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Crazy like a skull

Das Paradies hat einen Haken
von

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Massive attack


 

1
 

Nach einem schier endlosen Marsch durch Staub, Sand und Geröll kommt in der Ferne endlich etwas Tageslicht zum Vorschein. Die zwei Trainer und ihre Pokémon haben schon gar nicht mehr daran geglaubt, diesen von Digda geschaffenen Durchgang zu durchqueren, bevor die Sonne untergeht. Überrascht stellen sie aber fest, dass es noch nicht ganz Mittag ist, als sie von der stickigen Hitze in die Sonne hinaustreten und eine sanfte Briese ihre verschwitzten Körper erfrischt. Von oben bis unten mit Staub bedeckt, sehen sie aus wie eine Truppe Schornsteinfeger, daher ist ihre Erleichterung durchaus verständlich, als sie auf die Route neun treten. „Boah, ich dacht‘ schon wir komm‘ nie mehr aus diesem verdammten Digda-Tunnel raus...“, entkommt es Bromley in einem genervten Seufzen. Mit einem sanften und dennoch erschöpften Lächeln betrachtet ihn Manuel, während er versucht den Staub von seiner Brille zu wischen.
 

„Geht mir genauso. Doch wir sind noch lange nicht am Ziel.“, erinnert er seinen Kollegen. Dieser verschränkt etwas verstimmt die Hände hinter dem Kopf und blickt sich um. „Jaja...“, meint er nur. Seit sie die Prüfung im Schattendschungel bestanden haben, sind fünf lange Monate vergangen, in denen sie weiterhin die Insel erforscht und fleißig trainiert haben. Vor gut einer Woche sind sie dann der Inselkönigin begegnet, die ihnen gesagt hat, dass ihre große Prüfung bei den Ruinen des Lebens stattfinden wird. Hierbei handelt es sich um die heilige Stätte, an der die Bewohner Akalas dem hiesigen Kapu huldigen. Unter den wachsamen Augen des Schutzpatrons wird der letzte, endscheidende Kampf der Jungs stattfinden, den sie hoffentlich gewinnen werden, um die Erlaubnis zu erhalten, die nächste Insel betreten zu dürfen.
 

Die beiden sind durchaus guter Dinge, dass ihnen das gelingen wird. Die Inselkönigin kämpft mit Gesteins-Pokémon und damit haben die zwei ja schon einige Erfahrungen gesammelt, weshalb das Ganze hoffentlich nicht allzu schwierig werden wird. Allerdings haben sie noch einen weiten Weg bis zu den Ruinen vor sich.
 


 

2
 

Nachdem sie den Digda-Tunnel also verlassen haben und sich nun auf der eher kurzen Route neun befinden, kommt ihnen als erstes eine Polizeiwache in Sicht, die direkt neben dem Ausgang steht. Entgegen aller Meinung befindet sie sich außerhalb des Dorfes, mitten auf weiter Flur könnte man sagen. Dies hat aber unteranderem den einfachen Grund, dass Unholde gern den Schutz des Tunnels nutzen, um unbemerkt von einem Dorf zum nächsten zu kommen und so ihren zwielichtigen Geschäften nachzugehen. Von daher hat man sich entschieden an diesem Ausgang die Wache aufzustellen, um das Ganze etwas besser im Blick zu haben. Es dämmt die Schandtaten zumindest etwas ein, auch wenn Alola eine sehr friedliche Region ist, in der die Kriminalität für gewöhnlich gegen Null geht. Dennoch kommt es ab und an vor, dass einige Leute einen etwas unschönen Weg einschlagen und die schier endlose Geduld der Gesetzeshüter auf die Probe stellen. Erschwert wird das Ganze an dieser Stelle, da der Tunnel von den dort lebenden Didgas ständig erweitert wird und so unentdeckte Ausgänge geschaffen werden, die es den Ganoven dann ermöglicht das Dorf ungesehen zu betreten.
 

Allerdings passiert so etwas für gewöhnlich nicht am helllichten Tag, weshalb die Polizisten viel öfter Leuten helfen, die völlig fertig aus dem Tunnel kommen und von ihnen dann versorgt oder ins Dorf gebracht werden. Oder aber junge Trainer, die sich verlaufen beziehungsweise die Orientierung verloren haben und sich hier dann Auskunft holen können. Der diensthabende Beamte zieht es daher vor auf einem Klappstuhl vor der Wache in Nickerchen in der Sonne zu machen. Er ist so tief darin versunken, dass er nicht einmal das Kichern der Jungs hört, als sie direkt an ihm vorbeigehen wollen und auch von einem Polizei-Pokémon ist keine Spur zu sehen. Jedoch kommt in diesem Moment ein zweiter Beamter aus der Wache. Mit einem dampfenden Becher Kaffee setzt er sich gähnend auf die Stufen des Gebäudes und nickt den beiden Trainern freundlich zu. „Na Jungs, wo wollt ihr denn hin?“, fragt er beiläufig, doch es klingt nicht so, als würde ihn das wirklich kümmern, da die beiden nicht so wirken, als hätten sie sich verlaufen. Dies liegt wahrscheinlich auch daran, dass er gesehen hat, dass die zwei auf Inselwanderschaft sind, was der Anhänger an ihren Rucksäcken auch jedem Laien eindeutig klarmacht und von daher wird wohl keine Gefahr von ihnen ausgehen.
 

„Oh, wir sind auf dem Weg zu den Ruinen des Lebens, um dort gegen die Inselkönigin anzutreten.“, erläutert ihm Manuel. „Da habt ihr aber noch einen ganz schönen Weg vor euch. Doch zumindest seid ihr hier richtig. Dort hinten ist eine Abzweigung, genau gegenüber von Konikoni City. Wenn ihr die nehmt, könnt ihr die Ruinen gar nicht verfehlen.“, er lächelt den beiden zuversichtlich entgegen und winkt ihnen nach, als sie an ihm vorbeigehen. „Yo, danke, Mann.“, erwidert Bromley und so entfernen sie sich von der Polizeiwache. Der Beamte sieht ihnen noch eine Weile hinterher, betrachtet ihre Pokémon, die ihnen treu hinterherlaufen. Etwas wehmütig denkt er dabei an seine Kindheit zurück, als auch er auf Inselwanderschaft war. Seufzend nippt er an seinem Kaffee, bis sein Kollege schließlich wach wird. Sie tauschen die Plätze und setzen ihre ruhige Schicht unbeirrt fort.
 


