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Das Volk aus den Bergen

Magister Magicae 4
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Trigger-Warnung: Gewalt (nicht adult) Komplett anzeigen

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klare Verhältnisse

ein Jahr zuvor, Ogimi auf Okinawa
 

Yagi knotete die Fesseln auf und wickelte seine Geiseln aus den Seilen aus, mit denen sie gründlich eingeschnürt waren. „Entschuldige das Missverständnis“, meinte er dabei reumütig. „Wir hatten ja keine Ahnung. Jemanden wie dich werden wir natürlich nicht gefangen halten.“

„Wird auch Zeit“, grummelte Chippy und bewegte ihre steifen, schmerzenden Glieder durch. Endlich konnte sie sich wieder rühren.

„Ich hoffe, du kannst uns das verzeihen. Wir möchten das gern wieder gut machen!“

„Ah ja? ... Da bin ich aber gespannt, wie ihr das hinkriegen wollt.“

„Lass uns dein Gefolge sein“, schlug der lückenzähnige Anführer der Ganovenbande euphorisch vor. „Wir wollen dir dienen, große Seegöttin, okay?“ Seine Leute, die hinter ihm standen, nickten allesamt eifrig.

„Mir dienen?“, wiederholte das Mädchen verblüfft. Sie musste erstmal innerlich abwägen, ob die das ernst meinen konnten, oder ob sie auf den Arm genommen wurde. Vom Gefangenen direkterweise zum Herrscher, das war mal eine coole Karriere. Hatte sie diese Witzbolde tatsächlich so massiv beeindruckt? Für sie selbst war Magie ja inzwischen nichts Außergewöhnliches mehr. Aber bei anderen, die nie damit zu tun hatten, konnte das durchaus vorkommen ...

Yagi, der inzwischen auch den bierbäuchigen Schutzgeist losmachte, gab einen bekräftigenden Laut von sich. „Du bist mächtig und hast unglaubliche Fähigkeiten. Wir bewundern dich, auch wenn du uns erstmal ganz schön erschreckt hast. Jemanden wie dich wollen wir als Anführer haben. Wir werden jeden deiner Befehle befolgen.“

„Schön. ... Dann zuerst mal meinen Rucksack her!“, verlangte Chippy.

„Natürlich, sofort!“

Einer der Männer rannte los und holte das Gepäck der beiden, das zwar inzwischen durchwühlt und unordentlich, aber mangels Wert immer noch vollständig war. Die einzige Jacke, die fehlte, weil einer der Wegelagerer sie inzwischen trug, wurde schnell wieder ausgezogen und dazu gelegt.

„Habt ihr was zu essen?“, fuhr Chippy zufrieden fort.

„Im Moment haben wir nur ein paar Äpfel, aber die sollen dir gehören! Wir müssen erst was Neues klauen.“

„Und Geld?“

„Auch davon werden wir dir alles geben, was wir haben. Äh, Shoji, Ohara, holt doch mal die Schatzkiste her!“, trug Yagi seinen Leuten auf, von denen die zwei Angesprochenen auch sogleich bereitwillig davonflitzten.

Das jugendliche Straßenmädchen musste hart an sich halten, nicht zu lachen. Diese Situation war einfach zu genial. Sie, eine Anführerin! Das hatte was von einer Straßen-Gang. Sowas kannte sie und kam damit klar, daher gefiel ihr die Idee. Chippy hob vom Boden einen hölzernen Prügel auf, den einer der Männer hatte herumliegen lassen, und betrachtete ihn interessiert. Dafür würde sie gute Verwendung haben. Das war jetzt ihrer, entschied sie.

„Wie dürfen wir dich ansprechen, große Seegöttin?“

Sie biss herzhaft in einen der Äpfel, die man ihr inzwischen gebracht hatte. Äpfel waren in Japan richtig heftig teuer. Sowas Feines hatte sie in ihrem Leben noch nicht oft in die Finger bekommen. „Für euch bin ich ab jetzt Lord-Lady Chippy.“

Hinter ihr vernahm man ein kurzes, nasales Prusten, als Loriel sich das Lachen zu verkneifen versuchte. Lord-Lady? Bitte was?

