durch die Palastflure fort - dabei den Ball lässig nach vorne werfend, während er eine fröhliche Melodie pfiff. Manchmal beneidete Tyledion die Unbeschwertheit seines Cousins. Wo nahm der junge Mischling nur sein frohes Gemüt her? Mit diesem Gedanken öffnete er den Eingang zu den privaten Gemächern der Hauptfamilie. Eine schneebedeckte Wiese lag ihm zu Füßen - weiche Flocken umschmeichelten sein Schuhwerk, verschmolz mit ihm als hätte es nur auf seine Ankunft gewartet. Mit jedem Schritt knisterte das weiße Gold des Winterreiches, frohlockend ihren nähesten Vertrauten begrüßen zu können. Mit kreisenden Bewegungen seines Zeigefingers bedankte sich Tyledion für die muntere Begrüßung, dass ein hellblauer Faden aus dessen Spitze stieg und den Schnee in seine nährende Kälte eintauchte. Kleine Kristalle formten sich, Blüten entstanden - gläserne Nachahmungen ihrer Originale, die nichts außer dem eisigen Schauer bedurften. Vergnügt begann der Schnee die Eisblumen in sich aufzunehmen, dass sie bald von tausenden benetzt wurden. Damit schritt Tyledion weiter, verließ die Vorhalle und gelangte schließlich zu zwei weiteren Türen. Die rechte, die durch kahle Äste einer Trauerweide umrahmt wurden, führte in sein Zimmer - einem bescheidenen Raum, dem nur ein von Tannen und Moos bedecktes Bett, sowie ein kleiner länglicher Tisch zum Studieren inne wohnten. Direkt daneben befanden sich die Räumlichkeiten des Königspaares. Wie Tyledion seinen Vater einschätzte, verweilte Asparagos im Beratungsraum des Palastes - einem hohen Saal, der am anderen Ende des Schlosses für königliche Dekrete und weitere politische Diskussionen genutzt wurde. König Asparagos konnte dort bis zur Mitternachtsstunde darin verweilen. Alles, was dort geschah blieb im Schleier des Veborgenen. Tyledion konnte sich nicht vorstellen, dass sein Vater den Raum nur für politische Belange nutzte.
 

Zweimal klopfte er an die linke Tür, bevor er die Klinke herunter zog und das elterliche Gemach betrat. Gleißendes Licht, aus dünnen Seidenfäden gezogen, erhellte den Raum. Jeder einzelne Faden schwebte über der Decke und kreiste einen großen starken Baum ein.
 

Seit Jahrhunderten verweilte der Lebensbaum des Winterreiches auf Palastes Boden. Als im zweiten großen Krieg das Herbstreich den Himmel durch Blitze gespalten hatte, war der damals verwundete Baum hier neu verwurzelt worden. Seitdem schützte die Hauptlinie den Kraft spendenden Baum, an dessen Spitzen die Knospen der nächsten Generation ruhten - zumindest so lange bis sie im Stande wären, eine schützende Hülle in Form Menschen ähnlicher Gestalt anzunehmen.
 

Genau dort, vor dem robusten Stamm kniend, konnte Tyledion seine Mutter ausmachen - Königin Cycla. Ihr langes Haar breitete sich fächerartig hinter ihrem Rücken aus, während heraustretende Wurzeln des Lebensbaumes versuchten, sich um jede einzelne ihrer Strähnen zu winden. Langsam hob sie den Kopf und blickte zu ihrem Sohn hinauf. Eine Hand streifte den Stamm, dass aus ihr weißes Licht hinaustrat und den gesamten Baum mit Wintermagie eindämmte. Nun hatten es die Knospen für die nächsten Stunden warm und sicher.

"Mein Sohn", sagte die Königin und stand in ihrer gesamten herrschaftlichen Erscheinung vor ihrem Sohn. Dieser näherte sich ihr, während er erneut an eine Geschichte aus Menschenerde dachte und daran wie ähnlich sie der Hauptfigur sah. Ihre Kirsch benetzten Lippen fingen ihr schönstes Lächeln ein als er direkt vor ihr stand, sich leicht herunter beugte und einen ehrfürchtigen Kuss auf ihre Wange legte.

"Eine freudige Überraschung dich zu später Stunde noch sehen zu dürfen. Auch wenn mich eine Ahnung beschleicht, dass du hofftest, deinen Vater anzutreffen."

"Gewiss nicht, Königin Mutter", entgegnete Tyledion und folgte ihr bis in den Wintergarten, wo sie sich auf der Fensterbank nieder ließen, "auch wenn wir sicherlich an dasselbe denken. Es scheint als würde das Geflüster der Wachen stimmen."

"Geflüster", Cycla schlug die Beine übereinander und beobachtete das friedliche Treiben der kleinen Knospen, "ihr Geflüster ist mir nicht bekannt. Aber wie ich sie kenne, wird es bereits Gerede gegeben haben... bezüglich des Eilbriefes. " Tyledion nickte. "Eine Einladung zur Sommersonnenwende."

"Als ob es eine Rolle spielt", winkte sie ab, "die Vergangenheit ist viel zu präsent als dass sie ignoriert werden könnte. Besonders für deinen Vater."

"Also hat er abgelehnt." Daraufhin musste die Königin schmunzeln.

"König Gingko wird selbst einsehen, dass eine Einladung nichts ungeschehen macht. Schon gar nicht an einem Tag, an dem das gesamte Sommerreich mit seinen Kräften prahlt."

"Vater hat nicht vor, seine Entscheidung öffentlich zu machen?"

"Er hält es nicht für nötig."

"Dann verbietet er dem Wintervolk nicht, an seiner Stelle zu erscheinen." Cycla drehte das Gesicht zu ihrem Sohn.

"Was willst du damit sagen?", ihre Stimme nahm einen strengeren Ton an. Wie sie Tyledion musterte, versuchte die Königin des Winterreiches etwas aus seinen Zügen zu lesen. Diese waren jedoch so undurchschaubar wie die ihres Gemahls. Wenn das Volk des Winterreiches eines beherrschte, dann die Kontrolle über ihre Gefühle. Tyledion und Asparagos schienen darin sogar die Winterlinge übertreffen zu wollen.
 

Tyledion setzte eine kurze Pause ein, indem er selbst auf die frischen Knospen blickte, deren gesundes Gedeihen von Cyclas Liebe und Hingabe abhing. Schließlich wandte er sich seiner Mutter zu: "Wir sollten an Stelle des Königs die Sommersonnenwende aufsuchen."

"Wir?"

"Der neue Herbstkönig wird sich bald vermählen. Ich bin mir sicher, dass Asteros und seine künftige Braut sich den Segen des Sommers nicht entgehen lassen werden."

"König Asteros wird sich nicht aus der Stellung der neutralen Zone bewegen."

"Ich rede auch von keinem Bündnis zwischen König Gingko und König Asteros."

"Ich höre dir zu", entgegnete Cycla, während ihre Aufmerksamkeit dem Glätten des Gewandes galt, das durch die Fürsorge des Lebensbaumes an allen Seiten Falten geschlagen hatte. Das dunkelblaue, leicht durchschimmernde Gewand reichte weit bis zum Boden, dass es am Saum ein Stück des Eisbodens in sich aufgenommen hatte. Tyledion fuhr derweil fort: "Unabhängig ihrer politischen Beziehungen werden die übrigen Reiche mit hoher Wahrscheinlichkeit daran teilnehmen. König Asteros wie Königin Allilaea aus dem Frühlingsreich. Sicher, die Bewohner des Frühlingsreiches halten seit Jahrhunderten an ihrem Bündnis mit dem Sommerreich fest, aber stell' dir vor wie eine Zusammenkunft der drei Reiche aussähe. Und wie wir da stehen, wenn die Hauptfamilien aller Mächte zusammenkommen, das neue Königspaar segnen und nur unsere Wenigkeit sich dem entzieht." Cycla kräuselte die Lippen.

"Schließlich', Tyledion sah nun direkt zu seiner Mutter, "gebührt das Ritual der Segnung auch dem Winterreich... Oder soll diese Aufgabe künftig Allilaea für dich übernehmen?"

"Königin Allilaea hat die Stimme eines grießligen Bergwächters", erwiderte sie, dass ihre blauen Seelenspiegel einem tobenden Meer ähnelten, "es wäre fürwahr eine Beleidigung an Mutter Erdes Ohren." Sie hielt inne, musterte den glatten Stoff, dass er zu schimmern begann.

"Du willst dich also dem Willen deines Vaters widersetzen."

"Nein", kam es klar aus dem Prinzen heraus, "ich werde sie lediglich umgehen... natürlich nur, wenn ich auf deine Unterstützung hoffen kann, Königin Mutter." Sie betrachtete ihren Sohn, der noch immer nichts an seiner Miene geändert hatte. Ein leichter Schauder durchzuckte sie. Ihr Sohn war mächtig,l; eines Tages würde er womöglich Asparagos übertreffen. Der Gedanke erheiterte wie verängstigte sie im selben Maß, dass sie froh war, ihn noch nicht an die Ketten der Regentschaft gebunden zu sehen.

"Also schön", sie gab ein resigniertes Seufzen von sich, "ich werde darüber nachdenken und dir meine Entscheidung in den nächsten Tagen zukommen lassen." Mehr wollte Tyledion vorab nicht hören. Er erhob sich, tat eine Verbeugung und überließ seiner Mutter ihrer königlichen Pflichten.

Sommersonnenwende I

Umringt von Gänseblümchen, die durch den Schein der Mittagssonne und dem frischen Tau des Morgens einen weiß goldenen Schimmer aufgesetzt bekommen hatten, versammelten sich die Wiesenkinder des Sommers und pflügten vorsichtig die Blüten von den Stengeln. Wie sie über den saftigen Boden tappelten streichelte der letzte Hauch des Frühlingswindes ihre nackten Beine, die jeden Tautropfen in sich auffingen. Herabfallende Zweige, die gegen das vergangene Gewitter nicht angekommen waren, wurden von ihren kleinen, leuchtenden Händen aufgesammelt. Grashalme wurden behutsam abgebrochen, nachdem die Jüngsten ihnen zugeflüstert und versprochen hatten, sich gut um sie zu kümmern. Waren sie doch zu etwas Besonderem bestimmt. Einem Begrüßungskranz, sowie einem Armgeflecht, welches seit Jahrtausenden Tradition hatte und endlich wieder seinen rechten Platz erhalten sollte. Ganz aufgeregt waren die Wiesenkinder gewesen, als König Ginko ihnen von der Neuigkeit erzählte. Ihnen ihre Pflichten darlegte, während jedes von ihnen aufgeregt zu hüpfen begonnen hatte. Noch nie durften sie an den Vorbereitungen für die Sommersonnenwende teilnehmen. Nie die Bräuche pflegen, die einst die vier Reiche miteinander verbunden hatte und durch die Grausamkeit des Krieges in Vergessenheit geraten waren . Keines der Wiesenkinder, noch der führenden Generation war es jemals vergönnt gewesen, die Sommersonnenwende in Beisammenkunft der Nachbarreiche zu feiern - wie es an diesem Tag auch sein sollte. Der Tag, an dem das Reich des Frühlings seinen Stab niederlegte um dem Sommer seinen Platz einzuräumen. Wenn Königin Allilaea die letzten Knospen aufsprießen ließ und ihrer Arbeit Ruhe gönnte. Wenn Blätter die ganze Macht der Sonne zu spüren bekamen, dass sie wie ausbreitende Schwanenflügel empor ragten, dann führte das Sommerreich diese Erde. Tränkte sie in den buntesten Farben. Ließ Licht aus allen Winkeln erstrahlen. Glänzende Flüsse, in warmes Gewässer getaucht und funkelnde Berge, deren Gestein zufrieden knackste, wenn die Sonnenstrahlen seine Spitze tränkte - dies zeichnete der Sommer und er fühlte sich wohl darin. König Gingko würde an diesem Abend erneut seinen Stab ausstrecken und der Welt seine verdiente Jahreszeit gewähren.
 

Zufrieden betrachtete der Sommerkönig die Wiesenkinder, wie sie im Kreis saßen, während ihr Mittelpunkt Prinzessin Myoso bildete, die ihnen mit viel Geduld das volkstümliche Flechten beibrachte, dass sie gespannt ihren zarten Fingern zusahen. Obwohl König Gingkos älteste Tochter noch nie einer traditionellen Sommersonnenwende beigewohnt hatte, wusste sie sehr wohl um deren Riten. War sie schon als Wiesenkind neugierig und lehrreich gewesen, verkörperte sie als aufgehende Blüte das Wissen vieler Generationen. Mit Präzision band sie aus Gänseblümchen und Halmen einen königlichen Kranz, während die Zweige dazwischen gesteckt wurden, dass sie wie Dornenkronen in den Himmel zeigten. Wie ein Fächer legte sie die Blüten um die dünnen Hölzer. Muster und Linien entstanden, dass die Gänseblümchen ein neues Bild entwarfen. Etwas wehmütig wurde dem König, wie er seine Tochter zwischen den unzähligen Sprösslingen beobachtete. Ihr Liebreiz und ihr gütiges Wesen hätten aus ihr eine Königin gemacht, welche die Liebe jedes einzelnen Untertan gewiss gewesen wäre. Nur Mutter Erde schien andere Pläne mit der Prinzessin. Ihre geschwächte Gestalt machte es für ihn unmöglich, den Stab an Myoso weiter zu geben. Der Stab selbst würde ihrer nicht anerkennen - nicht wenn sie so krank bliebe.
 

König Gingko seufzte. Jeden Winter, den er auf Menschenerde verbringen musste, bangte er mehr um seine große Tochter, die seit ihrer Geburt unter dem Schnee und der Kälte litt wie es keinem von Mutter Erdes Erben bisher ergangen war. Die Krankheit machte es ihm unmöglich, unbesorgt zu bleiben. Mit jedem Jahr wurde der Prinzessin etwas mehr von ihrem Leuchten genommen und es war nur eine Frage der Zeit bis sie dasselbe Schicksal ereilte wie ihrer Mutter. Sein Blick verdunkelte sich. Er musste schleunigst die negativen Gedanken aus seinem Kopf vertreiben. Es bedarf einer gereinigten Seele, wenn er den Sommer einläutete, da ihm sonst schwüle und drückende Stunden drohten. Nein, er durfte für das Schicksal nicht undankbar sein. Jedes Leben war ihm kostbar, jede Stunde war seiner wert. Lieber wollte er sich der frohen Nachricht seiner Schwester erfreuen, dass Myoso in diesem Winter weniger ans Bett gefesselt gewesen war. Er sollte Hoffnung in sich tragen. Vielleicht hatte ihr Schicksal doch einen Weg ins Lebens gefunden.
 

"Gingko" - die Stimme seiner Schwester Pensea ließ den König zur Seite blicken. Neben ihm verneigte sich die Jüngere und deutete auf den Palast hinter sich. "Es ist alles vorbereitet. Unsere Gäste werden bald eintreffen."

"Dann sollten wir sie in Empfang nehmen", nickte König Gingko und sah wieder zu seiner Tochter. Eine seiner Untertanen hatte sich hinter die Prinzessin gehockt und war daran, ihr langes Haar zu kämmen. Ein paar der Wiesenkinder hatten bereits ihre Flechtarbeit beendet und waren dabei, Myoso kleine Äste von Kirschbäumen ins Haar zu befestigen. An den Seiten ragten kleine Blätter, die sich in ihren hell schimmernden Strähnen verfangen hatten. Myoso lächelte die Kinder an, deren leuchtendes Innere zum Vorschein kam. Welch hohes Zeichen ihrer tiefen Zuneigung zu ihrer Prinzessin.
 

"Dieses Mädchen", seufzte Pensea und versuchte durch übertriebenes Winken die Aufmerksamkeit der Prinzessin auf sich zu ziehen, "ich verstehe die Jungen heutzutage nicht. Früher konnten sie es kaum erwarten zu heiraten und heute muss man sie förmlich dazu drängen."

"Du machst dir viel zu viele Gedanken", entgegnete der Sommerkönig, "es hat keine Eile, sie zu vermählen. Wenn die Zeit gekommen ist, wird sie es uns mitteilen."

"Aber ob Lathyrus' Familie solange warten wird…?" König Gingko war davon überzeugt. Ihm war im Laufe der Stunden nicht entgangen, wie geradezu beiläufig Lathyrus' Blicke immer wieder zu Myoso fanden. Das Blau seiner Seelenspiegel nahm etwas Leuchtendes an, wenn er in das Gesicht der Prinzessin sah.

"Zwingst du sie", fuhr König Gingko fort und verschränkte die Arme vor der Brust, "wird sie sich gänzlich der Idee verschließen."

"Also glaubst du auch noch an eine Heirat?", das Funkeln kehrte in Penseas linker Iris zurück, "auch wenn Myoso nicht die künftige Königin wird, sollte ihre Position nicht ungeachtet bleiben. Die Prinzessin ist beliebt, viele würden es begrüßen, sie neben den zukünftigen Herrscher sitzen zu sehen. Da wäre es töricht, die Wahl ihres Gemahls außer Acht zu lassen."

"Wir werden zu einem späteren Zeitpunkt darüber reden", hob Gingko an als seine Tochter den fuchtelnden Arm ihrer Tante bemerkte und geradezu schwebend auf die beiden zukam. An jeweils einer Hand hielt sie ihre Geschwister, die sich anlässlich der Sommersonnenwende in ihre zeremoniellen Kleider herausgeputzt hatten; weiße Kleider mit einem golden umrahmten Saum. Myoso selbst trug ein ebenso schlichtes Gewand, das an einer Seite ihren Arm entblößte und den anderen gänzlich darin einhüllte, dass nur ihre zierliche Hand zu sehen war. Wie sie ihrem Vater näher kamen, zeigte sich nur zu deutlich wie Myosos Haut sich von denen ihrer Geschwister unterschied. So als triebe Mutter Natur bittere Scherze mit seiner Sommerprinzessin. Myoso selbst störte sich kaum an ihrer sichtbaren Schwäche.

"Treffen unsere Gäste ein?", fragte sie, dass ihre eigene Aufregung zum Vorschein kam. Ihr Vater nickte, bedeutete mit seinem Arm, dass sie sich bei ihm einhaken sollte und blickte erhobenen Hauptes zu seinem Palast hinauf. Verschlossene Sommerblumen, Dhalien in den buntesten Tönen und Geranien, die von der Spitze hinab hingen und beinahe den Boden küssten, warteten nur darauf, vom Sommer erleuchtet zu werden.
 

Auch Myoso betrachtete ihr Zuhause, dass ihr Innerstes erstrahlte.

"Danke, Vater", sagte sie, dass der Sommerkönig verduzt zu ihr hinuntersah. "Wieso verdiene ich deinen Dank?" Langsam schritten die auf das Gemäuer zu.

"Weil es ein wundervoller Tag wird. Da bin ich mir sicher", ihr Blick sah durch die Fensterscheiben hindurch, "ich habe mir schon immer gewünscht, dass alle vier Reiche zusammen kommen-"

"Alle vier?", rümpfte Pensea die Nase und zog die Jüngsten der Königsfamilie mit sich, "ich glaube wohl kaum, dass sich das Eisvolk die Ehre erweist." Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, leichte Verachtung lag in ihren sonst weichen Gesichtszügen. "Asparagos besaß nicht einmal die Höflichkeit, sich zu entschuldigen. Aber was soll man von diesem Eisklotz auch anderes erwarten." Myosos Blick ging auf den Boden. Ihr Schritt verlangsamte sich als sie die Flure erreichten. "Vater", flüsterte sie, "glaubst du das auch?"

"Nun", König Gingko strich mit den Fingern über ihren Handrücken, "Königin Allilaea und der junge König Asteros werden unserer Sommersonnenwende beiwohnen. Ich bin für jeden Funken des Friedens dankbar." Myoso verstand ihren Vater. Ebenso seine Zurückhaltung, wo er nur wenige Stunden vor seiner bedeutsamsten Aufgabe des Jahres stand.
 

Kurz nachdem die Eilbriefe verschickt worden waren, hatte ein persönlicher Bote des Herbstreiches verkündet, dass das frisch vermählte Königspaar die Einladung annähme. Trotz - oder gerade wegen - ihrer Neutralität war es ein großes Zeichen, besonders da das Paar den Segen erhalten sollte. Jener Brauch, der Glück, Frieden und Einigkeit bedeutete.
 

Als die Haupttore des Schlosses aufgebrochen wurden und mit den Strahlen der Sonne die Vertreter des Herbstreiches anreisten, strahlten Myosos Augen zu dem königlichen Paar, das seine knapp hundert Gefolgsleute anführte.
 

König Asteros und seine Braut waren ganz im Sinne der herbstlichen Vermählung gekleidet: von Rot- und Goldtönen dominierende Gewänder. Die junge Königin trug ein bodenlanges Kleid, das von Rosenblüten gehalten wurde. Dazu eine Schleppe, die aus dem Laub des herbstlichen Lebensbaumes geschneidert wurde. Gehalten wurde es von Trägern aus feinsten Blitzen, von welchen die Hauptfamilie des Herbstreiches im Stande war, sie mit bloßen Händen einzufangen. Grell funkelten die Träger als könnten sie noch ihre Energie entladen. Doch das wahre Augenmerk Myosos galt ihrem Schopf. Das feuerrote Haar war mit Dornen, Ästen und kleinen Zapfen aufwendig hochgesteckt worden. Die Sommerprinzessin hatte schon immer die Mähnen des Herbstvolkes bewundert. So gut passten sie zu ihrem versteckten Temperament. Ebenso die kastanienfarbenen Augen, die von bunten, gesprenkelten Punkten umspielt wurden. Besonders König Asteros, der erste Sohn und somit Nachfolger Ceanthos, war voller Sprossen, die zur Abenddämmerung ein besonderes Flimmern annahmen.

Mit einer Hand vor dem Brustkorb blieb das Königspaar unmittelbar vor König Gingko und seiner Tochter stehen. Asteros tat eine steife Verbeugung: "Wir danken für die großzügige Einladung." Daraufhin ließ der Sommerkönig von seiner Tochter, verneigte sich ebenso vor dem jungen König und hießen ihn und sein Volk willkommen. Auch Myoso strahlte das junge Paar an. Nur flüchtig huschte der Anflug eines Lächelns auf Asteros Lippen, bevor er sich von der jüngsten Tochter König Gingkos durch den Sommerpalast führen ließ. Dabei winkte er mit dem Arm, dass in gleichmäßigen Schritten seine Gefolgschaft ihm nachlief.

Kaum dass der letzte durch die Flure gewandelt war, tauchte aus dem Süden ein grün gelbes Leuchten auf, dass sich wie ein Rauchschwaden in Richtung der sommerlichen Königsfamilie näherte. Die Schwaden wurden dichter bis sie sich materialisierten und die Königsfamilie des Frühlingsreiches aus ihnen hindurch schritt. Hinter ihnen wanderten die wichtigsten Vertreter und Vertraute, dass sie mindestens so zahlreich waren wie das Herbstreich. An vorderster Stelle dominierte Königin Allilaea. Der letzte Hauch ihrer Frühlingsmacht ließ den Boden unter ihren Füßen sprießen; zaghaft wagten sich Stengel nach draußen, behutsam wuchs das Gras als scheute es sich vor den Augen der Königin zu gedeihen. Direkt hinter ihr lief ihr ältester Sohn, Prinz Scilledos, der in einigen Jahren ihren Platz einnehmen sollte. Sein braunes, zerzaustes Haar wurde nur durch seine grünen Augen übertrumpft, dass sie der Wiese zu ihren Füßen Konkurrenz machte.
 

Die Erben Anox' waren nicht nur stolz, die triste kahle Landschaft des Winter wiederbeleben zu dürfen. Ihre gesamte Erscheinung übertrug sich auf dieses Gefühl, dass die knielangen Röcke der Zwillingsprinzessinen Irida und Iris zu hüpfen begannen und kleine Knospen aus ihrem fein gewebten Stoff hindurchdrangen. Grün und gelb schimmerte in bescheidenen Nuancen auf ihre Kleider. Das restliche Gefolge tat es ihnen gleich, dass die weißen flatternden Blusen kleine Blütenblätter bildeten und verschnörkelte Verzierungen schuf. Die männliche Haupt- und auch ein paar Mitglieder der Zweigfamilie, die ebenfalls erschienen waren, trugen gelbe Hemden, die in eine weite knöchellange Hose gesteckt wurde. Ein grüner - aus allerlei Blumen und Sträuchern geflochtener - Gürtel war darum gebunden. Ebenso zierte die Brust eine hellgrüne, mit Regentropfen getränkte Scherpe, welche im Sonnenschein wie Tau hinabtropfte und kleine, grün schimmernde Flecken hinterließ, aus denen wiederum Wurzeln entstanden, die sich genüsslich um die Hüften schlengelten.
 

"Sommerkönig", umarmte Königin Allilaea ihren Jahrhunderte alten Verbündeten, "welch freudiges Ereignis feiern zu dürfen - und dies zur Sommersonnenwende", ihre jadefarbenen Augen betrachteten die Prinzessin neben ihm, "und die zarte Sommerprinzessin wird auch von Tag zu Tag schöner. Da können wir wohl bald auf eine erneute Zusammenkunft hoffen." Auch Myoso nahm die Königin in ihre Arme, dass sie den vertrauten Duft von frischer Erde in sich aufnahm. Die Sommerprinzessin verdrängte die Anspielung, die Königin Allilaea wohl aus dem Geplauder mit ihrer Tante aufgeschnappt haben musste. Heute ging es lediglich um das herbstliche Königspaar, dass sich Myoso aus tiefster Seele darüber freute, das Frühlingsreich an seiner Seite zu wissen. War es keine Selbstverständlichkeit Frühling und Herbst vereint zu sehen. Lag seit vielen Jahren kühles Schweigen zwischen den Reichen, seit sich der Frühling mit dem Sommer verbündet hatte.
 

"Und du, kleiner Cynos", verbeugte sich die Herrscherin des Frühlings vor dem jungen Sprössling, dass er die Arme vor der Brust verschränkte. Er konnte es nicht leiden, klein genannt zu werden. Schließlich würde er bald so groß sein wie sein Vater und dieser überragte Königin Allilaea mindestens um einen Kopf. Darum verzog er auch die Miene als sie ihm seinen blonden Schopf tätschelte. Er war doch keine Knospe mehr, welcher man noch zu Leben beibringen musste. Versucht war er, etwas zu

erwidern. Nur der ruhige Blick seiner großen Schwester hinderte ihn daran etwas Unangebrachtes zu sagen. Stattdessen verneigte er sich vor Königin Allilae und ihrer Gefolgschaft, wie man es ihm gelehrt hatte, dass die Zwillingsprinzessinen zu kichern begannen.

"Königin", murmelte Cynos mit leicht knurriger Stimme, "bitte folge mir."

"Ja, kleiner Prinz." Mit sicheren Schritte begleitete sie den Sommersprössling durch die Palastflure, dabei ihr Volk bedeutend mit ihr zu kommen. Nur noch kurz warfen sich Iris und Irida um Myosos Hals, flüsterten ihr etwas ins Ohr und folgten schließlich im Eiltempo ihrer Mutter, nachdem ihr älterer Bruder an ihren Haaren gezogen hatte.

Myosos Grübchen zeigten sich als sie die Erben Anox' beobachtete. Ihre Gemüter waren manchmal etwas schrill und laut, aber im Grunde waren sie gütig und fürsorglich. Dies hatte sie am eigenen Leibe erfahren dürfen. Schließlich verdankte sie Königin Allilae, dass sie aus dem schützenden Kreis des Lebensbaumes hinausgetreten war.
 

"Es ist Zeit", riss sie die Stimme Penseas aus ihren Träumereien, "wir sollten zu ihnen gehen und die Zeremonie des Segens beginnen." Daraufhin fasste die Prinzessin ihren Vater am Ärmel: "Nur noch einen kurzen Moment", bat sie und sah hoffnungsvoll zu ihrem Vater hinauf. Dieser konnte ihr diesen Wunsch nicht abschlagen. Er nickte und ließ Myoso wieder bei sich einhaken. Beide sahen sie zur tiefer gehenden Sonne, deren Anblick ihnen nicht die Augen verbrannte. Stattdessen sogen ihre Seelenspiegel das Licht wie eine Energiequelle in sich auf. Hinter ihnen atmete Pensea tief aus, erwiderte jedoch nichts, da sie ihren Bruder nicht weiter mit schlechten Gedanken nähren wollte. Für Beschwerden hatte sie nach der Sommersonnenwende genug Zeit.
 

Mit der freien Hand fasste sich Myoso an die Brust und spürte die lodernde Aufregung ihres Innersten. Ihr Leuchten war nicht zu kontrollieren. Nicht heute, an dem so viel Wundervolles geschehen sollte. So freudige Anlässe zusammen führten und sie sich stärker denn je nach der Hand Tyledions sehnte, die sie am liebsten nie mehr los lassen wollte. Auch nur der kleinste Gedanke an ihn, machte das Warten zu einer Zerreißprobe - ebenso ihre Beherrschung. Je tiefer die Sonne sank, umso brennender glühte ihr tiefstes Leuchten. Ihre Augen blieben klar auf einen Punkt gerichtet, dass sie beinahe durch ihn hindurch blicken konnte. Kleine Diamanten begannen vor ihren Augen zu tanzen. Myoso musste blinzeln. Erst einmal. Dann ein zweites Mal.

"Sie kommen", hauchte die Prinzessin, dass König Ginko sich leicht zu ihr herunter beugte um sich zu vergewissern, ob er sie richtig verstanden hatte.

"Unmöglich", entgegnete Pensea aufgeregt und sah nun ebenfalls in die Richtung, die Myoso fixiert hatte. Auch ihre Augen begannen kleine Diamanten zu sehen bis sie ihnen gänzlich die Sicht nahmen. Pensea rieb sich die Augen und blinzelte. Erst einmal. Dann erneut. Und ein Weiteres mal: "Bei Mutter Erde", murmelte sie und starrte mit offenem Mund zu dem kleinen Fleck, der immer größer wurde und sich mit jedem weiteren Mal deutlicher zeigte: Aus dem Osten näherten sich die Vertreter des Winterreiches. Weit weniger zahlreich wie ihre Nachbarn, doch das minderte ihre Erscheinung nicht: Zwanzig Winterlinge schritten auf den Sommerpalast - angeführt von Königin Cycla und...

"Aparagos?", Pensea schüttelte den Kopf und rieb sich die Augen, "nein, er kann es nicht sein. Sein Mahl. Es ist nicht da", ihr anfänglicher Unglaube wich erneutem Ärger: "Es muss sein Sohn sein. Ich habe gehört, dass er seinem Vater zum verwechseln ähnelt. Es hätte mich auch gewundert, wenn er sich gezeigt hätte. Es ist immer wieder dasselbe."

"Es ist ein Anfang", erwiderte König Gingko, der das Strahlen seiner Tochter beobachtete. Diese Tochter blickte erwartungsvoll zu der königlichen Familie,von denen ein paar aus den Zweigstämmen mitgekommen waren. Neugierig sah sie zu dem braunhaarigen jungen Mann, der dicht hinter Tyledion stand und seinen Blick flüchtig nach vorne richtete. Kurz schienen sich ihre Seelenspiegel zu treffen. Myoso spürte die enge Verbundenheit zu ihm. Ebenso die Wärme, die von ihm ausstrahlte. Umso mehr zerriss es sie, als er sich schleunigst abwandte und bemühte, keine Gefühle nach außen zu tragen. Seine Abneigung schmerzte sie als wäre eines der sommerlichen Wiesenkinder verloren gegangen. Ihr Gefühl bestärkte sich als sie die Emotionen ihrer Tante Pensea spürte, deren Nasenflügel leicht zu beben begannen. "Ich muss zugeben", entgegnete Pensea mit zittriger Stimme, "ich hätte nicht geglaubt, dass sich auch nur einer von ihnen ins Sommerschloss wagt."

König Gingko nickte: "Cycla und ihr Sohn sind gekommen. Der zukünftige Herrscher des Winterreiches. Dies lässt weitaus mehr auf die Zukunft hoffen als ich es mir jemals ausgemalt hatte."

"Vater", Myoso wandte sich von Winso ab und betrachtete nun Tyledion, den sie für seine Selbstbeherrschung bewunderte - wusste sie doch, was er dahinter verbarg - "stimmt es, dass Prinz Tyledion wie sein Vater aussieht?"

"Die Erscheinung ist dieselbe."

"Dann kann König Asparagos auch nicht so schlecht sein. Sein Sohn ist auch zu uns gekommen. In seinem Innersten empfindet der König vielleicht genauso."

"Vielleicht", entgegnete ihr Vater und bereitete sich darauf vor, Hiemes' nähesten Vertrauten zu begrüßen. Das restliche Wintervolk hielt etwas Abstand als sich die Winterkönigin der sommerlichen Königsfamilie näherte. Selbst Tyledion stand einen Schritt hinter seiner Mutter und verschränkte die Arme hinter seinem Rücken.
 

Von allen Aufmachungen besaß das Wintervolk die strengste Kleidung.Sie erinnerte stark an die der königlichen Armee: dunkelblaue Uniformen, mit seitlichen Schneeflocken-Knöpfen. Aus den Hosentaschen lugten ein weißes Paar Handschuhe hervor, die das Wintervolk bevorzugt im Sommer verwendete. Nur Königin Cycla trug ein dunkelblaues funkelndes Kleid, dass aus Sternenstaub gemacht schien. Auf ihrem langen schwarzen Haar steckte die Krone, die aus nie schmelzenden Eis geformt wurde. Wie gekrümmte Eiszapfen verbeugten sie sich auf ihrem Haupt und funkelten im Schein der Abenddämmerung. Ihre tiefenblauen Augen sahen zu dem klaren Blick des Sommerkönigs hinauf und ließen es nicht zu, aus ihnen zu lesen.

"König Gingko", begann Königin Cycla, dass Myoso Gänsehaut ob ihrer feinen Stimme verspürte, "es ist lange her."

"Die letzte gemeinsame Sommersonnenwende war auf eurer Vermählung", antwortete der Sommerkönig und setzte zu einem ehrlichen Lächeln auf.

"Und ich muss zugeben, dass mir der Segen das zugesprochene Glück zuteil werden ließ", ein leichter Anflug eines Lächelns zierte ihre Lippen, "genau deshalb sind wir gekommen. Ich denke, es steht dem jungen Königspaar zu, von allen Reichen gesegnet zu werden."

"Das stimmt."
 

In dem sie ihm drei Küsse auf die Wange gegeben hatte - immer von der rechten beginnend, außer man gehörte der Familie an, dann fing es mit der linken Wange an - drehte sie sich zu der jungen Sommerprinzessin. Ihre Augen verschlangen geradezu die bleiche Haut. "Deine Tochter ist sogar noch schöner als es Königin Lilith gewesen ist. Sie hat denselben ehrlichen Blick. Aber da ist noch mehr...Sehr interessant."

"Du siehst auch wunderschön aus", erwiderte Myoso, dass sie sichtlich Verwunderung bei der Königin hervorrief. Weitaus weniger wegen ihrer Worte. Sondern wie sie dabei von der Sommerprinzessin angesehen wurde. Wie das Innerste Myosos in warme Sommertöne überging. So etwas hatte die Königin noch nie zuvor gesehen. Geradezu erleichtert war sie als Myoso sich abwandte und das Wintervolk durch den Palast führte.
 

Die Zeremonie konnte beginnen.

Sommersonnenwende II

Wie sich das Wintervolk durch die Palastflure führen ließ, ihre Blicke kühl, dass sie den Meter dicken Eisschollen, die sich wie eine Mauer um den Boden ihres Reiches ausbreiteten, alle Ehre machten - ruhten zwei Augen unablässig auf den fein gewebten Teppichboden.

War Winso nie ein Winterbewohner, dem die sagenumwobene Beherrschung seiner Kräfte zuteil geworden war, so hatte er doch stets seinen Cousin als Vorbild. Ihn nicht zu enttäuschen, trieb den ungewollten Mischling dazu an, immer weiter an seinem guten Willen festzuhalten. Sich weiterhin zu bemühen - unablässig dem Gerede der anderen.

Nicht dieses Mal. Nicht mit diesem seltsamen Gefühl in der Brust. Als wollte sein Innerstes den Körper verlassen. Er konnte es nicht abstellen. Aber wieso? In vibrierenden Schwingungen kämpfte das Leuchten gegen die Unterdrückung des Widerstands. Es wollte ausbrechen. Nicht, wie die Male zuvor, an denen er stets ein Rettungsseil vor sich hatte. Diesmal gab es nur den Boden zu seinen Füßen, dessen bunte Farbenpracht ihn zu verschlingen drohte.
 

Wie, in Mutter Erdes Namen, sollte er es ignorieren?
 

Seit Winso in die Seelenspiegel der jungen Sommerprinzessin geblickt hatte, bekam er das Bild nicht mehr aus seinem Kopf. Ehrliche, von Wärme durchströmte Augen. Die ihn mit Wissen angesehen hatten. Einem Wissen, vor dem er sich fürchtete seit er aus dem Wiesenalter entwachsen war. Sie hatte einen durchdringenden Blick, als könnte sie durch seine Seele blicken. Dabei wollte er nicht so angesehen werden. Nie waren ihm solche Blicke zuteil geworden. Er war der Mischbastard, der es nicht wert war angesehen zu werden. Dessen Existenz eine notwendige Last war, vor denen seine Landsleute die Augen verschossen. Aber sie. Das zarte, liebliche Geschöpf, das einen Duft nach frischer Sommerluft mit sich zog - sie hatte ihn angesehen und ihr Leuchten hatte den Körper erstrahlen lassen. Er wusste gar nicht, wie schön so ein Leuchten sein konnte. Winso kniff die Augen zusammen. Ihr Blick war bedeutungslos für ihn, das musste er sich einfach einreden. Das war keine Wärme, die er gespürt hatte. Es war Mitleid. Alles andere ergab keinen Sinn. Wenn er ihren Blicken auswich, konnte er sich gewiss sein, sich nicht länger davon mitreißen zu lassen.

Zu seinem Glück lief Prinzessin Myoso voran, den Blick auf Königin Cycla gerichtet, die hoch erhobenen Hauptes neben ihr herlief. Beide Blüten konnten unterschiedlicher nicht sein und dennoch liefen sie in Gleichschritt als wäre der letzte Zwist ihrer Reiche ausradiert worden. Besonders die Prinzessin des Sommers schien den stillen Konflikt einfach zu ignorieren: "Ich freue mich, den Segen des Winters von dir zu hören, Königin Cycla. Vater erzählte mir von deiner wundervollen Stimme."

"Dass sich König Gingko daran noch erinnern kann", die Winterkönigin faltete die Hände vor ihrem Schoß. Ohne die Prinzessin anzusehen, wusste der Mischling, dass sie lächelte. Wie ein Sonnenstrahl, der sich durch die Wolkendecke eines trüben Herbsttages kämpft, dachte Winso. Er biss sich auf die Lippen.

"Ruhig", hauchte ihm eine Stimme ins Ohr. Winso öffnete die Augen. Der kalte Lufthauch war unverkennbar Tyledions Werk. Nur ein Mitglied der Königsfamilie war in der Lage, zu seinem Volk zu sprechen, ohne dass die Worte seine Lippen verließen oder einen unerwünschten Zuhörer erreichen konnten.

Allmählich beruhigte er sich. Die Anspannung sank, er atmete in gleichmäßigen Zügen und dankte im Geiste seinem Cousin, der ihn wieder einmal vor Unheil bewahrt hatte.
 