 

3
 

Wie der Polizist gesagt hat, erreichen Bromley und Kukui nach einem kurzen Marsch die Abzweigung. Auf der rechten Seite können sie das altertümliche, rotgoldene Tor sehen, das den Eingang nach Konikoni City markiert, eines der größten Dörfer Akalas. Es ist ein sehr belebter und prächtiger Ort, der weithin für seinen Markt bekannt ist, auf dem man die verschiedensten Dinge erwerben kann, die man sonst nirgendwo findet. Die fröhlichen, anpreisenden Rufe der vielen Verkäufer sind weit hin zu hören, sodass es unmöglich erscheint an dem Dorf vorbeizugehen, ohne einen Blick hineinzuwerfen. Die beiden Jungs interessieren sich jedoch nicht dafür, sondern haben nur ihre Prüfung im Kopf. So wenden sie sich nach links und folgen dem Weg zu einem Gelände, das sich an den Digda-Tunnel schmiegt. Bis auf einen Eingang und einen Ausgang auf der gegenüberliegenden Seite, ist das Areal fast völlig vom Felsgestein umrundet und reicht bis ran an die Klippe zum Meer.
 

Als die beiden den Bereich betreten, der auf ihrer Karte als Hügel des Gedenkens bezeichnet wird, stellen sie schnell fest, dass es sich hierbei um einen Friedhof handelt. Ihr fröhliches Gespräch, in dem sie sich lautstark irgendwelchen Blödsinn erzählt haben und ihre Pokémon fiepend und bellend neben ihnen hergelaufen sind, verstummt beim Anblick der hinter hohen Hecken verborgenen Grabsteine augenblicklich. Auch Reißlaus und Wuffels merken, dass ihr Verhalten nicht unbedingt angebracht ist, weshalb auch sie stillschweigend verharren. „Du liebe Güte, ein Friedhof...“, entkommt es dem Brünetten ehrfürchtig. In der beinahe erdrückenden Stille des Ortes klingt seine Stimme viel zu laut und so macht er augenblicklich den Mund wieder zu, schlägt sich die Hand davor, als hätte er etwas Unanständiges laut ausgesprochen, und zuckt leicht zusammen.
 

Bromley hingegen sagt gar nichts, geht nur festen Schrittes auf den ersten Grabstein zu und starrt ihn einfach an. Etwas irritiert folgt Kukui ihm und besieht sich ebenfalls die Inschrift. Allerdings ist sie so verwittert, dass man kaum ein Wort davon lesen kann, weshalb er den Versuch auch schnell wieder aufgibt. Der Schwarzhaarige scheint da aber anderer Ansicht zu sein. Minuten lang blickt er schweigend auf den alten Stein vor sich und rührt sich keinen Millimeter. Manuel ist sich unschlüssig, ob er ihn darauf ansprechen soll. Langsam wendet er den Blick zu seinem Freund, in der Hoffnung, etwas in seinem Gesicht lesen zu können. Doch es ist vollkommen ausdruckslos, gleicht einer blassen Maske aus Porzellan. Allerdings ist dort etwas in seinen Augen. Sie wirken, als hätte sich ein milchiger Schleier über sie gelegt, wie man es von einem Betrunkenen oder Drogensüchtigen her kennen mag, oder von jemandem in tiefer Erregung, obwohl Kukui mit keinem der drei Dinge etwas anfangen kann. Völlig neben sich und geistlos wirkt Bromley auf ihn, als wäre seine Seele beim Anblick des Grabsteins einfach aus seinem Körper entschwunden und hätte nur eine leere Hülle hinterlassen, die jeden Moment umfallen wird.
 

Diese Vorstellung beunruhigt den Brillenträger zu tiefst. Er erinnert sich daran, dass Bromley ganz ähnlich aussieht, wenn er die Stimme seines Vaters in seinem Kopf hört und sich dann selbst verletzt. Als wäre er nicht er selbst und jemand anderer würde ihn kontrollieren. Ein eisiger Schauer läuft dem Älteren über den Rücken. Dieser Ort hat etwas Unheimliches an sich und das Verhalten des Schwarzhaarigen macht es nur noch schlimmer. Kukui schluckt schwer. Nervös blickt er zu Wuffels hinab, die neben ihm steht und vorsichtig an den vertrockneten Blumen neben der Grabstelle schnüffelt. Sie sind so alt, dass man das Gefühl bekommt, dass hier schon sehr lange niemand mehr war. Auch einige Stellen der labyrinthartigen Hecken sind völlig verwelkt und eingesunken oder niedergetreten. Ihre nackten, knorrigen Äste strecken sich einem entgegen, wie die Hände eines ruhelosen Toten.
 

Dieser Gedanke macht ihn nur noch unruhiger. Manuel mag diesen Ort ganz und gar nicht, obgleich er nicht wirklich sagen kann, wieso. Und obwohl es erst Mittag ist und die Sonne hoch am Himmel steht, liegt der Friedhof in den Armen des Digda-Tunnels so eingebettet, dass es hier überraschend kühl und schummrig ist. Er schluckt erneut hart und trocken und blickt dann zu Reißlaus. Die Assel wirkt ebenfalls so, als würde es ihr hier kein bisschen gefallen und Manuel kann sie wirklich gut verstehen. Mit zuckenden Fühlern blickt sich der Käfer fast schon panisch um. Ein seichter Wind lässt die vertrockneten Heckenabschnitte unheimlich knarren, irgendwo raschelt etwas im Gras, das hinter dem Labyrinth wachst. Schließlich hält es Kukui nicht mehr aus. Beinahe hektisch umfasst er Bromley’s Arm und schüttelt ihn. Doch entgegen seiner Annahme rührt sich der andere Junge nicht. Er starrt nur weiterhin auf den verwitterten Grabstein und wirkt dabei immer mehr wie ein Zombie. „Heiliges Kapu, Bromley! Nun sag doch etwas!“, fleht er den Größeren dann an und zerrt kräftiger an seinem Arm. Wieder keine Reaktion, sein Blick scheint nur immer leerer zu werden.
 