Chippy wandte sich böse zu ihm um. „Für dich auch, Freundchen!“, stellte sie, mit dem angebissenen Apfel auf ihn zeigend, klar.

Der Shogu Tenshi nickte nur hämisch grinsend. „Is' klar.“ Er verzichtete darauf, hier einige Dinge klar zu stellen. Sie war keine Seegöttin. Und wenn sie eine wäre, hätten die Vagabunden wohl gehörig ein paar Höflichkeitsstufen zulegen müssen und sie eher mit 'Sie' als mit 'Du' ansprechen sollen. Aber sowohl die heimatlos im Wald lebenden Kerle als auch Chippy als Straßenkind waren einfach nicht sozialisiert genug, um auf solche Feinheiten zu achten. Mal ganz davon abgesehen, daß 'Lord-Lady' ein ziemlicher Fantasie-Titel war, den es gar nicht gab.

„Und? Wirst du dich uns anschließen und bleiben, Lord-Lady Chippy?“, rückversicherte sich der Räuberhäuptling.

„Vielleicht. Können wir irgendwo reden?“, wollte sie selbstsicher wissen und biss wieder in ihren Apfel.
 

Loriel langweilte sich. Er saß am Rand, auf dem blanken Waldboden, mit dem Rücken an einen Baumstamm gelehnt, und starrte in die Baumkronen hinauf. Chippy hing schon seit über zwei Stunden mit diesen Verbrechern zusammen und besprach Details für die nähere Zukunft. Und er, ihr Schutzgeist, musste froh sein, wenigstens in Sichtweite bleiben zu dürfen, um bei Gefahr einschreiten zu können. Da Chippy meinte, er könne sie ohnehin nicht verteidigen, hätte sie ihn ja am liebsten ganz weg geschickt. Sie schien die Sache mit der Seegöttin tatsächlich durchziehen zu wollen. Was ursprünglich ein Bluff gewesen war, um sich aus den Fängen dieser Bande zu befreien, war inzwischen zu einem ernsthaften Zukunftsplan geworden. Sie erwog wirklich, hier bei diesen schmierigen Kerlen zu bleiben. Da sie ihr Leben lang ein Straßenkind gewesen war und nie eine feste Bleibe gehabt hatte, hatte sie wohl auch kein Problem damit, im Wald zu hausen.

Loriel seufzte leise. Wie schön hätte das Leben sein können? Er hätte schon seit Monaten ein Cherube sein können. Hätte auf die Astralebene wechseln, dort bleiben und der irdischen Welt den Rücken kehren können. Aber nein, stattdessen musste er sich 14 Tage vorher noch einen neuen Schützling einhandeln und in der Menschenwelt bleiben. Selbst das wäre auch nur halb so schlimm gewesen, wenn es nicht gerade jemand wie Chippy gewesen wäre.

Chippy riss den Engel aus seinen Gedanken, als sie endlich zurück kam und sich wieder zu ihm gesellte. Sie blieb vor ihm stehen und lehnte sich auf den Holzprügel, ihr neues Spielzeug, wie auf einen Spazierstock.

„Und? Bist du nun Räuberhäuptling?“, erkundigte sich Loriel halbherzig weil frei von jeder Begeisterung. Nicht weniger unwillig bemerkte er das viele Goldgeschmeide, mit dem sie sich inzwischen behangen hatte. Diese Halunken schienen schon so einige erfolgreiche Raubzüge hinter sich zu haben.

„Ja, bin ich. Wir bleiben hier.“

„Ist nicht dein Ernst ...“, stöhnte er. Auch wenn er es beinahe geahnt hatte, hatte sich doch noch ein Funken Rest-Hoffnung gehalten, der nun verpuffte. Was in Gottes Namen wollte sie denn hier? Er hatte in Ogimi eine Wohnung und genug Geld, damit sie auch ohne kriminelle Machenschaften ein bequemes Leben führen konnten. Musste sie denn um jeden Preis zurück in ihr altes, obdachloses Dasein? Da hatte er ja vielleicht gar keinen Bock drauf!