Der Thronerbe des Winterreiches war währenddessen ruhig hinter seiner Mutter hergelaufen. In seinen Augen spiegelten sich keinerlei Gefühle wider. Starr blickten sie geradeaus, verströmten jene unverkennbare Aura, die eines Winterlings würdig war, dass es Winso mit Stolz erfüllte, diesen Prinzen seinen Cousin nennen zu dürfen. Trotz der Abwesenheit ihres Königs, verlieh die Präsenz seiner beiden Vertreter ihrer kleinen Gruppe eine einzigartige Würde, die hunderte Winterlinge nicht zu ersetzen vermochten. Es war Tyledions Ausstrahlung, welche die klügsten Köpfe des Reiches überzeugt hatte, ihn zur Sommersonnenwende zu begleiten. Statt an die Jahrhunderte lange Feindschaft zu erinnern, hatte Tyledion an die Vernunft appelliert. Weniger emotional denn rational waren seine Argumente - ein künftiger König durch und durch.

Festen Schrittes folgte Winso dem Beispiel seines Cousins - und allmählich kehrte sein Optimismus zu ihm zurück.
 

Als sie das Ende des Flures erreichten, kamen ihnen vor den weit offen stehenden Toren ein dutzend Wiesenkinder entgegen. Ihre großen, blauen Augen sahen mit einer Mischung aus Neugier und Scheu zu der Winterkönigin und ihrem Sohn. Die kleinen, zarten Hände hielten Armgeflechte und Kränze, die sich krampfhaft um ihre Finger schlossen. Prinzessin Myoso kniete sich zu den Jüngsten und strich einem Jüngling über sein Haar. "Nur keine Angst", sagte sie, dass der Klang ihrer Stimme in Winso widerhallte, "sie freuen sich über eure Steckarbeiten genauso sehr wie die anderen."

"Aber", murmelte eines der Wiesenkinder und sah betreten zur Seite, "aber sie gucken so streng."

"Weißt du, warum sie das tun?", die Prinzessin hob das Kinn des kleinen Goldlöckchens an, dass sie sich in die Augen sahen. Das Wiesenkind schüttelte den Kopf.

"Während wir unsere Liebe und Zuneigung nach außen tragen, um einen wunderschönen Sommer zu schaffen, müssen die Bewohner des Winterreiches ihre Gefühle verschließen, damit wir alle einen friedvollen Winter erleben dürfen."

"Und sie dürfen nicht einmal hüpfen und tanzen, singen oder jubeln?"

"Wenn ihre Kräfte von Emotionen geleitet werden, würde es einen kalten, harten Winter geben. Voller Stürme und Schneeschauer. Die Keimlinge würden unter ihrem Gewicht ersticken, das Eis die Äste zersplittern."

"Also gucken die Bewohner des Winters nur so streng, weil sie es müssen?"

Prinzessin Myoso nickte. "Sie tun das für uns alle." Sie lächelte. Daraufhin lächelte das Wiesenkind zurück. Die anderen taten es ihm gleich und gemeinsam schritten sie zu den Winterlingen. Eines nach dem anderen überreichten es den Neuankömmlingen seine Präsente. Sogar Königin Cycla beugte sich hinunter, um sich von einem der Kinder den Kopfschmuck anlegen zu lassen. Vorsichtig steckte dieses den Kranz auf ihre Haarpracht, dass die gezackte Eiskrone in Grashalme und Blumengestecke eingebettet wurde. Wie in Trance ließ sich der Mischling sein Armgeflecht umlegen und erwiderte das scheue Lächeln vor sich.
 

Die Worte der Sommerprinzessin beschäftigten ihn. Dass sie so viel über das Winterreich wusste, war erstaunlich. Er kannte keine einzige Geschichte von den Nachbarreichen. Lediglich Anekdoten aus dem Krieg, die von den Gelehrten erzählt wurden, um mit jenen siegreichen Schlachten zu prahlen, welche von der Stärke und Macht ihres Reiches berichteten.
 

Gerne hätte er noch länger ihrer Stimme gelauscht. Ihr Klang ließ ihn alles glauben.

"Hier entlang", damit führte Prinzessin Myoso ihre Gäste tiefer ins Reich des Sommers. Je weiter sie liefen umso intensiver breitete sich ein ihm vertrauter Duft aus. Die tief gelegene Sonne ließ ihn glitzernde Punkte sehen. Punkte, aus denen grelle Flecken wilde Farbspektren entstehen ließen. Prismen entfächerten sich tanzend vor seinen Lidern. Winso traute seinen Augen nicht. Vor ihm offenbarte sich der Lebensbaum des Sommers. Funkelnd hell erstrahlte das Licht der künftigen Generation. Goldene Knospen baumelten aus den Ästen. Millionen von winzigen Leuchtwesen wärmten die hilflosen Geschöpfe, spendeten den Schutz, den sie so dringend benötigten. Zwischen diesen hingen lange seidene Bänder, welche die Farben der vier Reiche repräsentierten. Eine Geste der heutigen Festlichkeit. Der seichte Frühlingswind ließ sie in seichte Schwingungen verfallen, dass Winso wie hypnotisiert darauf starrte. Er stellte sich vor, selbst eines dieser Bänder zu sein. Umringt von seinen Brüdern und Schwestern. Seelisch vereint. Dieser Gedanke war so klar, dass ihn erneut Unruhe packte - und Unruhe sich in Angst wandelte, die zur schmerzhaften Gewissheit wurde: Dieser Baum. Er kannte ihn. Sein Duft erinnerte an ein sicheres Zuhause - voller Liebe und Wärme. Es war Erleichterung und Schmerz zugleich als sie einfach weiter liefen. Dem Baum des Lebens den Rücken kehrend - seinem Baum des Lebens.

Ihr Ziel war ein anderes. Ein Hügel, auf dessen höchstem Punkt die Vertreter des Frühlings und des Herbstes auf sie warteten. Rot-goldene Töne kämpften gegen das Farbenspiel des Frühlings. Der Mischling wusste nicht, wohin er zuerst blicken sollte. Auf das Brautpaar des Herbstreiches oder doch auf das wilde Treiben der Frühlingsschar. Zusammen bildeten sie einen deformierten Halbmond auf dessen anderen Hälfte eine kraterähnliche Landschaft den Hügel einsacken ließ. Winso erwartete dort die Untertanen des Sommerreiches. Doch die Bewohner hatten sich vor dem Hügel versammelt. Die Knie den Boden berührend saßen sie dicht an dicht und warteten auf das Einläuten der Jahreszeit. Nur die Königs- als auch deren Zweigfamilie kam auf den Hügel gestiegen, um die Nachbarreiche willkommen zu heißen.

Erst jetzt bemerkte der Rest von ihnen das Erscheinen ihres kalten Nachbarn. Der Königin des Frühlings verschlug es kurz die Sprache. War sie zuvor noch in ein hitziges Gespräch mit ihrem ältesten Sohn vertieft, verstummte sie ob der unangekündigten Gäste. Hinter Königin Allilaea lugten zu beiden Seiten die Zwillingsprinzessinnen hervor und beäugten neugierig das Wintervolk - einschließlich Winso, dem sein braunes Haar eine gewisse Dazugehörigkeit verlieh. Die Zwillinge steckten die Köpfe zusammen und fingen an zu kichern, woraufhin die Königin ihnen einen giftigen Blick zuwarf, dass die beiden verstummten.
 

Die drückende Stille wurde erst unterbrochen als der Winterprinz seinen rechten Arm ausstreckte und seinen Gefolgsleuten zu verstehen gab, sich nicht von der Stelle zu rühren. Dann folgte er Königin Cycla, die zusammen mit der Sommerprinzessin auf das königliche Brautpaar zuschritt. Auch Königin Allilaea näherte sich dem jungen Herbstkönig und seiner Braut. Schließlich war das frisch vermählte Paar umringt von den führenden Herrschern der drei Reiche und ihren ältesten Kindern. Keiner der jetzigen Generation hatte diesen Anblick jemals erleben dürfen. Die Ausstrahlung, die jede einzelne Königsfamilie versprühte, war kaum zu greifen. Als sie einander die Hände reichten war dies mehr als der Auftakt einer lang gehegten Tradition. Dies war jedem bewusst.
 

"König Asteros", sprach die Königin des Winters und senkte ihr Haupt, "ich und mein Volk gratulieren dir zu deiner jüngsten Ernennung. Wir bedauern, die Glückwünsche nicht früher bekundet zu haben, hoffen jedoch, dass du sie dennoch annehmen wirst."

Auch der junge Herbstkönig neigte seinen Kopf: "Mich haben die Briefe des Königs erreicht. Weitere Glückwünsche zu erbitten, wäre eine Dreistigkeit meinerseits, die ich mir nicht anmaßen möchte."

"So kann nur Ceanthos Sohn sprechen", entgegnete Königin Cycla und ließ sich zu einem flüchtigen Lächeln hinreißen, während ihr Blick zu den Vertretern des Herbstreiches und ihrem alten Herrscher huschte, bevor sie sich zu ihrer Linken wandte. Königin Allilaea räusperte sich. Als Repräsentantin des Frühlings war es ihre Aufgabe, das Ritual der Segnung einzuläuten. Die Zeit war gekommen. Sie öffnete ihren Mund, dass Nebelschwaden aus ihm entstiegen. Der Boden zu ihren Füßen begann die Feuchtigkeit aufzusaugen. Weiter blies die frische Frühlingsbrise, dass der Nebel bis zu ihren Knöcheln reichte. Leise hauchte die Königin des Frühlings die Klänge des Lebens - Sinnbild allem Anfangs. Weisheiten wurden bekundet. Weisheiten ihres ersten Vorfahren, dessen Sprache nicht mit Worten ausgedrückt werden konnte. An ihrer Stelle sprossen Schneeglöckchen aus dem Nebeldunst, wiegten sich hin und her, dass sie eine Melodie erklingen ließen, die von der Kraft des Frühlings geleitet wurde. Grünes Licht stieg aus den Klängen direkt zu dem Brautpaar, bildete einen Ring, der sich um die beiden legte. Nun war der Sommer an der Reihe. Myoso ließ von der Hand ihres Nachbarn Prinz Scilledos und zog aus dem Ärmel ihres Gewandes eine Flöte hervor. Gebaut aus den Schilfrohren des Reiches vereinte sich ihr Klang mit den Schwingungen der Schneeglöckchen als die Sommerprinzessin ihre Lippen anlegte und zu spielen begann. Geleitet von dem Vater aller Sommerkinder spielte sie wie es kein anderer vermochte. Die Töne hallten über den gesamten Hügel. Geführt von der Kraft ihres Vaters, König Gingko, der seine rechte Hand ausstreckte, um einen Faden aus Sonnenlicht zu spinnen, erschufen die Klänge der Flöte einen zweiten Ring, der mit dem Licht des Frühlings verschmolz. Ranken aus Efeu und Clematis verbanden die beiden Kräfte.

Als Letzte bewegte die Königin des Winters ihre Lippen. Aus einem zarten Hauch trat kühle Luft, die zu pfeifen begann. Aus dem Hauch wurden Töne, die mit jedem weiteren Ton aufklärten. Königin Cycla sang das Lied von Mutter Erde und dem Geschenk ihrer vier Söhne. Die Verehrung ihrer aller Mutter spiegelte sich in ihrem hohen Gesang wider, der den Fluss hinter den Palastmauern Wellen schlagen ließ. Der Gesang mündete in einer summenden Melodie, der ihren kalten Atem in Eiszapfen einfror. Aus ihren Spitzen ragte blaues Licht, das die Augen des Winterprinzen entsendet hatten. Tyledions Wintermagie ließ die Zapfen tanzen, dass sie sich zu Braut und Bräutigam bewegten, um schließlich als Ring eins mit seinen Brüdern zu werden.

Nur in diesem Moment strahlte das Licht der drei Jahreszeiten wie eine schützende Mauer um das königliche Brautpaar. Die Vereinigung von Gesängen und Klängen stärkte den Ring der Segnung, dass sein Licht über den Wolken noch sichtbar wäre. Der junge König Asteros berührte den Handrücken seiner Gemahlin. Demütig senkte sie ihr Haupt, legte die freie Hand auf Brusthöhe, dass ihr innerstes Leuchten durch die Haut hindurch schimmerte. Als hätten die Lichter nur auf dieses Zeichen gewartet bewegten sie sich aus ihrem Ring. Die junge Königin empfing die Segnung, sog die einzelnen Lichter in ihr Innerstes und schloss sie dankbar in sich ein.
 

Dieser Augenblick brannte sich tief in die Sommerprinzessin ein. Das Glück der beiden spiegelte sich in ihren Augen wider. Sie dachte an Tyledion, der sich still von der Gruppe abgewandt hatte und zu seinem künftigen Volk zurückgekehrt war. Wie gern wäre sie ihm nachgelaufen, hätte von ihren Empfindungen gesprochen, während er sie eng umschlungen hielte und ihren Worten lauschte. Myoso wusste, dass er ebenso dachte. Ihr letztes Treffen lag keine zwei Tage zurück als sie von ihren Sehnsüchten und Träumen gesprochen hatten. Darüber wie ihre Zukunft aussehen könnte, wenn sie sich nur etwas länger in Geduld übten. Ihr huschte ein Lächeln über die Lippen. Die Erinnerung an sein Versprechen ließ sie an die letzte Stunde vor dem nächsten Sonnenaufgang denken.

Sommersonnenwende III

"Wie geht es jetzt weiter, Schwester", zupfte der jüngere Bruder an Myosos Rockzipfel, nachdem diese den Ritualkreis verlassen hatte. "Wann beginnt endlich die Sommersonnenwende? Mir ist langweilig. Ich will auch etwas tun, aber keiner lässt mich. Das ist gemein." Er verzog verärgert den Mund.

"Nur Geduld, Cynus", sie strich ihm über die Wange, "du weißt doch, dass die Sommersonnenwende um Mitternacht beginnt, kurz nachdem die Sonne hinter unserem Zuhause verschwunden ist."

"Ich weiß", seufzte er und blickte zu den Erwachsenen, die sich zu Mehreren in kleine Gruppen aufgeteilt hatten und sicher über Themen redeten, von denen der junge Prinz nichts verstand. Er ließ wie wild seinen Kopf drehen, dass seine schulterlange Mähne durchgeschüttelt wurde und sah sich nach allen Seiten um: Da gab es seinen Vater, der mit der Winterkönigin und ihrem Sohn den Hügel umrundete und in eine Unterhaltung verwickelt war. Wenn er aus dieser Entfernung auch nichts hören konnte, so wusste er, dass ihn die Gespräche nur ermüden würden und dass sie ihn nicht ernst nähmen, wenn er sich zu ihnen gesellte.

Zu seiner jüngeren Schwester wollte er auch nicht gehen. Malwa wuselte auf den Wiesen, sprach die letzten Gebete für die Grashalme, dass sie diesen Sommer wieder nicht austrocknen mögen. Diese Aufgabe entsprach einem Wiesenkind, nicht aber dem künftigen Herrscher des Sommerreiches! Aber was sollte er nur tun? Erneut hielt er Myoso an ihren Kleidern fest. Die Älteste verstand sofort und deutete in Richtung der Palastmauern. "Wieso leistet du der königlichen Armee nicht etwas Gesellschaft? Sie bereiten soeben die Ankunft unserer Wächter vor. Über einen fleißigen Prinzen würden sie sich sicher freuen." Seine Schwester hatte recht. Ihm gefiel die Idee, an der Seite der heiligen Wachen zu stehen und sich um die gebührende Ankunft der Monatswächter zu kümmern.

"Das mache ich", verkündete er stolz und hopste an Myoso vorbei. Diese sah ihm lächelnd hinterher. Sein kindlicher Eifer war für viele der Wiesenkinder ansteckend, dass sie zu den knieenden Untertanen eilten und sich in Position brachten, obwohl ihnen noch etwas Auszeit vergönnt gewesen wäre.
 

"Ein ambitionierter kleiner Prinz", sprach eine Stimme hinter ihr.

"Lathyrus", Myoso drehte sich zu dem Mitglied der Zweigfamilie um. Als einer der ranghöchsten seines Clans war Lathyrus die letzten Instruktionen seines Vaters durchgegangen. Der älteste Sohn des Generals war verantwortlich für sämtliche Abläufe, die für die Verabschiedung des Frühlings von Wichtigkeit waren. Es waren die ersten Minuten seit Anbeginn des Morgengrauens, dass er wieder Luft schnappen konnte. Umso mehr freute es ihn, diesen Augenblick neben seiner Prinzessin verbringen zu dürfen. König Gingkos Tochter konnte einem die hart schuftenden Arbeitstage vergessen lassen. Myosos warmherziger Blick entlockte vielen Bewohnern ihr innerstes Leuchten - besonders dem jungen Sommerling.

"Mein kleiner Bruder", sprach sie sanft und blickte dem immer blasser werdenden Punkt hinterher, "er wird bestimmt einmal ein wundervoller König", sie senkte den Blick, "aber hoffentlich nicht ganz so bald. Es gibt noch so vieles, das er vorher tun sollte - mit seinen Freunden spielen, die Sonnenstrahlen genießen. Die Zeit soll ihm nicht entwischen."

"Egal wie, für den kleinen Prinzen wird die Zeit eine Ewigkeit andauern."

"Ja", lachte sie auf, "er wird noch oft genug deswegen schmollen. Doch dafür liebe ich ihn."

"Prinzessin", setzte Lathyrus an. Er verspürte ein Kratzen im Hals und fuhr sich schnell durch sein Haar, bevor ihn weitere Zeichen verraten konnten: "Wenn die Sommersonnenwende vollzogen ist...ich meine, nach der Zeremonie. Wenn es da einen Augenblick gibt, wo wir-" Weiter ließ man ihn nicht sprechen. Ein Mitglied seines Clans kam herbeigeeilt, klopfte ihm harsch auf die Schulter und erbittete seine Aufmerksamkeit. Wenn Lathyrus' Aufgaben nicht so wichtig gewesen wären, hätte er seinen Vetter am liebsten verscheucht. Er wusste nicht, ob sich ihm solch eine passende Gelegenheit bald wieder bieten würde. So entschuldigte er sich bei der Prinzessin für sein plötzliches Abtreten und folgte seinem Verwandten, der bereits vorangeschritten war.

Auf halbem Weg kreuzten sich die Wege der jungen Sommerlinge und ihres Königs. Noch während sie liefen senkten sie die Köpfe, begrüßten König Gingko, um dann an Tempo zuzunehmen und den Hügel hinunter zu rennen.
 

"Seit meinem letzten Besuch hat sich kaum etwas verändert", bemerkte König Gingkos winterliche Begleitung. Königin Cycla hatte sich bei ihrem Sohn untergehakt, den Blick in die Weiten des Sommerreiches gerichtet und dem fleißigen Treiben des hiesigen Volkes zugesehen. Kopfschüttelnd blickte sie den Sommerlingen hinterher. "Eure jungen Burschen eifern wie immer ihren Vätern nach, während die weiblichen Blüten zu jungen, ehrfürchtigen Bräuten heranreifen. Ich muss zugeben", dabei wandte sie sich wieder dem Sommerkönig zu, "dass ich eine Ankündigung deinerseits erwartet hatte. Der Zeitpunkt für eine Verlobung könnte nicht passender sein - wenn man dem Gerede glauben kann. Wenn ich mich recht entsinne, wurde zu unserer letzten gemeinsamen Sommersonnenwende deine Vermählung mit Königin Lilith bekannt gegeben. Die Zurückhaltung des Sommerreiches überrascht mich."

"Alles zu seiner Zeit", erwiderte König Gingko, "ihr großer Moment wird früh genug kommen. Zudem hätte sich meine Tochter an diesem Tag nie selbst in den Vordergrund gerückt. Dafür freut sie sich zu sehr für den Herbstkönig und seine Frau. Nein, Myoso hätte das nie gewollt." Er blieb stehen, dass er aus dem Augenwinkel seine Älteste beobachten konnte. Sie hatte sich zu dem jungen Brautpaar gestellt. Ihre Wangen glühten bei dem Anblick der königlichen Braut, die sich zu Myoso vorgebeugt hatte und ihr etwas ins Ohr flüsterte. Der Sommerkönig stellte sich vor, wie Myosos Gesicht erst aussehen würde, wenn sie zu ihrer eigenen Vermählung schritte.

"Prinzessin Myoso", hauchte Königin Cycla ihren Namen und hielt ihren Sohn an, ebenfalls stehen zu bleiben. Wie ein folgsamer Soldat hielt Tyledion inne.

"Die Gerüchte um ihr einzigartiges Wesen scheinen zu stimmen", murmelte sie. Die Königin hatte ein ähnliches Bild vor Augen. Mit ihrem eigenen Sohn, der auf dem winterlichen Palastbalkon stand und seinem Volk zuwinkte. Anders als der Sommerkönig bereiteten ihr derlei Gedanken Unbehagen. Eine Vermählung ihres Sohnes bedeutete, eine baldige Übernahme der Königskrone. Bisher hatte Tyledion kein offenes Interesse an eine der heranreifenden Blüten ihres Reiches bekundet, dass sie einen Herrschaftswechsel noch in weiter Ferne sah. Ähnlich wie ihr Gemahl war der Winterprinz kühl und abweisend gegenüber denjenigen, die sich ihm anzubiedern versuchten. Für Königin Cycla war es beruhigend zu wissen, dass ihr Sohn keine Anwandlungen besaß, die Ernennung zum König zu beschleunigen. Wenn Asteros auch als jüngster Herbstkönig hervorstach, musste nicht jeder seinem Beispiel folgen. Zumal Tyledion den alleinigen Anspruch auf die Krone besaß und nach ihrem empfinden keinerlei Druck ausgesetzt war.
 

"Königin", deutete schließlich König Gingko in Richtung der schmalen Linie, die an die untergehende Sonne erinnern sollte.

Natürlich", erwiderte die Winterkönigin. Langsam kehrten sie zurück auf die Hügelspitze. Tyledion zog sich etwas zurück, in dem er von dem Arm seiner Mutter ließ und einige Schritte hinter ihr Abstand bewahrte. Damit gewährte er Königin Cycla einen Augenblick, in dem sie sich geistig zurückziehen konnte und nicht dem ständigen Gefühl erlegen war, belauscht und beurteilt zu werden.
 

Als Gemahlin des Winterkönigs war es ihr nicht gestattet, alleine außerhalb der Palastmauern zu verweilen. Besonders nicht auf fremden Territorien, ohne die Begleitung eines männlichen Wintererben. Seit Jahrtausenden existierte diese ungeschriebene Regel und niemand wagte es, an ihr zu zweifeln.

Die streng gehaltenen Sitten erleichterten es zumindest Tyledion, einen klaren Kopf zu bewahren.
 

Seine eigene perfektionierte Selbstbeherrschung wurde an diesem Tag auf eine harte Geduldsprobe gestellt.
 

Mit Läuten der alljährlichen Sonnenglocken, die in allen vier Reichen zu hören waren, entspannte der Teil in ihm, der jede Bewegung der Abenddämmerung mitverfolgt hatte.

Wenn zwölf Schläge entsendet worden, war es an der Zeit, niederzuknien und dem folgenden Geschehen still beizuwohnen.

Am höchsten Punkt des Hügels versammelten sich der Reihe nach die höchsten Vertreter von Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Die Glockenschläge hatten Ruhe in die gesellige Runde gebracht. Selbst der lebhafte Frühling verfiel in ehrfürchtiges Schweigen.

Tyledion kniete sich vor seiner künftigen Gefolgschaft, dicht dahinter sein jüngerer Cousin Winso, der erleichtert ausatmete als der Prinz vor seinem Sichtfeld erschien. Die Anspannung des jungen Mischlings war ungewohnt für Tyledion. Er wusste, dass er ihn im Auge behalten musste, wenn Winso nicht noch mehr Unmut von Seiten der Winterlinge auf sich ziehen wollte. In einem kurzen Moment des Innehaltens sammelte der Winterprinz seine Kräfte und öffnete einen Link zu Winsos Innersten. Mit ruhigen, bestimmten Worten versuchte er den Mischling zu besänftigen. Das Lächeln hinter ihm bestätigte, dass er gehört worden war. Tyledion brauchte seinen Cousin nicht anzusehen, um die Mimik seines Gesichtes deuten zu können. Schon ihr ganzes Leben verbrachten sie in unmittelbarer Nähe zueinander. Daran konnten die langen, verwinkelten Flure des Winterpalastes auch nichts ändern. Ebenso wenig das Gerede aus den innersten Kreisen.

Vorsichtig schloss Tyledion den Link, sammelte seine Kräfte ein weiteres Mal, um kleine Eiskristalle auf Winsos Fingern entstehen zu lassen. Wenn seine Gefühle erneut ins Wanken geraten sollten, würde das ewige Eis der Kristalle durch seinen Körper dringen und einem ungewollten Ausbruch entgegen wirken. Und Tyledion war sich sicher, dass seinem Cousin genau dies bevorstand.
 

Als der letzte Glockenschlag verhallt war, begann die Erde zu vibrieren. Nicht nur auf dem Hügel. Das gesamte Reich erzitterte vor dem bevorstehenden Wandel. Aufrecht stehende Grashalme beugten sich den Schwingungen und knieten nieder. Flötenmusik ertönte. Hundert der ältesten Sommerlinge hatten sich erhoben. Sie standen zu zwei Ketten einander gegenüber, die Flöten zeigten auf den Nasenrücken ihres Nachbarn. Völkische Melodien verbreiteten sich auf der Wiese, dass diese zu schwingen begann. Trommelschläge gesellten sich hinzu. Die höchsten Mitglieder der Sommerarmee marschierten im Gleichschritt auf die Flötisten zu. Ihre aus Rinde und Spinnweben gefertigten Trommeln riefen das Ende des Frühlings aus. Jeder Schritt setzte einen Trommelschlag frei, bis sich die Soldaten neben die Sommerlinge stellten. Zusammen ebneten sie einen Weg, an dessen Ende ein grünes Licht das Erscheinen der Wächter verkündete.
 

Die Wächter der Jahreszeiten, auch Monatswächter genannt, waren eine Allianz aus jeweils drei Vertretern der vier Jahreszeiten. Zwölf Auserkorene, die das Gleichgewicht zu wahren hatten, waren - nach den Königinnen und Königen - die höchste Instanz in ihren Reichen. Ihre heiligen Pflichten schützten das Geschenk Mutter Erdes seit die Urväter der Jahreszeiten ihre Kräfte an ihre Erben weitergegeben hatten.

Bis zum heutigen Tag war ihre Existenz nicht wegzudenken.
 

Der dritte Wächter des Frühlings führte die Gruppe an. Ihre schwarzen Mäntel erinnerten an die Neutralität, die sie gegenüber der Allianz geschworen hatten. Verdeckt waren die Gesichter unter ihren weiten Kapuzen als sie andächtig zwischen den Sommerlingen schritten. Den Hügel empor steigend fielen die Kapuzen auf ihre Schultern, dass die Gesichter jedes einzelnen im schwachen Licht der Frühlingsmagie in Erscheinung traten. Jenes grüne Licht entsandte ihr Anführer, der einen einfachen Stock als Stab benutzte, um darauf eine Kugel tanzen zu lassen, welche die Farbe seiner Jahreszeit symbolisierte. Dieser Stab wurde von Monat zu Monat weiter gereicht. Er war Sinnbild jener Stäbe, welche die königlichen Nachfahren bei sich trugen - materialisierte Magie, die nur auserwählten Erben zuteil wurde, welche sich der Macht als würdig erwiesen. Geschichten entstanden um diese heiligen Relikte. Man erzählte sich, dass die Urväter ein Stück ihrer Seele in die Wurzeln der Lebensbäume geschlagen hatten, bevor sie ihre Reise zu Mutter Erde angetreten waren - und dass aus diesen Wurzeln die Stäbe der Jahreszeiten geschnitzt wurden.

Besaß der Stab der Wächter keine Magie, die ihm von Natur aus verliehen war, deutete ihre Kugel lediglich auf den ihm zugewiesenen Monat hin. So zeigte ihr helles Grün das Ende des Frühlings, für das der dritte Frühlingswächter stand. Diese Aufgabe gebührte niemand geringeren als König Narcissus - Gemahl der Frühlingskönigin (weswegen er in seinem Reich auch als oberster Wächter bezeichnet wurde). Mit seinem langen, braunen Haar, das ihm fast bis zum Boden reichte, der hohen, geradlinigen Statur und den funkelnden grünen Augen, die darauf trainiert worden waren, ernst und gefasst auszusehen, war König Narcissus der Auffallendste in seinen Reihen. Inmitten des Kraters blieb er stehen, drehte sich in Richtung Süden und streckte den Stab in den Mitternachtshimmel. Das grüne Licht erlosch. Daraufhin näherte sich ihm die erste Wächterin des Sommers. Die leuchtende Schönheit besaß ob ihrer blau glänzenden Seelenspiegel dieselbe kühle Unnahbarkeit wie ihre Kameraden. Den Stab in ihre Obhut gebracht sprang eine gelb-goldene Kugel an dessen Spitze, dass sie dem Abbild der Sonne entsprach. Als neue Anführerin drehte sie den Stab um seine eigene Achse, das jeder dem Lichtwechsel zusehen konnte. Ihre Augen begannen durch die Reihen zu wandern, während ihre Lippen den Treueschwur der Monatswächter sprachen: "Treue der Souveränität", sie sah zu den Vertretern des Frühlings, "Treue der Allianz", sie sah zu den Vertretern des Sommer, "Treue unseren Urvätern", sie sah zu den Vertretern des Herbstes, "und Treue unserer aller Mutter", und sie sah zu den Vertretern des Winters. Winso spürte, wie ihn ein unsichtbarer Faden am Halse packte. Ohne der Wächterin vorher begegnet zu sein, wusste er, wer sie war. Verriet der Blütenduft ihre gemeinsame Verbundenheit. Der junge Mischling wagte es nicht zu atmen. Diese Augen, die seine Blicke gekreuzt hatten, zeigten keinen winzigen Funken der Erkenntnis. Sie blieben kühl und nichtssagend - genau wie zu erwarten, wenn er diesen Augenblick denn kommen gesehen hätte.

Warum bin ich hier, schrie er in sich hinein und spürte, wie die Wintermagie seines Cousins auf ihn einwirkte. Erst ließ die Kälte seine Hände taub werden, dann wanderte sie den Arm hinauf in Richtung seines Innersten. Es war ein schmerzhaftes Gefühl. Wie sich die Kälte in ihn hinein bohrte, konnte er keinen Gedanken, keine Empfindung mehr zulassen.

Er lenkte das Gesicht gen Boden. Was für Außenstehende wie eine Geste der Ehrfurcht aussah, war die einzige Möglichkeit, das Chaos in ihm zu bändigen. Für ihn passierten die nachfolgenden Rituale nur beiläufig, während sich allmählich sein Geist zu entspannen versuchte. Doch erst als er sich sicher sein konnte, nicht von erneutem Chaos überrannt zu werden, wagte er einen Blick nach vorne. Alle zwölf Wächter hatten sich kreisförmig um den Krater versammelt. Die Kapuzen hingen ihnen wieder über den Gesichtern, dass Winso sich ganz auf den Mittelpunkt konzentrieren konnte. Dort hatte sich König Gingko gestellt und mit der Beschwörung seines Sommerstabes begonnen. Gleißendes Licht umfing seine rechte Hand. Der Stab legte sich wohlwollend in deren Innenfläche. Zwei starke Wurzelstränge, die sich umschlungen hielten, bildeten sein Gerüst. Oben auf ragten goldene Blätter, die eine grell leuchtende Dornenkugel umwickelten. Nur die Erben des Sommerreiches waren in der Lage, der Kugel direkt ins Auge zu blicken. Konnte sie einen sonst erblinden lassen, wenn man ihren Anblick zu lange in sich aufsog. Ihr helles, beinahe brennendes Leuchten schien direkt von den Sonnenstrahlen getränkt worden zu sein. Sobald der Sommerkönig die Macht entfaltete, sprühten Funken aus dem innersten Kern der Kugel. Die Dornen begannen Flammen ähnlich auf zu blitzen - es erstrahlte ein Licht, das der späten Mittagsstunde glich. Die Nacht schien wie ausgelöscht als König Gingko seinen Stab schwenkte und viele kleine Funken ausschwärmen ließ. Wie wild gewordenes Gefieder flatterten die Funken über den Köpfen der Bewohner und deren Gäste. Sie breiteten sich auf dem Hügel und den Wiesen aus. Flogen weiter über die Seen und Bäche, entlang des Palastes bis zu den Gipfeln des Reiches. Wie zu einem Sprung ansetzend ließen sie sich gleichzeitig nieder. Eine Explosion von Farben sprang aus dem Boden. Die Wiesen begannen zu wachsen, die Blüten öffneten ihre Blätter. Funkelnde Spiele entfachten auf den Gewässern. Die zarten Keimlinge sprossen aus allen Winkeln. Bäume zeigten sich in ihren schönsten Gewändern, trugen Früchte in den unterschiedlichsten Formen aus. Ein weiterer Knall folgte und, als wenn Pollenstaub durch die Lüfte getragen wurde, entstand eine Nebelwand aus den buntesten Farben, die der Sommer zu bieten hatte. Die weißen Gewänder der Sommerlinge sogen die Farben in sich auf. Ebenso ihre Hände, Arme und Beine. Sogar im Gesicht klebte die pulvrige Masse, als hätten sich die Bewohner auf ein ausgelassenes Spiel eingelassen. Zusammen mit ihrem innersten Leuchten, dass sie heute nach außen zu tragen hatten, wurden sie von der Ankunft des Sommers vollkommen eingenommen. Gelbes Licht sprieß aus jedem noch so kleinen Sprössling. Sogar das Leuchten der Sommerprinzessin war so stark, dass die Zurückhaltung ihrer magischen Kräfte nicht weiter auffiel.

Nach und nach erhoben sich die Sommerlinge. Ihre Nachbarn taten es ihnen gleich. Auch an ihnen klebten die bunten Überreste, die lediglich auf den Gesichtern der Winterlinge sofort wieder verschwanden. Nun senkte König Gingko seinen Sommerstab. Die Nacht kehrte zurück, dass lediglich die Flügelschläge der Schröpflinge, die schüchtern aus ihren Verstecken gekrochen kamen, Licht in die Dunkelheit brachten. Als nächstes zogen sich die Wächter zurück und liefen den Weg, den sie gekommen waren, in gleichmäßigen Schritten zurück. Mit einer Verbeugung des Sommerkönigs läutete dieser das Ende der Sommersonnenwende ein, worauf nach alter Tradition der Eröffnungstanz des Königspaares folgte. Doch wenn eine Brautsegnung innerhalb der Feierlichkeiten stattfand, gebührte dieser Auftakt einzig und allein dem frisch vermählten Paar.

Es wurde Platz auf dem Hügel geschaffen, dass die vier Reiche einen Kreis um ihn bildeten, der von König Asteros und seiner Gemahlin besetzt wurde. Mit Erklingen der Flötenspiele, die eine liebliche Melodie pfiffen, legte der Herbstkönig seine linke Hand um die Hüfte seiner Braut, die rechte vereinte sich mit der seiner Liebsten. Ihre Bewegungen waren elegant und geschmeidig, wie sie den gesamten Platz in Anspruch nahmen. Erst mit einem Wink seitens des Herbstkönigs wurden die anderen dazu eingeladen, ihrem Beispiel zu folgen.
 

"Mutter", sprach Prinz Tyledion und streifte sich die Handschuhe über, "als Zeichen unseres guten Willens sollten wir die Sommerprinzessin zum ersten Tanz auffordern. Du weißt, wie wir sonst dastünden, wenn wir es nicht versucht hätten."

"Du hast recht, mein Sohn", sie sah in die Reihen der Sommerlinge. Es würde nicht lange dauern, dass einer der Zweigfamilie der Aufforderung zuvor käme. "Fordere Prinzessin Myoso zum Tanz auf. Wenn das Königshaus ablehnt, kann man uns wenigstens keine Unhöflichkeit vorwerfen."

"Wie du wünschst, Mutter", damit schritt der Winterprinz auf die sommerliche Königsfamilie zu. Neben der Prinzessin machte die Schwester des Königs große Augen als Tyledion direkt vor der ältesten Tochter stehen blieb und eine Verbeugung tat. Dabei sah er zu König Gingko, der allein darüber zu entscheiden hatte, ob die Prinzessin die Aufforderung annehmen durfte oder nicht. Mit einem bedeutsamen Nicken gewährte er dem Winterprinzen einen Tanz, dass Myoso einen Knicks tat und ihre Hand darbot. Ohne einander in die Augen zu sehen - denn so verlangten es die Sitten - führte Tyledion die Sommerprinzessin zur Mitte des Platzes und ließ sie in schwingenden Bewegungen über den Boden schweben. Alle Augen waren auf das ungewöhnliche Tanzpaar gerichtet. Niemand wagte es ein Wort zu sagen, obwohl die Unruhe greifbar war.

"Du weißt, warum sie das machen", murmelte Pensea und sah verärgert zur Winterkönigin herüber, die soeben von einem Winterling nach vorne geführt wurde.

"Ganz ruhig", entgegnete König Gingko und sah seiner Tochter hinterher, "es ist nur ein Tanz...Aber vielleicht auch der Beginn einer neuen Freundschaft." Bevor seine Schwester weitere Zweifel betreffend der guten Absichten einräumen konnte, ergriff er ihre Hand und tanzte mit ihr über die frisch erblühten Felder.

Sommer I

Vorbei am Gelächter, den Tänzen, den freudigen Gesängen. Den Hügel hinunter, weg von den Sommerlingen, die sich paarweise eingefunden hatten und sich immerzu im Kreise drehten; den Sommeranfang bejubelnd, ihr Beisammensein besangen. So viel Freude, so viel Glückseligkeit. Da gab es keinen Platz für finstere Gedanken, Sorgen und Ängste.

Weiter ging es über die weiten Wiesen, weiter über die Schlafplätze, die für die Jüngsten bestimmt waren und dort nach Vollendung der Sommersonnenwende zu ruhen hatten. Weiter, immer weiter, bis er schließlich zu einem Bach gelangte. Flaches Gewässer, das seit Sommerbeginn zu schrumpfen begonnen hatte, aber noch genug Wasser zur Erfrischung bereit stellte. Auf halbem Weg kam der Mischling ins straucheln, rutschte über ein feuchtes Stück Erde und landete auf Knien neben dem plätschernden Bach. Außer Atem zerrte er an seinen Handschuhen, dass sie achtlos zu Boden fielen und tränkte die bemalten Finger in die kühlende Nässe. Hektisch rieb er beide Hände aneinander, schrubbte die Farbe von seiner Haut, bevor er sich die Tropfen ins Gesicht klatschte. Er betete, die Farbe möge ihm endlich aus dem Antlitz weichen. Was war das, dass Hiemes' Hand ihn immerzu strafte? Das bunte Pulver, das ihn wieder einmal als einzigen von seinen Vettern unterschied - und ihm so schwer von der Haut abgehen wollte als triebe es seinen Spott mit dem jungen Burschen.
 

Das eigene Spiegelbild vor Augen ließ die Faust auf die Wasseroberfläche schlagen. Er verabscheute sich, seine Herkunft und alles, was ihm Schlechtes eingebracht hatte. Sein Spiegelbild vereinte die Dinge, die er gut in seinem Inneren zu verstecken wusste.

Einmal tief eingeatmet, den Geist sortiert.

Winso wartete, bis sich das Gewässer beruhigt hatte und fuhr mit seiner Arbeit fort. Wenn er die Farbe nicht bald abbekäme, müsste er mit dieser Schmach heimkehren. Noch dazu die Blicke der Winterlinge, wenn sie erst einmal bemerkten, dass Winsos Haut keinen natürlichen Eisschutz zustande brachte. Er konnte froh sein, dass man ihm den Abend über keine Beachtung geschenkt hatte. Konnte es doch etwas Gutes mit sich bringen, der Schandfleck des Reiches zu sein, um den sich keiner scherte. Aber das würde nicht für Lange sein. Sobald jemand die Mahle bemerkte, würde das Gerede beginnen. Der junge Mischling wollte unter keinen Umständen Ärger bereiten, der die Königsfamilie in ein schlechtes Licht rückte. Besonders seinem Cousin wollte er keine Schande sein, war dieser den ganzen Abend bemüht gewesen, Winsos Gefühle im Zaum zu halten. Nein, er durfte Tyledion nicht enttäuschen! Das hatte er sich damals geschworen und er würde sich auch heute zusammennehmen.
 