Seine Verzweiflung nimm weiter zu. Er kann deutlich spüren, wie sich hinter seinen Augen heiße Tränen sammeln, die jeden Moment überschwappen werden. Hartnäckig versucht er das Gefühl zu vertreiben, um einen klaren Gedanken zu fassen, doch es gelingt ihm einfach nicht. „Oh Himmel, Bromley! Du machst mir Angst...“, wimmert er nun, er kann es einfach nicht mehr zurückhalten. Seine Unterlippe beginnt zu zittern und die erste Träne rinnt seine schmutzige Wange hinab und hinterlässt eine saubere Spur darauf. Bevor ihr eine weitere folgen kann, wendet der Jüngere ihm aber das Gesicht zu. Mit seinen förmlich leblosen Augen betrachtet er Manuel völlig ausdruckslos. Es ist so dermaßen unheimlich, dass Kukui schlagartig die Augen zusammenpresst, sein Gesicht im Hemd seines Gegenübers vergräbt und ein lautes Schluchzen von sich gibt.
 

„Oh heiliges Kapu, bitte...!“, presst Manuel erstickt hervor. Gerade, als sich ein weiteres Schluchzen seine Kehle hinaufschiebt, legt Bromley plötzlich den Arm um seine Schulter und drückt ihn tröstend an sich. „Yo Bro, was‘n los? Warum heulste denn?“, fragt er erstaunlich sanft. Perplex hebt Manuel den Kopf und sieht ihn an. Die schiefergrauen Augen des blassen Jungen sind wieder vollkommen klar, tragen diesen so typisch verwegenen und herausfordernden Glanz und dennoch liegt in ihnen so etwas wie Sorge. Überrascht bekommt der Brünette zuerst kein Wort heraus. Dann streicht der Größere ganz sanft mit den Fingern über seine Wangen und wischt die Tränen hinfort. Eine ganze Weile verharren sie so und sehen sich einfach nur tief in die Augen. Kukui überkommt dabei ein ganz seltsames Gefühl. Sein Kopf sagt ihm, dass es völlig falsch ist und nicht sein dürfte – dieser Blick, diese Berührung-; sein Herz sagt jedoch, dass es richtig ist und er es einfach tun sollte – ihn küssen! Einfach, um die Angst zu vertreiben und um sicher zu gehen, dass der Schwarzhaarige wirklich echt ist.
 

Nur sehr schwer widersteht er diesem nahezu unbändigen und fremden Drang in sich und zieht Bromley stattdessen fest in seine Arme. Etwas überrumpelt lässt der Schwarzhaarige es geschehen und hält den Kleineren einfach nur fest an sich gedrückt. „Musst keine Angst ham, ich pass‘ auf dich auf...“, haucht er ihm nach einer Weile entgegen und drückt dann ganz kurz seine Lippen gegen Manuels Ohr; fast so, als hätte er den tiefen Wunsch seines Gegenübers eingefangen. Der Brünette zuckt leicht unter dieser Berührung zusammen, dennoch breitet sich ein wohliges Kribbeln von dieser Stelle aus, das schnell seinen ganzen Körper überflutet. Vergessen ist der unheimliche Anblick seines Begleiters; es ist nur wichtig, dass er hier ist und ihn festhält. Trotzdem traut er sich nicht, die Geste zu erwidern, hat irgendwie Angst, dass der andere es falsch verstehen könnte. Von daher löst er sich langsam wieder von ihm, wischt sich fahrig über die feuchten Wangen und schnieft verhalten. „Geht schon wieder – danke...“, murmelt er schließlich.
 

Der kräftige Junge lächelt ihn sanft an und beide blicken noch einmal auf den verwitterten Grabstein. Für einen Moment herrscht wieder Stille, dann durchbricht sie der Käfer-Trainer. „Der Ort hier erinnert mich an mein Zuhause, weißte...?“ Überrascht sieht Kukui ihn an. Bei ihrer Wanderschaft durch Mele-Mele sind sie zwar am Haus des Größeren vorbeigekommen, sind aber schnell weitergezogen. Einen Friedhof hat er dort nicht gesehen, was aber nicht bedeutet, dass dort keiner war. Bromley hat sich einfach nur sehr unwohl in der Nähe seines Elternhauses gefühlt und wollte sich dort keineswegs aufhalten, weshalb sie nur einen kurzen Abstecher auf die nahegelegenen Beerenfelder gemacht haben und dann weiter zur Prüfungsstätte gezogen sind. „Wie meinst du das?“, fragt er daher vorsichtig. Er weiß, dass Bromley nicht gern über seine Familie redet, dennoch hat er zumindest schon einmal herausbekommen, dass seine Eltern ziemlich komisch sind. Seine Mutter ist immer sehr neben sich, ähnelt ihrem Sohn auf tragische Weise etwas, scheint sie die Welt gar nicht so wahrzunehmen wie andere Leute. Sie verdrängt alles Schlechte und ignoriert damit oftmals ihren Sohn und dessen Probleme völlig.
 

Sein Vater hingegen ist unglaublich brutal und verprügelt ihn ständig aus heiterem Himmel und ohne ersichtlichen Grund. Allerdings hat der Schwarzhaarige ihm verschwiegen, dass er dies bevorzugt mit einem Golfschläger tut. Andererseits weiß er von seinem selbst auferlegten Mantra und der Stimme seines Vaters in seinem Kopf, die ihn irgendwie dazu treibt sich selbst verletzten zu wollen, wenn er versagt oder etwas Dummes gemacht hat. Das macht Manuel unheimliche Angst, weil er sich dann so hilflos fühlt und nichts tun kann. Der Schwarzhaarige ist dabei so aggressiv, dass nicht viel fehlt, dass er auch Kukui unabsichtlich verletzten könnte. Und er will sich auch beim besten Willen nicht vorstellen, was für eine schreckliche Kindheit Bromley deswegen hatte, wo er selbst doch so behütet und überschüttet mit der Liebe seiner Eltern aufgewachsen ist. „In ‘ner Nähe von mei’m Haus is‘ auch ein Friedhof. – Bin dort oft hingegang‘, um mich vor mei’m Alten zu verstecken. Es hat immer ‘was Beruhigendes auf mich gehabt. – Die Stille und Einsamkeit. Nichts, was mich verletzen konnt‘, checkste das? – All die Toten ham mir immer zugehört und mich nie beschimpft...“ Beim letzten Satz bricht dem Jungen allmählich die Stimme und er beißt sich angestrengt auf die Unterlippe, um nicht in Tränen auszubrechen.
 

„Das – das tut mir so unendlich leid...“, gibt Manuel zurück. Während sie dann schweigend weiterhin den Grabstein betrachten, hebt er ganz langsam die Hand und lässt sie zu Bromley’s wandern. Sanft verflechtet er ihre Finger miteinander und legt seinen Kopf an die Schulter des Größeren. Für diesen Moment vergisst er, dass sie noch nicht ganz zwölf Jahre alt sind und beide Jungs. Er fühlt sich ihm so verbunden, als wären sie ein Liebespaar, das verträumt den Sonnenuntergang betrachtet und nicht zwei Halbwüchsige auf einem Friedhof. Dennoch fürchtet sich ein winziger Teil seines Gehirns davor, dass der Jüngere das Ganze falsch verstehen könnte, obwohl er das Ganze nicht einmal selbst versteht. Immerhin machen Jungs so etwas für gewöhnlich nicht miteinander, Mädchen hingegen schon eher. Doch der Käfer-Trainer scheint diese Bedenken entweder nicht zu haben oder sie schlichtweg zu ignorieren. Stattdessen legt er den Kopf gegen Manuels und umfasst dessen Hand fester.
 

Fasziniert werden sie derweilen von Wuffels und Reißlaus beobachtet, die nicht ganz begreifen, was mit ihren Trainern los ist. Dennoch wirkt das Ganze auf sie sehr friedlich und so entspannen sie sich. Die junge Hündin legt sich mit einem Gähnen ins kühle Gras, während die Assel zu ihr huscht und sich an sie drückt. Ihre Fühler gleiten liebevoll über den Kopf des Welpen und streichen an ihren Ohren entlang. Der Vierbeiner erwidert die sanfte Geste, indem er dem Käfer zärtlich über die Stirn leckt. So vergehen noch einige Minuten, ehe sich die beiden Jungs voneinander trennen und sie gemeinsam den Friedhof durchqueren – schweigend, jeder seinen eigenen Gedanken nachhängend.
 


 

4
 

Die Zeit vergeht, obwohl keiner von beiden sagen kann, wie viel genau, doch dann haben sie das Labyrinth aus Hecken und Grabsteinen endlich durchquert und treten zurück in die warme Nachmittagssonne. Der Weg führt etwas abwärts, bis hinab zum Wasser. Es gibt keinen Strand, doch eine kleine Ebene auf der Klippe, die allerdings nicht allzu hoch ist. Langsam treten sie an die Kante heran und betrachten das tiefblaue Meer, wie es glitzernd und funkelnd vor ihnen liegt – so unendlich groß und weit. Verengt man die Augen zu schmalen Schlitzen, kann man ganz in der Ferne einen dunklen Streifen am Horizont erkennen, der die Küste der nächsten Insel – Ula-Ula – bildet. Doch bis sie diese erreichen, steht ihnen noch die große Prüfung der Inselkönigin bevor, die sie hoffentlich morgen antreten können.
 

Doch der Anblick des Wassers weckt jetzt erst einmal andere Gedanken und verdrängt ein wenig die mögliche Sorge wegen der Prüfung. „Yo Manu, is‘ nich‘ weit bis zum Wasser, meinste nich‘? Lass uns schwimm‘ geh’n! Wir könn‘ ‘n Wettrennen zu dem Felsen da hinten machen!“, begeistert sieht der Größere ihn an und deutet mit dem Finger über die glatte Wasseroberfläche. Gut dreihundert Meter vom Ufer entfernt, ragt ein buckliger Felsbrocken aus dem Meer, um den einige Karpador halbherzig in die Luft springen und mit ihren breiten Mäulern Algen und Moos von dessen Oberfläche zu pflücken versuchen. Mit einer Mischung aus Unsicherheit und Erwartungsfreude betrachtet Manual die Miene seines Freundes. Das Grinsen in Bromley´s Mundwinkel erscheint ihm verwegen, ja fast schon verrückt. Doch, wenn er so lächelt, lassen seine Gesichtszüge erahnen, dass er einmal ein beeindruckender Mann werden wird. Und auf seltsame Weise erwärmt diese Tatsache Kukuis Herz – nicht zum ersten Mal heute, wie er fast schon erschrocken feststellen muss. Er weiß nicht, was es ist, doch der blasse Junge neben ihm hat etwas an sich, das man einfach mögen muss und das bringt sie irgendwie viel näher zusammen.
 

Die beiden kennen sich jetzt seit beinahe einem Jahr. Sie sind wie Tag und Nacht, Sonne und Mond, untrennbar miteinander verbunden und dennoch könnten sie unterschiedlicher nicht sein. Kukui kennt dieses Grinsen daher schon ziemlich gut. Wenn Bromley so ein Gesicht macht, dann meint er es ernst. ‚Vergiss es, Käferjunge, da mache ich nicht mit! Wer weiß, was für Pokémon da unten lauern, die sich nicht nur mit Platscher zufriedengeben…‘, huscht der Gedanke durch seinen Kopf. Die Worte liegen ihm förmlich auf der Zunge, aber bevor er sie aussprechen kann, platscht es schon lautstark vor ihm und die Fontäne, mit der der Schwarzhaarige ins Wasser eintaucht, trifft ihn mit voller Breitseite. Völlig durchnässt blickt der Brünette ihm und Sweetheart nach. „Nun komm schon, Mann!“, grölt der Größere aufgedreht und winkt ihm zu, während die große Assel fröhlich um ihn herumschwimmt. Wo er nun schon mal nass ist, kann er ja doch schwimmen gehen. Ist immerhin ganz schön heiß in der Sonne und der muffige Geruch und der Staub des Digda-Tunnels kleben noch immer an seinem Körper. Also zieht sich Manuel seine Sachen aus und folgt dem anderen Jungen ins Wasser. „Hey, warte auf mich!“, ruft er ihm nach und sogleich beginnt das Wettschwimmen.
 