Mit den Nägeln kratzte er sich das Orange von den Wangen, dass seine Mühen langsam Früchte trugen. Der letzte Farbfleck, ein gerader Strich, der ihm über die Schläfe ging - nur noch diese eine Stelle und er war sie endlich losgeworden.

Er blinzelte als die Wasserspiegelung einen zweiten Schatten entstehen ließ. Das Flimmern der Schröpflinge offenbarte nur langsam die Schattengestalt. Schließlich stand sie genau hinter ihm, dass er ihren Atem ausmachen konnte. Sein Körper erstarrte.

"Winso", hörte er sie sagen. Das Gesicht dieses weiblichen Sommerlings - sie hatte neben der Königsfamilie gestanden. Die Schwester des Sommerkönigs. Ihre zittrige Stimme jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Winso erhob sich.

"Ich", hauchte sie, ihr tiefstes Verlangen unterdrückend. Ihre linke Hand streckte sie nach dem Mischling aus. Dieser schüttelte vehement mit dem Kopf. Der Anblick, der sich ihm bot, zerfraß ihn von innen. Die trüben Augen, die nach seinen Blicken suchten - sie waren voller Trauer und Mitleid. Winso konnte sie nicht länger ertragen.

"Winso, bitte...ich-" Doch er schlug ihre Hand von sich. In seinem Blick setzte er die letzten Reserven an Emotionslosigkeit, die er noch aufbringen konnte. Stampfend kehrte er ihr den Rücken zu und lief in Richtung Feierlichkeiten.

Trauer und Hilflosigkeit blieben am Ufer des Baches zurück.
 

Am anderen Ende flitzten die nackten Beine der Sommerprinzessin über den saftigen Rasen ihres Landes. Über die Klatschmohnwiese hangelten sich die Stiele um ihre Waden, während sich der Duft in Myosos Kleidern verfing. Es kümmerte sie nicht, dass die Pollen schwarze Flecke auf ihren Armen hinterließen oder die feuchte Erde ihre Füße beschmutzte, dass sie leicht ins rutschen geriet. Sie rannte einfach weiter. Den kleinen Widerständen zum Trotze, denen sie ihr Verlangen nach Aufmerksamkeit nicht grollte. Mit einem Lächeln - obwohl sie es am liebsten vor Freude hinausposaunt hätte, wenn sie denn nicht Gefahr gelaufen wäre, entdeckt zu werden - stürmte sie voran.
 

Dass sie sich einfach davon gestohlen hatte - sie, die Sommerprinzessin - daran wäre zur letzten Sommersonnenwende nicht einmal zu denken gewesen. Doch sie musste die Gelegenheit nutzen. Der Moment, in dem ihre Anwesenheit keine Notwendigkeit mehr darstellte. Sie bot sich ihr erst kurz vor Sonnenaufgang. Wenn die Feierlichkeiten sich dem Ende neigten, ihre Pflichten als älteste Königstochter beendet waren, erst dann war es der Sommerprinzessin möglich, sich frei in ihrem Reich zu bewegen - ihrem sehnlichsten Wunsch nachzugehen.
 

Vom stillen Wind getragen, der sanft ihre Haare hin und her wiegte, rannte sie über die nächste Wiese, vorbei an den Obstbaumplantagen und den Glockenblumen-Feldern, dessen Blätter Myosos Ankunft mit einem fröhlichen Rascheln huldigten. Hätte sie die Zeit, wäre die Prinzessin stehen geblieben, hätte den zarten Blüten ob ihrer jüngsten Auferstehung etwas vorgesungen. Die Zeit im Nacken, die sich mit der ersten Morgenröte verabschiedete, eilte sie einfach an ihnen vorbei und versprach im Geiste, sich nachher um sie zu kümmern.

Schließlich gelangte sie in jene Tiefen des Sommerreiches, die nur von den wenigsten aufgesucht wurden. Kurz vor den Hügeln, auf denen die Grenzen des Herbstreiches zu erblicken waren, gab es nur wenig von Mutter Naturs Schönheit zu entdecken. Dort, wo sich das Gras kaum mehr grün färbte, ragten ein dutzend Buchen in über vierzig Meter Höhe empor und spendeten an besonders heißen Tagen den nötigen Schatten.

Myoso wurde nicht langsamer. Selbst als sie dem letzten Sommerling nahe der Glockenblumen den Rücken gekehrt hatte, trugen sie die unsichtbaren Flügel der Vorfreude. Umringt von Dunkelheit, da sich kein Schröpfling hierher zu wagen traute, lief sie mit offenen Augen durch die Nacht. War ihr im Sommerreich jeder Winkel, jedes Fleckchen Erde wohl bekannt, dass sie sich einfach von ihrem Gefühl leiten ließ, der sie in einem einzigen Moment der Überraschung in die Arme Tyledions trug, der nahe der hintersten Buche auf sie gewartet hatte. Wie ein Wirbel drehte er die leichtfüßige Sommerprinzessin, dass sie sich an seine Schultern krallte und den kühlen Lufthauch um seine Aura genoss. Fest presste sich ihr Körper an seinen, woraufhin er Myoso zurück auf den Boden stellte. Ihr Gesicht drückte sich an seine Brust, dass sie einzig dem wachsenden Leuchten seines Innersten zusehen wollte, das sich seit ihrer Ankunft aus seiner Eisesstarre gelöst hatte. Wie ein Knoten war die Zurückhaltung geplatzt, dass Tyledions Leuchten eine ganz eigene Wärme schuf. Kein Bild liebte die Sommerprinzessin mehr als dieses.

Indem er seine Arme behutsam um sie legte, führte er Myoso unter die hängenden Zweige der Buche, die sich seit Beginn des Sommers nicht mehr regten. Sie ließen sich nieder, ihre Körper stützte der kräftige Stamm, der von den Jahrhunderten gestärkt wurde.

Tyledion streifte sich die Handschuhe ab und legte sie auf den Boden. "Endlich", damit strich er mit den Fingern über ihren Arm. Sie hatte so unfassbar weiche Haut, die er auf jede erdenkliche Weise erkunden wollte. Den Kopf auf seine Schulter gelegt gab sie ein zufriedenes Seufzen von sich.

"Ich fürchte", begann sie verträumt ihre Gedanken auszusprechen, "wir haben etwas viel Aufmerksamkeit auf uns gezogen. Es war schwer, die Fassung zu wahren. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn du keine Handschuhe getragen hättest."

"Verzeih', ich musste es einfach tun", entgegnete er und sah zu ihr hinunter, "wenn mein Handeln nicht ganz uneigennützig gewesen war. Schließlich schien mir euer Generalssohn ganz erpicht gewesen zu sein, den ersten Tanz mit dir zu genießen."

"Bist du eifersüchtig?", kicherte Myoso, die sich ein derartiges Verhalten nicht vorstellen konnte. Nicht ihr Tyledion.

"Ich beneide jeden, der deine Nähe offenkundig ersuchen darf."

"Ach, Tyledion", sie strich ihm über den steifen Stoff seiner Uniform, "wenn es doch nur anders wäre." Ein Anflug von Traurigkeit packte sie. Sogleich fuhr er mit der Hand über ihren wallenden Schopf.

"Mein Versprechen", sagte er, "ich werde es halten. So wahr Mutter Erde über uns wacht. Ich brauche nur etwas Zeit. Ich bitte dich, gewähre sie mir. Der Augenblick muss gut durchdacht sein."
 

Seit einiger Zeit hatte der Winterprinz einen Plan, dessen Umsetzung ihm viel Geduld, Wissen und Training abverlangte.

Es lief darauf hinaus, dass er seinen Vater zum Duell um die Krone herausfordern musste. Wie es die Tradition des Wintervolkes verlangte, musste der künftige Thronerbe sein Können unter Beweis stellen. Erachtete ihn der Stab für würdig, bevor der König seinen Sohn besiegte, gehörte ihm mit sofortiger Wirkung die Regentschaft. Normalerweise kam ein Machtkampf unter den Königskindern einem Duell zuvor. Söhne bekriegten sich untereinander, was im Laufe der Geschichte zu unzähligen Tragödien geführt hatte. Als Einzelkind blieben dem Winterprinzen derartige Intrigen erspart, was ihn sein unmittelbares Recht auf eine Herausforderung gegen den König einräumte - wenn nicht sogar gänzlich erspart bliebe. Tyledions Pläne jedoch machten einen nahtlosen Übergang fast unmöglich. Nur wenn er seinen Vater besiegte, würde er in der Lage sein, Forderungen zu stellen. Forderungen, die ihm sonst niemand durchgehen ließe. Schließlich strebte er eine Vermählung mit der Sommerprinzessin an, die ihm König Asparagos aus freien Stücken niemals erlauben würde. Mit einem eindeutigen Sieg gegen seinen Vater konnte er ihm ein Ultimatum stellen, gegen das der Winterkönig nichts unternehmen könnte.

Sein Plan - so durchdacht er war - hatte nur einen Haken; und dieser war nicht zu unterschätzen. Ein Sieg gegen König Asparagos war zum derzeitigen Moment schwer zu realisieren, wenn nicht sogar ein Akt des Unmöglichen. Waren Tyledions Winterfähigkeiten eines königlichen Nachfahrens würdig, war ein Duell gegen seinen Vater nur mit viel Glück zu gewinnen. König Asparagos war ein harter Kämpfer, der einst gegen seinen noch härteren Vater bestanden hatte. Ihn mit klassischer Magie zu überlisten, wäre ein mehr als törichter Gedanke.

Tyledion musste ihn auf andere Weise besiegen - worin ihm niemand sonst das Wasser reichen könnte. Und der Winterprinz hatte einen Weg gefunden. Doch für diesen war er noch nicht vollends gewappnet, dass er weiter an sich arbeiten musste.
 

"Ich werde warten, solange es nötig ist", sagte Myoso, die ihn mit einem Lächeln anstrahlte, welches ihn glauben ließ, dass sie ihn mit seinen Worten nicht nur zu besänftigen versuchte. Behutsam drückte er ihr einen Kuss auf die Stirn. Er wusste, wie schwer es ihr fiel, Stillschweigen zu wahren. Myoso war niemand, der Geheimnisse mit sich trug - schon gar nicht gegenüber ihrer Familie, die sie unter keinen Umständen verletzen wollte. Für Reue gab es jedoch keinen Platz. Ihre Zukunft war besiegelt. Sie hatte sich für ihn entschieden - und den daraus entstandenen Hindernissen. Die Prinzessin des Sommers glaubte fest daran, dass sie Verständnis erfahren würde, wenn der richtige Augenblick gekommen wäre. Ihr steter Glaube ließ einen Funken des Leuchtens aus ihrer Brust treten, der sich neben sie niederließ. Ein kleiner zarter Keimling kam zum Vorschein, dessen Blätter zaghaft den Boden berührten und schließlich seine Blüten nach allen Seiten ausstreckte. Das Gänseblümchen sog das Leuchten gänzlich in sich auf. Das Weiß seiner wimpernhaften Blüten war so klar, dass sich Myoso an ihrer Reinheit erfreute. Auch Tyledion blickte zu der unscheinbaren Blume hinunter. Mit der freien Hand griff er nach dem Stiel und knickte ihn vorsichtig ab. "Keine Sorge", sagte er und legte die Blüte auf die Innenfläche seiner Hand, "ihr wird nichts geschehen." Ein nebelartiges Gemisch bedeckte das Gänseblümchen, bevor es zu einer festen Eismasse heranwuchs, das sich um die Blüte legte.

"Das ist kein gewöhnliches Eis. Es kann nicht schmelzen, egal wie stark die Sonne darauf scheinen mag. Und der Blüte fügt sie keinen Schaden zu." Dabei zog er mit der anderen Hand einen Faden aus seinem Ärmel, den er mit dem Eis, das die Form einer ovalen Scheibe angenommen hatte, verband. Er überreichte Myoso den Anhänger. "Die Winterlinge unseres Volkes machen nur einmal in ihrem Leben dieses Geschenk."

"Das ist eine wundervolle Tradition", hauchte die Sommerprinzessin und legte sich die Kette um den Hals, das sie unter dem Stoff ihres Gewandes in Sicherheit war. Das Eis fühlte sich ungewohnt warm auf ihrer Haut an, dass sie schützend ihre Hand auf die Stelle legte und die Augen schloss.
 

Zur selben Zeit: Menschenerde, Winter-Territorium
 

Den Berg erklommen blickten die Meeres gleichen Seelenspiegel des Winterkönigs in die Mittagssonne der menschlichen Welt. Der meterhohe Schnee knackte unter seinen Stiefeln als wollten sie ihren jüngsten Unmut bekunden. König Asparagos schritt weiter, die Felsspalten entlang, dass er schließlich auf einen weitaus höheren Berg zulief. Wolkenschwaden bedeckten seine herrschaftliche Gestalt als er die Spitze erklomm.

"Mein König", brummte es aus den Tiefen des Schnees. Der Winterkönig sah hinauf.

"Wie geht es dir, alter Freund", begrüßte der Herrscher des Winters den ältesten Bergriesen auf Menschenerde.
 

Bergriesen - gewaltige Gesteinswesen, deren Seelen im tiefsten Inneren der Berge Zuhause waren.
 

"Unverändert, mein König", entgegnete der Bergriese und gab ein Schnauben von sich, "anfangs genoss ich den Sonnenschein - du weißt, wie viele Jahrhunderte ich keinen zu Gesicht bekommen habe. Doch es ist schwer geworden." Der Berg begann zu beben, dass die Schneedecke vor Aufregung ein Stück nach unten rutschte. "Der Druck lastet mir auf den Schultern, dass ich keine Ruhe mehr finden kann. Und der Pakt mit den Wesen - es wird von Jahr zu Jahr schwerer, ihn einzuhalten."

Daraufhin sah der Winterkönig hinunter zu den Eisschollen, welche den Ozean eingebettet hatten. Seine wachsamen Augen erblickten die Wesen seines Herrschaftsgebiets, die in dieser Welt als Tiere bezeichnet wurden. König Asparagos sah zurück zu dem Bergriesen. "Es tut mir Leid, dass ich in meiner Geistergestalt nichts für dich tun kann. Aber ich verspreche dir, dass ich schon sehr bald etwas unternehmen werde."

"Danke, mein König."

"Majestät?"

Dabei klopfte es dreimal an die Tür des Beratungsraumes. Seine Augen wurden kühl. Er hasste nichts mehr als gestört zu werden - egal, wie dringlich es war.

"Du wirst gerufen?", fragte der Bergriese, der die Geräusche auf der anderen Seite nicht hören konnte, jedoch sehr genau wusste, warum die Laune seines Königs sank.

"Leider", sagte der Winterkönig, wobei ein leichtes Knurren seiner Stimme entfleuchte, "wir werden unser Gespräch verschieben müssen. Aber sorge dich nicht weiter, mein Freund, dir wird bald Linderung widerfahren."

"Ich weiß, auf dein Wort ist verlass", brummt der Bergriese und legte seine Seele zur Ruhe.
 

Der Winterkönig sog die kalte Luft seiner Wintermagie ein. Sein Geist fand zurück in dessen Körper, dass Asparagos die Augen öffnete und die Tür seines Beratungsraumes erblickte, hinter welcher sich der Störenfried befand.

"Komm' rein, Wächter Stipan", sprach er, ohne sich von seinem Platz zu erheben.
 

König Asparagos saß am Ende des Raumes, hinter einem schlichten Schreibtisch, der von Fichtenholz und Eiszapfen getragen wurde. In der Mitte des Zimmers befand sich eine große runde Tafel, die lediglich während diverser Beratungszwecke ihren Nutzen fand.
 

Vorsichtig öffnete sich die Tür. Der zweite Wächter des Winters lugte hervor, sichtlich verunsichert, ob der üblen Laune seines Königs, die er selbst zu verschulden hatte.

"Bitte verzeih' die Störung", Wächter Stipan tat eine tiefe Verbeugung als wollte er den Boden zu seinen Füßen küssen. Erst als König Asparagos mit seiner rechten Hand winkte, schloss der kleine, hagere Winterling die Tür und schritt auf seinen König zu.

"Ich bringe Kunde über die Sommersonnenwende, mein König."

"Ich wüsste nicht, was du mir erzählen könntest, um mein Interesse zu wecken", entgegnete der Winterkönig und sah seinem Gegenüber eiskalt in die Augen, "ich habe dir lediglich die Aufgabe übertragen, dafür zu sorgen, dass keiner meiner Untertanen außerhalb der Reihen tanzt."

"Das habe ich auch getan", nickte der Winterwächter mehrmals, "und du weißt, wie schwierig es für mich war, dieser Aufgabe nachzukommen. Als Monatswächter ist es mir streng verboten, meinen Platz am Tag der Sommersonnenwende zu verlassen, geschweige denn mich in die Feierlichkeiten unter zu mischen. Nur mit Mühe habe ich mich unbemerkt in das Sommerreich zurück schleichen können-"

"Deine Leidensgeschichte interessiert mich nicht, Wächter."

"Natürlich, natürlich", verneigte er sich hektisch, wobei er ein gezwungenes Lächeln aufsetzte und weiter erzählte, "während ich mich umgesehen habe - und das habe ich so gut es mir möglich war, das kannst du mir glauben - nun, da entdeckte ich etwas, von dem ich nie glaubte, es vorzufinden-"

"Komm' auf den Punkt", raunte König Asparagos, der allmählich die Geduld verlor, dass kleine Eiskristalle über das Fichtenholz in Richtung des Winterwächters wanderten. Der Wächter ging einen Schritt zurück.

"M-magie, mein König. Wintermagie, die nicht angebracht ist. Zumindest nicht im Sommerreich." Die Eiskristalle explodierten nacheinander, dass Wächter Stipan die Arme verschränkte - nur für den Fall, dass der Winterkönig seinen Unmut an ihm ausließe.

"Bist du sicher", König Asparagos klang unverändert, obwohl seine Seelenspiegel so dunkel wurden, dass sie kaum mehr als Blau zu erkennen waren.

"Sehr sicher, mein König", antwortete Wächter Stipan, der den Blicken des Winterkönigs auswich. Konnten die leeren Augen genauso angsteinflößend sein wie dessen Wintermagie.

"Weißt du auch, wer es war?"

"L-leider nicht, Majestät. Die Magie war sehr schwach. Es ist geradezu ein Wunder, dass ich sie entdeckt habe. Noch dazu im Geheimen-"

"Und dir ist nichts Verdächtiges aufgefallen?"

"Mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln war nichts Auffallendes zu erkennen gewesen. Jeder der Anwesenden ist zusammen mit der Königin und dem Prinzen heimgekehrt. Wenn du mich fragst-"

"Das genügt", König Asparagos' Stimme hallte durch den Raum. Die hagere Gestalt des Wächters erzitterte bei den Schwingungen, die seine Worte mit sich brachten.

Schweigen folgte. Der Winterkönig ging seinen Gedanken nach, die seinen Gegenüber nichts anzugehen hatten. Er wusste, er konnte sich Zeit nehmen. Wächter Stipan würde sich nicht einen Zentimetern von der Stelle bewegen, ehe der König es ihm erlaubte. Doch die Gegenwart dieses Wichts machte es ihm schwer, ruhig nachzudenken. Also erhob sich der König und zwang den Winterwächter zwei weitere Schritte auszuweichen. Nur, um genügend Distanz zu wahren, die von beider Vorteil war.

"Du", sprach König Asparagos zu dem Hageren, "wirst umgehend herausfinden, welcher meiner Untertanen sich erneut des Verrats schuldig gemacht hat."

"Wie du wünschst, mein König", senkte der Wächter sein Haupt, "es wird nicht leicht werden - immerhin gibt es noch meine Aufgaben als Monatswächter...a-also nicht, dass ich mich nicht deinen Befehlen beugen werde. Natürlich stehen meine Pflichten gegenüber der Krone über allem. Dessen kannst du dir sicher sein", er rieb sich die Hände und startete einen kläglichen Versuch, nicht verängstigt auszusehen, "ich bitte dich nur, dies zu berücksichtigen, sollte ich den Verräter ausfindig machen-"

"Sprich' schon aus, was du willst", König Asparagos sah den zweiten Wächter von oben herab an.

"Wenn du mich so fragst", sein Lächeln glich einer schmallippigen Fratze, "würde ich mich geehrt fühlen, wenn du mich kommenden Winter für die Wahl des ersten Winterwächters berücksichtigen würdest. Ich denke, die Jahre haben gezeigt, dass ich mich der Aufgabe als würdig erweise." Dabei sah er scheu zu dem Winterkönig hinauf, der ihn längst durchschaut hatte. Doch für's erste wollte er nur diese Unterhaltung hinter sich bringen.

"Ich werde darüber nachdenken", sagte der Winterkönig und deutete auf die Tür, "und jetzt geh' und stör' mich nicht länger."

"Danke, mein König", verbeugte sich Wächter Stipan, während er gleichzeitig rückwärts Richtung Tür schlich, "ich werde mich sofort ans Werk machen."

Sommer II

Sobald die Tür ins Schloss gefallen war, atmete der Wächter erleichtert auf. Jede weitere Minute in diesem Zimmer hätte nur das Eis zu seinen Füßen zum schmelzen gebracht - dessen war er sich sicher.
 

Es folgte ein schmieriges Grinsen, das er seit seinem Vorsprechen zurückgehalten hatte. Kurz drückte er seinen Rücken an die Tür, ließ die Muskeln entspannen und sah hinauf zur Decke.
 

Endlich hatte er eine Aufgabe gefunden, die ihn schon bald an die Spitze der Winterwächter bringen sollte. Lange hatte er dafür ausharren müssen. Seit er seinen einstigen Kontrahenten, den ehemaligen Prinzen Hellborus, aus dem Weg geräumt hatte, hoffte er darauf, dessen Platz einnehmen zu können. Trotz seiner Bemühungen war er damals nicht zum ersten Winterwächter ernannt worden. König Asparagos gewährte ihm den zweiten Platz - womit sich der schmächtige Winterling nicht zufrieden geben wollte. Schließlich war er es gewesen, der den Skandal entdeckt und den Verräter entlarvt hatte. Stipan hatte erwartet, dass ihm seine Heldentat gebührend entlohnt würde, doch der Winterkönig hatte ihm eine Stellung am äußersten Rand der Wächterschaft gewährt. Einen Platz, der seiner nicht würdig war.
 

Langsam setzte er sich in Bewegung. Die Kapuze über den Kopf geworfen spielte er den folgsamen Wächter - eine Rolle, die ihm nur wenig zusagte, und nur der Notwendigkeit geschuldet war, welche seine Stellung von ihm verlangte.

Seine Schritte klapperten über den gläsernen Boden des Palastes. Er nahm an Tempo zu. Er konnte einfach nicht anders; so schwer fiel es ihm, die Aufregung zu unterdrücken. Noch war niemand auf den Gängen, dass keinem sein unangebrachtes Verhalten weiter auffiel. Bis auf eine handvoll Soldaten, die an den entsprechenden Türen Wache schoben und kein Interesse an einem kleinen, schmächtigen Wicht wie ihm hatten, schlief die gesamte königliche Familie ihren erhabenen, königlichen Schlaf. Seine Blicke huschten zu den einzelnen Bereichen. Gerne würde er den Palast sein Zuhause nennen. Mit seiner einzigen Tochter hatte er manchmal die stille Hoffnung, der junge Prinz würde eines Tages Gefallen an ihr finden. Prinz Tyledion zeigte jedoch keinerlei Interesse an der jungen Blüte und Erika selbst war viel zu ungeschickt in ihrem Bestreben, dem Thronerben zu imponieren.
 

Durch die kristallklaren Flure ging es direkt in den Innenhof. Dort deutete die Morgenröte den bevorstehenden Tag an, dass die schlichten Gärten des Winterpalastes darunter verborgen blieben. Stipan beeilte sich aus dem Palast zu kommen. Durch eine kleine Tür, die versteckt in einem der vielen Winkel der umliegenden Eismauern geritzt worden war, gelangte er schließlich nach draußen. Eine lange schmale Brücke aus Eis- und Tannenzapfen trennte den Winterpalast von den restlichen Bewohnern des Reiches, die lediglich zur Wintersonnenwende das Recht erlangten, diese zu überqueren, um die Königsfamilie und deren Herrschaftlichkeit bestaunen zu dürfen.
 

Nebel - geformt aus kaltem Hauch der Wintermagie - umhüllte den Pfad der Brücke, dass er nie die Sonne erblickte. Dahinter endete der ewige Winter, den der Königspalast seit Jahrtausenden aufrecht erhielt. Das gesamte Reich hingegen war wie der Rest der Erde von König Gingkos Magie geküsst worden - so wie es Mutter Erdes Wunsch entsprach.

Der Winterwächter sprang von der Brücke, dass er auf kahlem Gestein landete. Seine Augen fixierten den Boden, dann streckte er den rechten Arm aus. "Kommt, meine Freunde", flüsterte er, dass ein blauer Faden aus seinen Handfläche hinaus trat. "Es wartet Arbeit auf euch", das Licht erlosch. Stattdessen begannen aus dem Boden Schatten hinaus zu treten. Im Schutze der dunklen Ecken, welche ihnen die Brücke bot, erhoben sich die Schatten, nahmen Gestalt an, dass sie wie schwarze, nichtssagende Gesichtslose erschienen, die sich vor ihren Schöpfer stellten und auf dessen Anweisungen warteten. "Ihr habt mir schon einmal treue Dienste erwiesen. Ich erwarte viel von euch." Mit einem weiteren Hauch Wintermagie flößte er ihnen Befehle durch den Körper, dass sie sich sogleich in die Dunkelheit zurück zogen. Zufrieden sah der Wächter seinen Geschöpfen hinterher. Jetzt brauchte er nur noch zu warten und den Dingen seinen Lauf zu lassen. Er rieb sich zufrieden die Hände, hüpfte wie ein junges Wiesenkind auf die Brücke und wanderte dem Sonnenaufgang entgegen.
 

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Im Sommerreich reckten sich ebenfalls die Lichter des Morgens. Die Sonne hatte erst vor einigen Augenschlägen damit begonnen, ihren Pflichten nachzukommen, als Prinzessin Myoso bereits aus den Gemächern schritt. Den Flur entlang, der am Morgen so ruhig erscheinen konnte, dass Einsamkeit wie ein wandelnder Begleiter erschien, blickte sie auf die Türen, die sich ihr nacheinander offenbarten: Da gab es die Gemächer ihrer Geschwister, deren Holz Malwen und Blaugras zierte, und einen winzigen Spalt offen standen, damit die Jüngsten ruhig schlafen konnten. Manchmal jedoch schlichen sich die Wiesenkinder ganz leise aus ihrem Kämmerlein, klopften an Myosos Zimmertür und schlüpften in die flauschigen Baumwolldecken ihrer großen Schwester. Besonders Cynos liebte es, den Kopf auf Myosos Schoß zu betten und sich in die wärmende Kuhle der Älteren zu vergraben - so wie er einst im Schoße der Mutter geruht hatte. Kleiner Cynos - spielte ihr Bruder gerne den großen Sturkopf, der die Älteren davon zu überzeugen versuchte, aus dem Wiesenkindalter entwachsen zu sein, war er es doch, dem die Wärme seiner Mutter am meisten fehlte. Dessen Blicke in die Ferne gingen, sobald er die anderen Wiesenkinder mit ihren Müttern sah. Wie sie händchenhaltend Blumen pflückten oder Wasser von den Bächen schöpften - dann leuchteten seine Augen im blassen Blau der Erinnerungen.

War Malwa damals noch eine winzige Knospe am Ast des Lebensbaumes gewesen als Königin Lilith zu Mutter Erde zurückgekehrt war, dass sie nur von Bildern wusste, wie die Sommerkönigin ausgesehen hatte, konnte sich der Mittlere der drei Geschwister sehr gut an ihre warmherzigen Seelenspiegel erinnern - und daran, wie liebevoll sie ihn immer angesehen hatte. Ihren kleinen Prinzen. Nur sie hatte ihn so nennen dürfen. Ohne es auszusprechen, wusste Myoso um die Sehnsucht seines Bruders. Es schmerzte sie, sein Leiden nicht lindern zu können. Niemand wäre dazu fähig. Daran konnte auch ihre Tante, als streng liebevoller Ersatz, nichts ändern.

Wie sehr konnte die Sommerprinzessin mit dem kleinen Prinzen fühlen! Vermisste sie Königin Lilith tagtäglich, dass nur die Fürsorge der Geschwister ihr genug Kraft gab, die Trauer im Zaum zu halten. Hatte sie doch einst von ihrem Vater gelernt, dass die Toten nicht betrauert werden durften. "Es sind die Lebenden, die unserer Aufmerksamkeit bedürfen."
 

Myoso schaute zwischen den Spalt des ersten Kämmerleins. Es brauchte keine geschärften Blicke, um zu erkennen, dass Malwa und Cynos längst reißaus genommen hatten (was am ersten Sommermorgen recht ungewöhnlich erschien). Um die Tür der jüngsten Prinzessin wehte beschwingt die frische Morgenluft, dass sie sich weiter auftat und den Blick auf das leere Zimmer offenbarte. Und Cynos? Die aufgeregte Stimme des kleinen Sommerprinzen hätte er niemals unterdrücken können - nicht heute, wo es so viel für die Sommerlinge zu tun gab, dass der junge Prinz sich am liebsten unters Volk gemischt hätte, wenn ihm König Gingko nicht erst gestern die Leviten gelesen hätte.

Wo können sie nur stecken, fragte sich die Prinzessin und zog beide Türen zu sich heran.
 

Eigentlich waren die Wiesenkinder des Königs am allerersten Sommermorgen so beschwingt, dass an den Wänden die Efeuranken zu ihren Tönen mit vibrierten. Nie schliefen sie länger als die Finsternis der Nacht es ihnen vorschrieb, dass der erste Sonnenstrahl ihre aufgeregten Stimmen auffing. Myoso lächelte. Dass sie nicht hier waren, konnte nur bedeuten, dass sie durch die hinteren Hallen des Palastes flitzten und die anderen Wiesenkinder zu einem Versteckspiel eingeladen hatten, dem ihre Tante sofort Einhalt gebot, sobald der Tag angebrochen wäre.
 

Vor jener Tür stehend, welche in die Räumlichkeiten der Königsschwester führte, hielt Myoso inne und lauschte an dem bleichen Holz. Doch es offenbarte sich ihr nur Stille. Darum klopfte sie zaghaft und fragte vorsichtig an. Wieder blieb es still. Myoso konnte es sich nicht erklären. Sonst war ihre Tante bereits mit den Vorbereitungen der ersten Unterrichtsstunde beschäftigt, dass man das Umschlagen der Bücher und Rascheln der Pergamentrollen aus ihrem Zimmer hören konnte. Seltsam, dachte die Sommerprinzessin, welcher das Verhalten ihrer Tante schon gestern Abend seltsam vorgekommen war. Während der Sommersonnenwende schien Pensea kaum ansprechbar gewesen zu sein. Als beschäftigte sie etwas. So geistesabwesend kannte Myoso ihre Tante nicht. Stets war sie der klare Kopf des Königs, Repräsentant der streng Konservativen des Sommerreiches. Für Pensea gab es keine Träumereien, die sie auch bei ihren Ziehkindern nur in Maßen duldete.
 

Die Sommerprinzessin wandte sich von der Tür ab und lief weiter. Allmählich rannte die Zeit. Hatte sie doch ein Versprechen einzulösen, dem sie sich noch vor dem Frühstück widmen wollte. Das war sie den Pflanzen schuldig - gerade dann, wenn der Sommer die Erde regierte. Also eilte sie aus dem Sommerpalast. Durch den Hintereingang, in Richtung des Baches, welcher ihr innerstes Leuchten an die letzten vergangenen Stunden erinnern ließ. Ihre Wangen erstrahlten wie frisch gepflückte Kirschen, dass die müden Augen nicht weiter auffielen. Ihre Empfindungen drohten über zu schäumen. Eine Hand auf die glühende Stelle gelegt ermahnte sie sich zur Ruhe. Sie atmete in tiefen Zügen und sah hinauf in den Himmel. Keine einzige Wolke hatte sich am Horizont erhoben, dass die Sonne bald in ihrer gesamten Schönheit erstrahlen sollte. Die Sommerprinzessin senkte lächelnd ihr Haupt und begrüßte die Morgenröte.

Gerade als sie ihren Weg Richtung Glockenblumenfeld fortsetzen wollte, erblickte sie ihre Tante zwischen den langen, herunterhängenden Ästen des Lebensbaumes. Aus der Ferne schien es als starrte Pensea zwischen die Knospen hindurch. So früh hatte die junge Prinzessin ihre Tante noch nie vor dem Baum des Lebens wachen sehen. Ihre Pflichten nahm die Königsschwester stets nach dem Unterricht auf, wenn Cynos und Malwa die Studien auf den Wiesen des neutralen Gebietes fortzusetzen hatten. Dann hatte sie die nötige Ruhe, sich ganz den frischen Knospen zu widmen, ihnen die Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen, die sie so dringend brauchten.
 

"Tante", hauchte Myoso und lief langsam auf den Lebensbaum zu. Pensea schien die junge Sommerprinzessin erst gar nicht bemerkt zu haben. Erst als Myoso dicht bei ihr stand und einen guten Morgen wünschte, zuckte sie kurz zusammen, bevor sie damit anfing, die Bänder der Feierlichkeiten von den Ästen zu ziehen. Eigentlich bedurfte es keiner helfenden Hand - bloß einen Hauch Magie, der die Bänder in Luft aufzulösen vermochte. Aber Myoso wusste, dass sie ihre Tante nicht daran zu erinnern brauchte. Darum ergriff die Prinzessin die Gelegenheit, gesellte sich hinzu und pflückte Band für Band von den Ästen. Dabei würdigte Pensea ihr keines Blickes. Nicht aus Ignoranz - viel mehr als hielte sie ihre Nichte für eine Illusion. Es gab keine Tadelungen für Myosos unangemeldeten Ausgang. Kein erinnern, an die königlichen Pflichten. Nicht einmal der strenge Blick zierte ihr Gesicht. Was hatte ihrer Tante bloß so missfallen, dass sie aus ihrer klassischen Rolle entwichen war?
 

Die bunten Stücke zur Hand knotete sie diese zusammen bis sie eine lange Kette bildeten. Sie dachte an den gestrigen Abend. Daran wie fröhlich alle gewesen waren. Es wurde so viel gelacht und getanzt wie seit Jahren nicht mehr. Noch nie hatte Myoso die Vertreter der vier Jahreszeiten so ungezwungen erlebt. Sogar der Herbstkönig hatte heiter mit der Königin des Frühlings geplaudert. Die distanzieren Erben Autunis' zeigten nur selten vor Außenstehenden ihr wahres Gesicht. Doch diesmal hatten selbst Asteros und seine Braut ein feuriges Grinsen auf den Lippen, als sie vor dem Abschied noch ein letztes Mal über den Hügel geschwebt waren. Um den Tanzkreis hatten die Winterkönigin und ihr Adel mit ihren behandschuhten Händen zum Rhythmus der Sommermelodie geklatscht. Wenn ihre Bewegungen steif waren, verstand die junge Sommerprinzessin doch die Symbolik dahinter. Die Erinnerungen ließen die Wärme in Myosos Brust erneut aufleben, dass sie zwei Bänder gleichzeitig ergriff - hoffend, die Unruhe in ihrem Innersten bändigen zu können. "Von allen Sommersonnenwenden", sagte sie, wobei ihr Leuchten in ruhigeren Bahnen erstrahlte, "war diese die schönste - findest du nicht auch, Tante?" Myoso drehte den Kopf zu Pensea, die nicht in ihrer Arbeit pausierte. Als sie sicher sein konnte, dass ihre Tante keine Antwort geben würde, versuchte Myoso erneut, die drückende Stille zu durchbrechen: "Asteros'... ich meine natürlich König Asteros' Braut sah einfach wunderschön aus", ihr Blick senkte sich, "besonders als sie den Segen in sich aufgenommen hat. Das muss ein ergreifendes Gefühl gewesen sein - wenn alle vier Mächte durch einen durch fließen." Myoso drehte die Bänder in ihrer Handfläche: "Wie es wohl damals gewesen sein musste-" Neben ihr hielt Pensea inne.

"Vater meinte, dass zur letzten gemeinsamen Sommersonnenwende die Hochzeit des Winterkönigspaares stattgefunden hatte." Behutsam verknotete Myoso die Bänder ineinander. "Stimmt es, dass Königin Cyclas Erscheinung kaum zu übertreffen gewesen war?"

"Von allen Erinnerungen", entgegnete Pensea mit trockener Stimme, "fragst du mich gerade nach dieser", sie zerknüllte eines der dunkelblauen Bänder. "Myoso", sprach ihre Tante und sah sie strengen Blickes an, "es ist an der Zeit, dich von deinen blauäugigen Vorstellungen einer friedvoll vereinten Welt zu verabschieden."

"Aber Tante-"

"Nein! Du hörst mir jetzt zu! Wenn die Vergangenheit eines gelehrt hat, dann dass die Keime des Friedens nichts weiter als ein Hirngespinst der eigenen naiven Träume sind. Zu glauben, dass sich in den letzten siebzehn Jahren irgendetwas geändert hätte-", sie stockte und schüttelte den Kopf, "es ist besser, du erfährst es auf diese Weise. Als Prinzessin unseres Reiches solltest du klug genug sein zu verstehen, dass unsere Welt nicht so funktioniert, wie du es gerne hättest. Am Ende wirst du nur enttäuscht."

"Das glaube ich nicht", hauchte Myoso und presste die Bänder an ihre Brust.

"Du bist jung", entgegnete ihre Tante als akzeptierte sie diese Entschuldigung nicht, "du weißt nichts von der Vergangenheit. Du weißt nichts über sie. Was sie getan haben - nur um ihre eigenen Fehler zu verschleiern. Dieser egoistische-." Grelle Funken traten zwischen ihre Faust. Das Band begann in Flammen aufzugehen. Kleine Schnipsel flogen durch die Luft, ehe sie sich im Himmel verflüchtigten. Die Prinzessin erschrak ob des plötzlichen Ausbruchs ihrer Tante.

"Es tut mir leid, dass du so denkst", entgegnete Myoso traurig.

Mit leerem Blick sah Pensea hinauf zur Baumkrone: "Die Morgenröte neigt sich dem Ende. Du solltest dich langsam auf den Sommermarsch der jungen Blüten vorbereiten." Damit winkte Pensea in Myosos Richtung. Der jungen Prinzessin fiel es schwer, ihre Tante zu verlassen, die ihren Blick noch immer nach oben gerichtet hielt. Nur der Ausdruck ihrer Augen hinderte Myoso daran, ihr zu widersprechen. Aus irgendeinem Grund wollte sie alleine sein, und Myoso musste diesem Wunsch nachkommen.

Leicht neigte sie ihr Haupt zum Abschied. Die Bänder zur Hand kehrte sie schließlich dem Baum des Lebens den Rücken zu und lief weiter. Sanft strich eine Brise durch die Grashalme - die letzte für diesen Tag. Myoso beobachtete die seichten Schwingungen. Sie dachte an Penseas Worte. So schwer sie diese getroffen hatten, konnte sie ihnen keinen Glauben schenken. Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft konnte und wollte sie nicht verlieren. Ebensowenig an eine Zukunft des Friedens und der Einigkeit.
 