Kläffend steht Wuffels am Ufer und tapst unsicher herum. Als Gesteins-Pokémon hat sie eine natürliche Abneigung gegen Wasser, die sie auch jetzt nicht ablegen kann, wo ihr Trainer sich immer weiter von ihr entfernt. Immerhin würde ihr das Wasser großen Schaden zufügen und sie sehr schwächen. Bellend versucht sie die beiden Jungs über das Ufer einzuholen, doch der Weg reicht nicht sonderlich weit am Wasser entlang, weshalb Wuffels schließlich auf einem Vorsprung stehenbleibt und lautstark ihren Unmut auf das Meer hinaus bellt.
 

Die Jungs hingegen amüsieren sich prächtig. Angestrengt versuchen sie den anderen hinter sich zu lassen, um als Erster bei dem Felsen anzukommen. Allerdings stellen sie bald fest, dass sie gleich schnell sind, was ihrem Spaß aber keinen Abbruch tut. Am Ende gewinnt aber Sweetheart, was irgendwie schon zu erwarten war. Fröhlich fiepend umrundet sie den Felsbrocken ein paar Mal und krabbelt dann hinauf. Schwanzwedelnd tippelt sie über das kleine Stück Gestein und animiert die zwei Jungs zum schneller Schwimmen. Der Anblick des Käfers ist einfach zum Schießen und so berühren die beiden Trainer gleichzeitig den Felsen und können sich das Lachen gar nicht verkneifen. Zwar sind sie sich nicht sicher, ob Reißlaus verstanden hat, dass das ein Wettschwimmen war, aber sie scheint sich zumindest sehr zu freuen.
 

Nach ein paar Momenten springt sie wieder ins Wasser und zu dritt jagen sie sich um den Felsen, wobei es ihnen natürlich nicht gelingt die Assel zu fassen zu bekommen. Aber der Spaß steht ja sowieso an oberster Stelle, da ist das völlig egal. Dennoch haben nicht alle spaß. In diesem Augenblick dringt ein trauriges Jaulen über das Meer zu ihnen. Fast schon erschrocken blickt sich Kukui zum Küstenstreifen um. Wuffels hockt traurig auf der Klippe, hat den Kopf in den Nacken gelegt und heult ihr Missfallen lautstark heraus. In dem Brünetten keimen Schuldgefühle auf, ist der kleine Hund doch nicht in der Lage sich mit ihnen zu amüsieren. „Ich denke, wir sollten wieder zurück. Sieh dir an, wie traurig Wuffels ohne uns ist...“ Bromley wirft einen Blick hinüber und dann zu seinem Käfer-Pokémon, das noch immer fröhlich neben ihm durchs Wasser huscht. „Yo. Sorry, Mann. Hab‘ ich ganz vergessen...“, gesteht er.
 

„Ist ja nicht schlimm. Außerdem bekomme ich allmählich ganz schön Hunger.“, erwidert der Brillenträger. „Das kannste aber laut sagen.“, pflichtet ihm der Schwarzhaarige bei und gemeinsam schwimmen sie wieder zurück an die Küste. Dort angekommen, sammeln sie ihre Sachen zusammen und folgen noch ein Stück dem Weg in Richtung der Ruinen. Ganz in der Ferne kann man sie schon sehen. Zwei große Steinsäulen markieren den heiligen Boden davor. Dahinter befindet sich eine geschützte Grasfläche, die an einer Höhle im Berg endet. Tief darin verborgen liegt ein heiliger Schrein, an dem die Leute dem Kapu huldigen. Allerdings wird es ihnen heute nicht mehr gelingen dort hinzukommen, sodass sie beschließen die Nacht auf dem Küstenstreifen zu verbringen. Also schlagen sie ihr Zelt an einer geschützten Stelle auf.
 

Als alles fertig ist und sie um ein Lagerfeuer ihre Mahlzeit zu sich nehmen, senkt sich die Sonne langsam herab. Ihre orangerote Farbe lässt das Meer förmlich brennen, als würde es aus heißer Lava bestehen. Ein sagenhafter Anblick. Nicht lange später fallen die vier vollkommen erschöpft in ihre Schlafsäcke und finden schnell den Weg ins Traumland.
 


 

5
 

Tief im Schlaf gefangen, bemerken die vier nicht, dass sich dunkle Schatten ihrem Zelt nähern. Im Schein des Mondes lassen sich gut ein Dutzend schwarzgefärbte, rattenartige Pokémon erkennen, die sich neugierig dem Zelt nähern. Ihre roten Augen huschen herum und suchen nach etwas Fressbarem oder etwas, das sie einfach anknabbern können. Das Zelt missfällt ihnen zudem, steht es doch ganz unerlaubterweise in ihrem Revier. Wer sich auch immer darin befindet, hat hier auf keinen Fall etwas zu suchen. Die Nisthöhlen der Rattfratz sind viel zu nah bei diesen Fremden und somit ihre Jungen in Gefahr. Unmöglich also, dass die kleinen Nager sich das gefallen lassen. Geschwind huschen sie um das Zelt herum und schnüffeln, versuchen den möglichen Gegner einzuschätzen, um den richtigen Überraschungsangriff vorzubereiten. Als Gemeinschaft sind sie ziemlich gut organisiert und passen stets aufeinander auf, was ihnen ihren Feinden gegenüber einen Vorteil verschafft.
 

Im vermeintlichen Schutz des Zeltes zucken Reißlaus‘ Fühler plötzlich in die Höhe. Das nervöse Pokémon hat von Natur aus einen nur sehr leichten Schlaf und ist allzeit zur Flucht bereit. Aufgebracht windet sie sich aus Bromley’s Armen und läuft unentschlossen am Einstieg des Zeltes entlang. Dadurch wird auch Wuffels wach. Mit gespitzten Ohren blickt sie zu dem Käfer hinüber und hört dann die leisen Schritte anderer Pokémon draußen. Ihre Nase zuckt, als sie den strengen Geruch der Ratten wahrnimmt. Ungeachtet der Tatsache, dass Manuel sie im Arm hält, springt die Hündin schlagartig auf und beginnt zu knurren. Draußen verstummen die Schritte für einen Moment überrascht, dann setzen sie wieder ein und Schatten huschen dicht an der Zeltplane entlang. Wuffels‘ Knurren wird lauter und schließlich beginnt sie zu bellen.
 