"Welch trüben Gedanken verderben dir den Morgen?", sprach eine Stimme nicht weit von ihr. Myosos Gesicht erhellte sich.

"Guten Morgen, Vater", begrüßte sie den König, der gerade seinen allsommerlichen Begrüßungsspaziergang durch das Reich beendete. Seine Aufmachung war noch dieselbe wie am Abend, dass einzelne Farbkleckse an die gestrige Feierlichkeit erinnerten. Der Sommerstab ruhte in seiner rechten Hand, dass die Sonnenkugel gen Boden gerichtet war. Die letzten Funken Magie sprossen aus ihm - Halme begannen sich daraufhin zu recken als streckten sie ihre Fühler nach dem Sommerkönig aus.

Eilig kam Myoso ihrem Vater entgegen: "Ich war nicht betrübt, Vater", schüttelte sie mit dem Kopf, "nur etwas in Sorge." Dabei deutete sie auf den Lebensbaum weit hinter sich. "Unsere Tante...sie ist heute so verändert. Verbittert und traurig zugleich, dass ich es nicht verstehe. So habe ich sie noch nie erlebt." Die junge Prinzessin sah ratlos zu ihrem Vater hinauf. "Wieso hat sie kein Vertrauen in die Zukunft?"

"Gib' ihr etwas Zeit", antwortete dieser, "die Nacht war schwer für sie." König Gingko ließ den Stab aus seiner Hand verschwinden, dass die Gräser zu ihrer Ursprungsform zurück schrumpften. Die wissenden Augen des Königs sahen zu seiner Schwester, welche stoisch ihrer Arbeit nachkam. Auch Myoso sah in die Richtung: "Was bedeutet das, Vater?" Daraufhin griff er die Sommerprinzessin an ihrer Schulter und führte sie behutsam aus dem Sichtfeld seiner Schwester.

"Es ist wegen Winso."

"Winso?"

Ihr Vater nickte. "Damals, vor siebzehn Jahren, als dieser...Skandal aufgeflogen ist. Deine Tante war die erste, die davon wusste. Wächterin Hedera vertraute sich ihr an. Die beiden standen sich früher sehr nahe. Pensea versprach, keinem davon zu erzählen und sich um die frische Knospe zu kümmern. Und tatsächlich: Sie hat mit niemandem darüber gesprochen. Nicht einmal ich wusste davon."

"Aber der Lebensbaum", entgegnete Myoso, denn sie wusste, dass der Baum einst unter Königin Liliths Obhut gestanden hatte. Ihre Mutter hätte etwas bemerkt haben müssen. Irgendeine Veränderungen in den Blütenblättern, ein Farbwechsel in der Knospe - irgendetwas.

"Die Zeiten waren...schwierig", erwiderte König Gingko, "schon damals hat Pensea deiner Mutter unter die Arme gegriffen. Es war ganz natürlich, dass sie immer in seiner Nähe war. Sicher wird sie alles getan haben, um die Identität des Kindes zu verbergen", er unterdrückte einen Seufzer, "wie du weißt, flog ihr Geheimnis letztendlich auf. Jemand musste von dem Kind gewusst haben. Die Delegation des Winterreiches stand sehr bald vor den Palasttoren. Ganz vorne König Asparagos. Er forderte die Auslieferung Winsos."

"Und du hast seinen Forderungen Folge geleistet", fügte Myoso betrübt hinzu.

"Das nimmt sie mir noch heute übel", König Gingko lächelte schwach und richtete seinen Blick wieder nach vorne, "aber die Umstände ließen mir keine Wahl. Auf beiden Seiten herrschte eine gefährliche Stimmung. Das Wintervolk fasste die Ereignisse als Beleidigung ihrer Abstammung auf, während die Sommerlinge die Schuld bei der winterlichen Königsfamilie suchten. Der Konflikt drohte zu eskalieren. Die Übergabe des Mischlings war damals die einzige Möglichkeit, einen drohenden Krieg zu verhindern. Ich weiß, der Winterkönig hätte die Ablehnung dafür genutzt, seine Armee zu mobilisieren und die südlichen Grenzen anzugreifen. Das konnte ich nicht zulassen."

"Nein", flüsterte Myoso.

"Deine Tante - sie hat sich vehement dagegen gewehrt. Hat das Kind gepackt und wollte es nicht hergeben. Nicht, dass ich sie nicht verstanden hätte. Seit der Mischling am Baum des Lebens hing, hatte sie sich um ihn gekümmert. Er war der Sohn, den sie nie haben konnte."

"Tante hat nie geheiratet", bemerkte die junge Sommerprinzessin.

"Ihr Verlobter erkrankte sehr früh. Danach hatte sie nie wieder heiraten wollen."

"Und nie eigene Kinder haben können."

"Winso zu verlieren - damit hatte sie viele Jahre zu kämpfen gehabt."

"Was war mit Großcousine Hedera? Sie wollte doch sicher auch nicht ihr Kind verlieren."

"Sicher. Sie wusste aber auch, dass sie keine andere Wahl hatte. Als Wächterin ist es ihre oberste Pflicht neutral zu bleiben."

"Selbst wenn es um ihr eigenes Kind geht."

"Auch dann. Sie wusste, worauf sie sich eingelassen hatte. Dafür hat sie die Konsequenzen tragen müssen. Ich weiß, dass es dir hart vorkommen muss, Myoso. Aber so sind nun einmal die Gesetze. Glaube mir, ich wünschte, es hätte einen anderen Weg gegeben." Der König blieb stehen. "Und vielleicht können wir in Zukunft Schicksale wie diese vermeiden. Wenn wir alle nicht nur in Frieden leben könnten. Sondern auch in Harmonie und Freundschaft. Myoso, es liegt in den Händen eurer Generation, den Frieden zu wahren. Die Aufgabe meiner Generation ist es, euch auf diesen Weg zu leiten. Darum habe ich die drei Reiche zu uns eingeladen. Darum wollte ich Frühling, Sommer, Herbst und Winter vereint sehen. Damit ihr Kinder lernt, ohne Hass und Zwietracht aufzuwachsen. Ich weiß, du denkst genauso wie ich. Doch geht es um alle; die Wiesenkinder, Malwa, und ganz besonders Cynos. Sie können es nur dann besser machen, wenn wir mit gutem Beispiel voranschreiten. Ich hoffe, dass ich euch genug mit auf dem Weg geben kann, damit euer Leuchten einmal heller erstrahlen wird als jeder einzelne davor es jemals konnte."

"Das tust du, Vater", entgegnete Myoso und faltete die Hände vor der Brust. Voller Entschlossenheit erwiderte sie seinen eindringlichen Blick. "Und ich will alles dafür tun, damit diese Zukunft eines Tages zu unserer Gegenwart wird."

Sommer III

"Du hast nach mir gerufen, meine Königin", den Blick gesenkt verbeugte sich der Wintergelehrte vor Königin Cycla. Diese stand inmitten des Lebensbaumes und beobachtete das Treiben einer kleiner Knospe, deren Spitze bereits zu blühen begonnen hatte. Nicht mehr lange und aus dem winzigen Keimling würde der erste Hauch eines Winterleuchtens hervor lugen, bis er schließlich zu einer zarten Blüte oder einem flinken Burschen gedieh. Die Königin des Winterreiches ließ die Finger über die zitternde Knospe wandern, dass ein dünner blauer Faden aus der Kuppe hinaustrat. Zweimal wickelte sich der Faden um die Knospe, dass ihr durchschimmernder Kern wohlwollend zu knacksen begann. Schon jetzt war sie ein aufgewecktes Kerlchen, das sich noch bis zum nächsten Vollmond gedulden musste, bevor aus dem schützenden Kern ein leibhaftiger Körper entstünde.

Das tiefe Blau ihrer Seelenspiegel blickte ehrfürchtig auf das stetige Treiben - egal, wie oft sie diesen Augenblick bereits miterlebt hatte, er blieb stets ein ergreifender Augenblick der wahrhaftigen Vollkommenheit. Ihre Augen wendeten sich langsam von der Knospe ab. Ohne auf die Tür zu sehen, vor welcher der Gelehrte sich nicht von der Stelle bewegt hatte, sprach sie zu dem Winterling, der sich daraufhin von seiner Starre löste und in die königlichen Gemächer schritt. Der Blick haftete weiterhin auf den Boden. War es dem einfachen Volk nicht gestattet, sich dem Königspalast ohne ausdrückliche Einladung zu nähern, war es ein noch größerer Frevel, erhobenen Hauptes die königlichen Gemächer zu betreten oder in das Antlitz der Königin zu blicken. Nur die Gnade des Königs allein gewährte einen, den Kopf zu heben, um einen flüchtigen Blick auf dessen Gemahlin werfen zu dürfen (und dies geschah nur zur Wintersonnenwende).
 

Der Gelehrte blieb eine Armlänge vor Königin Cycla stehen, tat eine weitere Verbeugung, ohne auch nur daran zu denken, auf zu sehen und räusperte sich. Leise raschelte der Saum des herrschaftlichen Gewandes über den Schnee bedeckten Boden, dass der blau-goldene Stoff zwischen der weißen Winterdecke hervorstach. Es war dem Wintergelehrten nicht möglich, seine Augen von dem funkelnden Kleid abzuwenden, das flüchtig seine Füße streifte, um schließlich einmal über den gesamten Schneeteppich gezogen zu werden.

Die Königin widmete sich Ast für Ast, Zweiglein für Zweiglein, welchen sie nacheinander einen Mantel kalten Hauchs umlegte. "Nun", sagte sie, während ihre Finger einen bebenden Ast besänftigen, "sprich'. Gibt es Neuigkeiten zu berichten?"

"Wie immer nur gute Neuigkeiten, Majestät", nickte der Gelehrte eifrig, wobei er immer mehr Mühe hatte, den Blick gesenkt zu halten - verkrampfte sich ihm schon sein Nacken, denn er war nicht mehr der Jüngste. Gern hätte er das Haupt gehoben, nur kurz einen Blick auf ihr Gesicht geworfen. Aus vielen Wintersonnenwenden wusste er um Königin Cyclas Schönheit. Schon damals, als junge Blüte eines Zweigclans der Königsfamilie, hatte sie zu den schönsten ihrer Wesensart gezählt. Der Wintergelehrte konnte sich gut an sie erinnern. An ihre Zurückhaltung und Annahbarkeit. Cycla - die Ruhe vor dem Sturm, die zu aller Überraschung die Aufmerksamkeit des Königs erlangen konnte. Viele Blüten hatten ihm schöne Augen gemacht, waren um ihn geschlichen und hatten um seine Gunst gebuhlt. Doch König Asparagos hatte sie alle abgewiesen und seine Wahl selbst getroffen.
 

Bedauerlich, dachte sich der Wintergelehrte, und beobachtete eine Schneeflocke, die langsam auf einer der herausragenden Wurzeln landete.

Nur die Regeln des Anstandes, die jeglichen Blickkontakt verboten und einen Verstoß hart bestraften, hielten den Winterling letztendlich davon ab, der Versuchung zu erliegen.
 

"So erstatte mir Bericht", sprach die Winterkönigin und faltete die Hände nach getaner Arbeit, dass sie vor ihrem Schoß ruhten.

"Sehr wohl", nickte der Gelehrte mehrmals und ließ sich zu einem Lächeln hinreißen. "Alles läuft zu bester Zufriedenheit, meine Königin. Der junge Prinz macht sich hervorragend - ganz wie zu erwarten. Ich bin davon überzeugt, dass er die Abschlussprüfung mit Bravour meistern wird. Er übertrifft bereits jetzt seine künftigen Untertanen um Längen."

"Die Fähigkeiten meines Sohnes waren schon immer herausragend."

"Gewiss", bestätigte der Gelehrte und verschränkte die Arme hinter dem Rücken, "er kommt ganz nach unserem König. Durch und durch. Vielleicht wird er ihn eines Tages übertreffen...Oh, bitte verzeih, es lag nicht in meiner Absicht, den König zu beleidigen." Die Königin ignorierte die Bemerkung und stolzierte an dem Gelehrten vorbei. Sie ließ sich auf einer der Fensterbrüstungen nieder und schlug die Beine übereinander. Wie eine Eissäule verharrte währenddessen der Wintergelehrte auf seiner Stelle. Als er keine Strafe erwarten konnte, fuhr er fort: "Der junge Prinz zeigt großen Ehrgeiz. Die letzte Zeit ganz besonders. Es würde mich nicht wundern, wenn er-" Die Blätter des Lebensbaumes begannen sich zu biegen. Hinter ihm erhob sich die Königin: "Warum sprichst du nicht weiter", sie war nun dicht an seinem Ohr, dass es ihm eiskalt den Rücken hinunter lief. Diesmal war er froh, ihren Blicken nicht begegnen zu müssen.
 

Er wusste einfach nicht, was sie von ihm hören wollte. Seit Jahren wurde er regelmäßig ins Schloss beordert, um der Winterkönigin von Prinz Tyledions Fortschritt zu berichten. Dabei schien sie auf etwas bestimmtes hinaus zu wollen. Etwas, womit ihr der Gelehrte nicht dienen konnte. Seine Antworten schienen sie nie zufrieden zu stellen.

Vielleicht war es den hohen Lobpreisungen geschuldet. Nur die wenigstens erlaubten es sich, dem Königspaar zu missfallen. Wenn Königin Cycla auch nicht jenen furchteinflößenden Ausdruck besaß, so war die Vorstellung von König Asparagos' Blicken, wenn er davon erfuhr, mehr als erschreckend. Doch Furcht war es nicht, die den Gelehrten zu diesem Urteil führten. Auch ohne Tyledions königliche Stellung hätte er nichts anderes zu berichten gehabt. Der junge Thronerbe wurde jeglichen Erwartungen gerecht, welche das Volk an einen Herrscher stellen konnte. Nur der Königin schien die Entwicklung ihres Sohnes nicht zu genügen.

"Nun", ihre Stimme hätte die Eisplatten zu ihren Füßen zerschneiden können. Er schluckte schwer. Ihm blieb nichts anderes übrig als der Königin zu antworten: "Seit Wochen - wenn nicht sogar Monate schon vergangen sind - widmet sich der Prinz den intensiven Studien unserer Reichsgeschichte. Er verbringt Stunden in der Bibliothek - ohne Pause. In seinem Alter ungewöhnlich, aber ganz seinem Charakter entsprechend. Wie mir scheint, bereitet sich der junge Prinz auf sein künftiges Erbe vor."

"Du denkst, er strebt eine baldige Regentschaft an?"

"Ich", geriet der Gelehrte ins stocken, "würde mir nie derartige Unterstellungen erlauben. Sei dir dessen gewiss, meine Königin."

"Aber?"

"Das Volk beginnt bereits zu spekulieren, wann der junge Prinz den Thron besteigt. Sollte es vor Wintersonnenwende zu einem Duell um den Winterstab kommen-"

"Du sprichst, als müsste sich der Prinz einem Kampf mit dem König stellen. Du vergisst den Stellenwert des Prinzen." Leicht begann ihre Stimme zu zittern.

"Gewiss nicht, meine Königin", schüttelte er mit dem Kopf. Auch ihm war der Wechsel in Königin Cyclas Stimmfarbe aufgefallen, dass er beschwichtigend mit den Händen vor seinem Gesicht fuchtelte. "Seine Handlungen", fuhr er fort, "und seine Art sich vorzubereiten - alles deutet darauf hin, dass sich der Prinz seinem Erbe stellt-", kurz zögerte er, die nächsten Worte auszusprechen, "und sich für einen Kampf wappnet. Ob er sich dem König stellen will, wage ich nicht zu behaupten. Vielleicht trüben mich meine Sinne. Das Gerede der anderen könnte mich beeinflusst haben." Mit einem Knoten in der Brust wartete der Gelehrte auf die Reaktion der Königin. Doch Königin Cycla entgegnete nichts darauf. Für einen Moment, der sich für den Winterling wie eine Ewigkeit anfühlte, hörte er nur ihren kalten Atem. Nun stand sie wieder direkt vor ihm. Er spürte ihre Blicke auf sich. Was er jedoch nicht sah war die Leere darin. Die Winterkönigin sah wie durch eine Fensterscheibe durch ihn hindurch. "Ich habe genug gehört", sprach sie ruhiger als der Gelehrte befürchtet hatte, "du kannst jetzt gehen." Damit streckte sie ihren rechten Arm in Richtung Tür aus. Ein letztes Mal verbeugte sich der Gelehrte und entfernte sich. Als sich die Schritte des Winterlings verflüchtigten verließ auch die Königin das Zimmer. Durch den Flur schreitend näherte sie sich einem Soldaten, der bereits sein Haupt zu senken begann. "Sag' mir, Diener", die Königin hob ihren Kopf und blickte streng auf den Soldaten, der die Etiketten des Königshauses gewohnt war und ganz selbstverständlich hinab sah, "wo finde ich den Prinzen?"
 

Der Prinz des Winterreiches war im Spiegelsaal - einem Raum im obersten Geschoss, der seinen Namen den verspiegelten Wänden zu verdanken hatte. Es gab keine Fenster, die das Sonnenlicht hinein gelassen hätten. Nur Eis, das so dick eingearbeitet worden war, dass nichts von außen durchdringen konnte. Große Kronleuchter, die von langen, spitzen Eiszapfen gehalten wurden, erhellten den Saal durch wandelnde Krapfen. Das waren kleine, kugelförmige Wesen, die einst aus Wintermagie erschaffen wurden und nun schon seit vielen Jahrhunderten im Winterpalast umher wandelten. Viele von ihnen hatten sich im Königsschloss ihr eigenes Zuhause geschaffen, hatten sich in etwaigen Rissen eingenistet oder lugten zwischen den Treppenstufen hervor, wenn keiner hinsah. Einige hatten sich aus freien Stücken dazu entschieden, dem Palast zu dienen, dass sie von selbst auf die Spitzen der Kronleuchter kletterten und ein weiß-blaues Licht erzeugten, sobald jemand durch das Zimmer schritt.

Leise fiepten sie vor sich hin, hüpften auf dem Kronleuchter, dass die Zapfen zu klimpern begannen, und schauten dem Treiben unter sich zu. Tyledion schwang das metallene Schwert und fixierte seinen Gegner, der ihn schwer atmend anstarrte.

"War das schon alles, Winso?", fragte er den Mischling, der daraufhin seine Mähne schüttelte. "Also dann", Tyledion stürmte auf den Jüngeren zu, der sich in Position gebracht hatte und sein Schwert fest umklammert hielt. Im letzten Moment parierte er den Angriff des Prinzen. Beide standen sie dicht an dicht. Ihre Blicken klebten aneinander - trübe See kämpfte gegen tosendes Meer. Winso drückte gegen Tyledions Schwert, doch der Gegendruck war gewaltig, dass er ins Wanken geriet. Das Schwert rutschte ihm aus der Hand und fiel klirrend zu Boden. Seufzend bückte er sich. Seine Augen sahen auf die Stelle, auf der das Schwert aufgeprallt war. Da gab es keine Einkerbung, keinen Schnitt.

Das Eis, aus dem der Winterpalast errichtet wurde, war kein gewöhnliches Eis. Erschaffen von den ersten Königen wurde es durch die unvergleichliche Magie der Hauptfamilie am Leben erhalten, dass es von Generation zu Generation überdauert hatte.

Eine Magie, die für den jungen Mischling unerreichbar schien. Die Augen geschlossen vertrieb Winso die finsteren Gedanken. Er nahm das Schwert zur Hand und richtete sich auf.

"Du bist unkonzentriert", sagte Tyledion, der seinen Cousin keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte, "und das schon seit Wochen. Dich beschäftigt etwas."

Winsos Finger hielten krampfhaft das Schwert. Er öffnete die Augen. "Es ist nichts", entgegnete er zwischen zusammengepressten Lippen, "machen wir weiter."

Tyledion wusste, dass sein Cousin nicht die Wahrheit sagte. Jedoch war es keine Stärke der Wintererben, über ihre Gefühle zu sprechen, dass er nicht weiter nach hakte. Stattdessen ging er zwei Schritte zurück, hielt das Schwert vor seinem Gesicht und wartete, dass es ihm sein Cousin gleich tat.

"Bereit?", fragte der Winterprinz. Winso nickte und beugte sich leicht nach vorne. Dieses Mal wollte er kein so erbärmliches Bild abgeben. Der erste Schlag kam von ihm. Schnell bewegte sich die Klinge auf seinen Gegenüber. Dieser war darauf gewappnet und tat einen Schritt zur Seite. Mit einem Gegenschlag klatschten die Klingen aneinander. Winso biss sich auf die Unterlippe, er drückte gegen Tyledions Schwert und drehte sich. Er hatte solch einen Schwung, dass seine gesamte Kraft von seinen Händen zu dem Griff seines Schwertes floss. Der nächste Schlag verfehlte nur knapp den jungen Prinzen, der seinen Oberkörper nach hinten gebeugt hatte. Tyledions Blicke verfolgten die schnellen Bewegungen der Klinge, die ihn an den Schweif einer Sternschnuppe erinnerte. Dann sah er es in Winsos Augen - dieser kurze Augenblick des Zögerns. Noch in seiner pendelartigen Bewegung gefangen packte sich der Winterprinz die Klinge und schleuderte dessen Besitzer an die nächstgelegene Wand. Es gab einen dumpfen Knall, bevor das Echo vom Raum verschluckt wurde. Winso schüttelte sich. Der Aufprall kam mit voller Wucht, dass er Mühe hatte, wieder auf die Beine zu kommen.

"Du hast gezögert", sagte Tyledion trocken und kam langsamen Schrittes auf seinen Cousin zu, "schon wieder."

Mit einem versöhnlichen Grinsen erwiderte Winso die Peinlichkeit. "Ich schwöre, es war keine Absicht."

"Du weißt, dass du dir bei der Zwischenprüfung keine Fehler erlauben darfst. Sobald du zögerst, werden sie auf dich losgehen. Deine Mitschüler werden keine Gnade zeigen."

"Ich weiß", lächelte Winso matt. Er wusste genau, wie die anderen Winterlinge waren. Zwischen all den disziplinierten Rohlingen tanzte er aus der Reihe. "Ich kann sie einfach nicht abstellen", sagte er und blickte auf das Schwert hinab, "meine Schwäche."

"Das ist keine Schwäche", erwiderte Tyledion und steckte sein Schwert zurück in die Scheide. "Aber du solltest mir glauben schenken, wenn ich dir sage, dass du mich nicht verletzen kannst." Er zeigte ihm die Innenfläche seiner Hand. "Wir sind im Spiegelsaal - schon vergessen?" Nicht ein Tropfen des dunkelgrünen Lebenssaftes war aus ihm entwichen - nicht einmal ein Kratzer war zurück geblieben.

Der junge Mischling kratzte sich an den Kopf und grinste breit. "Ja, ja. Das Eis fängt den Angriff auf und schützt Hiemes' nähesten Erben vor sämtlichen Schaden. Irgendwie will mir das nicht in den Kopf."

Tyledion schüttelte den seinen und wandte sich ab: "Wenn du soweit bist-", den Knauf des Schwertes umklammernd hielt er in seinen Bewegungen inne, als hohe, feine Absätze über die Eisplatten schritten.

"Wie ich sehe, bist du wieder fleißig am trainieren." Königin Cycla war nur wenige Schritte vor der Eingangstür zum Stehen gekommen.

"Du bist früh auf den Beinen, Mutter", entgegnete Tyledion und kam auf die Winterkönigin zugelaufen. Mit drei Küssen auf die Wangen begrüßte er seine Mutter.

"Ich wollte dich sehen", sagte sie. Dann wandte sie sich an den Mischling und entgegnete kühl: "Ich will mit meinem Sohn sprechen. Alleine." Winso steckte sein Schwert in die Halterung, verbeugte sich und lief zügig an den beiden vorbei. Kaum war er außer Hörweite, verschränkte Königin Cycla die Arme vor der Brust und drehte den Kopf in die Richtung, in welcher ihr Neffe verschwunden war. "Ich verstehe nicht", sagte sie kopfschüttelnd, "wieso du ausgerechnet mit ihm trainierst. Du musst dich für seine Unfähigkeit nicht verantwortlich fühlen. Das ist Aufgabe der Gelehrten."

"Mitnichten, Mutter", erwiderte Tyledion, "eigentlich ist Winso der einzige, mit dem das Kämpfen noch irgendeine Herausforderung darstellt. Er hat zwar keine nennenswerten Winterfähigkeiten - dafür ist er im physischen Nahkampf kaum zu übertreffen."

"Nur wird es ihm wenig nützen."

"Ich denke, dass sein Talent seinen Zweck erfüllen wird", widersprach er, "irgendwo muss er sich zukünftig einordnen müssen. Und mit dieser Begabung würde er einen fleißigen Waldhüter abgeben. Dafür braucht er keine Wintermagie und kann sich ganz seinen physischen Kräften widmen." Andererseits, dachte Tyledion schon des Öfteren, würde sein Cousin vollkommen von der Außenwelt abgeschottet sein. Waldhüter lebten seit jeher allein in den Winterwäldern. Für ein fröhliches Gemüt wie Winso wäre ein Leben in völliger Einsamkeit einer Bestrafung gleichgesetzt. Leider fiel dem Winterprinzen keine geeignetere Aufgabe ein, in der Winso einen Platz in der winterlichen Gesellschaft erhielte.
 

"Ich merke", sagte Königin Cycla, wobei der Unterton ihrer Stimme etwas Verletztes bekam, "du hast bereits alles durchdacht. Es war mir nie bewusst, dass du dich so ausgiebig mit diesem Thema beschäftigst."

"Wir sprechen nicht mehr über Winso?" Wobei diese Frage keiner Antwort bedurfte.

"Ich spreche von deiner Aufgabe als zukünftiger König."

"Natürlich befasse ich mich damit, Mutter. Es wäre töricht, erst nach dem Duell darüber nachzudenken."

"Was soll das heißen?", Zorn lag in ihren Augen, "dass du dich tatsächlich mit deinem Vater um die Krone streiten willst? Du willst mir doch nicht sagen, dass das Gerede des Pöbels der Wahrheit entspricht!"

"Ich verstehe deine Verwunderung nicht, Mutter. Ich befolge lediglich die Gesetze unseres Reiches."

"Du bist König Asparagos' einziger Sohn", entgegnete sie als wüsste Tyledion nicht um seine Stellung, "du musst dich nicht erst beweisen."

"Tut mir leid, Mutter, aber das sehe ich anders. Meine Position ist keine Ausrede, die Traditionen zu brechen. Außerdem glaube ich kaum, dass Vater mir kampflos die Herrschaft überlassen wird."

"Wenn die Zeit gekommen ist, wird er keine andere Wahl haben." Mit aufgerissenen Augen sah sie ihn an. "Du willst mir doch nicht sagen, dass du in naher Zukunft beabsichtigst-." Sie konnte ihren Satz nicht beenden.

"Bis zur nächsten Wintersonnenwende vergeht noch einige Zeit", sagte schließlich Tyledion.

"Das ist nicht dein ernst." Ihre Stimme erhob sich.

"Ich würde es nie wagen, darüber zu scherzen", erwiderte er strengen Blickes.

"Weißt du denn nicht, was das für dich bedeutet?" Natürlich wusste das ihr Sohn. Cycla schüttelte den Kopf. "Du hast noch so viel Zeit. Niemand steht dir im Weg."

"Meine Entscheidung ist gefallen."

"Wie kannst du dieses Geschenk, das wir dir gaben, einfach so wegwerfen", ihre Haarspitzen begannen zu gefrieren, "stattdessen willst du dich diesem sinnlosen Kampf stellen."

"Du vergisst dabei das Volk. Glaubst du, sie werden einen König akzeptieren, der nicht einmal den Mut hatte, seinen Vater herauszufordern? Wie können sie sich meiner wahren Stärke bewusst sein? Wenn auch nur der kleinste Zweifel besteht - wie stünde unser Reich denn da?"

"Niemand zweifelt deine Fähigkeiten an. Sie respektieren ihren zukünftigen Herrscher."

"Angst hat nichts mit Respekt zu tun."

"Nach allem", fauchte sie. Die Worte galten nicht mehr ihrem Sohn. Dieser hielt sich zurück, wissend, dass er sie nicht weiter in Rage versetzen sollte. Ihre Emotionen drohten auszubrechen. Winterkräfte bahnten sich den Weg durch ihre Augen. Es brauchte einen Augenblick, bis sich die Königin ihrer Gefühle bewusst wurde. Ein tiefer Atemzug genügte und die Kräfte kehrten zurück in ihr Innerstes. Mit einem letzten Hauch verzweifelter Trauer, die ihr Sohn der Sitten wegen zu ignorieren hatte, sprach sie weiter: "Wieso jetzt? Warum kannst du nicht noch etwas warten? Du bist jung, niemand setzt dich unter Druck. Also wieso, Tyledion?"
 

Was hätte er ihr sagen sollen? Dass ihm nichts anderes übrig blieb? Dass er ein Versprechen halten musste? Dass die Wahrheit sie entsetzen würde?
 

Er konnte nichts darauf erwidern, obwohl der tiefe Ausdruck ihrer Augen nach einer Antwort verlangte.

Die drückende Stille wurde schließlich durch ein Klopfen und Räuspern unterbrochen. Einer der Wachen hatte sich vor die offene Tür gestellt.

"Verzeih' bitte die Störung, mein Prinz", sprach der Winterling mit kratziger Stimme, "ich sollte euch benachrichtigen, sobald die Vorbereitungen abgeschlossen sind. Die Gelehrten warten nur noch auf deine Befehle."

"Ich komme sofort", winkte Tyledion die Wache ab, dass dieser nickend davon marschierte. Tyledion wandte sich an seine Mutter: "Ich bedauere", sagte er und nahm ihre Hand zum Kuss entgegen, "dass wir zum ersten Mal nicht einer Meinung sind."

"Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen", sagte die Winterkönigin und blieb regungslos stehen, als er ihr den Rücken zukehrte.

Hochsommer I

Heiß schien die Sonne über den Wiesen des neutralen Gebietes. Machtvolle Strahlen, die nur darauf gewartet hatten, ihre Fühler auf der Erde auszustrecken.

Es war der erste von drei Tagen, an denen der Sommer seine ganze Macht entfalten sollte. Wenn selbst die Natur vor den Strahlen erzitterte, die Wiesen an den letzten Wasserreserven nagten und die Flüsse sich scheu zurückzogen - dann stand der Hochsommer vor der Tür. Und mit ihm auch das nahende Ende der trockenen Zeiten.
 

An diesem Tag saßen die Prinzessin des Sommers und die Zwillingsschwestern des Frühlingsreiches unter den letzten Schatten spendenden Bäumen, deren Blätter wie Schirme über den Köpfen ragten. Neben ihnen sammelten sich die jungen Sommerblüten, die Prinzessin Myosos Beispiel gefolgt waren und andächtig neben ihr Platz genommen hatten. Hochrangige Mitglieder sahen es als ihre Pflicht, die Nähe der königlichen Familie zu ersuchen und ihnen nach möglichem Ermessen treu zu dienen. So sammelten sie sich um die liebliche Sommerprinzessin, kämmten das goldene Haar, das noch heller als die Sonner erstrahlte, sammelten Gräser, die sie Strähne für Strähne einarbeiteten bis ein geflochtener Kranz entstand, der auf dem Haupt wie eine Krone thronte. Zwei weitere Sommerblüten brachten Myosos Gewand in Form; die junge Sommerprinzessin trug ein orangefarbenes Kleid, dessen Spitzen von den Blüten junger Sonnenblumen begleitet wurden, sowie einer weiß-seidenen Schleppe. Obwohl Myoso derartige Annehmlichkeiten beschämten, sagte sie nichts zu ihren treuen Begleiterinnen, die ihr Leben lang darauf vorbereitet worden waren, der Königsfamilie zu dienen. Es wäre einer Beleidigung gleichgesetzt, wenn die Prinzessin ihre Dienerschaft von sämtlichen Aufgaben befreite, ohne einen ersichtlichen Grund zu nennen. Da reichte es nicht aus, bescheiden und rücksichtsvoll zu sein.
 

"Was soll man nur an solch einem Tag machen", sprach Irida und streckte ihre Arme. Dabei ließ sie die linke Hand rotieren, dass ein Luftwirbel entstand und für einen Augenblick ihre Fingerkuppen kühlte.

"Ich bin zu nichts zu gebrauchen", stöhnte Iris und fächerte sich mit dem Blatt eines Bananenbaumes Luft zu.
 

Die Frühlingsprinzessinnen litten besonders unter der aufkommenden Mittagssonne. Ihr Innerstes sehnte sich nach dem Regen, den Tautropfen und den feuchten Gräsern unter ihren Füßen. Stattdessen gab es gold-grüne Wiesen, trockene Erde, die von den Reserven des Frühlings zehrte. Dass die Reiche nicht von Dürre heimgesucht wurden, hatten sie einzig dem Bündnis zwischen Sommer und Frühling zu verdanken. Dieses beinhaltete eine Abmachung, in welcher Königin Allilaea zweimal im Sommer ihren Regen heraufbeschwor, während im Gegenzug König Gingko dafür sorgte, dass zu Beginn des Frühlings genug Sonnenschein über die Keimlinge strahlte.
 

Auf die Gesichter der Frühlingsprinzessinnen antwortend schlug Prinzessin Myoso eines ihrer mitgebrachten Bücher auf, dass die Zwillinge gleichzeitig mit den Köpfen schüttelten.

"Keine Lehrstunden, meine liebe Sommerprinzessin", sangen sie im Chor und falteten die Hände zum Gebet.

"Bitte", Irida neigte ihr Haupt, "schenke uns etwas Erheiterndes-"

"Oder Reizvolles", ergänzte ihre Schwester und grinste breit, "erzähle uns eine Geschichte, die wir nicht kennen. Eine von deinen Vettern... vielleicht etwas, das nicht in den Geschichtsbüchern steht."

Daraufhin legte Myoso einen Finger ans Kinn und begann zu überlegen: "Was genau schwebt euch vor?"

"Nun ja", Irida rückte etwas näher an die Sommerprinzessin, "da wir nicht oft die Gelegenheit haben, unter uns zu sein", dabei schaute sie auf die Frühlingsschar ihres Reiches, die - wie alle Burschen aus den vier Ländern - mit Training beschäftigt waren, "schlage ich vor, wir erzählen uns der Reihe nach Geschichten."

"Klatschgeschichten", betonte Iris.

"Oder Romanzen", schwärmte Irida und klimperte mit den Augen.

"Oder alles auf einmal", sprachen sie im Chor, dass Myoso anfing zu kichern.

"Also schön", lachte sie auf, dass ihre Grübchen hervorstachen, "ich denke, ich weiß, wie ich euch zufriedenstellen kann." Damit klappte sie die Lektüre zu und begann zu erzählen:
 

"Es lebte einst ein Sommerkönig. Dieser liebte eine junge Blüte voll unsagbarer Schönheit. Sie war das reinste Geschöpf, welches das Reich je gesehen hatte. Nur war ihr Leuchten schwach und kränklich, dass sie nie einen Erben zeugen würde. Trotz der Widerstände heiratete der König seine Auserwählte.

Die Jahre zogen dahin, ohne dass das Königspaar ein Kind gebar. Den Sommerkönig scherte das Gerede seines Volkes nicht, dass er an der Liebe zu seiner Gemahlin festhielt. Der jüngere Bruder des Königs, der um die Sicherheit seiner Heimat bangte, sah schließlich keinen anderen Weg als selbst zu handeln. Eines Tages folgte er der Königin zu den Flüssen, wo sie jeden Morgen frisches Wasser für den Lebensbaum schöpfte. Den Holzpfahl zur Hand stach er ihr in den Rücken, dass sie sogleich zu Boden fiel und zu Mutter Erde zurückkehrte. Erst am Abend wurde das Unglück bekannt. Ein Sommerling fand die welken Dahlienblüten, die einst das Haupt der Königin schmückten und berichtete dem Sommerkönig von der schlimmen Kunde. Dieser verfiel in unsagbare Trauer und schloss sich in seine Gemächer ein. Wochen und Monate vergingen, Blätter fielen von den Bäumen, Schnee bedeckte die Erde und taute mit Beginn des Frühlings wieder auf - doch der Schmerz des Königs wollte nicht heilen. Jeden Sommer reiste er zu den Flüssen und pflanzte eine Dhalie zur Erinnerung an seine Liebste.

Der jüngere Bruder beobachtete das Leid des Älteren. Von Schuld und Ängsten geplagt beschwor er den König, sich neu zu vermählen. Nur gab es keine Blüte, die der Herrscher so begehrte wie einst die Königin. Viele weitere Jahre blieb das Reich ohne Königin und ohne Erben, bis der König eines Sommertages eine frische Knolle der Lieblingsblume zu den Flüssen trug und dort eine liebliche Blüte am Ufer knien und Wasser schöpfen sah. Nicht wissend, wer diese Schönheit war, überwältigte ihn ihr strahlendes Leuchten. Eine Dhalienblüte hing ihr in den Haaren. Der König war sich sicher, in ihr die Reinkarnation seiner Liebsten gefunden zu haben und machte sie zu seiner Braut.

So feierte das Sommerreich sieben Tage und sieben Nächte. Denn nicht nur der Sommerkönig hatte sich vermählt. Auch sein Bruder heiratete an diesem Tag. Solch ein pompöses Fest hatte es noch nie gegeben. Alle waren glücklich; der König, sein Bruder und das gesamte Sommervolk. Als sich der siebte Tag dem Ende neigte gingen die Bewohner schlafen und die Königsfamilie bereitete sich auf ihre erste Nacht als frisch Vermählte vor. Die Sommererben warteten in den Gemächern auf ihre jeweilige Braut: die Gemahlin des Bruders? Sie lag auf den hiesigen Feldern des Sommerreiches. Der Regen, ein Geschenk des Frühlings, hatte die Sommerblüte trunken gemacht, dass sie des nachts nicht Heim gefunden hatte. Die Gemahlin des Königs kehrte zurück in die königlichen Gemächer. Jedoch waren die Flure so dunkel, dass sie nicht merkte, welches Bett sie bestiegen hatte. War sie nämlich in den Gemächern des Bruders, der nichts von der falschen Braut bemerkte.

Am nächsten Morgen entblößte die Sonne den schrecklichen Irrtum. Die Aufregung war groß. Hatten die beiden in jener Hochzeitsnacht eine Knospe hervorgebracht."
 

"Moment, Moment", Iris' und Iridas Hände hatten sich ineinander verhakt, während die Zwillinge ihre Körper nach vorne gebeugt hatten, dass sie nur eine Nasenlänge von Myoso entfernt waren.

"Ist das alles?", fragte Irida.

"Das kann nicht alles sein", fügte Iris hinzu. Die Schwestern nickten zustimmend: "Das Ende der Geschichte fehlt."

Myoso legte die Hände auf den Schoß. "Weitere Überlieferungen gibt es nicht."

"Was?!", riefen die Zwillinge im Chor, dass ihre Stimmen bis zu den Winterlingen gelangten, die sich auf die kommende Winterprüfung vorbereiteten. Köpfe schnellten zu dem aufgebrachten Geschnatter. Die Zwillinge selbst ignorierten die empörten Gesichter derjenigen, die sich in ihrer Arbeit gestört fühlten.

"Niemals!", beharrte Irida auf ihre eigene Logik, "Myoso, du kannst uns doch nicht so eine Geschichte erzählen und einfach an der spannendsten Stelle aufhören!"

"Ja", pflichtete ihr Iris bei, "irgendwo muss doch geschrieben stehen, wie der König reagiert hat."

"Oder was aus dem Kind wurde", ergänzte ihre Schwester.

Die Sommerprinzessin schüttelte mit dem Kopf. "In den Ahnenbüchern steht nichts geschrieben. Und der Stammbaum der Urväter schreibt von den Erben der Könige, nicht von den Nachkommen der Zweigfamilien", sie sah nach hinten, zur Bibliothek, "so viel ist bekannt, dass dieser besagte Sommerkönig nur einen Sohn hatte-"

"Myoso", Iris machte große Augen, "könnte das nicht bedeuten", und Irida fügte hinzu, "dass dieses Kind...aaaah, ich kann es gar nicht aussprechen." Ihre Wangen begannen zu glühen. Die Prinzessinnen des Frühlings fassten sich an die Gesichter und schüttelten voll Scham die Köpfe.

"Was für ein Skandal!", riefen sie im Chor, ihre Aufregung kaum unterdrückend. Sie liebten derlei Geschichten - besonders, wenn sie nicht aus den eigenen Reihen stammten.

"Nein! Niemals!", aus den Gebüschen lugten die goldenen Haare Malwas hervor. Die Jüngste der drei Königskinder hatte sich aus dem Unterricht gestohlen und war zu den Älteren geschlichen, um ihren interessanten Geschichten zu lauschen anstatt das langweilige Geplänkel der Gelehrten.

"Unser Vorfahre ist der König und niemand sonst", ihre Bäckchen begannen wir reife Kirschen aufzuleuchten. "Sag' es ihnen, Schwester."

"Malwa", sprach Myoso und wurde sogleich von der Jüngsten unterbrochen.

"Das sind doch nur üble Gerüchte. Geschichten, die sich die Erwachsenen zum Spaß erzählen - oder? Du musst doch etwas auf diese Anschuldigung sagen!" Das Wiesenkind ballte die Hände zur Faust und warf giftige Blicke auf die Frühlingsprinzessinnen, welche sich zusammennahmen, die Kleine nicht zu verspotten. Dafür war sie zu überzeugt von dem, was sie sagte - trotz ihres Alters.

"Schwesterchen", begann Myoso klar und offen zu reden, "wenn ich dir eine Antwort geben würde, wäre sie eine Lüge."

"Aber", murmelte Malwa kleinlaut. Erst jetzt bemerkte sie ihr unziemliches Verhalten. Sie spürte die Blicke von allen Seiten. "Du kannst doch nicht glauben, dass wir gar nicht vom König abstammen. Dann wäre unser Vorfahre nicht nur aus einer Zweigfamilie. Er wäre ein Mörder. Wir wären die Kinder eines Mörders. Wir stammen doch nicht von einem Verräter ab, der die Königin ermordet hat!"

Im Kreis sahen sich die jungen Blüten an. Es herrschte verlegenes Schweigen unter den Sommerlingen. Selbst die Frühlingsprinzessinnen hielten sich zurück. Die Stimme der jüngsten Königstochter war über dem ganzen Feld zu hören gewesen. Die Schüler des Herbstreiches taten so als hätten sie nicht zugehört. Etwas weiter hinter ihnen drehten Frühlingsvertreter ihre Köpfe weg von der Gruppe. Und die Winterlinge, die mit Lernen statt mit Kampfübungen beschäftigt waren, hielten in ihren Studien inne, ohne ihre Augen von diesen abzuwenden.

Nur Prinzessin Myoso erhob sich und kam auf ihre Schwester zu. Noch nie hatte sie so ernst mit der Jüngsten gesprochen: "Viele unserer Vorfahren waren Mörder und Verräter. Sie haben vielleicht nicht ihren eigenen Bruder verraten oder die Königin ermordet, aber sie waren dabei als grausame Schlachten geschlagen wurden. Sinnlose Kämpfe, bei denen auf allen Seiten Verluste beklagt wurden. Das ist unsere Geschichte, Malwa. Daran können wir nichts ändern." Obwohl sie leise sprach, hörte jeder Myosos Stimme, die ihnen wie ein Flüstern in die Ohren wehte. "Schwester", sie kniete sich vor die Jüngere und klemmte eine lose Strähne hinter ihr Ohr, "wir können nicht bestimmen, worin unsere Wurzeln liegen. Wir können lediglich entscheiden, mit wem wir sie künftig verbinden wollen. Die Zukunft ist entscheidender als die Vergangenheit. Lass' Kummer und Gram nicht die Gegenwart bestimmen."

"Aber", Malwa senkte den Kopf, "ist dann unser Stammbaum bloß eine Lüge?"

"Ach, kleine Sommerprinzessin", winkte Iris ab und setzte ein versöhnliches Lächeln auf, "jeder Stammbaum wurde von unseren Vorfahren nachgebessert."

"Ja", bestätigte Irida, "selbst in unserem Reich wird das unsittliche Verhalten unserer Urväter einfach ausradiert. Das wird für alle anderen Reiche auch gelten." Aus dem Augenwinkel beäugte sie die Winterlinge.

Malwa befriedigte die Antwort nicht. In ihr arbeitete es unentwegt. Die vielen Heldentaten und großartigen Leistungen, die ihr Volk in den Jahrhunderten geleistet hatten - waren sie am Ende nichts weiter als eine große Lüge?

Die mahnende Stimme des Sommergelehrten hinderte sie daran, weiter zu grübeln. Dieser entschuldigte sich bei der Ältesten für die Störung, schnappte sich das Sommerkind bei den Zöpfen und zog es zurück in die Lerngruppe. Myoso sah ihrer Schwester hinterher.

"Nimm' es nicht so schwer, Prinzessin", sprach eine Sommerblüte und lächelte sanft, "Prinzessin Malwa ist noch jung und wird es irgendwann verstehen."

"Vielleicht", hauchte Myoso und setzte sich zurück zu den anderen. Sie wusste, dass nicht jeder mit der Zeit verstand. Gab es Sommerlinge, die nie an der Vollkommenheit ihres Reiches zweifelten.

"Ach, einmal wieder Wiesenkind sein", seufzte Irida.

"Als ob du wieder auf den Wiesen springen und Scidellos dabei zusehen willst, wie er den Schnee von den Gräsern wischt", kicherte ihre Zwillingsschwester, "du kannst es doch kaum erwarten, dass dich Mama in den Kreis der jungen Blüten aufnimmt."

"Du bist doch genauso scharf drauf. Oder wie war das auf dem Sommersonnenwendenfest? Warst du nicht ganz verzückt von dem Win-"

"Sei still", boxte Iris ihr in die Seite. Verlegen blickte sie zu Boden und murmelte: "Ich hab nur gesagt, dass ich ihn süß finde." Ihre Schwester begann zu kichern. Die jungen Sommerblüten taten es ihr gleich.

"Ihr seid alle gemein", rümpfte Iris die Nase, bevor sie nicht anders konnte als selbst zu schmunzeln.

"Das liegt bestimmt an der Hitze", Irida wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht. Die Hitze näherte sich ihrem Höhepunkt, die Sonne stand kurz vor ihrem Zenit - die Mittagszeit brach heran. Die jungen Sommerburschen schritten auf den Übungsplatz - angeführt von ihrem Gelehrten und Lathyrus, der den angehenden Soldaten letzte Anweisungen erteilte. Sie waren die einzigen, die sich der Macht der Sonne entgegen stellten. Alle anderen hatten sich in den Schutz der Bäume begeben.
 

Alle?
 

Ein kleiner dunkler Fleck inmitten des Feldes stand regungslos auf der Stelle. Unfähig sich zu bewegen, stand er hilflos seinem grausamen Schicksal gegenüber.

Hochsommer II

Erbarmungslos marschierte die Sonne ihrem Höhepunkt entgegen. Bach und Fluss duckten sich ob der gewaltigen Kraft, die ihre dicken, festen Strahlen mit sich brachten. Bergriesen krümmten sich vor ihren groben Stichen, den rauen Streifen, die wie Geschosse auf sie einprasselten. Baum und Busch wagten sich nicht zu rühren. Sogar die Erde, ausgelaugt von wochenlanger Dürre, knirschte missmutig, als mit jeder Sekunde die Strahlen spitzer wurden und die Sonne höher rückte. Nur noch wenige Minuten und die Hitze würde wie ein Sturm über die gesamte Welt fegen, alles Feuchte von der Erde tilgen und - eines Lauffeuers gleich - alles niederbrennen, das sich ihr in den Weg stellte. Und sie würde erst Ruhe geben, bis auch der letzte Grashalm, das letzte Blatt vertrocknet war. Bis die Wurzeln des ältesten Baumes um Gnade flehten, Orchideen, Dahlien und Lilien ein Ächzen von sich gäben und die Meere in Ehrfurcht erstarrten. Erst dann würde König Mittagssonne zufrieden sein. Wenn die Natur in Ohnmacht fiele, betäubt von Hitze und Trockenheit. In einem Moment absoluter Kontrolle und Allmacht würde die Sonne den Boden in goldene Gewänder tauchen. Grelles Licht schiene auf die ausgedörrte Erde, tränkte sie im Glanze ihrer herrschaftlichen Schönheit, ihres allumfassenden Lichtes. Für wenige Augenblicke würde die Erde majestätische Funken versprühen. Als wären die erlesensten Diamanten und Edelsteine vom Himmel gefallen, würden die Landschaften in strahlendem Glanz der schönsten Farben, die der Sommer zu bieten hatte, eingehüllt sein. Ihre Anmut ließ die Kräfte des Sommers und ihrer Nächsten in einem Licht ohnegleichen erstrahlen. Während die Erben von Frühling, Herbst und Winter ihre Fühler einzogen, jede Ecke, in der Schatten ruhte, aufsuchten, streckten sich die Erben Aestos', badeten im Schein, der Vater Sonne ihnen darbot und stärkten ihre Kräfte für Zeiten, an denen die Strahlen ihre Macht verließen. Geradezu einnehmend war der Anblick der Sommerlinge, wenn ihre nackten Füße den heißen Boden der Mittagssonne berührten, wenn sie das Heu zwischen ihren Zehen spürten und alles Licht dieser Erde die Erben des Sommers durchdrangen. Solange, bis die Sonne genug hatte, weiter ihres Weges zog und dem Nachmittag den Vorrang gewährte, dass der Boden aufatmete, die Erde zu neuem Leben erwachte und Pflanz und Tier aus ihren Verstecken lugten. Der Mittagsschein war nun einmal der Gefürchtetste des Tages, und im Hochsommer würde er keine Gnade walten lassen.
 

Zielstrebig schritten die zwölf Burschen unter der Führung ihres künftigen Generals und der Begleitung ihres Gelehrten auf die Mitte des Übungsplatzes zu. Die Sonne kitzelte ihre braun gebrannten Gesichter, die creme- bis karamellfarbene Haut sättigte sich an ihren Fühlern. Statt Schweißperlen benetzten von Sonnenlicht getragene Brillanten Stirn und Schläfen. Während die meisten Burschen ihr Haar in kurzgeschorenen Wellen trugen, fiel Lathyrus Mähne bis zu seinen Schulterblättern und glänzte im Wettstreit mit den Sonnenstrahlen. Der Blick war stets nach vorne gerichtet, das Gesicht zu einer leicht strengen Miene verzogen - wie es einem künftigen General der königlichen Sommerarmee gebührte.

Es war das erste Mal, dass er die künftigen Soldaten des Sommerreiches anleiten sollte. Seine stahlblauen Augen, die den wolkenlosen Himmel widerspiegelten, zeigten keinen Anflug von Nervosität. Dabei war es die Anspannung, die seinen gesamten Körper so erhaben erscheinen ließ. War es eine Ehre, seinem Vater zur Hand zu gehen, zeugte es gar von Vertrauen und Achtung, dass er dem ältesten Sohn die Verantwortung übertrug, so graute ihm davor, seiner bevorstehenden Rolle nicht gerecht zu werden. Dass er Versagen könnte, dass er seinen Vater, ja sogar den König enttäuschen könnte. Er presste die Lippen zusammen, kämmte sich grob mit den Fingern die Strähnen vom Gesicht und blieb stehen, dass es ihm seine Hintermänner gleich taten. Nur flüchtig ließ Lathyrus die Augen zu jenem Baum hinüber wandern, dass er die zarte Gestalt unter den schwer herabhängenden Blättern erblicken konnte. Das Gesicht der Sommerprinzessin war ihren Begleiterinnen zugewandt. Von Weitem sah er die weichen Lippen zu einem Lächeln verzogen. Er wusste, wie zart eine Berührung dieser roséfarbenen Lippen sein konnte. Wie sie auf seiner Stirn Trost und Ruhe spendeten. Schon als Wiesenkind war die Prinzessin für ihre Fürsorge und beispiellose Hingabe gegenüber ihres Volkes bekannt gewesen. Dass Lathyrus nicht zuletzt wegen seiner Stellung in der Zweigfamilie die ein oder andere Liebkosung mehr genießen konnte, hatte ihn noch nie gestört. Manchmal gab er sich den stillen Träumereien hin. Stellte sich vor, ihr einzigartiges Leuchten gelte nur ihm. Natürlich wusste es Lathyrus besser. Die Liebe der Sommerprinzessin galt dem gesamten Sommervolk. Nicht, dass es etwas an seinen eigenen Gefühlen ändern würde. Steigerte es lediglich die Verehrung für König Ginkos älteste Tochter. Verzehrte sich sein innerstes Leuchten nur umso mehr nach Prinzessin Myoso - der schönsten und anmutigsten Prinzessin von allen. Neben den wilden Frühlingsprinzessinnen stach ihre zarte, bleiche Erscheinung umso eindrucksvoller hervor. Weniger eine streng distanzierte Bleiche, wie sie das Wintervolk trug, ähnelte ihr Teint einem reinen, unschuldigen Leuchten - von Makellosigkeit durchzogen, dass es ihn mit Ehrfurcht zurückließ. Unentwegt könnte er sich solch Schwärmereien hingeben und mit jedem Tag, der verging, wuchs der Drang, Prinzessin Myoso jene Gefühle zu gestehen, welche er kaum noch zügeln konnte.

Ganz zaghaft konnte er ihren Mund bewegen sehen. Die Worte wurden von der trockenen Hitze einfach verschlungen. Kein Lüftchen wehte ihre liebliche Stimme in seine Ohren. Kein Hauch vermochte die Stille der Erde zu ihm hinüber zu tragen. Prinzessin Myso nickte ihren Dienerinnen zu, neigte den Kopf, dass ihre tiefen, warmen Augen in seine Richtung blickten. Das ganze Gesicht begann zu strahlen, die Prinzessin lächelte ihm zu und ließ ihr innerstes Leuchten nach außen. Es kostete Mühe, die eigenen Gefühle zu unterbinden, die womöglich in einem starken Moment tiefsten Verlangens ausgebrochen wären. Das Schürfen von über ein Dutzend Stiefeln ließ ihn innehalten. Leichter Gram stieg in ihm auf, als er sich gewahr wurde, scheinbar nicht der einzige zu sein, der Prinzessin Mysos Aufmerksamkeit aufgefallen war und dass womöglich jeder Bursche denselben Gedanke hegte wie Lathyrus es tat. Alle zwölf Burschen, der Gelehrte eingeschlossen, waren der Liebenswürdigkeit der Sommerprinzessin verfallen. Mit einem Räuspern drehte sich Lathyrus um und forderte jeden Einzelnen auf, seine Blicke auf ihn zu richten. Da er ganz vorne an einer beginnenden Erhöhung stand, überragte er die anderen um einen halben Kopf. Ihre Gesichtsmuskeln waren so angespannt, wie Lathyrus selbst, welcher mit Bedacht die folgenden Worte wählte. "Heute werdet ihr eine Technik erlernen, die nur mit äußerster Gewissenhaftigkeit angewandt werden darf. Schließlich", er ließ die Augen zu kleinen schmalen Schlitzen werden, "ist dies eine Technik, deren Ausübung im direkten Angriff verboten ist. Der König", sprach er weiter, als er nun die absolute Aufmerksamkeit der Burschen gewonnen hatte, "verbietet jedwede Machtdemonstration. Weil sie so gefährlich ist, darf sie niemals im Kampf als Waffe eingesetzt werden." Einige eifrige Burschen sahen sich fragend an, andere verzogen den Mund, sichtlich verunsichert, ob sie der folgenden Aufgabe gewachsen waren.

"Dennoch", fuhr Lathyrus fort, "gehört diese Technik zur Ausbildung eines jedes Sommersoldaten. In absoluten Notfällen soll sie euch als Verteidigung dienen - mehr aber auch nicht. Betet, dass diese Technik nie zum Einsatz kommt und dankt unserem König für den Frieden, dass wir uns nie der Verantwortung stellen müssen." Die angehenden Soldaten schlugen die Füße aneinander und salutierten. Lathyrus nickte ihnen zu. "Zunächst die Haltung", er stellte sich breitbeinig hin, den linken Fuß nach vorne, die Arme pressten sich an den Körper, der in eine hellgelbe Uniform eingekleidet war. Die Burschen vor ihm taten es ihrem künftigen Anführer gleich.

"Es ist wichtig, dass ihr den Boden unter euch spürt. Standfestigkeit ist ausschlaggebend für die Ausführung. Verliert niemals das Gleichgewicht oder weicht von eurer Position ab. Ihr braucht eine Verbindung zum Boden, um die Kontrolle zu behalten." Nun streckte er den rechten Arm gen Himmel aus. "Der schwierigste Teil ist die Beschwörung der Sonnenkräfte als manifestierte Gestalt. Die meisten scheitern an der Ausführung, weil sie sich zu sehr auf die Sonne konzentrieren. Versucht daher, eure Gedanken nach innen zu kehren. Bleibt dabei fokussiert. Nutzt den Boden nicht als Nährquelle." Mit der anderen Hand zeigte Lathyrus auf die vertrockneten Grashalme. "Stellt ihn euch als eine Art Ableiter vor." Den Zeigefinger ausgestreckt wurden die goldenen Lichtpunkte am Boden von Lathyrus' Fingerspitze angezogen. Die Kräfte drangen in ihn ein, Hitze quoll in wohligen Schauern in seinen Körper auf. "Sobald euer Innerstes bereit ist, leitet ihr die Kräfte in die rechte Hand." Man sah lediglich ein leichtes Flimmern, als Lathyrus seine Kräfte durch seinen Arm trieb. Erst als sie die Handinnenfläche erreicht hatten, tauchte ein grelles Licht auf. Erst eine Kugel verformte sie sich schließlich zu einem Bogen. Die Bogensehne schien aus den Haarsträhnen der Sommerprinzessin persönlich gemacht worden zu sein. Der breite Griff - golden, auf denen die Gravuren des Sommerreiches eingearbeitet waren - wurde von Lathyrus langen, schmalen Fingern umfasst, dass die ganze Hand angespannt war. Aufwändige Verzierungen, welche die Sonnenstrahlen als Kunstwerk darstellen sollten, rundeten das Bild eines königlichen Bogens vollends ab. Ein Raunen ging durch die Runde. Anerkennung und Achtung fanden sich in den Augen der Burschen wieder, doch Lathyrus tat es lediglich mit einem Nicken ab. Schon unzählige Male hatte er sich daran erprobt. Sein Vater war ein strenger Lehrmeister. Mehrere Monate hatte er auf diesen Moment, auf diese Perfektion hingearbeitet. Er wusste, dass es keinem der Burschen auf Anhieb gelänge, ebenso überzeugende Resultate hervorzubringen. Wenn sie einen einfachen Bogen erschaffen konnten, galt die Aufgabe als bestanden.

"Und nun", damit stellte Lathyrus die Bewunderungen ein, "benötigen wir den Pfeil. Anders als beim klassischen Feuerpfeil, den ihr in euren Übungen anwendet, tränkt ihr eure Energie nicht mit den Sonnenstrahlen, sondern mit der gesamten Sonne. Damit gewährleistet ihr, dass die Wirkung des Pfeils nicht während des Wurfs nachlässt oder sich gar in Rauch verwandelt. Nimmt man also genügend Sonnenlicht auf", in Lathyrus' freier Hand begann es leise zu knistern, "kann man die Kraft auf ein Maximum steigern." Fest umklammerte er den Pfeil, der aus einer einzigen, unzähmbaren Flamme bestand. Lathyrus drehte sich zur Seite, dass er den Lehrlingen das Profil zuwandte. Geschmeidig spannte er den Bogen, richtete den Pfeil aus und schickte ihn zurück zur Sonne. Köpfe schnellten nach oben, betrachteten die Präzision, die Geschwindigkeit und Kraft des Fluges. Lathyrus ließ den Arm sinken. Den Bogen löste er auf. Die Burschen waren jetzt an der Reihe sich zu beweisen. Unter der Anleitung Lathyrus' und den prüfenden Blicken des Sommergelehrten probierten sich die Sommerlinge an der neuen Technik. Bedächtig schritt Lathyrus durch die Reihen, korrigierte hier und da die Haltung der Burschen, denen die Anstrengung ins Gesicht geschrieben stand. Versagen kam für einen Sommerling nicht in Frage! Waren die Erben Aestos' ambitionierte und ehrgeizige Burschen, die ihrem künftigen Anführer imponieren und dem König ihre Treue demonstrieren wollten.

Zufrieden nickte Lathyrus, als der letzte Bursche einen hölzernen Bogen zu Tage brachte. Zwölf angehende Soldaten umschlossen ihre materialisierte Sonnenkraft, dass das Weiß ihrer Knöchel zum Vorschein kam. Nun waren die Pfeile an der Reihe. Nach und nach erschienen schmale spitze Feuerflammen, die sich geschmeidig in ihre Fäuste legten. Die Magie ging den Sommerburschen weitaus einfacher von der Hand. Nicht zuletzt war dies dem baldigen Beginn der Mittagssonne geschuldet, die binnen weniger Augenblicke ihre gesamte Energie entladen sollte. Der Boden knirschte gefährlich auf. Schwaden bedeckten die Wiese des Übungsplatzes und bald darauf würde das Spektakel beginnen. Jetzt waren die Sommerlinge die einzigen, die es mit der Sonne aufnehmen konnten. Kein Moment war günstiger, um die Übung der jungen Burschen abzuschließen. Störte sich in einem Machthöhepunkt der Sonne niemand daran, wenn zwölf angehende Sommersoldaten ihre eigenen Kräfte zur Schau stellten; war es doch lediglich ein Funken dessen, was die Sonne des Hochsommers zu bieten hatte, mit welcher erschütternden Energie sie sich die Erde zu eigen machte.

"Auf mein Zeichen", rief Lathyrus aus. Zuvor hatte er ihre Position ausgerichtet. Ihre scharfen Feuerpfeile zeigten horizontal nach Süden. Lathyrus hob den Arm. "Auf drei: eins - zwei -"

"HALT, LATHYRUS!" Wie der Feuerpfeil selbst traf die Stimme genau ihr Ziel. Myosos unverkennbarer Klang ließ den Generalssohn erstarren. Bevor Lathyrus auch nur einen Gedanken aufkeimen lassen konnte, gehorchte sein Körper bereits ihrer Stimme. Sein Kopf drehte sich. "Anhalten", rief er mit bebender Stimme und suchte nach der Quelle seines Gehorsams. Prinzessin Myoso hatte den Schutz des Baumes verlassen. Ein Flattern ließ ihn die Luft anhalten. "Keiner rührt sich", brüllte nun der künftige Anführer des königlichen Zweigclans, nachdem ihn die erschreckende Erkenntnis wie ein Stich durch die Brust kam. Nicht wegen der Sommerprinzessin, die eilig über die Wiese des Übungsplatzes lief, als wäre Gevatter Sturm persönlich hinter ihr her. Es war das Ziel der Prinzessin. Ein kleiner schwarzer Punkt. Farbe wich aus Lathyrus' Gesicht. In den Tönen des Winters gekleidet, hockte eines der Wiesenkinder des hiesigen Reiches, das Gesicht in den Händen versteckt, unfähig sich zu bewegen.

"V-verzeihung", stammelte es hinter ihm und Lathyrus sommerfrischer Teint war nun endgültig dahin. Drei der Burschen hatten den Bogen nicht länger halten können. Die Spannung war zu groß und in rasender Geschwindigkeit flogen die Feuerpfeile auf das starre Wiesenkind zu. Fassungslos sah Lathyrus dem Geschehen hinterher. Wie Prinzessin Myoso über den Platz eilte. Der Saum ihres Kleides auf und ab wippte, dass einzelne Blüten von ihrer Schleppe hinfort gerissen wurden.

"Noch nicht", rief die Prinzessin, die Sonne um ihren einzigen Wunsch bittend. Ihr Atem ging flach. Ihr Körper fühlte die Wellen der Sonnenstrahlen, die unbändige Hitze, die sie antrieb, weiterzulaufen. Von hinten spürte sie die feurigen Geschosse der Sommerburschen und das Adrenalin staute sich in ihren Körper.

"Scidellos!", beschwor sie den Frühlingsprinzen. Doch Scidellos war bereits aus seinem Versteck gesprungen. Das Gesicht von Schweißperlen durchtränkt, richtete er den linken Arm aus. Seine Kräfte versuchten sich nach außen zu drücken. Grün leuchteten die Seelenspiegel, als er die Frühlingsmagie heraufbeschwor, ihr befahl, seinem Willen zu gehorchen. Als Vertreter des Frühlings, dessen Kräfte bereits von den Monaten verbraucht worden waren, kostete es Prinz Scidellos alles an Energie, die Magie beizubehalten. Rot glühten die Wangen, von Hitze und Anstrengung geplagt und mit letzter Kraft entsandte er einen Wind, der bereits auf halbem Wege an Tempo einbüßte. Flüchtig kreuzte ein Lüftchen die drei Feuerpfeile. Gerade genug, dass sie ein Stück vom Kurs abwichen und das Wiesenkind verfehlen sollten. War die erste Gefahr gebannt, war es allein die Sonne, die über das Schicksal des kleinen Winterlings entscheiden sollte und ihr Urteil zeigte kein Entkommen.

"Warte", rief Myoso immerzu. Sie war der Kleinen schon so nahe. Die langen schwarzen Haare fielen schlaff über den gekrümmten Körper. In seiner rohen Gewalt drückte sich die schwüle Hitze um ihren zerbrechlichen Leib. Dampf stieg aus ihren Händen, die das kleine Gesicht zu schützen versuchten.

"Warte", schrie die Sommerprinzessin und Tränen brannten in ihren Augen, "halt ein, Mittagssonne!" Sie streckte den Arm aus. Myoso wusste, dass die Sonne schneller war. Dass sie ihrem Zeitplan folgte. Unnachgiebig. Ein fremdartiges Empfinden keimte in ihr auf. Zorn brannte in Myoso. Vater Sonne durfte seine Grausamkeiten nicht an diesem unschuldigen Wiesenkind auslassen! Egal, was die Gesetze sagten, Myoso wollte sich ihnen nicht beugen. Sie richtete den Arm gen Himmel aus. "Mittagssonne, ich befehle dir: halt ein!" Der Ruf hallte über das gesamte neutrale Gebiet, hallte weiter den Himmel hinauf, bis zu Vater Sonne selbst. Kurz vor ihrem Zenit stehend hielt die Sonne inne. Die ersten scharfen Strahlen schienen auf die Sommerprinzessin hernieder. Widerwillig gehorchte die Sonne dem Nachkommen ihres einstigen Schützlings. Sekunden ließen sich an den Fingern abzählen, bis der Mittag nicht länger auf sich warten lassen wollte. In einem letzten verzweifelten Sprung warf sich Myoso auf das welkende Wintergeschöpf. Ihre Arme umschlangen das Wiesenkind, mit dem Saum ihres Kleides bedeckte sie die schutzlose Gestalt vor der endgültigen Verbrennung. Selbst wenn das Gewand noch so durchscheinend war, musste es jetzt seinen Zweck erfüllen.

"Sch, ganz ruhig." Myoso presste sie noch enger an ihre Brust. Das Wiesenkind zitterte, fürchtete sich vor der Prinzessin, die nicht die ihre war. Es schluchzte, wobei keine Tränen ihre Wangen hinab rannen. War das Wiesenkind bereits zu ausgetrocknet, dass es einfach nur in den Nacken der Prinzessin wimmerte - leise, kraftlos und von völliger Panik ergriffen.

"Alles wird gut", summte Myoso in ihr Ohr, "ich lasse nicht zu, dass dir etwas geschieht." Die sanfte Stimme beruhigte. Der Körper der Prinzessin strahlte eine ganze andere Wärme aus als dieses fürchterliche Wetter mit seiner alles vernichtenden Hitze. Langsam erschlaffte der zittrige Körper, beruhigte sich unter den Liebkosungen der Sommerprinzessin. Nur die Hände, welche sich krampfhaft an den Oberarmen Myosos festklammerten, wollten nicht nachgeben.

"Prinzessin." Es war Lathyrus. So schnell ihn die Füße hatten tragen können, war er seiner Prinzessin hinterher geeilt. In seinem Brustkorb staute sich die Energie, er atmete schwer - weit weniger seiner schnellen Schritte geschuldet. Schweigend sah er zu der Sommerprinzessin hinab, die das kleine Bündel nicht aus ihren Händen herzugeben vermochte. Die Kleine lag eingerollt auf Myosos Schoß, das Gesicht in die Brust geschmiegt, die Finger drückten die Haut ihres Oberarmes ab. Prinzessin Myoso störte sich nicht daran, selbst als die kleinen Finger blau weiße Eismagie beschworen, redete sie dem Wiesenkind sanft zu, summte eine beruhigende Melodie, bis das Wimmern aufhörte.

"Prinzessin", flüsterte Lathyrus. Ein brennender Schmerz drückte ihm auf der Brust. Die Worte blieben im Halse stecken.

"Ich übernehme", die eisige Stimme ließ Lathyrus kurz zusammenzucken. Auch die Sommerprinzessin hob den Kopf, dass ihre klaren Seelenspiegel auf den Wintererben ruhten, der sie keines Blickes würdigte. Sich stattdessen seiner Handschuhe entledigte, die er in die linke Gesäßtasche stopfte. Die dunkelblaue Uniformjacke hatte er sich bereits abgestreift und ruhte lediglich auf seinem rechten Unterarm. Auf seiner Weste zeichneten sich mehrere Flecken ab, ebenso auf seiner Hose. Stetig tropfte Wasser seine rabenschwarzen Haarspitzen hinab. Tyledion beugte sich hinunter, nahm Myoso das ausgetrocknete Winterkind ab, warf ihm die Jacke über und presste es an sich, wie es zuvor die Sommerprinzessin getan hatte. Der eine Arm umschlang die Taille des kleinen Wesens, mit der anderen Hand hatte er ihren Kopf umfasst, dass die Innenfläche auf der Stirn lag. Keine Sekunde vergeudend wandte sich Tyledion ab und schritt eilig aus dem Sonnenareal. Myoso beobachtete den Winterprinzen, dessen Stiefel kleine Pfützen hinterließen, bevor die Mittagshitze auch schon wieder sämtliche Flüssigkeit aufgesogen hatte. Es war schon erstaunlich, dass der Winterprinz inmitten des Hochsommers seine Kräfte instand halten konnte. Dass er jedoch nicht einmal die Magie durch seine Augen fließen lassen musste, glich einem Wunder. Erschöpft ließ Myoso die Hände auf ihren Schoß fallen. Ihre emotionale Achterbahnfahrt kam endlich zum erliegen und die Sorge um das Wiesenkind schwand. Es war in guten Händen. Und in Sicherheit. Das einzige, das zählte.

"Deine Arme, Prinzessin", murmelte Lathyrus, der die Wunden an Myosos Haut nicht länger mit ansehen konnte. "Erlaube mir bitte, dir helfen zu dürfen. Wenigstens-"

Mysos nickte und der Sommerling ließ sich neben seiner Prinzessin nieder. Mit zusammengebissenen Zähnen begutachtete er die roten Stellen. Verbrennungen durch Eis waren schmerzhaft - gerade für das Sommervolk. Das stille Hinnehmen der Sommerprinzessin ließ ihn ehrfürchtig seine Arbeit erledigen. Er ließ die Hände erst über den einen Oberarm schweben. Orangenes Licht glitt hinaus, heilte langsam die Wunden. "Verzeih' mir, Prinzessin", Lathyrus schüttelte den Kopf, "ich hätte achtsamer sein müssen. Es war meine Aufgabe, den Übungsplatz im Auge zu behalten. Ich habe versagt."

"Nein, Lathyrus", besänftigte ihn die Prinzessin und ließ sich zu einem Lächeln hinreißen. "Gib' dir nicht die Schuld."

"Ich übernehme die volle Verantwortung", er knirschte mit den Zähnen, "es ist meine Pflicht als künftiger Clanführer und ergebener Untertan. Nicht auszumalen, was hätte passieren können. Die politische Tragweite…", er stockte, ließ die Hände sinken, bevor er sich dem anderen Oberarm widmete.

"Lathyrus." Er liebte es, wie sie seinen Namen aussprach. Doch gerade konnte er nur an seine Blauäugigkeit, seine Unachtsamkeit denken.

"Wenn, dann trifft uns alle die Schuld", sagte sie und blickte ihm jetzt tief in die Augen. Die eigenen Sorgen spiegelten sich in ihr wider, dass Lathyrus seinen Gram beiseite schob. "Weil wir nur uns selbst sahen, haben wir das Wichtigste aus den Augen verloren." Ihre Qualen wurden zu seinen. Wenn Blicke töten könnten, dann wäre sein Tod durch ihre getrübten Seelenspiegel die Strafe, die er verdiente.

"Drum", Myoso blinzelte eine Träne aus ihren Unschuldsaugen, "nimm' nicht alle Schuld auf dich." Sie strich über seinen Unterarm, schob ihn von ihren geheilten Wunden.

"Du bist zu gutmütig, Prinzessin", sagte Lathyrus, obwohl ihre Worte wie Balsam für seine Seele waren.

"Vielleicht", hauchte die Prinzessin, den Blick in die Weiten des Sommerhimmels gerichtet, "vielleicht."

Hochsommer III

"Mein Prinz", rief sie und sämtliche Gefühllosigkeit schmolz dahin. Angst, Panik, Wut - die Gefühle drohten überzuschäumen, wenn da nicht der Hochsommer wäre und jegliche Wintermagie im Keim ersticken ließe. So glühten lediglich die Augen der Mutter in dunkelblauem Glanze, die Wangen zogen einen Hauch von Röte mit sich, als der Winterprinz ihr das Wiesenkind überreichte. Eiskristalle wurden durch Schweißperlen ersetzt, die Lippen bibberten vor Anstrengung. Der Hochsommer setzte jedem Winterling zu, doch gerade waren der Sommer und seine Lasten vergessen.

Ein Schluchzen entfuhr der Mutter, die ihr Kind fest gepackt hatte, als wollte es die Kleine zurück in seine Knospe quetschen. Die kleinen Arme des Wiesenkindes krallten nach dem kühlen Tuch, das die Mutter wie eine Tunika um ihren Leib gebunden hatte. Ein leicht scharfer Ton lag auf der Zunge der Winterblüte. Die Gefühle - ein tosendes Meer aus Liebe und Hass. Sie schimpfte mit der Tochter, liebkoste und tröstete es im selben Maße wie es die Kleine schalt und bestrafte. Mit den Händen rüttelte sie die Kleine zurecht, presste es zurück an die Brust und spie tausend Worte aus - ein verworrenes Gemisch aus Flüchen und Gebeten, die weder für Mutter Erdes Ohren, noch für die des Prinzen gedacht waren. Schweigend beobachtete Tyledion das Schauspiel, das Wechselbad der Gefühle, das in einem sanften Schaukeln innigster Erleichterung endete. Ein Glitzern und die beiden verschwanden aus seinem Sichtfeld. Umringt von knapp zwanzig Soldaten der Wintergarde, die Tyledion unmittelbar nach der Rettung gerufen hatte, wurden sie zurück ins Winterreich geleitet. Die Eskorte sorgte für die nötige Sicherheit, während die ausgebildeten Burschen die erforderliche Versorgung gewährleisteten. Allmählich kehrte Ruhe ein. Die restlichen Winterlinge, die hilflos mit angesehen hatten, wie das kleine Wiesenkind nur knapp der Verbrennung entkommen war, scharrten nacheinander aus, und diejenigen, die sich zusammengerottet hatten - angetrieben von Erschütterung und Ärger - verscheuchte der Winterprinz durch einen einzigen, scharfen Blick. Nun also noch mehr Geflüster, noch mehr Gerüchte. Der junge Winterprinz hatte genug. Tyledion zog die Augenbrauen zusammen. Missmut war nichts zu den Empfindungen, die sich in seinem Innersten anzustauen begannen. Er musterte den Übungsplatz, das goldene Gras, aus dem die ersten frischen Keimlinge emporstiegen. Langsam erwachte das neue Leben auf dem Boden des neutralen Gebietes. Die Mittagssonne, so furchtbar sie auch war, dauerte nur ein paar schmerzvolle Wimpernschläge an. Dann sprossen sachte die ersten Grashalme. Blätter schüttelten sich den trockenen Staub von den Schultern und die Erde rüttelte sachte an ihrer ausgedörrten Oberfläche. Der Beginn der Mittagshitze war gleichzeitig das Ende der Hochsommerzeit. Noch zwei Tage und das letzte große Sommergewitter würde den unvermeidlichen Abschied des Sommers verkünden.
 

Die Lippen waren zu einer streng geraden Linien geformt, die Augenbrauen so tief verzogen, dass kleine Falten zwischen den breit geschwungenen Brauen auftauchten. Er tat einen tiefen Atemzug, als er schließlich den Blick abwandte und die Ankunft des Generals der Winterarmee erwartete. Kaum war die Mittagshitze vorüber und die ersten Burschen der Frühlingsschar wagten sich auf die Wiesen, erreichte ihn die rechte Hand des Königs. General Galantius - oberster Heerführer in sechster Generation und ein Verwandter dritten Grades, den eine enge Bindung mit König Asparagos nachgesagt wurde. Tyledion musste zugeben, dass der General ein hohes Ansehen bei seinem Vater genoss und gewisse Privilegien die Vermutung bekräftigen, dass der Winterkönig ihm wohlgesonnen war.

Mit einem strengen Salut begrüßte er den Kronprinzen, der ihm lediglich kurz zu nickte.

"Mein Prinz", begann der General, sichtlich gefasster als dessen Gemahlin, "ich bin so schnell gekommen wie ich konnte. Ich…", doch auch sein Gemütszustand schien kurz ins Wanken zu geraten, "mir fehlen die Worte, mein Prinz. Wärst du nicht da gewesen…" Seine Augen sprühten Funken. Weniger Panik denn eisigen Zorn hatte General Galantius ergriffen. Zorn, den er nun wie jeder gehorsame Winterling zu unterbinden hatte - wenn er nicht bereits vom Sommer verschluckt worden war. "Kennt man denn schon den Verantwortlichen?" Auf die Frage hatte sich Tyledion bis zu seiner Ankunft vorbereitet. Der Winterprinz verschränkte die Arme hinter seinem Rücken. Der Blick war zurück zu dem Ort des Geschehens gerichtet. "So sehr ich es bedauere zu sagen, General", begann Tyledion ruhig und sachlich zu erzählen, "aber den Verantwortlichen konnte ich bisweilen nicht ausfindig machen."

"Verstehe", entgegnete der Wintergeneral ebenso stoisch.

"Aber ich glaube, die Ursache zu kennen." Tyledion wandte sich General Galantius zu. "Schattenmagie."

"Schattenmagie?", wiederholte der General.

"Es war nur für einen kurzen Moment, doch bin ich mir sicher, sie gesehen zu haben. Außerdem passt das Verhalten der Kleinen in das Muster. General", Tyledion, der den General um einen ganzen Kopf überragte, straffte die Schultern, wie er es unzählige Male bei seinem Vater beobachtet hatte, "ich fürchte, jemand hat es auf die Tochter des Generals abgesehen."

"Du meinst, es war kein Unfall." Die Augen des Generals verdunkelten sich.