Dadurch werden die beiden Trainer aus dem Schlaf gerissen. „Was hast du?“, fragt Manuel den Welpen, dann sieht auch er die huschenden Schatten im Mondlicht. „Du liebe Güte, Bromley! Da draußen sind wilde Pokémon!“, teilt er seinem Partner erschrocken mit, der sich beim Erklingen des Bellens einfach sein Kissen über den Kopf gezogen hat. „Na und? Wir sind ja auch im Freien, da is‘ das doch normal...“, nuschelt er in den Stoff hinein und rollt sich wieder zusammen, versucht den Lärm vehement zu ignorieren. In diesem Moment gibt es ein seltsames Geräusch und die Spannung, die das Zelt aufrecht hält, nimmt sichtbar ab. „Das ist mir auch klar, aber sie fressen unser Zelt an!“, kontert Kukui und windet sich aus seinem Schlafsack, um zum Eingang zu kommen. Reißlaus und Wuffels huschen aufgeregt davor herum. „Was tun‘se?“, fragt der Schwarzhaarige verschlafen und nimmt das Kissen vom Gesicht.
 

Wieder das seltsame Geräusch, das eindeutig ein reißendes Ankerseil war. „Sie fressen das Zelt an! Ich fürchte, das sind Rattfratz...“, meint der Brillenträger erschrocken und verlässt mit den beiden Pokémon eilig den Schlafplatz. Etwas perplex versucht der Größere zu begreifen, was sein Begleiter ihm sagen will. Dann reißt eine dritte Verankerung und das Zelt sinkt komplett in sich zusammen. „Verfluchte Scheiße!“, entkommt es dem Käfer-Trainer ungehalten und er kämpft sich aus der Plane heraus. Kaum steht er in der kühlen Nachtluft, sieht er sie. Mindestens ein Dutzend dieser lästigen Nager, die das Zelt nun vollends zum Einsturz bringen. „Himmel...“, entkommt es dem Brünetten überfordert, während sich Wuffels den Rattfratz entgegenstellt. Bellend versucht sie die Biester zu verjagen. Diese lassen sich aber nicht vertreiben und gehen nun auf die Hündin los. Mit gebleckten Nagezähnen schnappen einige nach ihr, während andere Tackle und Ruckzuckhieb benutzen, um sie niederzustrecken.
 

„Wuffels, versuch sie mit Feuerzahn auf Abstand zu halten!“, befiehlt ihr der Brünette. Helle Flammen zucken in der Dunkelheit auf, doch wirklich gelingt es dem Welpen nicht, eine der flinken Ratten damit zu treffen. Es sind einfach zu viele und zu schnell. Sie beißen und stoßen den Vierbeiner von allen Seiten, sodass er sich gar nicht auf ein Ziel konzentrieren kann. Bromley gelingt es inzwischen seinen verschreckten Käfer zum Kampf zu überreden. Es werden immer mehr Rattfratz, die immer vehementer versuchen die Eindringlinge zu vertreiben, sodass nun beide Pokémon und Trainer von ihnen umzingelt und angegriffen werden. Mit ihren langen Nagezähnen beißen sie immer wieder zu, ignorieren dabei vollkommen, dass ihre Gegenüber sowohl Pokémon, als auch Menschen sind. „Die Biester ham doch den Unlicht-Typ, nich‘ wa‘?“, hakt der Schwarzhaarige nach, während er die Ratten auf Abstand zu halten versucht.
 

„Äh ja, zumindest zur Hälfte...“, erwidert Manuel, während ihm eins der Rattfratz ein Loch in die Hose reißt.“ „Das reicht!“ Es gelingt ihm, Reißlaus von den Ratten zu befreien und nun kann sich Kukui auch vorstellen, wieso er nach dem Unlicht-Typ gefragt hat, da dieser äußerst empfindlich auf Käfer-Attacken reagiert. „Sweetheart, Käfertrutz!“, befiehlt er der Assel, die sich augenblicklich in ihrer neu gewonnenen Freiheit aufbäumt und zu feuern beginnt. Die grünen Funken jagen über das taufeuchte Gras und treffen einige der schwarzen Nager. Erschrocken weichen diese zurück. Die Assel wiederholt den Angriff immer wieder und auch Wuffels gelingt es nun einige der Biester mit ihren Flammenzähnen zu erwischen. Nach einer gefühlten Ewigkeit ziehen sich die Nager endlich schimpfend zurück.
 

„So’ne krasse Scheiße...“, keucht der Schwarzhaarige und sinkt auf die Knie. Ebenso ergeht es Kukui. Wuffels kommt zu ihrem Trainer hinübergehumpelt, ist es doch einem der Rattfratz gelungen ihr zum Abschied noch einmal kräftig ins Bein zu beißen. Schwer atmend lässt sie sich in seinen Schoß fallen. „Armes Mädchen, aber das hast du sehr gut gemacht!“, versichert er dem Welpen und besieht sich ihre Verletzungen. Auch Sweetheart ist sehr mitgenommen, von zahlreichen Bissen gezeichnet und flüchtet sich zu ihrem Trainer. Dieser nimmt das Pokémon auf den Schoß, spendet ihm Trost und blickt voller Wut in die Dunkelheit hinein, in der die Rattfratz verschwunden sind. Wehmütig betrachten die beiden ihr Zelt, von dem so gut wie nichts mehr übriggeblieben ist. „Wir – wir sollten uns einen anderen Schlafplatz suchen...“, wirft Manuel nach einer Weile ein. „Sieht wohl so aus...“, entgegnet Bromley angesäuert.
 

Schwerfällig erheben sich die Jungs und sammeln ihr Sachen zusammen. Sie sind noch nicht ganz damit fertig, da schlagen ihre erschöpften Pokémon erneut Alarm. Gebannt starren sie alle in diese Richtung und warten auf die wahrscheinliche Rückkehr der Rattfratz. Diese bleibt jedoch aus; was dort aber ins Mondlicht tritt, ist um ein Vielfaches schlimmer, als die kleinen Nager. Ihre ausweglose Situation müssen die kleinen Ratten an ihren Anführer weitergetragen haben, denn nun steht ein breitgebautes Rattikarl vor den jungen Trainern und mustert sie finster über seine Pausbacken hinweg. Die gewaltigen Nagezähne der übergroßen Ratte glänzen bedrohlich im Mondschein und die roten Augen fixieren die kleine Truppe voller Wut.
 