"Wenn Schattenmagie im Spiel war", erklärte Tyledion, "können wir davon ausgehen, dass jemand zielgerichtet nach ihr gesucht hat. Du selbst weißt, dass Anschläge dieses Kalibers ein Zeichen setzen und die Schwächen der königlichen Winterarmee aufzuzeigen versuchen." Die Augen seines gegenübers wurden hart wie Stahl. Ohne Rücksicht - denn Rücksicht war in Augen der Winterlinge ein Zeichen von Schwäche - fuhr der Winterprinz fort. "Die Stellung des königlichen Generals ist in der Tat eine verlockende Position. Ich muss dir nicht sagen, wie viele sich um diesen Posten reißen würden. Wenn dich jemand zu warnen oder gar zu diskreditieren versucht, ist diese Methode durchaus effektiv."

Der General verschränkte die Arme vor der Brust. Die Gedanken des Prinzen nährten seinen Geist und schließlich wurden Tyledions Gedanken zu den seinigen. "Mir fielen ein paar Burschen ein, die mit meinem Führungsstil nicht einverstanden sind. Aber wir reden hier von einem Anschlag auf meine Jüngste. Wen, aus meinen Reihen, sollte ich des Verrats bezichtigen, ohne ein Zerwürfnis innerhalb des Zweigclans heraufzubeschwören? Ganz zu schweigen, was ich dem König sagen soll. Immerhin ist er der einzige, der die Winterlinge mit Schattenmagie befehligen kann und der weiß, welcher meiner Männer dieser Fähigkeit mächtig sind."

"Ich kann mit Sicherheit sagen, dass der König nichts von dem Anschlag wusste." Niemand erwartete Tyledions Betätigung, doch gerade in solchen Momenten wäre ein weiteres Zerwürfnis, ein weiterer Keimling des Zweifels verheerend. Der Winterprinz konnte dem General nichts garantieren, und dennoch musste er es tun. Allein wegen des Gesichts seines Gegenübers. General Galantius schien in den letzten Minuten um zehn Jahre gealtert. Aus Sorgenfalten wuchsen Narben der Verbitterung. Verbitterung, die schnell in Rachegelüste umschwenken konnte. Sein Gegenüber wollte weniger Antworten denn einen Schuldigen, dem ihm jemand auf dem Silbertablett servieren sollte. Und das möglichst bald. Aber so einfach war es nicht. So überzeugend Tyledions Rede war, so fest er die Schlinge zugezogen hatte, blieben seine Worte nichts weiter als vage Vermutungen und tief in seinem Innersten wusste das der General.

"Natürlich nicht", grummelte der General Galantius, welcher im Geiste bereits die nächsten Schritte durchging. Tyledion sah es in seinem Blick. Das gesamte Potential aus Zorn und Verdruss wandelte sich in Eifer um - einer Fähigkeit, die sich die Erben Hiemes' zu eigen gemacht hatten. Der Winterprinz hoffte, dass dieser Gemütszustand noch eine Weile anhielte. Wenn sich General Galantius der Sache annahm, konnte Tyledion für einen Moment aufatmen. In erster Linie galt es, seinem Vater über die Ereignisse in Kenntnis zu setzen. Diesen Part dürfte er wohl General Galantius überlassen können. Auch wenn es sich lediglich um reine Formalität handelte, da Vorfälle wie diese schnell die Runde machten, war es dennoch von Bedeutung, dass sich der General dieser Aufgabe annahm und damit das Vertrauen zum König einmal mehr bestätigte.

Kurz besprachen der General und der Prinz die weitere Vorgehensweise. Mit einem knappen Einverständnis seitens des Winterprinzen verabschiedete sich General Galantius von dem winterlichen Thronerben. "Ich stehe tief in deiner Schuld, mein Prinz." Eisiger Wind streifte Tyledions Kragen, als der winterliche Heerführer seinen Umhang hinter sich warf und davon schritt. Er hätte ihn gern korrigiert, gesagt, wem sein wahrer Dank gebührte. Aber Tyledion kannte das Wintervolk nur zu gut, und er war froh, das Sommerreich während ihrer Unterhaltung außen vor gelassen zu haben - ganz so, wie es der Winterprinz geplant hatte. Also beließ es Tyledion mit einem weiteren stummen Nicken. Der General verschwand hinter dem nächsten Hügel und ließ den jungen Kronprinzen mit seinen eigenen Gedanken zurück. Nach und nach traten die Erben der vier Jahreszeiten ihre Heimreise an. Nur noch wenige Burschen waren auf den Wiesen. Die Blüten des Sommerreiches stellten sich in Reih und Glied, an jeder Hand ein Wiesenkind, das den Gräsern entschuldigend über das Haupt strich. Weiter abseits tänzelten die Zwillingsprinzessinnen des Frühlings ihrem großen Bruder hinterher, der sich einmal mehr durch die Haare raufte. Scidellos Mähne ragte wie der Strauch Kugeldisteln, in denen er hineingelaufen war, empor; kleine, spitze Dornen hatten sich in seinem aufstehenden Pony verfangen. Den ganzen Nachmittag war er über den Rasen marschiert, hatte den Übungsplatz inspiziert, dass seine Wangen jetzt so feurig wie das Temperament der Herbstlinge, ihren stillen Gegenspielern, waren. Auch ihm stand der Frust ins Gesicht geschrieben. Wenn auch aus einem ganz anderen Grund als Tyledion, der sich von all dem abwandte. Erst waren seine Schritte bedächtig, ein falsches Spiegelbild kontrollierter Emotionen. das erst zum Erliegen kam, als er das Haupttor der Bibliothek durchquerte. Er achtete nicht einmal auf seine Umgebung. Nicht wie sonst ließ er die Blicke von links nach rechts schweifen oder prüfte, ob jemand hinter den Bücherregalen verweilte. Seine Augen verschlangen die Sommerprinzessin, die am Fuße des Ganges stand und die Ankunft des Winterprinzens herbeigesehnt hatte. Myoso hatte die Hände vor der Brust gefaltet. Ihre Augen glänzten im trüben Schein der untergehenden Sonne. Mit angehaltenem Atem schaute sie zu Tyledion hinauf, der Myoso fast erreichte hatte.

"Geht es ihr gut?" So viel Flehen in der Stimme. Als wäre es ihr Kind, um das sie bangen müsste. "Sie wird sich erholen", antwortete Tyledion. Erleichtert stieß sie einen tiefen Atemzug aus. Ihre Wangen wirkten noch blasser, noch erschöpfter als sonst - daran änderten nicht einmal die Sonnenstrahlen, die zwischen den Fenstern hindurchschienen.

"Bin ich froh", hauchte Myoso und ehrlicher konnten Worte nicht klingen. Den Winterprinzen zerriss es von innen. Den eigenen Gefühlen erliegend wirbelte er die Sommerprinzessin herum, verschwand mit ihr im Schutze des ersten großen Bücherregals, das die Herbstchroniken von der Anthologie des Winters trennte, und presste Myoso an eine Reihe eingestaubter Werke. Zwischen den Händen des Prinzen gefangen erwiderte sie den Kuss, dem so viel Leidenschaft und Qualen innewohnten, dass es die Sommerprinzessin mit Sorgen erfüllte. Tyledion presste seine gierigen Lippen auf ihren warmen, weichen Mund, schmeckte den Sonnenschein auf den Lippen, kostete den Morgentau auf ihrer Zunge, die ganz zaghaft seine stürmische Leidenschaft erwiderte. Erst ein Seufzen brachte die verdrängten Gefühle ans Tageslicht. Eng umschlang sie den Winterprinzen. Fast schien es als verschmolz Myosos Leuchten mit dem ihres Liebsten, so nahe waren sie sich, so innig und schmerzhaft ntensiv war die Berührung des anderen, dass die beiden Königskinder für einen Augenblick vergaßen, wer oder was sie waren. Doch die gesellschaftlichen Konventionen, die Verpflichtungen an das künftige Reich trieben Tyledion zurück in die Wirklichkeit. Keuchend ließ er von seiner Sommerprinzessin, deren Wangen nun doch einen frischen Rotstich bekommen hatten, und legte seine Stirn an die ihre. Die Augen blieben geschlossen, während ihn erneut der Ärger packte. Nicht genug, dass ihre Liebe unter einem ungünstigen Stern geboren worden war. Dass die Überbrückung der Feindseligkeit alles an Anstrengung und Kraft kostete. Jetzt bahnte sich ein neues Problem an, das der Winterprinz unmöglich ignorieren konnte. Er stieß laut die Luft aus, dass kleine Eiswölkchen um die beiden Königskinder schwebten.

"Wann wird das enden?", murmelte er und öffnete die Augen. "Wenn ich ihnen nicht bald einen Schuldigen präsentiere, wird es wieder in Chaos und Verbitterung enden. Die Ermittlungen werden sich über Wochen hinziehen, wenn nicht sogar über Monate." Tyledion ballte die Hände zur Faust. "Ich müsste das Duell gegen meinen Vater verschieben. Die Übernahme fände nicht vor übernächster Wintersonnenwende statt…", die Fäuste knackten. Eis zersprang im Inneren und sickerte zu mehreren Splittern zwischen den Fingern hindurch. "Ich könnte mein Versprechen nicht vor Ende nächsten Jahres halten. Myoso", seine Stimme wurde kratzig, "wenn wir noch länger warten…"

"Ich warte so lange es nötig ist", entgegnete Myoso, "das habe ich dir versprochen."

"Aber nicht dein Vater."

"Ich habe mit ihm geredet", beteuerte sie, wissend, welche Gedanken den Winterprinz verfolgten, "er würde mich nie zu einer Heirat zwingen."

"Und dennoch wird ihm keine andere Wahl bleiben. Euer General wird nicht so geduldig sein wie du und sobald deine Tante den König überzeugt hat…Ich weiß, dass sie mich dir wegnehmen werden. Das kann ich nicht zulassen!"

"Tyledion", die Sommerprinzessin umfasste das Gesicht des Prinzen, "wir werden es durchstehen. Egal, wie"

Wie gern wollte er den Worten der Prinzessin glauben schenken. "So einfach ist das nicht", raunte er. "Das, was auf der Weise geschehen ist, war kein Unfall, Myoso. Jemand hat es auf den Frieden abgesehen, und ich weiß noch nicht, ob es Krieg innerhalb des Winterreiches geben wird oder jemand etwas viel Größeres plant."

"Aber Tyledion", Myosos Augen weiteten sich.

"Dass das Wiesenkind auf dem Übungsplatz war, ist kein Zufall gewesen. Jemand hat sie mit Schattenmagie dorthin gelockt."

"Schattenmagie? Was ist das?"

"Magie, die Schattenwesen erschaffen. Geschöpfe, ohne freien Willen, Sklaven der Nacht. Unreine Magie, Myoso." Die Sommerprinzessin wusste um die Flammenmenschen - Geschöpfe, die in ihrem Reich als unrein galten und nur von denjenigen erweckt wurden, die Böses im Sinn hatten. Myoso schauderte bei dem Gedanken. Indes fuhr Tyledion fort. "Sie wird nur von einer Hand voll Winterlingen beherrscht. Schattenwesen werden sonst nur zu Spionagezwecken missbraucht. Weil sie sich in ihre Opfer schleichen, ihre Gedanken abhören können, sind sie im Krieg unverzichtbare Werkzeuge. Ist ihr Opfer jedoch schwach, ergreift der Schatten Besitz und da er kein Lebewesen ist, verfällt es mitsamt Träger in eine Starre."

"Wer würde denn so etwas tun?" Myoso hielt sich die Hände vor dem Mund. Weitere Tränen drohten, ihre glasigen Augen zu verlassen.

"Jemand, der Hass schüren will", erwiderte Tyledion, "ich sehe nur drei Möglichkeiten: Die erste wäre, jemand versucht, den General zu stürzen. Ich weiß, dass sein Neffe ihm zürnt und die Nachfolge anstrebt."

"Aber dafür die eigene Cousine opfern?" Die Sommerprinzessin schüttelte den Kopf. Myoso kannte das Wintervolk nicht so gut wie Tyledion, doch vorerst wollte er ihr die raue Wahrheit ersparen.

"Die zweite Möglichkeit wäre, dass mein Vater den Befehl erteilt hat. Nur er kennt die Winterlinge, die Schattenmagie wirken können und nur er darf den Befehl zur Beschwörung erteilen."

"Das glaubst du nicht, oder?" Aus dem linken Auge tropfte eine Träne ihr Kinn hinab, streifte seine Weste, die sie sich sofort einverleibte.

"Nein", entgegnete er trocken, "General Galantius ist sein engster Untergebener. Er vertraut ihm. Den General aus dem Weg zu räumen, würde bloß seinem eigenen Ansehen schaden."

"Und die dritte Möglichkeit?", Myoso wusste nicht, ob sie wirklich noch mehr hören wollte. So viel Grausamkeit, welche Tyledion ohne mit der Wimper zu zucken aussprach.

"Die dritte Möglichkeit - jemand verschleiert seine wahren Absichten." Er ließ die Arme sinken, schaffte eine Handbreit Abstand. "Ist es nicht ein eigenartiger Zufall, dass ausgerechnet heute der Anschlag geplant war? Während einer militärischen Übung der Sommerarmee, am heißesten Tag des Jahres?"

"Tyledion-"

"Es ist klar, wem das Wintervolk zuerst die Schuld in die Schuhe schieben würde, und der Plan wäre aufgegangen, wenn du nicht gewesen wärst und die Zeit angehalten hättest - was im Übrigen bemerkenswert war." Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen, das augenblicklich erlosch. "Vorerst konnte ich den General überzeugen, in den eigenen Reihen nach dem Schuldigen zu suchen. Niemand würde mir glauben, wenn ich ihnen sage, was ich wirklich denke."

"Aber du musst es ihnen sagen, Tyledion." Sie griff nach seinen Händen, die so eisig waren, dass es sie frösteln ließ.

"Das geht nicht, Myoso. Sobald ich die Vermutung in den Raum werfe, wird das Ganze in eine völlig falsche Richtung ausarten. Da Schattenmagie unrein ist und unreine Magie keiner Jahreszeit zugeordnet werden kann, wird es immer Zweifel geben. Am Ende würde es so ausgelegt werden, dass ihr es wart, die Magie gewirkt und die Kleine auf den Platz gelockt habt." Er drückte ihre Hand, ließ dabei die Kälte zurück in sein Innerstes wandern, nachdem Myosos Finger anfingen blau anzulaufen. "Egal, aus welcher Perspektive ich es betrachte, ich komme zu keinem zufriedenstellenden Schluss. Es ist, als würde mir die Antwort durch meine Finger entgleiten. Ich übersehe etwas, und ich weiß einfach nicht, was."

"Schon gut", entgegnete die Sommerprinzessin. Sie überwand den Abstand, führte ihre linke Hand zu seiner Brust. "Die Verantwortung der ganzen Welt muss nicht allein auf deinen Schultern lasten. Ich weiß, wie sehr dich die Situation bedrückt. Mir geht es genauso. Aber du musst da nicht alleine durch." Sie legte den Kopf an die Stelle, spürte wie sein innerstes Leuchten aufflackerte. "Wir haben uns geschworen, den Rest unseres Lebens zusammen zu sein. Freud und Leid miteinander zu teilen. Auch wenn wir im Moment nicht so können wir wir es gerne wollen, so können wir uns doch den Rücken stärken, uns unterstützen und Kraft geben."

Tyledion schlang seine Arme um ihre Taille, sog den Duft ihres Kleides und den Klang ihrer Stimme ein. An ihren Worten zweifelte der Winterprinz nicht. Ihm war einfach zu wichtig, Myoso zu beschützen, sie vor dem Urteil des Winterreiches fernzuhalten, dass ihm keine andere Wahl blieb, als dieses Problem allein aus der Welt zu schaffen. Das war er sich und seinen Prinzipien schuldig.

Spätsommer I

Hin und her wiegten sich die Grashalme vor ihren Füßen, als die zweitgeborene Zwillingsprinzessin ein lautes Seufzen ausstieß. Kleine Funken Frühlingsmagie umspielten ihre Knöchel, während sie sich aus dem sicheren Schatten bewegte und eine Runde durch die üppigen Blumenfelder spazierte. Aufgeregt sog die Erde den lebhaften Zauber der Frühlingsprinzessin ein, kleine Keimlinge lugten aus dem Boden, der vom ersten großen Schauer des Sommergewitters nass und kühl geworden war. Als wüssten sie nicht, was zu tun, schauten einzelne Stiele aus dem Boden, verdutzt, ob des plötzlichen Erwachens zu so später Stunde.

Iris merkte nicht einmal, wie die Füße in die matschige Erde eintauchten, dabei einen Keimling nach dem nächsten hineinfallen ließen, welcher sogleich wieder verdampfte, nachdem die Sonne des Spätsommers ihren Arm nach der Erde ausgestreckt hatte.

Immer zu seufzte sie, tief in ihrem Innersten schnürte sich ein Band eng um ihr eigenes Leuchten. Eine kleine, törichte Blüte von fünfzehn Jahren war sie! Den Blick zu den Herbstlingen gewandt, welche sich auf ihre bevorstehende Arbeit vorbereiteten, lief sie weiter durch das Dickicht, das ihre Kleider völlig besudelte. Das letzte große Gewitter war noch nicht ganz vorüber. Königin Allilaea pausierte lediglich, um ihre Kräfte für den nächsten kraftvollen Schauer zu bündeln. Danach wäre es nicht mehr lange hin, bis der Herbst an die Tür klopfte und ein Gewitter nach dem nächsten hinaus peitschen würde. Die Frühlingsprinzessin hatte nichts gegen etwas Abkühlung und wie die meisten der Frühlingsschar, sehnte auch Iris das Ende des Sommers herbei. Nur waren ihr die kalten, nebligen Tage des Herbstes viel zu trist und eintönig, dass sie sich ernsthaft darüber freuen könnte. Nicht einmal die bunte Landschaft konnte da noch ihre Stimmung heben. Denn wenn erst einmal aus dem bunten Blättertanz nichts als braunes, trockenes Laub übrig blieb, würde auch der Winter nicht lange auf sich warten lassen und dann wäre ihre gute Laune endgültig dahin.
 

Die Hände an ihr knöchellanges Kleid gekrallt, ließ Iris den Blick weiter wandern. Ganz unauffällig bewegten sich die hellgrünen Augen zu den Winterlingen. Seit jenem grauenhaften Mittagstag waren die Wiesenkinder des Winterreiches dem neutralen Gebiet ferngeblieben. Nur ein paar Winterlinge, einschließlich des Prinzen und dessen Cousin, hatten sich eingefunden. Unter Ahornbäumen saßen sie, lasen oder bereiteten sich auf die Winterprüfungen vor. Jedes Mal huschten die Augen der neugierigen Prinzessin hinüber zu den kühlen Gesichtern, und jedes Mal stieß sie einen tiefen Seufzer aus. Wie gern würde sie ihre Gedanken in die Obhut eines mitfühlenden Freundes geben. Jemand, der sie nicht bloß für naiv und kindisch hielt.

Aus dem Augenwinkel sah sie die große schlanke Gestalt, die sich im satten Gras niedergelassen hatte. Die Beine lässig angewinkelt, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, dass die braunen Haare in wilden Locken über sein braungebranntes Gesicht fielen. Zwischen den Lippen lugte ein Grashalm hervor, der mit jedem Grinsen ein Stück weiter aus seinem Mund rutschte. Iris seufzte. Das war doch verrückt! Sie war verrückt! Ja, so musste es sein. Ihr wurde schon immer nachgesagt, sie hätte einen eigenwilligen Charakter. Sogar Irida lachte sie ständig wegen ihrer absonderlichen Ideen aus. Die einzige, die sie stets freundlich angelächelt hatte, war-

"Myoso!", rief die Zwillingsprinzessin, als König Gingkos älteste Tochter von ihrem Marsch der Sommerblüten zurückgekehrt war. Iris strahlte und winkte der Sommerprinzessin zu, die neben ein paar eingeknickten Blumen stehen geblieben war und ihnen den letzten Wunsch erwies. Myoso sammelte die Wiesenblumen ein, knotete sie zu einer Kette, die sie wie einen zweiten Gürtel um ihr weiß-goldenes Gewand legte. Nachdem die Frühlingsprinzessin über den Rasen gerannt war, kam sie schliddernd vor Prinzessin Myoso zum stehen.

"Meine liebste Myoso", rief Iris und hakte sich bei der Sommerprinzessin unter. Myoso erwidert ihre Begrüßung mit einem strahlenden Lächeln, das selbst die Sonne vor Neid erblassen ließ.

"Du weißt gar nicht, wie froh ich bin, dich zu sehen", sagte Iris und seufzte zwischen den Worten. "Ich brauche dringend deinen Rat." Geschickt lenkte sie die Sommerprinzessin in Richtung des Ahornbaumes. Sie bewegte ihren Arm so, dass Myoso sich ein wenig seitwärts positionierte und damit den Blick auf den Winterprinzen und dessen Begleiter freigab.

"Was kann ich für dich tun, meine liebe Frühlingsprinzessin?"

"Verspricht du auch, mich nicht auszulachen? Egal, was ich sagen werde?"

"Ich würde dich niemals auslachen, Iris", versicherte Myoso.

"Ehrenwort?"

"Bei der Ehre meines Königreiches", Myoso legte die freie Hand auf die Brust und schaute besänftigend zu Iris herüber.

"Na gut", murmelte die Zwillingsprinzessin, welcher ein wenig der Mut verlassen hatte, jetzt wo sie wirklich mit jemandem darüber reden konnte.

"Es geht…um einen gewissen Jemand", Iris stolperte über jedes ihrer Worte, "sagen wir mal, mir würde ein Bursche aus deinen Reihen gefallen. Wärst du darüber erschüttert? Also, wenn es so wäre?"

"Nein, wieso denn auch?", antwortete Myoso gerade heraus, "die Liebe ist etwas Wunderbares. Es ändert nichts daran, ob du sie in deinem oder meinem Reich findest."

"Richtig, richtig!", erwiderte Iris ganz aufgeregt, "oh, und vergiss' nicht das Bündnis unserer beiden Reiche. Wusstest du, dass darin Eheschließungen zwischen dem Sommer- und Frühlingsvolk schriftlich legitimiert wurden, und dass seit zweihundert Jahren niemand mehr außerhalb des eigenen Reiches geheiratet hat, weil man fürchtete, die Kräfte würden sich verschieben? Oh, oh", hüpfte Iris und ließ ihren langen geflochtenen Zopf auf und ab springen, "und selbst wenn eine Knospe aus unseren zwei Reichen entsteht, dürfte Mutter sie nicht verstoßen, weil sie ab dem Moment, an dem sie am Lebensbaum des Frühlings hängt, ein Schützling des Frühlingsreiches ist und per Gesetz", sie hob den Zeigefinger, stolz, dass sie nicht während jeder von Mutters Lektionen eingeschlafen war, "darf ein Frühlingskind weder verstoßen noch ausgewiesen werden."

"Das ist mir wohl bekannt", bestätigte die Sommerprinzessin.

"Und König Gingko hätte auch nichts dagegen, stimmt's?"

"Er wäre sicher der letzte, der deinem Glück im Wege stünde."

"Selbst wenn", Iris stockte, dass die nächsten Worte nur noch ein Fiepen waren, "selbst wenn dieser Sommerling kein offizieller Bürger des Reiches ist?" Iris lugte zu ihrer zarten Begleiterin herüber.

"Iris", beim Klang ihres Namens zuckte die Frühlingsprinzessin zusammen. Die Stimme der Sommerprinzessin war stets von sanften Melodien begleitet, dass Iris sie einmal mehr für ihre Anmut beneidete.

"Wir reden also von Winso." Myoso klang keineswegs überrascht. "Du magst ihn, nicht wahr?"

"A-ach weißt du", begann die Zwillingsprinzessin überrascht auszurufen. Ein Kichern folgte, wobei sie mit der freien Hand vor ihrem Gesicht wedelte und kleine, feine Luftwirbel erzeugte, "mögen ist doch etwas übertrieben, meinst du nicht? Ich kenne ihn ja kaum und gesprochen haben wir bisher auch kein Wort miteinander. Nein, nein, mögen", sie lachte, hickste, wie es eine Eigenart der jungen Frühlingsblüte war. Genauso heftig wie er gekommen war, hörte ihr Lachanfall auch schon wieder auf. Iris presste die Lippen zusammen, starrte auf den Boden, der ihre Füße schwarz gefärbt hatte. Der Matsch tat gut, wenn ihre Erscheinung nicht gerade einer Prinzessin würdig war. In allem war sie nur Durchschnitt. Iris war eher klein und zierlich. Ihr Körper nicht so ausgereift wie der ihrer Sommerfreundin, die von zarter Schönheit umschmeichelt wurde. Nichts zeichnete die Frühlingsprinzessin aus. Ihre Zwillingsschwester hatte zumindest die Augen ihres Vaters geerbt, welche der Frühlingsblüte einen geheimnisvollen Ausdruck verliehen. Und Iris? Sie war nichts Besonderes; eher unscheinbar, wenn sie ihr Äußeres nicht durch ihr lautes Auftreten wettmachen würde. Sie seufzte. Wer würde sich schon für die junge Blüte interessieren, wenn es keinen Titel und keine erzwungenen, gesellschaftlichen Konventionen gäbe, die ihr eine gewisse Aufmerksamkeit einräumten? Wieso sollte jemand, der keinerlei Verpflichtungen gegenüber der königlichen Frühlingsblüte hatte, ausgerechnet ihr den Hof machen wollen? Allmählich wünschte sie sich wirklich, sie wäre wieder ein Wiesenkind. Als alles noch einfach und sorgenfrei war, ihre Gedanken nicht um Schönheit und Grazie kreisten und kein gutaussehender Mischling in ihren Träumen erschien.

"Ach Myoso!", seufzte Iris verzweifelt, "ich weiß doch selbst nicht, was mit mir los ist." Heftig schüttelte sie den Kopf, dass mehrere Strähnen aus ihrem Zopf fielen, "ich bekomme ihn einfach nicht aus meinem Kopf. Irida ärgert mich deswegen schon den ganzen Sommer. Sie meint, ich solle mir die irrsinnige Idee aus dem Kopf schlagen." Iris' trotziger Schmollmund entlockte Myoso ein mitfühlendes Lächeln.

"Aber nicht dass du denkst, ich interessiere mich neuerdings für die Burschen aus dem Winterreich", murmelte die Frühlingsprinzessin sogleich hinterher, "wenn ich an Prinz Tyledions kalten Augen denke, schlottern mir die Knie." Ihre Augen huschten zu der Gestalt des Winterprinzen. In seinen Kreisen mochte Prinz Tyledion durchaus seine Vorzüge haben. Sein Äußeres war ansehnlich, die Gesichtszüge einprägsam und schmeichelhaft und die Statur zeugte von einer Sportlichkeit, die ihn stattlich aussehen ließen. Alles in allem ein Bursche, den man attraktiv nennen konnte. Wenn Irisa nicht ständig von den Seelenspiegeln abgelenkt wäre; düster wie ein Dezembertag und eisig wie die Eisschollen des Winterberges ließen sie die junge Frühlingsblüte erschaudern. Sie schüttelte sich, reckte dann ihr Kinn und blickte erneut zu dem Mischling herüber. "Aber wenn ich ihn so ansehe, denke ich gar nicht an den Winter. Ich sehe den Frühling vor mir, wie die letzten Tage an ihm vorüberziehen und an der Schwelle zum Sommer stehen, wo er ihn in seine starken, liebevollen Arme nimmt."

"Das klingt wunderschön", hauchte Myoso, die Iris nicht aus ihren tiefsten Gedanken reißen wollte. Lieber gewährte sie der jungen Frühlingsprinzessin einen Moment der Schwärmerei. Einen Augenblick, der ihr und ihren Träumen gehörte. Wer wusste besser als Myoso, welch innerer Zwist in ihrer jungen Freundin ruhte? Welch Unsicherheiten und Verwirrungen in ihr schlummerten? War es der Sommerprinzessin ähnlich ergangen. Als noch Sorgen und Ängste der Liebe Steine in den Weg gelegt hatten, war Myoso Innerstes von denselben Gefühlen, denselben Fragen gefangen genommen worden. Erst die Gewissheit hatte ihren Geist aufgeklärt.

"Du siehst es doch auch, nicht wahr, Myoso? Seine Mimik, die Offenheit, der Schalk in den Augen. Oh, diese Augen, Myoso! Nie hätte ich gedacht, dass sie so gut zu diesen braunen Haaren passen. Oder die Sonnen durchtränkte Haut…" Schnell sah sie weg, bevor noch mehr Gedanken ihr Innerstes aufwirbeln konnten. "Wie einfach wäre es, ihn anzusprechen, wenn er bei euch leben würde. Mutter hätte bestimmt nichts dagegen. Schließlich fließt königliches Blut in ihm und als Zweite in der Erbfolge müsste ich mir keine Gedanken um die Kinder machen…ähm ich meine", sie blieb stehen, machte eine wegwerfende Handbewegung und zog Myoso weiter über die Wiesen, "a-also nicht, dass du denkst, ich würde mir ernsthaft Gedanken darüber machen. Ich bin doch keine dumme Blüte. Haha." Hinter der Hand lachte Iris ihr unsicheres Lachen, bis ihr die Mundwinkel schmerzten.

Spätsommer II

"Tyledion?"

"Hm?"

"Du wirst beobachtet", unauffällig zeigte Winso auf die Prinzessinnen der Nachbarreiche, "meine Augen täuschen mich nie. Ganz gewiss sieht die Frühlingsprinzessin zu dir herüber." Am Stamm gelehnt, wandte sich Tyledion von seinem Buch ab und blickte zu den beiden Blüten herüber. Unbemerkt stahl er sich einen Moment, um in das unschuldige Antlitz der Sommerprinzessin zu blicken, einen flüchtigen Moment ihres Liebrreizes zu erhaschen. Ein Schulterzucken und der Winterprinz war auch schon wieder in seine Lektüre vertieft.

"Vielleicht", feixte der Jüngere, "hat sie ja Gefallen an dir gefunden. Womöglich wartet sie nur darauf, dass du hingehst und sie ansprichst."

"Nein, danke", entgegnete Tyledion trocken.

"Ach Cousin, warum denn nicht?"

"Nicht mein Geschmack."

Mit aufgerissenem Mund starrte Winso zu Tyledion hinauf. Es folgte ein Moment der Stille, bis Winso lauthals zu lachen begann, sich beinahe an seinem Grashalm verschluckte, der ihm in den Mund gefallen war und hustend aus seiner Lunge vertrieb.

"Bei Mutter Erde, Tyledion!", prustete Winso, "wie kannst du nur so eine ernste Antwort geben?!"

"Du hast mich gefragt", erwiderte Tyledion, ohne dass seine Mundwinkel zuckten, "dir sollte bewusst sein, dass ich gegen deinen Sarkasmus immun bin."

"Fürwahr. Das hast du gerade sehr deutlich demonstriert, lieber Cousin." Winso schlug die Beine übereinander, schnappte sich einen neuen Grashalm und pfiff einen leisen Ton hinein. Zwischen den Fingern seiner ausgestreckten Hand, welche den Sonnenschein abwehren sollte, blickte Winso zu den beiden Blüten herüber. Prinzessin Iris' schrilles Lachen hallte über die Wiesen. Ihr langer Zopf wirbelte von einer Seite auf die andere, während Myoso ihre Begleiterin zu beruhigen versuchte. Die Blüten waren wie Tag und Nacht. Die eine ruhig und anmutig, die andere laut und überschwenglich. Winso grinste in sich hinein. "Ich frage mich", der Mischling ließ den Blick schweifen, starrte hinauf in den Himmel, der den zweiten Regenschauer ankündigte, "wie sich wohl deine Eltern kennengelernt haben."

"Wie kommst du plötzlich auf diese Frage, Winso?", Tyledion, der den ersten Regentropfen abbekommen hatte, streckte den linken Arm in die Höhe. Mit gespreizten Fingern beschwor er eine Eiswand, die über seinem Kopf wie ein Regenschirm aufgespannt wurde.

"Naja", entgegnete Winso und schmunzelte, "du bist das Abbild deines Vaters und jeder weiß, dass Aussehen und Charakter eines Erdlings nahe beieinander liegen. Ich will mir einfach vorstellen können, welche Blüte zukünftig an deiner Seite stehen könnte. Und da du mir hinsichtlich deiner Vorlieben nichts verraten willst-"

"Schon gut", erwiderte der Kronprinz seufzend. Er ließ die Hand, mit welcher er das Buch festhielt, sinken. "Um auf deine Frage zurückzukommen: mein Vater hatte meiner Mutter einen Antrag gemacht, kurz bevor er sich gegen meinen Großvater duellierte. Meine Mutter war selbst überrascht, als der älteste Prinz sie plötzlich ansprach und verkündete, er wolle sie heiraten."

"Willst du damit sagen, Onkelchen hat Königin Cycla einfach seine Absichten bekundet, ohne sie wirklichen gekannt zu heben?"

"Ja."

Mit dem linken Daumen klappte Winso die Kinnlade hoch. "Das ist…also-"

"Hast du etwas anderes erwartet?" Tyledion schlug die nächste Seite auf. "Wirklich erstaunlich ist nur, dass meine Mutter damals eine Bedingung gestellt hat."

"Und die da wäre?"

"Das hat sie mir nie erzählt. Aber sie muss schwerwiegend gewesen sein, sonst hätte mein Großvater niemals darauf bestanden, dass er sich eine andere Braut nehmen soll."

"Aber er hat es nie gemacht", zählte Winso eins und eins zusammen, "vielleicht steckt ja doch ein Romantiker in ihm. Dann gibt es noch Hoffnung für dich, mein lieber Prinz." Winso ließ sich zu einem breiten Grinsen hinreißen, das der Ältere bewusst aus dem Weg ging. In dieser Hinsicht konnte er Winso nichts vormachen. Darum versuchte es Tyledion erst gar nicht.

"Wo wir gerade bei Vätern und ihren Söhnen sind", schlagartig wechselte Winsos Stimmung. Seine blauen Augen verloren ihr Funkeln, die Mundwinkel zuckten lediglich, als die Tropfen zu mehreren über den Mischling einprasselten. Er schloss die Augen, tat so, als genoss er die kalte Regendusche, die viel zu heftigen Ergüsse, die ihm Jacke und Hemd durchnässten. In der Hoffnung, Tyledion würde seine Worte ignorieren, schwieg der Mischling und zählte die Tropfen auf seinem Gesicht. Trotz geschlossener Augen spürte er Tyledions Blick und er wusste, es würde ihn zermürben, weiterhin so zu tun als wäre nichts.

"Wie war mein Vater denn so?" Ein schwüler Windhauch drückte sich zwischen die frischen Regenschauer. Winso hörte, wie Tyledion sein Buch zuklappte (worin las sein Cousin eigentlich die ganze Zeit?) und sich dem Mischling zuwandte. "Wie ich hörte, soll er ein richtiger Schürzenjäger gewesen sein."

"Hm", Winso lächelte träge, "kannst du dir das vorstellen? Ich, umringt von den schönsten Blüten des Reiches? Eigentlich müssten die Schönheiten Schlange stehen, wenn sie mich sehen. Irgendwas ist wohl schief gelaufen."

"Kommt alles noch", wenn es ihm auch nicht behagte, versuchte der Winterprinz etwas auf Winsos Sarkasmus zu erwidern.

"Ich glaube", Winso hatte jetzt wieder die Augen geöffnet, "sie sagen das nur, um seine Anbandelung mit einer Sommerblüte auf irgendeine Weise zu rechtfertigen."

"Den meisten missfällt die Vorstellung, dass zwei Wesen aus verfeindeten Reichen Gefühle füreinander hegen könnten."

"Missfällt sie dir nicht?!", Winso setzte sich auf. Die Unbeschwertheit in seiner Stimme war verflogen.

Die beiden Cousins tauschten einen langen intensiven Blick aus. Der Ältere war es, der das Wort ergriff: "Du sagst das so, als zweifelst du die Aufrichtigkeit ihrer Gefühle an."

"Natürlich tue ich das!" Ganz rot wurden die Wangen des Mischlings, dass ihm die Wassertropfen aus dem Gesicht rutschten. "Nach allem, was geschehen ist, wie soll ich da glauben, dass Liebe im Spiel gewesen sein soll? Sie wussten von den Konsequenzen. Mein Vater war der Prinz! Dass ein Kind die Gemüter erhitzen würde, sollte ihnen bewusst gewesen sein. Jemand, der so egoistisch handelt, versteht nichts von aufrichtigen Gefühlen." Die letzten Worte schrie der Jüngere hinaus. Erst als die Welle des Zorns langsam abebbte, wurde sich Winso seines Ausbruchs gewahr. Betreten sah er zur Seite. "Verzeih', Cousin. Ich weiß, so ein Verhalten ziemt sich nicht. Schon gar nicht in deiner Gegenwart." Er stieß einen Seufzer aus. Tyledion, der etwas darauf erwidern musste, jedoch nicht die richtigen Worte finden konnte, sah schweigend zu seinem Cousin herunter. Wie lange schon verbarg der Mischling seine Gefühle?

Die peinliche Stille endete abrupt, als ein Schatten vor ihnen auftauchte, gefolgt von einer roten Mähne, an der sich zwei, drei fingerdicke Regentropfen verfangen hatten.

"Prinz Tyledion", begrüßte ihn der junge König Asteros. Leicht neigte er sein Haupt. Tyledion tat es dem Herbstkönig gleich, während Winso vom Boden aufsprang, den Kopf auf die Brust gedrückt, dass der Regen von seinem Pony tropfte. "Majestät", nuschelte Winso, der nur langsam in die Etiketten des königlichen Hofes umschwenken konnte.

"Hallo, Winso", sagte der etwas ältere König Asteros, dass Winso den Kopf hob. Dann wandte sich der oberste Vertreter des Herbstes wieder dem Winterprinzen zu. "Hättest du einen Augenblick Zeit für mich?"

Tyledion nickte, blickte in Winsos Richtung, dass dieser verstand und sich zurückzog. Dann folgte er dem Herbstkönig Richtung Westen. Über die Klatschmohnwiese, vorbei an der Frühlingsschar, die im Halbkreis vor ihrem Prinzen hockte. Weiter in Richtung der verblühten Lavendelfelder, die einen vergangenen Duft hinterherzogen. Das Gewitter war nun vorüber, die Sonne lockte die Schröpflinge zurück nach draußen und die Hitze brannte unermüdlich auf die Rücken der königlichen Erben.

"Was kann ich für dich tun, Herbstkönig?", Tyledion, der die Arme hinter dem Rücken verschränkt hatte, sah zu dem jungen König herüber. König Asteros winkte mit seiner behandschuhten Hand. Die schneeweißen Handschuhe waren ein völliger Kontrast zu der rotbraunen Uniform, die sich hinter einem langen schweren Mantel aus Laub und Hagebuttenzweigen verbarg. Seine Krone hatte er nicht aufgesetzt, aber das war auch nicht nötig. Strotzte seine gesamte Erscheinung von königlichem Glanze - von dem feurigen Haarschopf bis hin zu den goldenen Spitzen seiner Stiefel. Obwohl seine Krönung nicht lang zurücklag, schien es, als wäre Asteros Zeit seines Lebens ein König gewesen. Die Augen, so wachsam und feurig wie die seines Vaters, erinnerten kaum mehr an den jungen Burschen, den aufmüpfigen Prinzen, den Tyledion einst gekannt hatte. So manches Mal hatten die beiden Kronprinzen zusammen gesessen. Wenn König Ceanthos seinen Vater in sein Herbstschloss eingeladen und Tyledion zusammen mit Asteros einen Wettstreit in dessen Gemächern veranstaltet hatte, welcher der beiden Prinzen wohl einen heftigeren Sturm erzeugen konnte. Es hatte viel Streiterei zwischen den Thronerben gegeben. Gezanke, und Diskussionen. Es würde geneckt und geärgert, und so manches Mal auch herzlich gelacht. Der Herbstkönig war ihm einst ein teurer Gefährte gewesen. Nie hatte der Winterprinzen so ausgelassen und frei reden können, wie mit dem herbstlichen Burschen und bis heute erinnerte sich Tyledion gerne an jene unbeschwerte Zeit zurück. Die Jahre hatte die beiden Erben verändert. Genauso wie Tyledion nicht mehr der engstirnige Winterprinz war, hatte sich auch Asteros zu einem prächtigen Thronerben gemacht.
 