„Um Himmels willen...“, stockt Kukui beinahe der Atem. Bromley hätte es zwar nicht so sittsam ausgedrückt, doch auch ihm schnürt sich beim Anblick dieses Wesens die Kehle zu. Rattfratz und Rattikarl sind in Alola und so gut wie allen anderen Weltregionen sehr verbreitet und werden zumeist als erhebliche Schädlinge gefürchtet und bekämpft, da sie alles auffressen und anknabbern, was ihnen vor die Kiefer kommt. Nicht selten vernichten sie ganze Ernten und wo sie sich einmal niedergelassen haben, kann man sie nur sehr schwer wieder vertreiben. Entgegen zu anderen Regionen sind sie in Alola aber ausschließlich nachtaktiv, was sie aber nicht weniger gefährlich und gefräßig macht. Zudem sind sie sehr wehrhaft und nahezu furchtlos, insbesondere die Rattikarl, die ihre Familie vehement verteidigen, wenn man ihr zu nah kommt.
 

Geschwächt oder nicht, aber Wuffels und Reißlaus stellen sich diesem Nager dennoch entgegen. Ihre wirkungsvollsten Angriffe treffen auch, doch die große Ratte zeigt sich davon weit weniger beeindruckt, als seine kleinen Verwandten. Das Rattikarl muss um ein vielfaches stärker sein, als sie, was das Ganze deutlich erschwert. Schließlich setzt der Nager zum Gegenangriff an. Seine gewaltigen Zähne leuchten hell auf und treffen die kleine Hündin mit unglaublicher Kraft. Schwer getroffen geht sie zu Boden. Reißlaus gelingt es noch, einen Treffer zu landen und einen Moment auszuweichen, doch dann wird sie ebenfalls von dem Hyperzahn in die Knie gezwungen. Fassungslos starren die beiden Jungs auf ihre reglosen Pokémon; begreifen sie doch noch nicht so ganz, was dort eben passiert ist. Allerdings wird Rattikarl ihnen das schon zeigen. Mit glühenden Zähnen geht die Ratte ein weiteres Mal auf die am Boden liegenden Pokémon los, um sie endgültig zu vernichten. Sie sind vollkommen wehrlos, doch das interessiert den Nager kein bisschen. Er will sie nur loswerden, koste es, was es wolle!
 

Dieser erschütternde Anblick legt einen Schalter in Manuels Kopf um. Unter normalen Umständen würde er niemals seine Hand gegen ein Pokémon erheben oder sich in einem Kampf einmischen, ganz egal, was auch passiert, doch so eine Ungerechtigkeit kann er einfach nicht mit ansehen. Ganz hinten in seinem Kopf begreift er dabei auch, wie Bromley so wütend bei ihrem ersten Kampf in Lili’i auf Wuffels losgehen wollte, als Reißlaus schwer getroffen war. Doch der Gedanke setzt sich nicht fest, sodass er ihn immer noch für falsch hält, obwohl er gerade in Begriff ist, etwas ganz Ähnliches zu tun. Ehe die gebleckten Zähne der Ratte eines der Pokémon treffen können, wirft sich Kukui mit all seiner Kraft gegen den massigen Leib des Gegners und schupst ihn zur Seite. Getroffen rutscht das Rattikarl ein Stück über das feuchte Gras, fängt sich aber schnell wieder. Erneut setzt es zum Angriff an.
 

Schützend beugt sich Manuel über Wuffels und Reißlaus. Dem Nager ist aber auch diesmal vollkommen egal, wer sich ihm in den Weg stellt und so hält er mit glühenden Zähnen auf den schmächtigen Jungen aus, um ihm ein für alle Mal zu zeigen, wer hier das Sagen hat. Manuel kauert sich kleiner zusammen und presst in Anbetracht des bevorstehenden Schmerzes die Augen zu. Gedanklich kann er schon die messerscharfen Zähne spüren, die seinen schutzlosen Körper zerbrechen werden, wie einen morschen Ast. Er holt Luft, um seinen Schmerz in die Welt hinausschreien zu können, doch anstatt seiner eigenen gepeinigten Stimme, erklingt die eines anderen. Erschrocken sieht der Brünette auf. Frisches Blut tropft direkt vor seinen Augen ins dunkle Gras. Mit Schrecken stellt er fest, dass es von Bromley stammt.
 

Dieser hat sich im letzten Moment zwischen die drei am Boden Liegenden und die Ratte geschoben. Zur Abwehr hat er instinktiv seinen Unterarm hochgerissen, der nun tief im Maul des Nagers eingeklemmt ist. Purem Glück hat er es wohl zu verdanken, dass der Hyperzahn ihn nicht ganz getroffen hat, sonst wäre sein Arm jetzt gebrochen oder gar Schlimmeres. So aber klemmt er eher zwischen den weniger gefährlichen Backenzähnen der Ratte. Dennoch sind sie scharf genug, um dem Jungen eine böse Wunde zuzufügen, die ziemlich heftig blutet. Allerdings scheint dies in diesem Moment weder den Nager noch den Schwarzhaarigen zu kümmern. Wütend blicken sich die zwei an. Von beiden ist ein tiefes Knurren zu hören und keiner von ihnen will nachgeben.
 

„Du dreckige Ratte, ich werd‘ dich lehr‘n meinen Freunden wehzutun! Du willst was Fressen? Dann friss das hier!“, entkommt es dem zu großgeratenen Jungen aufgebracht. Das Rattikarl lässt ein wütendes Knurren hören und verbeißt sich immer fester im Arm des Jungen. Doch Bromley fängt plötzlich an zu grinsen. Wie von Sinnen wirkt er nun. Seine Augen funkeln bedrohlich und er bleckt die Zähne. Sein ganzer Anblick wirkt auf Kukui vollkommen wahnsinnig, als würde er jeden Moment Amok laufen. Stattdessen ballt der Schwarzhaarige seine Faust und schlägt sie mit aller Kraft auf die breite, aber überaus empfindliche Nase der Ratte. Diese zuckt schmerzlich zusammen, löst sich aber noch nicht von ihm. Ihr steht die Überraschung und das Nichtbegreifen aber deutlich ins Gesicht geschrieben, hat sie wohl noch nie erlebt, dass sich ihr ein Mensch in den Weg stellt und dann auch noch so eine halbe Portion.
 