"Die Herbstlese steht bald bevor", verkündete König Asteros, als wüsste Tyledion nichts von dem baldigen Wechsel der Jahreszeit. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, dass die Sommersprossen unter seinen Augen zu hüpfen begannen. "Was hältst du von einer weiteren Zusammenkunft der vier Reiche?"

"Mich erstaunt, dass du meinen Rat einholst. Wie ich die Berater der Herbstreiches einschätze, werden sie deiner Idee bereits zugestimmt haben. Im Sinne des Aufbaus einer Sommer-Herbst-Beziehungen durchaus schlüssig."

"Deine objektiven Schlüsse lob ich mir, Winterprinz. Fürwahr stimmen meine Berater dafür und die Gründe scheinen durchaus berechtigt. Aber", der Herbstkönig fuhr mit der Hand über sein Kinn, "ich möchte keine Missverständnisse aufkommen lassen. Die Sommersonnenwende war ein gelungener Auftakt für eine friedliche Koexistenz unserer vier Reiche. Ich möchte nicht sagen, dass mich Kong Gingkos Einladung dazu nötigen würde, eine ähnliche Feierlichkeit auszurichten. Die Ausgangslage von Sommer und Herbst sind eine völlig andere. König Gingko konnte dabei nur gewinnen. Diesbezüglich bewundere ich den Sommerkönig für seine Art, Dinge…unkompliziert erscheinen zu lassen. Wohingegen ich jeden meiner Schritte genauestens überdenken muss.

Dennoch bin ich sehr angetan von der Idee, alle vier Reiche an meiner Festtafel zu versammeln." König Asteros klopfte die letzten Tropfen von seinem Umhang. "Bevor ich die Briefe jedoch aussenden lasse, muss ich sicher sein, dass alle vier Reiche der Einladung folgen würden." Sein Blick wurde streng, die Sommersprossen hörten auf zu hüpfen und glühten blassrosa auf. "Wir sind nicht das Sommerreich. Wir können uns nicht erlauben, König Asparagos' Unmut auf uns zu ziehen. Ebenso wenig kann ich nicht auf die Anwesenheit des Winterreiches verzichten. Eine Zusammenkunft ohne unseren östlichen Nachbarn sähe wie eine stille Partnerschaft zwischen Frühling, Sommer und Herbst aus." Der Herbstkönig blieb stehen. Die Hände vor der Brust verschränkt drehte er sich zu dem gleichaltrigen Winterprinzen herüber. Tyledion erwiderte seinen Blick. Die undurchschaubare Kühle des einen sowie die tief lodernde Berechenbarkeit des anderen ließen den Platz um die königlichen Erben erschaudern. Obwohl keiner dem anderen grollte, duckten sich die Überreste des Lavendels vor der gefürchteten Kraft der beiden Jahreszeiten.

"König Asparagos", sprach Tyledion, "wird auch in Zukunft die guten Beziehungen des Herbstreiches pflegen wollen."

"Aber er wird nicht erscheinen, wenn ich den Sommer einlade." Beendete König Asteros den Satz.

"Ich weiß es nicht", antwortete Tyledion ehrlich, "mein Vater ist sehr beschäftigt."

"Aber du wirst kommen", die roten Seelenspiegel des Herbstkönigs begannen wie flammendes Kerzenlicht zu flackern. Flüchtig war das Lächeln, doch hatte es Tyledion nicht übersehen. "Ich baue auf deine Loyalität und Vernunft, Winterprinz. Aus dem Grund habe ich dich aufgesucht. Mir ist bewusst, dass eure Anwesenheit zur Sommersonnenwende deiner Überredungskunst geschuldet war. Mein Vater sagte mir, dass König Asparagos niemals der Einladung gefolgt wäre."

"Ich handle nie gegen den Willen des Königs", erwiderte Tyledion, der sich seiner eigenen Handschuhe bedient, welche aus seiner Uniformjacke hervorlugte. Er ließ sich Zeit, die Finger durch den Stoff zu schieben. Dass der alte König Ceanthos seinen Vater gut einzuschätzen vermochte, war wohl kein Geheimnis. Wie bereits bei seiner Mutter musste er die richtigen Worte finden, um sein Widerhandeln zu seinem Vorteil umzubenennen. "Selbstverständlich habe ich das Einverständnis des Königs eingeholt und wenn es sein muss, werde ich auch diesmal nicht davor scheuen, meinen Vater davon zu überzeugen, der Herbstlese beizuwohnen."

"Sehr schön", lächelte der junge Herbstkönig, "ich glaube, das ist der Beginn einer neuen Ära."

Spätsommer III

Er war zu früh. Genau genommen hätte er gar nicht herkommen müssen, wenn ihn der Brief nicht so verunsichert hätte. Die Formulierung des Winterkönigs war eindeutig. Sobald er den Verräter beim Namen nennen konnte, sollte sich Wächter Stipan im Winterpalast einfinden. Dass er seit Monaten keinen Erfolg bei der Findung des gesuchten Winterlings hatte und jetzt auch noch die Herbstlese in Kürze bevorstand, ließ seinen Atem um ein Dreifaches beschleunigen. Sein innerstes Leuchten zuckte im blassen Schein der Winterkräfte, sein Bauch fühlte sich ausgezehrt und leer an. Dabei hatte er so große Töne gespuckt, seine Selbstsicherheit hatte keine Grenzen gekannt, ja geradezu euphorisch hatte er die kommenden Wochen begrüßt, die ganz ihm und seinem Ruhm hätten gebühren sollen. Er war sich sicher gewesen, dass die Entlarvung des Verräters genauso einfach werden würde, wie damals vor siebzehn Jahren. Dass die Ermittlungen ihn mit offenen Armen zu dem Winterling führten, der sich des Hochverrats schuldig gemacht hatte. Jetzt trennten ihn noch wenige Tage bis Herbsteinbruch, der Schuldige blieb ein Geheimnis und der König verlor das Interesse an seinem Winterwächter. Stipan hatte es am Ton des Schriftzugs erkannt. Die Warnung, die hinter den Worten steckte, jede einzelne Silbe einen unverwechselbaren Klang auf der Zunge erzeugte. Deutlich sah er die kalten Augen des Winterkönigs vor sich, als er den Brief verfasst hatte, mit welch Gleichgültig das Papier gefaltet und wie lustlos das Siegel eingebrannt worden war, ließen einen Kloß im Magen entstehen. Einen bitteren Beigeschmack hinterließen die kratzigen Linien auf dem Papier, die König Asparagos Schreibführung ausmachten. Der Herrscher des Winterreiches brauchte keine Wintermagie wirken, um ihm das Gefühl zu vermitteln, seinem mächtigen Stab nicht entrinnen zu können.
 

Kopfschüttelnd huschte Stipan durch den langen Flur des Winterpalastes. Er hatte einen Soldaten am Tor von seinem Bestreben, den König zu treffen, erzählt. Als einer der drei Winterwächter war es geradezu selbstverständlich, dass der Soldat dem nächsten Diener davon berichtete und für Stipan selbst stellte es schon gar keine Notwendigkeit dar, sich erklären zu müssen. Der Soldat hatte sich unverzüglich zum König zu begeben und die Botschaft zu übermitteln. Mit einem scharfen Blick war der Soldat abgetreten. Alles weitere war Schicksal.

Als schließlich einer der Hauswachen zurückgekehrt war und Stipan anwies, ihm zu folgen, drückte der schmächtige Winterling die Kapuze tief bis unter das Kinn.

Er wusste nicht, ob die Erlaubnis des Königs ein gutes Zeichen war oder er doch lieber eine Ausrede erfinden sollte, die ihn weit weg vom Palast und noch weiter weg vom König brachte. Erst der Gedanke, warum er die Strapazen überhaupt in Kauf genommen hatte, ließen ihn die Schultern straffen und mit möglichst erhabenen Schritten folgte er dem Soldaten. Jeder Schritt änderte seine Stimmung, ließ die Gefühle Berg für Berg erklimmen. Von Verunsicherung, Panik, Angst und Todesfurcht war alles dabei. Ebenso Selbstüberschätzung, Überzeugung und Überheblichkeit. Bei Hiemes' Licht! Er war ein Wächter. Eine der höchsten Instanzen überhaupt. Wenn er den König sehen wollte, dann empfing ihn der König!
 

Seine Augen waren auf den gläsernen Eisboden gerichtet. Stipan wusste, wohin in die Wache führte und sämtliches Selbstbewusst, das er sich die letzen fünf Minuten eingeredet hatte, war dahin. Was, wenn König Asparagos verkünden ließ, die Dienste des Wächters nicht länger in Anspruch nehmen zu wollen? Wenn er jemand anderen damit beauftragte, jemand Besseren, jemand, der die ihm zugedachte Stellung erhalten würde. Oder schlimmer, wenn er ihn ertappt hatte. Sein Missgeschick bemerkt und nun alles verloren wäre. Nein, nein. So leicht war der Wächter nicht in die Tiefen Mutter Erde zurückzubringen. Irgendwie würde er sich schon herauswinden können. So wie er sich immer herausgewunden hatte.

"Mutter Erde, steh' mir bei", krächzte Stipan in seine Kapuze, dass es nach außen wie das Kratzen von Stiefeln auf Eisblöcke klang. Die Wache schien jedenfalls nichts bemerkt zu haben. Lief stoisch vor dem Winterwächter, dass die Eislanze über den Boden schabte. Der Angstschweiß haftete so stark an Stipans Umhang, dass Nebelschwaden um den Winterwächter herum schwirrten. Hastig verscheuchte er den weißen Rauch, wedelte mit den Händen, dass ihm die Kapuze aus dem Gesicht fiel. Als der Soldat vor der Tür des Beratungsraumes stehen blieb, war auch Stipan mit seinem wilden Gefuchtel fertig. Die Arme unter dem Umhang versteckt, kehrte er in die Rolle des andächtigen Wächters zurück. Der Soldat, welcher der Wache an der Tür ein Zeichen gab, betrat den Raum, wobei er die Tür einen Spalt breit offen ließ und Stipan die Chance ergriff, einen flüchtigen Blick auf den Raum zu werfen. Der Schreibtisch des Königs war leer. Dafür sah der Wächter drei weiße Roben umher flattern, als auch schon die Tür ins Schloss fiel und Stipan regungslos vor deren Schwelle verharrte. Er wusste, die Tür würde sich augenblicklich wieder öffnen und sein Gefühl enttäuschte ihn nicht. Drei Weißroben schritten stoisch an Wächter Stipan vorbei. Die Berater des Königs hatte sich eingefunden. Der schmächtige Winterling schluckte schwer. Wenn König Asparagos seine engsten Berater zusammenrief, braute sich etwas Großes zusammen. Aber was? All die Vorkehrungen wegen eines Verräters? Selbst der Winterwächter bezweifelte, dass der Winterkönig seine gesamte Aufmerksamkeit einem einzelnen Winterling widmete.
 

Sobald die königlichen Berater verschwunden waren, war die Tür zum Beratungsraum weit aufgerissen worden. Der Wächter bedachte Stipan, sich nicht von der Stelle zu rühren, bis ihm der König die Erlaubnis erteilte, einzutreten. Aber Stipan war nicht erpicht darauf, auch nur einen weiteren Schritt zu machen. Wenn nicht die Angst vor König Asparagos selbst wäre, dann wäre er sicher vor dessen General davongerannt. Zusammen mit dem König stand er am Fenster am Ende des Beratungsraumes. Die beiden Männer tauschten ein paar letzte Worte aus. Sie standen so dicht beieinander und flüsterten in einer Lautstärke, die selbst ein Lippenleser wie Stipan nicht verstehen konnte. Die dunklen Augen des Winterkönigs nahmen seine gesamte Erscheinung in Beschlag. Sein Gesicht war zur Seite gedreht, zeigte die unbeschadete Gesichtshälfte König Asparagos'. Wie jeder Winterling erschrak er ob der starken Ähnlichkeit zwischen König und Kronprinz. Der Winterkönig strotzte zweifelsohne von Erfahrung und Wissen, die dem jungen Thronerben gewiss noch fehlten, doch die Gesamterscheinung war identisch.

So wie sich der Winterkönig umdrehte und die Sicht auf die Narbe unterhalb seines Auges frei gab, sah Wächter Stipan lediglich die Grausamkeiten der königlichen Familien, die gewaltigen Kräfte, die weder Rücksicht noch Gnade kannten und eines Tages auch Prinz Tyledion treffen würden.
 

"Wächter", ertönte die kalte Stimme des Winterkönigs. Wächter Stipan zuckte merklich zusammenzucken, schrumpfte zu einem kleinen, kümmerlichen Klumpen Hilflosigkeit zusammen. Er hatte gar nicht bemerkt, wie General Galantius abgetreten war und nun mit festen Schritten auf den schmächtigen Winterling zulief. Sein Magen zog sich zusammen. Der General, so klein er im Vergleich zum König war, überragte Stipan um einen ganzen Kopf. Breite Schultern, ein kräftig gebauter Körper, ein langes kantiges Kinn und ein eindrucksvoller Blick, der sofort Respekt einforderte, sobald man ihm begegnete. Unter seiner Uniform verbarg sich ein durchtrainierter Körper, der mit den Jahren sicher so manche Makellosigkeit eingebüßt hatte, aber immer noch vor Lebensenergie strotzte. General Galantius war der ganze Stolz der königlichen Armee und Stipan würde seine Stellung nie in Frage stellen. Wie er sich dem Winterwächter näherte, malte sich der schmächtige Wicht so manches Szenario aus, welches den Winterwächter wohl augenblicklich erwarten sollte. Stipan hielt den Atem an. Mit einem grimmigen Nicken lief General Galantius an ihm vorbei. Ein lauter Knall und die Tür fiel ins Schloss. Ob es noch zu früh war durchzuatmen?

"Wächter", dröhnte erneut die Stimme des Königs durch den Raum. Leise knackte das Eis zu seinen Füßen, dass der Wächter einen Fuß vor den anderen stellte.

"J-ja, mein König." Stipan tat eine tiefe Verbeugung, verharrte solange in der Position, bis er den König ausatmen hörte. Vorsichtig bewegte er den Kopf nach oben, erhaschte einen Blick auf König Asparagos, dem es gleich war, ob sein Wächter für den Rest des Tages den Rücken krümmte oder genug Rückrad bewies und sich erhob. Der Winterwächter entschied sich für Ersteres, auch wenn ihm später seine Knochen strafen würden, so riskierte er keinen von König Asparagos' berüchtigten Blicken.

"Du hast um eine Audienz gebeten, Wächter", der König drehte sich um und schaute aus dem Fenster. Gewiss konnte ihn der König aus der Spiegelung der Fensterscheibe beobachten, weshalb sich der Wächter nicht von der Stelle bewegte.

"Gewiss, Majestät", nickte Stipan eilig, setzte zu einem Lächeln an, das ihm auf halbem Wege entwischte.

"Dann kennst du den Namen des Verräters?"

"N-nun was den Namen betrifft, mein König. Ich tue mein Möglichstes um den Verräter zu entlarven. Bei Hiemes schwöre ich, dass ich nichts unversucht lasse, den Schuldigen zu finden. Ich habe bereits-"

"Also nein", fuhr ihm der Winterkönig ins Wort.

"I-ich brauche mehr Zeit, mein König", wisperte Stipan, "wie sich herausgestellt hat, geht derjenige mit äußerster Vorsicht vor. Wenn ich also noch etwas-"

"Du tauchst hier auf, ohne eine Spur, ohne die leiseste Ahnung, wer der Schuldige sein mag. Und nun flehst du mich an, dir mehr Zeit einzuräumen?"

"S-so so ist das nicht, mein König", versicherte Stipan und rieb sich die Hände, die ihm auf einmal blau anliefen, "es ist wahr, ich kenne den Namen des Winterlings noch nicht. Aber-"

"Aber?"

"Ich weiß wessen Zuneigung er für sich gewonnen hat."

"Er?"

"Ja, mein König", nickte Stipan nun etwas eifriger, "es muss einer der Winterburschen sein, da bin ich mir sicher."

"Und die Sommerblüte?"

"Du kannst dir nicht vorstellen, wie überrascht ich gewesen bin. Ich würde es selbst nicht glauben, wenn…" Der Winterwächter fiel sich selbst ins Wort, als ihn eine kalte Brise ins Gesicht schlug, "es ist Prinzessin Myoso, Majestät. König Gingkos älteste Tochter."

"Ich weiß, wer Prinzessin Myoso ist", entgegnete der Winterkönig schroff. Der Wind ließ nach, Wächter Stipan hatte nun die Aufmerksamkeit des Königs. "Und du bist dir sicher?"

"Sehr sicher, Majestät. Die Prinzessin verbirgt das Winterpresent geschickt unter ihren Gewändern. Es waren nur die Konturen erkennbar, doch es war eindeutig ein Anhänger, auf dem ein Eisschwur gesprochen wurde. Die Kette kann nur ein Bewohner aus dem Winterreich erschaffen haben."

"Wenn die Blüte die Tochter des Sommerkönigs ist, wird es die Zahl der Verdächtigen einschränken", entgegnete König Asparagos leise und drehte sich erstmals um. "Du sollst deine Zeit bekommen, Wächter."

"Danke, Maje-"

"Neun Tage", die Worte des Königs waren endgültig. "Bis zur Herbstlese präsentierst du mir den Schuldigen. Eine weiteren Zeitaufschub gewähre ich dir nicht."

"Zu freundlichst, mein König", der Winterwächter wackelte immerzu mit dem Kopf als wollte er ihm jeden Moment von seinem kleinen, viel zu kurzen Hals rutschen. Sein schmieriges Lächeln täuschte nicht über die Schweißperlen auf seiner Stirn hinweg. "Ich danke dir, mein König. Ich werde dich nicht enttäuschen." Der König winkte träge. Gerade wollte sich der Wächter umdrehen, die Tür schien so verlockend, dass er nur den Arm ausstrecken musste.

"Oh, und Wächter?" Die stählerne Stimme schien so erschreckend nahe. Dabei war der Winterkönig lediglich an den Schreibtisch getreten, die Fingerspitzen berührten das Stück Papier, das sorgfältig neben einer einfachen Schreibfeder platziert war. "Wenn du glaubst, ich wüsste nicht, was du getrieben hast…"

Wie vom Blitz getroffen, hielt Stipan in seiner Bewegung inne.

"Ich weiß, wer die Schatten befehligte, Wächter, und ich werde es nicht vergessen."

Der schmächtige Wicht wagte es nicht, einen Blick auf König Asparagos' Gesichts zu werfen. Dafür vernebelte der Schweiß, der als Raureif auf seine Augen glitt, die Sicht auf den König. Und der König selbst durfte nicht sehen, wie nahe der Wächter einer Ohnmacht stand. "I-ich versichere dir, mein König, es war nie meine Absicht-"

"Schweig!", die Stimme des Königs war trocken, aber gerade der Ton schnürte Stipan die Kehle zu. Trockeneis war selbst für einfache Winterlinge pures Gift.

"Halte mich nicht für dumm, Wächter", fuhr König Asparagos fort, "wäre ich davon überzeugt, der Unfall sei mutwillig passiert, wärst du überall nur nicht hier. Vorerst belasse ich es bei einer Warnung. Ich werde dem General nichts von deiner missglückten Arbeit erzählen. Solange dein Auftrag besteht, braucht niemand etwas darüber zu erfahren. Doch sei gewarnt, Wächter", er griff nach dem Papier. Das Rascheln drang als Echo zu Stipan vor, der seinen halb geöffneten Mund nicht schließen konnte. Seine schlotternden Knie übertönten beinahe die Stimme des Königs: "Sollten der General oder mein Sohn den Schuldigen für den Unfall auf dem Übungsplatz finden, werde ich dir gewiss keinen Schutz gewähren. Wer seine Schattenmagie nicht unter Kontrolle bringen kann, sollte wohl besser ausgelöscht werden." Die letzten Worte waren eine reine Feststellung und Stipan sah sich schon vor dem höchsten Wintergericht stehen. Es war doch nie seine Absicht gewesen, einem Wiesenkind des Winters zu schaden! Sein Plan hatte sich so gut angehört. Zunächst beauftragte er die Schatten, den Wiesenkindern auf die Klatschmohnfeldern zu folgen. Sobald sich die Wesen an die Kleinsten gehaftet hätten, würde ihm schon einer seiner Schatten die benötigte Information liefern. Wie hätte er denn ahnen können, dass die Wiesenkinder von Sommer und Winter ihre Plätze getauscht hatten und dass ausgerechnet an jenem Tag die jüngste Tochter des Generals zugegen sein würde. Dem Winterkönig könnte er seine Unschuld beteuern. Nur würde ihm König Asparagos nicht zuhören. Schweigen war das einzige, womit er seinen Herrscher besänftigen konnte.

"Noch ein Fehler und selbst dein Ruf als Winterwächter wird dir nichts mehr nützen. Habe ich mich klar ausgedrückt?"

"Natürlich, Majestät."

"Dann haben wir uns nichts mehr zu sagen", sagte der König nach einer alles erdrückenden Pause, "und jetzt geh!"

Ohne den Blick vom Boden abzuwenden verließ Wächter Stipan den Beratungsraum. Leise fiel die Tür ins Schloss und endlich - endlich! - war der Winterkönig allein. Seine Augen überflogen noch einmal das Schreiben, dann knickte er die Seiten zweimal zusammen und schritt selbst aus dem Raum. Den schweren marineblauen Pelzmantel ließ er auf der Stuhllehne, ebenso den Winterstab, den er mit einem Wink seiner freien Hand verschwinden ließ.

Die Sommerprinzessin also. Asparagos ließ sich die Tür des Beratungsraumes öffnen. Wenn es stimmte, was der Wächter sagte, kämen nicht viele Winterlinge in Frage. Gewiss war die Sommerprinzessin beliebt und auch die Nachbarreiche - ausgenommen das Winterreich - pflegten ein hohes Maß an Zuneigung für die junge Sommerblüte. Doch selbst eine Prinzessin wie sie hatte nur einen begrenzten Spielraum an Freiheiten. König Gingko war gutherzig, aber kein Narr. Seine älteste Tochter irgendwo unbeaufsichtigt zu lassen, käme selbst für einen Herrscher wie ihn nicht in Frage. Blieben also der Sommerpalast und das neutrale Gebiet, in denen die Prinzessin einer Liebelei mit einem seiner Burschen nachgehen könnte. Sein Schritt beschleunigte sich. Die Diener und Soldaten ignorierte der König allesamt. Ebenso die Kammerdiener und Musikanten, die flink die Beine in die Hand nahmen, ihrem König Platz machten und sich so tief verbeugten, dass ihr Atem den Boden berührte. Die Stirn in Furchen geschlagen durchquerte Asparagos den langen Flur. Aus Furcht, ihren Herrscher verärgert zu haben, blieben die Diener in dieser ungemütlichen Haltung, bis König Asparagos im nächsten Flügel verschwunden war. Niemand ahnte den wahren Zorn hinter Asparagos' Blick. Dass er bereits die Liste an potentiellen Verrätern durchging. Jene, die sich erdreisten könnten, den König und das gesamte Wintervolk zu beleidigen. Nur jemand in hoher Position wäre dazu in der Lage. Denjenigen unter den damaligen Gästen der Sommersonnenwende zu finden war sehr wahrscheinlich, dennoch schloss Asparagos nicht aus, dass der Winterling sich einfach hinaus geschlichen haben könnte. Die Grenzen wurden zurzeit nicht überwacht und vielleicht hatte der Bursche die Gelegenheit genutzt, unbemerkt durch das Sommerreich zu spazieren. Eine Tatsache, die er womöglich ändern sollte. Andererseits brauchte er seine Soldaten für wichtigere Belange als einen blauäugigen Jüngling von seiner Geliebten fernzuhalten. Asparagos ballte die Hände zur Faust. Was war schlimmer? Dass er womöglich einen getreuen Diener des Winterreiches verlor? Oder den derzeitigen Umständen sogar noch dankbar sein müsste? Beide Möglichkeiten widerten ihn zutiefst an.
 

"Mein König", sagte die Wache, dass Asparagos den Blick auf die Tür warf, auf die er geradewegs zulief. Mit einem Wink befahl er dem Soldaten abzutreten. Ohne den König in die Augen zu sehen, nickte er diesem zu und marschierte zu seiner Ablöse. Der Winterkönig öffnete selbst die Tür zu den königlichen Gemächern. Er durchquerte den Vorraum, schwenkte den freien Arm, dass frische Flocken auf die Schneedecke fielen und das weiße Gold zu seinen Füßen dankend die Knöchel des Königs umarmte. Mit einem Schwung betrat er den großen Raum und fand den Lebensbaum verlassen vor. Seichtes Licht umhüllte die vielen kleinen Knospen. Asparagos bemerkte, wie ein paar aufgeregt zu zappeln begannen; wohl merkend, dass ein Nahestehender Hiemes' zugegen war. Kurz betrachtete er die Erben des Winters, die kleinsten Untertanen seines Reiches, denen es dank der Aufopferung Königin Cyclas an nichts fehlte. In den letzten beiden Jahren war die Geburtenrate leicht angestiegen. Ein schwaches Licht der Hoffnung im Vergleich zu den Jahrzehnten der müßigen Ernte. Er rieb sich über die faltige Stelle zwischen den Augenbrauen und steuerte die letzte Schiebetür an. Eine bekannte Melodie umfing das Schlafgemach des Königspaares. Die Spieluhr der Königin, ein hölzernes Schmuckkästchen, in deren Deckel ein verborgener Mechanismus steckte, lag auf dem Frisiertisch - eines von Asparagos' Errungenschaften während seiner ersten Ausflüge nach Menschenerde. Vor dem Tisch saß Königin Cycla in einem durchscheinenden Morgenmantel und kämmte ihr feines, langes Haar, das ihr bis zum Boden gereichte. Vor der Schiebetür stehend betrachtete Asparagos seine Gemahlin, wie sie mit den spitzen Zacken Strähne für Strähne bearbeitete.

"Du bist früh", sagte die Königin. Durch den Spiegel blickte sie zu dem König, der die Tür zurückgeschoben hatte.

"Dasselbe wollte ich gerade von dir sagen", erwiderte der König, dass es Cycla ein Lächeln entlockte. Asparagos pflegte gern eine Frage (selbst wenn sie nur angedeutet wurde) mit einer Gegenfrage zu erwidern. Ein unmissverständliches Zeichen, dass er nicht darüber reden wollte. Doch die Königin würde sich nicht aufdrängen. Stattdessen kämmte sie weiterhin ihr Haar, wobei sie den Spitzen besonders viel Aufmerksamkeit schenkte. "Der Lebensbaum ist mit genug Wintermagie gefüllt und ich brauchte ein paar Minuten für mich." Die fertig gekämmten Strähnen warf Cycla galant nach hinten. Aus dem Augenwinkel musterte sie den Winterkönig, der seine Krone abgenommen hatte und auf den Frisiertisch ablegte. Seine Bewegungen waren fließend. Wie er die Abzeichen von seiner Uniformjacke abzog, die Manschettenknöpfe vom Ärmel entfernte, kamen der Königin unweigerlich die Bilder der Krönung in den Sinn und der Gedanke an ihren Sohn trübte ihre Stimmung. Cycla legte den Kamm in das Kästchen und schloss den Deckel. Abrupt endete die Melodie, spielte nicht die letzten entzückenden Takte - das Herzstück der Spieluhr. "Hast du mit unserem Sohn gesprochen?" Ihre Stimme verriet nicht die Unruhe, nicht das Brodeln in ihrem Innersten.

"In den letzten Wochen? Nein.", antwortete dicht hinter ihr Asparagos.

"Er ist sehr darauf erpicht, den Übeltäter zu fassen."

"Dich überrascht Tyledions Verhalten?", Asparagos war keineswegs überrascht.

"Ich finde, er bürdet sich zu viel Verantwortung auf", erwiderte Cycla und begann ihr Haar zu einem langen üppigen Zopf zu flechten, "erst übernimmt er die Leitung der Winterprüfung, dann trainiert er pausenlos in seinem Zimmer oder bringt die Tage in der Bibliothek zu. Und jetzt hilft er dem General auch noch bei der Suche nach dem Schattenmagier."

"Tyledion tut das, was einen künftigen Herrscher ausmacht." Doch die Antwort genügte Cycla nicht. Sie kräuselte die Lippen.

"Er leistet mehr als seine Stellung von ihm verlangt. Er wird noch früh genug in die Aufgaben eines Königs eingeführt", sie schüttelte den Kopf. Den Blick zurück in den Spiegel gewandt, bot sie Asparagos' Seelenspiegeln Paroli. "Asparagos", ihre Augen sahen unverwandt in das tiefe Blau ihres Ehegatten, "erinnerst du dich an das Versprechen, das du mir zu unserer Verlobung gabst?"

"Wie könnte ich das vergessen, meine Königin", entgegnete der Winterkönig sanft, wenn auch etwas Kühles in seinen Worten mitschwang. Er trat neben seine Gemahlin, kniete sich hin, dass er mit der Königin auf Augenhöhe war. Sanft umfasste er ihr Kinn, drehte es so, dass sie einander in die Augen blickten. "Mein Versprechen, fuhr er fort, "habe ich stets gehalten", sein Griff wurde eine Spur fester, wenn er der Königin auch keine Schmerzen zufügte, "doch wenn Tyledion seinen Anspruch auf den Thron geltend machen will, so bedenke, dass es nicht in meinem Ermessen liegt, ihn aufzuhalten. Ebensowenig du, meine liebe Gemahlin." Die Winterkönigin rümpfte die Nase. Sie war sich der Traditionen der königlichen Winterfamile wohl bewusst und es ärgerte sie, dass sie auf diese Weise um ihr Versprechen betrogen wurde - wenn auch nur zu Teilen. Cycla wandte sich von Asparagos ab. Dieser sah über ihren drohenden Zornesausbruch hinweg. Stattdessen legte er das Schreiben auf den Frisiertisch.

"Was ist das?", Königin Cycla klang noch immer gereizt, "eine Einladung zur Herbstlese?" Die Königin konnte nicht anders als ihre Augen auf das Papier zu richten. Ihr Ärger wich ehrlicher Verwunderung. Nicht dass der Herbstkönig dem Beispiel König Gingkos folgte. Viel mehr verblüffte sie, dass ihr Gatte überhaupt über das Thema reden wollte. Sie hatte schon mit einem weiteren wütenden Schnauben seitens des Königs gerechnet, doch Asparagos blieb erstaunlich ruhig.

"Du wirst seine Einladung annehmen?", rief sie aus, obwohl dieser Frage keiner Antwort bedurfte.

"Ich habe nicht vor, seine Einladung abzuschlagen."

"Das war keine Zusage", durchschaute Cycla ihren Gatten. Sie wusste schon, von wem Tyledion diese Eigenschaft geerbt hatte. Asparagos erhob sich. "Ich kann nicht weg."

"Ich weiß", hauchte sie.

"Aber in meinem Namen werden du und Tyledion erscheinen. Ich werde dem jungen Herbstkönig persönlich antworten. Ich werde eine Liste an Begleitern zusammenstellen. Meinetwegen kann es so aussehen als würde Tyledion sich wieder dieser Aufgaben annehmen."

"Warum?"

"Es ist besser so", war die knappe Antwort des Königs.

"Du verschweigst etwas." Wieder waren Cyclas Worte eine reine Tatsache, auf die der König keine Antwort gab. "Gehört das auch zu deinem Plan?" Sie nahm das Schreiben an sich. Noch immer schien Asparagos nicht willig, ihr zu antworten. "Wenn du unseren Sohn mit hineinziehst-"

"Unser Sohn", unterbrach er sie, "ist darin involviert, seit sein Schicksal unter dem Lebensbaum besiegelt wurde. Er hat keine andere Wahl als sein Erbe zu akzeptieren."

Herbstlese I

Gleißendes Licht umhüllte die nächsten Erben des Sommers, warme Strahlen, die der Sonne in nichts nachstanden, tränkten die Königsfamilie und deren Zweigclans in die Macht der heißesten Jahreszeit von allen. König Gingko schwenkte seinen machtvollen Stab und führte die Gruppe von knapp hundert Burschen und Blüten an die Grenzlinie ihres Reiches, von wo sie ihre Reise zum Herbstkönig und dessen Mitglieder fortsetzten. Die Magie aller vier Herrscher war mächtig. So mächtig, dass sie die Grenzen des Seins überschritten, Mauern des Bewusstsein überwanden und die Lichtgeschwindigkeit zu ihren Gunsten gebrauchten. Lichtwanderung, so nannten die Sommerlinge diese unglaubliche Gabe, mit der Königs Gingko sich und seine Untertanen durch das Sommerreich teleportieren ließ. Jeder Jahreszeitenherrscher konnte sich dieser Kräfte bedienen, und jeder König und jede Königin nutzte diese Fähigkeit, um längere Strecken in kurzer Zeit zu überbrücken. Sei es während der Reisen nach Menschenerde oder um ihren Nachbarn einen Besuch abzustatten. Sobald jedoch die Grenze nahte und das Nachbarreich des Nordens am Ufer des Flusses sichtbar wurde, endete auch König Gingkos Lichtwanderung, und das Volk, einschließlich des Königs und seiner drei Kinder, musste den Rest des Weges zu Fuß gehen. Einerseits aus Respekt gegenüber der Herrscher ihrer Nachbarreiche, hielten die Erben der Jahreszeitenstäbe ihre Kräfte zurück. Andererseits schwand ein Teil ihrer unglaublichen Macht, wenn zwei mächtige Stäbe in die Nähe des jeweils anderen kamen. Ganz begründen konnte niemand dieses Phänomen. Die einen glaubten, dass damit der Frieden gesichert werden sollte, während andere davon überzeugt schienen, dass damit einmal mehr bewiesen wäre, wie wenig die Jahreszeiten zusammenpassten.
 

Nun marschierten hundert stolze Sommerlinge in hellgelber Uniform durch den dichten Wald des Herbstreiches. Goldene Knöpfe an Jacke und Mantel erleuchteten den Weg zum Palast, der auf einer Lichtung inmitten von Laubbäumen und Brombeersträuchern auf sie wartete. Der Herbst klopfte an die Tür und für die Sommerlinge war es an der Zeit, die luftigen Gewänder abzustreifen und die biedere Kluft des hiesigen Reiches anzulegen. Die Burschen legten erstmals ihre weißen Handschuhe über, von denen einige mit feinen Monogrammen bestickt waren. Voller Stolz trugen sie das Kleidungsstück, welches so liebevoll von ihren Gattinnen verschönert worden war und als Zeichen tiefster Zuneigung galt. Ihnen gegenüber liefen die Sommerblüten in ähnlich strenger Kluft. Ein langer gelber Mantel, ganz im Stil der Uniform gehalten, lag eng um den Körper der zarten Gestalten. Elegant schmiegte sich der feste Stoff um die Leiber der Sommerblüten, deren kragenloser Ausschnitt von winzigen Pollen bedeckt war. Paarweise reihten sich goldene Knöpfe vom Kragen bis zur Hüfte und verliehen dem Gewand eine gewisse, herrschaftliche Strenge. An der Taille bauschte sich der Mantel ein wenig auf, dass er wie ein Kleid bis zu den Waden gereichte. Dort wurde er von weißen Stiefeln ersetzt, die mit Schnürsenkeln aus fein gearbeiteten Heu festgeschnürt worden waren.
 

Ganz vorne, dicht hinter ihrem Vater, schritt die Sommerprinzessin leichtfüßig über den feuchten Boden des Herbstreiches. Die Stiefel quietschten, als sie den feuchten Boden begrüßten, nachdem sie stundenlang nichts als Trockenheit und Dürre gesehen hatten.

Im grellen Glanz erstrahlte Myosos Innerstes vor Aufregung, dass sie zwischen den dicht bewachsenen Bäumen ein warmes, helles Licht spendete. Noch nie hatte sie das Herbstschloss besuchen, noch nie ihren Vater zu einem seiner vielen Audienzen begleiten dürfen. Von Erzählungen wusste sie um die Pracht des Herbstschlosses. Aus Büchern hatte sie so manche huldvolle Zeichnung gesehen. Die Sommerprinzessin lächelte, dass ihre kleinen Grübchen zum Vorschein kamen. Die Freude überwog den Ärger, den sie noch vor einigen Augenblicken verspürt hatte. Nachdem die Lichtwanderung geendet und Myoso mit Hilfe ihres Vaters den Fluss überquert hatte, war es ihre Tante, die sogleich von der Situation Gebrauch machte. Mit einer beiläufigen Bemerkung hatte sie Lathyrus zu sich heran gewunken und ihm den Befehl erteilt, Myoso während der Wanderung als Begleiter zur Seite zu stehen. Lathyrus, welcher der Königsfamilie keinen Wunsch abschlagen würde (obwohl er der Schwester des Königs zu keinerlei Gehorsam verpflichtet war), hatte der Prinzessin den Arm gereicht und Myoso, die den Sommerling nicht verletzen wollte, hatte dem nichts hinzuzufügen gehabt. Dabei wusste die Sommerprinzessin genau, welche Pläne die Tante verfolgte und dass sie mit dieser schlichten Geste mehr Aufmerksamkeit erregte, als Myoso lieb war. Das Gerede um eine baldige Hochzeit hatte die Landen erreicht und jetzt, nachdem Myoso und Lathyrus Arm in Arm auf das Herbstschloss zuliefen, würde es kaum noch Widerworte geben. Doch noch mehr als über Tante Pensea als Kupplerin, wunderte sie sich ernsthaft über ihren Vater, der zu keinem Zeitpunkt gewillt schien, seiner Schwester zu widersprechen. Dabei hatte er vor Monaten versprochen, Myosos Entscheidung zu akzeptieren. Hatte Tyledion womöglich doch recht? Würde ihr Vater einfach über ihren Kopf hinweg entscheiden, wenn der Augenblick passend schien? Für den Moment musste sich die Sommerprinzessin fügen. Sie würde später noch einmal mit ihrem Vater reden müssen. Am besten, wenn Tante Pensea nicht zugegeben war. Schließlich ging es nicht nur um Myosos Gefühle. Durch Penseas ständiges Einmischen, führte sie auch Lathyrus in die Irre. Dass er mehr als eine Prinzessin in ihr sah, war Myoso bereits seit einiger Zeit bewusst. Myoso selbst hatte damals geglaubt, dass ihre tiefe Zuneigung gegenüber dem Generalssohn romantischer Natur gewesen wäre. Als frische, unwissende Blüte von fünfzehn Jahren hatte Myoso ihre Liebe zu Lathyrus für etwas besonderes gehalten. Erst einige Zeit später verstand sie, dass Freundschaft ein ebenso starkes Band der Liebe erschaffen konnte, doch Liebe und Leidenschaft nicht immer im Einklang stehen mussten. Und so sicher Myoso um ihre Gefühle war, so sehr fürchtete sie sich vor dem Schmerz, den sie Lathyrus zufügen musste, wenn sie sein Liebesgeständnis abweisen müsste. Je länger sie darüber nachdachte, umso erdrückender lastete die Wahrheit auf Myosos Schultern. Eines Tages würde der Augenblick kommen, an dem Lathyrus' Leuchten von Liebesqualen gepeinigt werden würde, aber heute würde sie dem Ganzen einen weiteren Tag Aufschub gewähren.
 

"Sieh' nur", rief Myoso, als sie an violetten Pilzen vorbei gekommenen waren, welche ihre Hüte von den Köpfen nahmen und sich vor der Königsfamilie verbeugten. Pilzköpfe wurden nur selten im Sommereich gesichtet und mit Entzücken betrachtete die Sommerprinzessin die Freundlichkeit der Waldbewohner, welche die Neuankömmlinge aufs herzlichste willkommen hießen. Myoso tat einen Knicks, dass die Pilze einen Salto vollführten, durch die Lüfte purzelten, bevor sie mit ihren Füßen zurück in die Erde hüpften. Hinter der ältesten Sommerprinzessin kicherten die Geschwister, Cynos stupste einen Fliegenpilz an, der wiederum ein lautes Quietschen ausstieß, dass Malwa ihren großen Bruder in die Seite knuffte und ein Streit zwischen den jüngeren Geschwister entfachte, der die sommerliche Gruppe in Aufruhr versetzte, bis Penseas strenge Stimme dem Chaos Einhalt gebieten konnte, gefolgt von einem ebenso mahnenden Blick Seitens des Sommerkönigs. Sofort verstummten die beiden Königskinder und hielten sich für den Rest des Weges die Münder zu. Myoso hingegen blickte sich neugierig um und ließ sich von ihrem Begleiter über die Wunder des Herbstreiches unterrichten. Im Gegensatz zu ihr war Lathyrus bereits das ein oder andere Mal im Herbstreich gewesen. Mit seinem Vater, dem General, hatte er die Grenzen überwacht, die nördlich stationierten Soldaten besucht und den Herbstwald erkundet. Seit Lathyrus seinem Vater Arbeit abgenommen hatte, war der Sommerbursche viel herumgekommen und Myoso freute sich nach jeder Rückkehr darauf, von Lathyrus die neuesten Geschichten zu erfahren. Aufmerksam lauschte die Sommerprinzessin und Lathyrus genoss die Anwesenheit, die Zuwendung seiner Prinzessin, welcher er jede Frage nach bestem Gewissen beantwortete.
 

Allmählich lichtete sich der Wald. Moos bildete eine Straße, die auf einen Berg zusteuerte. Die Lichtung befand sich am höchsten Punkt des Berges, die Spitzen des Herbstschlosses waren bereits zu sehen, erfüllten Myoso Innerstes mit tiefster Bewunderung und Zuneigung. Ihre Augen weiteten sich, strahlten im Schein der tief hängenden Sonne, als sie den Berg erklommen. Zuerst erschienen die Apfelplantagen. Junge Burschen kletterten auf die Bäume, schüttelten die Äste, dass dicke rote Äpfel in einen Weidenkorb fielen, den jeweils eine Herbstblüte über ihren Kopf gestülpt hatte. Es roch nach frischem Most, saftig feuchter Erde und einem Hauch von Zimt. Während Apfel für Apfel in den Korb plumpste, sangen die Herbstlinge ein Lied, summten oder pfiffen eine fröhliche Melodie, die über den ganzen Berg widerhallte. Texte erzählten von Liebe und Sehnsucht, Heimkehr und unendlicher Hingabe gegenüber dem Herbst und ihrem Herrscher. Myoso spitzte die Ohren, lauschte den Liedern, die von so viel feuriger Leidenschaft strotzten.

Dann waren die Birnen und Pflaumen an der Reihe. Die Stimmen wurden lauter, die Burschen und Blüten wilder und unbefangener. Ihre feurige Mähne ein Spiegelbild an Emotionen, die auf Myoso und ihre Begleiter hinab prasselten. Wie die Herbstblüten ihre Glockenröcke baumeln ließen - bunte, aufgebauschte Röcke, die einem Flammentanz Konkurrenz machen konnten - ,sich vergnügt im Kreise drehten, dabei den Burschen schöne Augen machten und immerzu von Liebes- und Heimweh sangen, zogen Myoso in ihren Bann, dass sie sich davon nur schwer losreißen konnte.

Schließlich tauchten die Weinbergfelder auf - der Stolz des Herbstes. Die Blätter waren reich bestückt, üppig hingen die Weintrauben, dass sie beinahe den Böden berührten. Die Sommerprinzessin hielt inne. Lathyrus, der ebenfalls zum Stehen kam, musterte König Gingkos älteste Tochter fragend. Das sommerliche Gefolge tat es ihr gleich, blieb stehen und beobachtete das fröhliche Treiben der Herbstlinge.

"Dort", sagte Myoso und deutete auf einen der vielen großen Tröge. In diesen Trögen hatten sich Herbstlinge eingefunden. Die Hosen bis zu den Knien hochgekrempelt stampften sie und sangen fröhlich vor sich hin. In einem anderen Trog hatte eine junge Blüte den Rock bis an die Oberschenkel angehoben. Sie stampfte ebenfalls, sang und drehte sich im Takt der Melodie. In weiteren Trögen hatten sich die Herbstlinge zu Paaren aufgestellt. Die Finger miteinander verschränkt drehten sie sich abwechselnd, stampften und sangen einander zu. Fasziniert beobachtete Myoso das Schauspieler, die Pirouetten der Herbstblüten, welche sich von dem tiefen Bass der Burschen mitreißen ließen. Neckend besangen die Herbstburschen die jungen Blüten und ebenso wild erwiderten die Blüten die Avancen, streckten sich und stampften, dass der Saft bis zu ihren Kleidern spritzte.

"Schau nur, Lathyrus, diese Rohre", Myoso zeigte auf die Holzrohre. Jedes Einzelne war mit einem Trog verbunden und verlief einmal direkt in die Erde.

"Der ausgepresste Saft fließt durch die Rohre", antwortete Lathyrus. "Unter der Erde verlaufen die Rohre zu einer gemeinsamen Leitung. Das Herbstvolk hat ein erstaunliches, unterirdisches System geschaffen, wodurch das gesamte Reich mit Traubensaft versorgt werden kann." Anerkennung schwang in Lathyrus' Stimme mit. "Wusstest du, dass der Wein nicht nur zu diversen Bewässerungszwecken verwendet wird, sondern auch zu Heilzwecken angewendet werden kann?"

"Du weißt eine Menge, Lathyrus", staunte die Sommerprinzessin und lächelte.

"Einer der Herbstsoldaten hatte es während einer Unterhaltung mit meinem Vater erwähnt. Ich habe lediglich zugehört." Lathyrus wandte den Blick von ihr ab, sichtlich bemüht, Gelassenheit vorzutäuschen. Mit der freien Hand fasste er sich durchs Haar.

"Und weißt du", setzte Myoso ihre Unterhaltung fort, nachdem sie sanft von Lathyrus angehalten wurde, weiterzulaufen, "dass die Menschen von dem Saft ganz trunken werden? Genauso als wenn wir von Königin Allilaeas besonderen Frühlingsregen kosten?"

"Wirklich?!"

"Ja", die Sommerprinzessin begann zu kichern, "und das Ganze nennen sie dann Wein."

"Nicht sehr kreativ", bemerkte Lathyrus und schüttelte lächelnd den Kopf. Obwohl er nicht viel für das Menschenvolk übrig hatte und Myosos Interesse nicht verstehen konnte, faszinierte ihn das gesammelte Wissen der Sommerprinzessin.

Der Palast war nun deutlich zu erkennen. Kein Bild und keine Zeichnung vermochten die wahre Schönheit des Herbstschlosses einzufangen. Myoso sah hinauf, betrachtete die meterhohen Mauern, die ganz in den Farben der bunten Jahreszeit gekleidet waren. Dornen und Ranken schmiegten sich um das feste Gestein, meterhoher Blauregen hing schwer über Brüstungen und Balkonen. Die letzten Sonnenstrahlen hatten die Schlingpflanzen in ein gesättigtes Grün getränkt, doch schon bald würden ihre traubenartigen Blüten verwelken und die Blätter in gold-gelbe Töne tränken. Aber das schien der Natur nichts auszumachen. Freute sie sich bereits auf den Neuanfang, den Wandel, den die Zeit mit sich brächte - und mit ihm eine neue Farbenpracht gestaltete.

Der Eingang bildete ein eindrucksvoller Rundbogen, um den sich hunderte Rosenranken wanden. Geradezu schmeichelnd hatten sie sich um das Metall geschlungen, die Blätter kräuselten sich und die Blüten hielten sich bedeckt geschlossen. Hatte sich die Natur in Geduld zu üben, war ihr doch die Anspannung anzumerken. Wie sich die Rosen danach verzehrten, ihre Blüten zu öffnen, ihre Schönheit zu präsentieren und ihren unverkennbaren Duft hinauszutragen, spürte Myoso bis zu den Fingerspitzen. Die Anspannung war groß, Vorfreude ein ungezügelter Genosse. Das Kribbeln, die Erwartungen - all dies bauschte sich zu einer großen Kugel auf. Die Luft knisterte. Nicht zuletzt wegen ihres treuen Gefährten. Unter jenem Rundbogen stand König Asteros, um seine neuesten Gäste in Empfang zu nehmen. König Ginkgo hob seinen rechten Arm, dass seine Gefolgschaft zum Stehen kam. Die Augen der jungen Sommerprinzessin huschten über die Schultern des Vaters weiter zu dem jungen Herbstkönig. Mit festen Schritten näherte sich König Asteros dem Sommerkönig. Sein Mantel wippte auf und ab, die bunten Blätter raschelten vergnügt. Auf seinem Haupt ragte die Herbstkrone aus feinen Ästen, an denen sich Trockenobst und Kastanien verfangen hatten. Zielstrebig schritten seine Stiefel auf die Sommerlinge zu. Dabei schlängelten sich Schlingpflanzen um die Schnürsenkel, wetteiferten um die Gunst des mächtigen Herbstbewohners. Es war ein Wunder, dass es dem König gelang, nicht über die eigenen Füße zu stolpern, so fest umschlossen die Ranken das feste Schuhwerk.

Die Begrüßung der beiden Könige, als der Herbstkönig an dessen sommerlichen Nachbarn herangetreten war, verlief genauso wie zur Sommersonnenwende. Beide Herrscher verneigten sich vor ihrem Gegenüber, ihre Konversation war kurz und freundlich. König Asteros' Blick glitt zur ältesten Königstochter. Ein flüchtiges Lächeln umspielte seine Lippen, aber Myoso hatte es ganz klar gesehen.

"König Asteros", sprach Myoso und erwiderte sein Lächeln geradezu euphorisch, "die Schönheit deines Reiches hat mich in ihren Bann gezogen. Mit welch Fleiß und Hingabe dein Volk seiner Arbeit nachgeht, lässt mein Innerstes erblühen." Sie deutete nach unten zu den vielen Trögen, in denen unermüdlich der Saft ausgepresst wurde. "Ich wünschte, ich könnte ihnen Gesellschaft leisten. Ihre Leidenschaft ist geradezu ansteckend."

"Ich danke für das Kompliment, Prinzessin", entgegnete König Asteros, dessen Augen zu funkeln begonnen hatten, "wenn es dein Wunsch ist, so verspreche ich dir, dass wir zur nächsten Herbstlese gemeinsam in den Trögen tanzen und Aestos' Wunder besingen werden!"

"Ich nehme dich beim Wort, König Asteros", lächelte Myoso, dass ihr Innerstes kaum heller erstrahlen konnte. Mit einem letzten amüsierten Blick wandte sich der Herbstkönig von der Sommerprinzessin ab. Gemächlichen Schrittes führte er die Gruppe Sommerlinge zu seinem Palast. Die breite doppelseitige Flügeltür wurde aufgerissen und ein langer Flur ebnete den Weg durch das Schloss. Ohne ihre Begeisterung zu zügeln, lief Myoso durch die Flure. Wieder schlängelten sich an den Wänden Dornen und Ranken und wieder schmiegten sich die Blüten der Rosen eng aneinander - wartend auf jenen Moment, an dem sie triumphierend aufplatzen würden. Erwartungsvoll raschelte das Laub unter ihren Stiefeln. Myoso sog die Düfte in sich auf. Es roch nach Pilzen, getrockneten Blättern und aller vier Jahreszeiten. Ihr Innerstes glühte vor Aufregung. Sie alle waren gekommen. Mit der freien Hand fasste sich die junge Sommerprinzessin an die Brust.

Am Ende des Flures ließ der Herbstkönig eine weitere Tür aufgehen, die in den Ballsaal des Herbstschlosses führte. Die Sommerprinzessin ließ von ihrem Begleiter und ließ den Kopf in den Nacken fallen. Eine Glaskuppel hielt als Decke her, zeigte den Nachthimmel in seiner ganzen Schönheit. Nur der Kronleuchter vermochte die funkelnden Sterne zu übertrumpfen. Tropfenförmig hingen Edelsteine in allen Farben weit über den Köpfen der Gäste und schimmerten mit den flackernden Kerzen um die Wette. Das Glas reflektierte die Farben und ließ den gesamten Raum in den Regenbogenfarben erstrahlen. Weiter ließ Myoso den Blick durch den Ballsaal schweifen. Der Laubboden war durch einen rotbraunen Teppich ersetzt worden, der die Geschichte des Herbstreiches nacherzählte. Myoso blieb keine Zeit, ihre Augen über die gewebten Bilder gleiten zu lassen, als das Sommervolk bereits von der restlichen königlichen Herbstfamilie begrüßt wurde. Ihre Augen weiteten sich vor Erstaunen. Die rot glühenden Kleider der herbstlichen Königsfamilie waren eine Augenweide, doch die Herbstkönigin selbst stellte alle anderen in den Schatten. Ihr dunkelrotes Kleid lag eng um ihren schmeichelhaften Körper, eine meterlange Schleppe zierte den Boden und musste von ein halbes Dutzend Wiesenkindern gehalten werden. Die wilde Mähne war in eine aufwendige Hochsteckfrisur gebunden, aus welcher viele kleine Äste und Blätter hervorlugten. Mit kirschfarbenen Lippen zeigte die Königin ihr hellstes Lächeln, dass Myoso ihren Blick senkte, um die eigene Röte in ihrem Gesicht zu verbergen. Ihr Vater meinte schon immer, dass die Herbstlinge ein verstecktes Temperament besäßen und Myoso glaubte, dass er damit nicht nur ihren Charakter meinte. Nur langsam kehrte die vornehme Blässe in Myosos Wangen zurück. Geschmeidig schritt die junge Herbstkönigin auf die Prinzessin zu.

"Myoso. Wie schön, dass ihr gekommen seid", die Königin zog sie in eine innige Umarmung, die Myoso mit derselben Zuneigung erwiderte. Glühend stachen die Sommersprossen hervor, die Königin flüsterte Myoso ins Ohr: "Asteros freut sich ganz besonders. Er war letzte Nacht ganz aufgeregt und hat heimlich vor dem Spiegel geübt", leise kicherte sie, ,"aber verrat' ihm nicht, dass ich es dir gesagt habe. Er würde es bloß abstreiten." Sie fasste Myoso bei den Händen, drückte kurz zu und widmete sich anschließend den anderen königlichen Herrschaften. Nur kurz blieb der Sommerprinzessin Zeit Luft zu schnappen. Wie vom Wirbelwind gescheucht, kamen die Zwillingprinessinnen herbeigeeilt, fielen Myoso um den Hals und begannen sogleich aufgeregt zu erzählen: "Wenn du wüsstest, was während der Lichtwanderung passiert, ist Myoso", plapperten Iris und Irida im Chor, "Scridellos hat doch nicht wirklich-"

"Iris! Irida!", es war Königin Allilaea persönlich. Eine Meter weiter funkelten ihre hellgrünen Augen gefährlich auf und mit einem weiteren Ausspruch befahl sie den Frühlingsprinzessinnen zurück an ihre Plätze zu gehen. Mit einer letzten Umarmung und einem äußerst verschwörerischen Blick wandten sich die beiden von ihr ab und tänzelten zurück in ihre Gruppe. Die Vertreter des Frühlings standen an der linken Seite einer Festtafel, die von allerhand Obst und Blumensträußen verziert worden war. Dicht daneben hatte sich die winterliche Delegation eingefunden. Hundert Burschen und Blüten, einschließlich der Winterkönigin und ihrem Sohn, hatten sich zur heutigen Herbstlese eingefunden. Es war ein seltener Anblick, der sich da bot, Königin Cycla und Königin Allilaea so nahe beieinander stehen zu sehen. Ihre Auren waren zum Greifen nahe, ihr Unmut eine nicht zu leugnende Tatsache. Die Winterkönigin hatte solch einen eisigen Blick, während Königin Allilaea lediglich die Lippen zusammenpresste, dass man kaum sagen konnte, wessen Abneigung größer war. Es war lediglich der königlichen Etikette und dem Anstand geschuldet, dass beide Königinnen ihre Diskrepanzen ruhen ließen. Wenigstens an diesem Abend. Myosos Mundwinkel zuckten kurz, bevor sie ihr Innerstes fest versiegelte. Lange, bevor ihre Augen Tyledion gefunden hatten, hatte sie seine Anwesenheit gespürt. Der Winterprinz stand an einer der Säulen und blickte starr geradeaus. Seine gesamte Körperhaltung verriet die Anspannung. Sein Blick war so eisig, dass selbst die Sommerprinzessin erschauderte. So angespannt hatte sie Tyledion noch nie erlebt. Unruhe machte sich in Myoso breit. Wie gerne wäre sie an ihn herangetreten, hätte seine Hand ergriffen, ihm sanft zugeredet. Er brauchte das jetzt. Genauso wie sie.

"Prinzessin", Lathyrus hatte sich vor Myoso gestellt. Er zeigte auf die Tanzfläche, die sich inmitten des Ballsaals befand. Dort hatte sich König Asteros platziert. Die Vertreter von Sommer, Winter und Frühling waren an ihn herangetreten, dass sie einen Kreis um den Gastgeber bildeten. Nickend folgte die Sommerprinzessin Lathyrus und gesellte sich zu ihrem Vater, der ihr lächelnd über den Handrücken strich. Es war soweit. Der Herbstkönig wandte sich seinen Gästen zu. Erneut begrüßten er die drei Reiche, hieß sie in seinem Schloss willkommen und brachte seine Freude zum Ausdruck, wie es einem Herrschers des Herbstes gebührte. Den rechten Arm nach oben ausgestreckt blitzte der Herbststab in seiner Hand auf. Zwei dicke, ineinander verflochtene Äste bildeten das Gerüst. Ihre roten Spitzen leuchteten, zeigten in den Himmel. "Nun meine Freunde", rief König Asteros, "lasst uns das Fest beginnen." Rote Magie sprang aus dem Stab. Ein lautes Brodeln ertönte. Wo nichts außer der Teppich existiert hatte, sprangen Fontänen aus dem Boden. Wasser und roter Saft plätscherten aus allen Richtungen. Aus dem Nichts erschienen Wasserspiele. Skulpturen erwachten zum Leben, reckten sich und bewegten ihre Glieder, als wären sie zum Tanzen aufgefordert worden. Marmorstatuen schwebten über die Vertreter der vier Jahreszeiten, erfreuten die Gäste mit ausgefeilten Darbietungen, in denen sie immerzu Wasser und Traubensaft ausspien. Wie verspielt das Herbstvolk doch eigentlich war! Schien es nach außen kühl und distanziert, zeigten sie hier jene Leidenschaft und Vielfältigkeit, wie es sie kaum ein anderer zu bieten hatte. Das Schauspiel nahm Myoso ganz für sich ein. Ihre Augen leuchteten, ihre Lippen konnten nicht aufhören zu lächeln. Dies war ein wunderbarer Auftakt und sie spürte, dass der heutige Abend etwas ganz Besonderes werden würde.

Herbstlese II

"König Gingko", den rechten Arm an die Brust gedrückt verbeugte sich der Prinz des Frühlingsreiches. Seine weiße Uniform, die lediglich am Kragen und an den Ärmeln mit zwei hellgrünen Streifen verziert worden war, schimmerte im gleißenden Licht der Kerzen, welche die Plätze der sommerlichen Königsfamilie erhellte. Eine weiße Schärpe wies auf seine königliche Stellung hin, sonst unterschied er sich nicht von der restlichen Frühlingsschar. Zwei kleine Löwenzahnblüten, die an seinen Manschetten angebracht waren, begannen zu zucken, als die anstehenden Hochblätter seine Brust berührten. "Erlaube mir bitte, den ersten Tanz mit der wundervollen Prinzessin Myoso." Sein Atem ging flach. Er war den Weg gerannt. Von einem Ende der Festtafel zur anderen. Jetzt hing ihm eine Strähne seines Ponys wirr über der Nase. Bevor der König zu einer Antwort ansetzen konnte, schnaubte Tante Pensea. "Was ist bloß los mit den Prinzen der Nachbarreiche? Erst der Winterprinz, jetzt Prinz Scidellos…und zum Frühlingserwachen bittet dann König Asteros um den nächsten Tanz!?" Sie warf dem Kronprinzen einen feindseligen Blick zu. Dieser antwortete mit einem breiten Grinsen. "Verzeih', liebe Pensea, wenn ich nur meine Ehre als Frühlingsprinz zu verteidigen versuche. Oder möchtest du lieber, dass ich Platz für den Winterprinzen mache?" Die Provokation traf genau ins Schwarze. Penseas Nüstern begannen zu beben, die nächste verbale Attacke bahnte sich an, als König Gingko seine Hand auf die Schulter seiner Schwester legte. "Natürlich darfst du mit meiner Tochter tanzen", der Sommerkönig drehte sich zu seiner Ältesten, die ihn bestätigend zulächelte.

"Ich danke dir, König Gingko", entgegnete Scidellos. Er ignorierte ein weiteres verächtliches Schnauben seitens Pensea und zog Myoso von ihrem Platz. Seine Gesicht war nahe dem ihren. "Hilf mir, Myoso", flüsterte er in ihr Ohr und wirbelte die Sommerprinzessin in Richtung Tanzfläche. Die Musik des Herbstvolkes lud zu schnellen Bewegungen ein, doch der Frühlingsprinz stellte die Ausgelassenheit der Herbstlinge allesamt in den Schatten. Den Blick voneinander abgewandt, umfasste der Erbe des Frühlingsstabes Myosos Hand. Die andere lag auf Hüfthöhe. Er presste ihren zarten Leib an seinen durchtrainierten Oberkörper und begann sich im Takt der Musik zu bewegen.
 

Prinz Scridellos war ein begnadeter Tänzer, seine Bewegungen geschmeidig und elegant, wie es kein Zweiter in seinem Reich vermochte. Wie er über den Boden flog, dabei seine Tanzpartnerin mit sich zog, blieb Myoso nichts anderes übrig, als sich voll und ganz auf Scidellos einzulassen und ihm die Führung zu übergeben. Wollte man nicht über die eigenen Füßen stolpern, so hatte man sich ganz seinem Rhythmus zu fügen. Er war so flink - seine Füße schienen ein Eigenleben entwickelt zu haben -, dass man kaum gegenhalten konnte und nur von Prinz Scridellos selbst aufgefangen werden konnte, der seinen Gegenüber mit Leichtigkeit durch den Saal wirbelte, dass es schien als fiele ihr das Tanzen ebenso leicht wie ihm.
 

Ein leises Seufzen stieß der Erbe des Frühlings aus.

"Was ist denn passiert?", fragte Myoso ihren Tanzpartner, nachdem sie seinen zerknirschten Ausdruck bemerkt hatte.

"Ich flüchte vor Mutters Zorn", entgegnete Scidellos, zwinkerte ihr zu und führte sie durch den Saal. "Ich musste mir etwas einfallen lassen, sonst macht sie mich einen Kopf kürzer. Und das vor aller Augen!"

"Und du glaubst, durch einen Tanz mit mir, Königin Allilaeas Zorn zu entfliehen?" Myoso und Scidellos wussten, dass diese Frage unnötig war.

"Noch hege ich die Hoffnung, dass Mutters Zorn verraucht, wenn sie uns nur lange genug tanzen sieht." Scidellos musste über seine eigenen Worte schmunzeln. "Naja", korrigierte er sich, "wenn sie sicher nicht von meinem Liebreiz entzückt ist, so wird sie es von deinem sein."

"Wie konntest du die Königin nur derart in Rage versetzen?" Ihr fiel es schwer, Scidellos dabei nicht in die Augen zu sehen. Aber die Etiketten verboten es nun einmal, Blickkontakt aufzunehmen.

Zunächst gab der Frühlingsprinz keine Antwort. Aus dem Augenwinkel sah Myoso, wie er die Unterlippe zwischen die Zähne nahm. Als die Stille Scidellos zu zerreißen drohte, drehte er Myoso und antwortete: "Vor etwa sechs Wochen war ich…nicht ganz ich selbst."

Jetzt war es Myoso, die ein leises Seufzen ausstieß. Warum wusste sie nur, was gleich folgen würde?

"Ich dachte wirklich, sie sei die Richtige, Myoso. Diesmal hatte es sich anders angefühlt und ich war fest davon überzeugt…" Er hielt inne. Spürte die zornigen Blicken im Rücken und zog Myoso ein Stück weiter nach links. "Natürlich merkte ich es, als sie vor drei Wochen so verändert schien, dachte mir nur nichts dabei. So sind die Blüten nun einmal - heute so, morgen so."

"Du sprichst in Rätseln, Scidellos."

Aber Scidellos hörte nicht auf sie. "Wie hätte ich denn ahnen können, dass die beiden Schwestern sind?!"

"Moment", Myoso stolperte beinahe über die Füße des Prinzen, "du hast ein Verhältnis mit zwei Frauen?!"

"Hatte", korrigierte er die Sommerprinzessin, als wäre es von äußerster Wichtigkeit. "Ich habe es doch auch erst vor zwei Wochen herausgefunden."

"Du hast es doch sofort beendet, oder?" Myoso wandte sich Scidellos zu, ungeachtet der Gepflogenheiten, die sie damit verletzte.

"Gestern, ja."

"Scidellos", sie gab ihm einen kleinen Klaps auf den Oberarm, "du bist furchtbar!"

Entschuldigend lächelte er sie an. "Ich seh's ja ein", schwor er und drehte sie wie einen Kreisel. Rot glühten seine Wangen auf, doch Myoso kaufte ihm die Reue nicht ab. Dafür kannte sie ihn zu gut. Scidellos' Ruf eilte ihm voraus. Der Hang zum Übermut, überschäumender Euphorie und unbekümmerter Ausgelassenheit machten einen Großteil seines Charakters aus. Besonders in Bezug auf das andere Geschlecht war Scidellos schnell zu verzaubern. Die Blüten wechselten schneller als die Jahreszeiten und hatten bereits so manche Träne vergießen lassen. Jedes Mal schien es die Richtige zu sein und jedes Mal genügte ein Wimpernschlag, um die Schmetterlinge im Bauch zerplatzen zu lassen. Sei es einer Laune oder seinem unbedachten Gemüt geschuldet - Prinz Scidellos konnte sich einfach nicht festlegen und solange ihn die Pflichten des Königshauses nicht einholten, tobte sich der Erbe des Frühlingsstabes weiterhin aus.

"Das eigentliche Problem kommt erst noch." Das Lied endete, die Musikanten streckten sich, bevor sie die Zupfinstrumente zurück in ihre Position brachten. "Wie sich herausgestellt hat, gehören die Töchter zu Bellissa, Mutters Beraterin und langjährige Freundin." Er seufzte. "Als ich das Verhältnis beendete, sind die beiden gleich zu ihrer Mutter gegangen. Das Ganze ist während der Wanderung aus dem Ruder gelaufen. Natürlich hat auch Mutter davon erfahren und ist jetzt der Wirbelsturm in Person." Er traute sich nicht, in ihre Richtung zu blicken. Es genügte, dass er ihre gefährliche Aura wahrnahm.

Das nächste Lied spielte und Scidellos machte nicht die Anstalten, Myoso dem Nächsten zu übergeben. Seine Hand packte ihre Taille noch fester, sein widerspenstiges Haar flog in alle Richtungen, als er mit dem Kopf schüttelte.

"Du bist unverbesserlich, Scidellos", erwiderte Myoso tadelnd, obwohl ein Anflug eines Lächelns ihre Lippen zierte.

"Ach, Myoso", der Winterprinz bekam ein breites Grinsen. Der Löwenzahn verblühte, ein einziger Lufthauch genügte, dass die Pusteblumen die feinen, haarigen Schirmchen der Welt entließen. "Ich bemühe mich ja - wirklich. Aber es gibt einfach viel zu viele hübsche Blüten. Wie könnte ich mich da jemals entscheiden?!" Er zuckte mit den Schultern. "Vielleicht sollte ich dich einfach heiraten."

"Hast du mir gerade einen Antrag gemacht?"

"Und wenn es so wäre?", neckte er sie.

"Dann lautet die Antwort nein."

"Du bist grausam, Myoso!", doch sein Lächeln verriet ihn.

"Königin Allilaea hat uns am selben Zweig des Lebensbaumes aufwachsen lassen, Scidellos. Streng genommen bist du mein Bruder."

"So was hält doch meine Familie nicht auf."

"Scidellos!", stupste Myoso ihren Tanzpartner erneut an.

"Was denn?!", grinsend zuckte er mit den Schultern, "wäre ja schließlich nicht das erste Mal. Vor dreihundert Jahren hat Königin Astella ihren eigenen Bruder geehelicht, um das Frühlingsreich regieren zu können. Dafür soll sie ihren Bruder so lange um den Finger gewickelt haben, bis dieser ihr jeden Wunsch von Augen abgelesen hat. Natürlich wurden die Ereignisse verschleiert. Offiziell hieß es, der König habe regiert, doch die Volkslieder besagen etwas anderes. Und du weißt, Volkslieder lügen nicht."

"Königin Astella war doch die Königin, der es als einzige gelungen war, die Winterarmee während des dritten großen Kriegs aus ihrem Territorium zu vertreiben."

"Genau", bestätigte Scidellos und nickte. Geradezu beiläufig geleitete er die Sommerprinzessin aus dem Sichtfeld der Frühlingskönigin, führte sie weiter durch eine Gruppe Winterlinge, dass ihre Erscheinung zwischen all den dunkelblau gekleideten Tänzern provokant hervorstach. Ihre Anwesenheit wurde mit Skepsis beäugt, obwohl Scidellos' Tanzeinlage auch dem Wintervolk imponierte. Myoso kannte Scidellos nur all zu gut. Gewiss heckte er etwas aus, sein Handeln geschah nie ohne gewisse Absichten. Ohne den Grund zu erfragen - oder auf die Blicke der Winterlinge einzugehen -, ließ sich Myoso herumwirbeln. Sie schmunzelte. Wie sehr hatte sie den Frühling und seine Vertreter vermisst! Gerade Scidellos, dem sie all die Jahre so nahe gestanden hatte, und nur die gesellschaftlich aufgezwungenen Konventionen eine innige Freundschaft zwischen ihr und dem Prinzen verboten hatten, dass sie sich kaum mehr zu Gesicht bekamen. Dabei hatte Myoso die Ausflüge ins hiesige Reich so sehr geliebt. Jeden Frühling hatte sie auf Königin Allilaeas Schloss verweilen dürfen und jedes Mal war sie mit offenen Armen empfangen worden. Ein Flattern umhüllte ihr Leuchten, wenn sje an die Zeit dachte, als sie Hand in Hand mit Scidellos durch den Frühlingspalast gerannt war. Wie der Frühlingsprinz einen Unsinn nach dem nächsten ausgeheckt hatte und am Ende des Tages von Königin Allilaea an den Ohren durch die Flure gezerrt worden war. All die gemeinsamen Spaziergänge durch das Wiesental. Mit dem Kronprinzen den Schnee von den Gräsern wischen und den Kirschblüten Gute-Nacht-Geschichten vorsingen. Um das Maifeuer tanzen, mit den Zwillingsprinzessinnen im Wasserfall baden, mit den anderen Wiesenkindern händchenhaltend über die Gänseblümchenwiese. Oder Fangen auf den Wiesen spielen und sich am Abend in den Gebüschen verstecken, weil man einfach noch nicht nach Hause will… Niemals könnte sie die Freundlichkeit und Herzlichkeit der Frühlingsschar vergessen. Die Offenheit und Ungezwungenheit. Vom ersten Tag an war sie als eine von ihnen angesehen worden. Nie würde Myoso die Güte und Wärme der Königin missen wollen. Wie sie sich ihrer angenommen hatte - selbstlos und ohne einen Hauch von Zweifel. Und wie beschützend Scidellos zu ihr gewesen war - Myoso wusste noch alles und es schmerzte sie, dass die Zeiten ihr jähes Ende gefunden hatten, als sie und der Frühlingsprinz fünfzehn Jahre wurden. Nur weil sie nicht im Blute verwandt waren und es sich nicht für Königskinder schickte, einander so nahe zu sein, ohne Aussicht auf eine Heirat. Denn natürlich drehte sich alles um das eine Thema, seit Myoso in den Kreis der jungen Blüten aufgenommen worden war und solch innige Zweisamkeiten und Neckereien nicht gern gesehen wurden. Die Besuche hörten auf, Scidellos und Myoso gingen ihre eigenen Wege und es schmerzte die Sommerprinzessin, den Frühlingsprinzen nur noch zwischen Festlichkeiten und zufälligen Bibliotheksbesuchen anzutreffen. War er doch immer ihr Beschützer gewesen! Seit sie zusammen am Lebensbaum gehangen hatten, war er wie ein großer Bruder. So dicht an dicht, als Myosos Leben am seidenen Faden gehangen hatte, hatte Scidellos an ihrer Seite verweilt, hatte sie als Familienmitglied anerkannt, sie festgehalten und Licht gespendet. Zu keinem Zeitpunkt hatte er Unterschiede zwischen ihr und den Zwillingprinzessinnen gemacht. Sie wusste, ohne ihn und Königin Allilaea wäre Myoso längst zurück im Schoße Mutters Erdes. Wehmut ergriff die Sommerprinzessin. Das Frühlingsreich war auch ein Stück Heimat und dass sie so einfach davon entrissen worden war, hatte Myoso nie ganz verkraften können. An manchen Tagen sehnte sie sich so sehr nach den heftigen Frühlingsgewittern, der taufrischen Erde, die zwischen ihren Zehen kitzelte. Das sorglose Lachen der Wiesenkinder, das Rauschen des Wasserfalls, dem Singsang der Maiglöckchen und dem Summen des Windes. Nirgends war das Gras so grün und die Regenbögen so bunt wie im Frühlingsreich. Ach, wenn sie doch eines Tages dorthin zurückkehren könnte!

"...doch genug von Politik", Scidellos' Stimme erinnerte sie daran, dass sie immer noch auf der Tanzfläche war. Der Frühlingsprinz grinste breit und Myoso fühlte sich ertappt.

"Neuerdings werden Gerüchte breit, dass du dich bald vermählen wirst."

Myoso senkte die Lider. "Wir wollten doch nicht länger über Politik sprechen."

"Ich dachte immer, es spielt keine Rolle, wen du heiratest. Immerhin wird irgendwann Cynos den Thron besteigen und nicht du."

"Tante Pensea scheint das etwas anders zu sehen."

"Darum war das Tantchen so mies gelaunt." Scidellos schmunzelte. "Scheint so, als hätten wir uns gegenseitig gerettet."

"Wenn es doch bloß so einfach wäre", hauchte die Sommerprinzessin.

"Besteht denn gar keine Hoffnung, dass…ich meine", er zuckte mit den Schultern, "du magst Lathyrus und er offensichtlich dich. Warum nicht einfach abwarten, sehen, wie sich die Dinge entwickeln."

"Unsere Gefühle sind…verschieden."

"Und du meinst, das wird sich in Zukunft nicht ändern."

Sie schüttelte den Kopf. Noch nie hatte die Wahrheit so sehr aus ihr heraus gewollt. Die viele Heimlichtuerei, die monatelangen Versteckspiele -

schmerzhaft pressten sie sich an die Oberfläche. Vielleicht war es jetzt ein guter Zeitpunkt, ehrlich zu sein. Mit Scidellos hatte sie einen Gesprächspartner, dem sie sich womöglich öffnen könnte. Der Frühlingsprinz war weder voreingenommen noch verurteilte er sofort.

"Scidellos, i-ich…"

Aber es ging hier um den Winterprinzen. Scidellos' selbst auserkorener Rivale. Bei aller Liebe und Verständnis, die er Myoso aufbrachte, doch ein Verhältnis mit Tyledion würde wohl auch er nicht gutheißen.

"Schon gut", hauchte ihr Scidellos zu. Seine Stirn berührte die ihre, er lächelte sanft. "Wenn es um Liebesdinge geht, bin ich der Letzte, der dir irgendwelche Ratschläge erteilen sollte."

"Scidellos." Myosos Lippen begannen zu beben. Nicht nur, dass ein unüberbrückbarer Zwist zwischen Frühling und Winter herrschte. Wie hätte sie Scidellos einweihen können, während ihres Familie weiterhin im umklaren blieb? Dem Frühlingsprinzen ein solches Geheimnis anzuvertrauen, war mehr als unfair und nur weil Myoso mit sich und ihrem Gewissen im Unreinen war, durfte sie nicht egoistisch handeln.

"Danke", murmelte sie - weitere Gedanken im Keim erstickend.



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Kommentare zu dieser Fanfic (6)

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Von:  Rina2015
2021-11-15T07:41:31+00:00 15.11.2021 08:41
Das ist wirklich eine sooooo unglaublich schöne fanfiction!!!! Sie ist mit Abstand meine Liebste!!!!! Mach genauso weiter!!!! 😊
Antwort von:  Lady_of_D
23.11.2021 10:13
Süß von dir 😊 danke
Also ich bin fleißig dabei - trotzdem wird es noch ein bisschen dauern, bin gerade im Stress🙈
Liebe Grüße
Antwort von:  Rina2015
23.11.2021 15:47
Gerne 😁😊
Oke...... Ich hoffe der Stress ist bald vorbei! Unabhängig vom nächsten Kapitel 😅🤣
Ich werde es mit Freude lesen.... Egal ob du es morgen, erst in einem monat oder sonst wann veröffentlichst!😊
Von:  Rina2015
2021-10-24T07:57:50+00:00 24.10.2021 09:57
Guten Morgen, ich hatte gestern Geburtstag und direkt das neue Kapitel gelesen..... Sehr schönes Geschenk 😁
Diese Geschichte ist mal was ganz neues und so schön 😊😁 das musste ich dir nur nochmal schreiben 😊😁 mach weiter so!!!!!!!
Antwort von:  Lady_of_D
24.10.2021 19:35
Hallo,
Ja, es tut mir leid, dass es sich so extrem hingezogen hat 🙈 aber es freut mich, dass du trotzdem noch dabei bist 😊 das nächste Kapitel ist auch schon fertig und an dem Neuen wird auch schon fleißig geschrieben
Schönes Wochenende 🤗
Antwort von:  Lady_of_D
24.10.2021 19:36
Oh, und alles Gute nachträglich 🥳
Antwort von:  Rina2015
24.10.2021 21:05
Das ist lieb von dir.... Dankeschön 😊
Dann sei dir verziehen 😁🤣
Aber ich finde die Geschichte wirklich sehr gut.... Sie ist mal was anderes.... Und wirklich so schön geschrieben 😊 ich bleibe ihr treu 😊😁
Von:  Rina2015
2020-12-02T11:19:40+00:00 02.12.2020 12:19
Deine Geschichte ist wirklich sehr schön:) ich freue mich weitere Kapitel von dir zu lesen:)
Antwort von:  Lady_of_D
02.12.2020 21:02
Vielen lieben Dank :)
Antwort von:  Rina2015
03.12.2020 17:05
Gerne:)


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