Ein zweiter und ein dritter Schlag treffen die Nase des Nagers immer härter. Blut spritzt darauf hervor und schließlich gibt das Rattikarl ihn frei. Getroffen sinkt es auf die Füße zurück, blickt den blassen Jungen vor sich trotzig an. Dieser lässt ein dunkles Knurren hören und ballt diesmal beide Fäuste. „Hau ab, du Mistvieh!“, brüllt er dem Nager entgegen und holt wieder aus. Erschrocken reißt das Pokémon die Augen auf und ehe der nächste Schlag es treffen kann, dreht es sich herum und ergreift schimpfend die Flucht! „Ja, verschwinde und lass dich nie mehr blicken!“, brüllt Bromley ihm nach. Fassungslos starrt Manuel dem Pokémon hinterher, in seinem Arm liegen Wuffels und Reißlaus noch immer völlig fertig.
 

Mit einem grotesken Grinsen, das irgendwo zwischen Triumph und unbändiger Wut und Wahnsinn liegt, dreht sich der große Junge zu ihm herum. Er atmet schwer, lässt es sich jedoch nicht anmerken. „Machen wa‘, das wa‘ hier wegkomm‘! Nich‘, dass die alle wiederkomm‘!“, ermahnt ihn der Jüngere und greift nach seinen Sachen. Perplex beobachtet der Brillenträger ihn einen Moment dabei, dann rafft er sich auf. „Das geht nicht! Du bist schwer verletzt, Bromley! Wir müssen unbedingt die Blutung stoppen!“, teilt er ihm verzweifelt mit. Der Angesprochene hebt seinen verletzten Arm und betrachtet ihn vollkommen ausdruckslos. Er blutet noch immer sehr stark und ist in der Zwischenzeit schon fast auf den doppelten Umfang angeschwollen. Manuel will sich gar nicht vorstellen, was sein Freund für Schmerzen haben muss.
 

Dennoch zuckt Bromley nur die Schultern und lässt den Arm wieder sinken, als wäre da nur ein Mückenstich und keine tiefe Fleischwunde, die genäht werden müsste. „Halb so wild...“, entgegnet er ihm lässig und greift nach seinem Rucksack. Halb so wild? Ehrlich? Der Brünette ist fassungslos. Ihm klappt der Mund auf und dennoch weiß er nicht, was er darauf antworten soll. Der Größere hat inzwischen ihre ganzen Sachen zusammengetragen und ist nun dabei den Weg zurück zum Friedhof einzuschlagen, während er unaufhörlich eine breite Spur aus Blut hinter sich herzieht, als würde er einen Eimer Farbe tragen, der ein großes Loch hat. „Kommste jetz‘, oder willste da immer noch hocken, wenn die Biester wiederkomm‘?“, ruft er ihm über die Schulter hinweg zu.
 

Kraftlos steht Kukui mit den beiden Pokémon im Arm auf und rennt hinter ihm her. „Nun warte doch, Bromley! Das geht so nicht!“, versucht er ihm aufgelöst klarzumachen, doch der andere reagiert gar nicht darauf, läuft einfach unbeirrt weiter. ‚Vermutlich steht er unter Schock oder so was und realisiert gar nicht, wie schwer er verletzt ist...‘, kommt dem Brünetten schließlich der Gedanke. Er kann das Ganze kaum mit ansehen. Nach einem Augenblick muss er allerdings feststellen, dass der Schwarzhaarige immer langsamer wird, immer schwerfälliger. Schließlich lässt er die ganzen Sachen fallen und sinkt auf die Knie. „Bromley!“ Manuel legt die beiden Pokémon ab, die allmählich wieder zu sich kommen und eilt zu seinem Freund.
 

Als er ihm ins Gesicht blickt, stellt er fest, dass er noch weit blasser ist, als er es unter normalen Umständen schon ist. Seine Augen sind ganz matt und ausdruckslos, er atmet schwer, ist ganz apathisch. „Um Himmels willen...!“ Hektisch versucht der Ältere Verbandszeug aus seinem Rucksack zu kramen, als sein Gegenüber bedenklich zu schwanken beginnt. Plötzlich fällt ein Lichtstrahl auf die beiden Jungs. „Was ist denn hier los?“ Kukui wendet sich zu der Stimme um und stellt voller Erleichterung fest, dass es der Polizist ist, der Kaffee auf den Stufen der Wache getrunken und ihnen gesagt hat, wie sie am besten zu den Ruinen kommen. „Wir brauchen dringend Hilfe!“, teilt Manuel ihm mit und bricht schließlich in Tränen aus und Bromley endgültig zusammen.
 

Der Polizist eilt zu ihnen hinüber und besieht sich den nun mehr bewusstlosen Jungen. „Du meine Güte, das sieht wirklich böse aus...“, kommentiert er den Anblick des verletzten Armes und macht sich sogleich daran die Wunde zu versorgen. „Wir – wir wurden von – Rattfratz und Rattikarl angegriffen...“, berichtet der Brünette unter Tränen. „Er hat mich und unsere Pokémon vor ihnen beschützt. – Das Rattikarl hätte ihm fast den Arm abgebissen...“ „Oh Mann, ich hätte euch warnen sollen. Sie nisten hier ganz in der Nähe der Ruinen. Aber ich dachte, ihr schafft es noch dahin. – Tut mir wirklich leid. Aber dein Freund wird ganz sicher wieder. Er scheint mir ein ganz schön zäher Bursche zu sein. Ich verbinde das und dann bringen wir ihn zur Wache. Von da kann ich einen Arzt rufen. – Was für ein Glück, dass ich bei meinem Rundgang heute etwas getrödelt habe, sonst hätte euch niemand gefunden, Jungs...“
 

Wenig später trägt der Polizist Bromley zurück zur Wache und Manuel folgt ihm mit hängenden Schultern und den Pokémon auf den Armen. Er macht sich schwere Vorwürfe, dass er es nicht geschafft hat, den Schwarzhaarigen energischer davon zu überzeugen, sich von ihm helfen zu lassen und er macht sich auch Vorwürfe, dass er so dumm war und sich selbst in Gefahr gebracht hat. Hätte er das Rattikarl nicht angegriffen und so seinen Zorn auf sich gezogen, hätte Bromley nicht dazwischen gehen und ihn beschützen müssen. Doch was passiert ist, ist nun mal passiert und sie müssen nun damit leben. Er kann nur hoffen und beten, das es seinem Freund bald wieder besser geht...



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