„So, jetzt zu dir!“, wechselte sie theatralisch das Thema, holte mit ihrem Holzknüppel aus und schlug ihn Loriel ungebremst gegen die Schulter.

Er zuckte vor dem unerwarteten Schmerz so heftig weg, daß er fast zur Seite kippte. Dann rappelte er sich schnell vom Boden hoch in eine stehende Haltung. „Aua! Spinnst du jetzt völlig? Das tut weh!“, empörte er sich und rieb sich den Oberarm.

„Gut! Soll es auch!“, stellte sie klar und zog ihm das Holz gleich nochmal über. Da er sich reflexartig wegdrehte, um in Deckung zu gehen, traf sie ihn diesmal mit voller Wucht im Rücken und prügelte damit ein schmerzliches Stöhnen aus ihm heraus, bevor er in die Knie brach.

„Chippy!“

„Schnauze!“, verlangte sie böse. „Du wirst jetzt die Klappe halten und zuhören! Der nächste trifft am Kopf, wenn du Zicken machst!“, drohte das Rocker-Mädchen und fuchtelte mit dem Ende ihres Knüppels in Richtung seines Gesichtes.

Loriel hatte keinen Zweifel daran, daß sie das ernst meinte und wahr machte, also sagte er wirklich kein Wort mehr, sondern starrte sie nur völlig entgeistert und fassungslos an. Sie prügelte ihren eigenen Genius Intimus? Also so richtig gewollt und ernsthaft? Das war unglaublich. Das hatte er bisher noch nie erlebt, weder an sich selbst, noch bei anderen. In den ganzen 500 Jahren nicht, die er schon lebte. Schutzgeister waren schon gut und gerne mal das persönliche Eigentum ihrer Schützlinge und hatten nach deren Pfeife zu tanzen. Aber so schlecht behandelt wurden sie dann üblicherweise doch nicht.

„Ab jetzt herrschen hier andere Sitten!“, tat Chippy in einem Tonfall kund, der jedes Widerwort sofort unterband. „Wir leben ab sofort bei diesen Männern hier. Ich werde sie anführen und befehligen. Und dich will ich dabei nicht in der Quere haben. Du wirst ab jetzt schweigen, hast du das verstanden? Du wirst dich nirgends einmischen, es sei denn ich trage es dir auf; du wirst mich nicht unaufgefordert dumm vollquatschen, es sei denn ich stelle dir eine ausdrückliche Frage; und du wirst auch mit den Männern kein Wort reden. Die sehen in mir eine Seegöttin, der sie gehorchen müssen, und ich will, daß das auch so bleibt. Wenn du ihnen irgendwas Gegenteiliges klar machst, kannst du dein blaues Wunder erleben.“ Das Mädchen hob wieder den Prügel, um zu verdeutlichen, in welcher Form dieses blaue Wunder eintreten würde.

Loriel nickte nur, eher aus Reflex, weniger aus Zustimmung.

„Ich will dich am liebsten gar nicht mehr hören und sehen. Aber da wir nun mal über das blöde, silberne Band miteinander verbunden sind, werde ich dich ja leider nicht los und muss dich weiter ertragen. Sei sicher, daß du mir völlig egal bist. Es sei denn, du machst mir Probleme. Dann wird aus dem 'egal' etwas Schlimmeres, glaub mir!“

Der Schutzengel verschränkte mit einem unglücklichen Durchatmen die Arme. „Darf ich fragen, warum?“

„Warum!?“, begehrte Chippy auf und erweckte den Eindruck, als ob sie ihm alleine für diese Frage schon die nächste Tracht Prügel verabfolgen müsste. „Das fragst du allen Ernstes, nachdem ich schon dreimal in echter Gefahr geschwebt habe und du es kein einziges Mal geschafft hast, mir zu helfen? Du bist absolut nutzlos! Nicht nur als Schutzengel, sondern einfach in allem! Du kannst gar nichts! Du taugst nichtmal zum Ficken! So alt und fett und hässlich, wie du bist, würde einem dabei ja das Kotzen kommen!“

Loriel blieb die Luft weg. ... das ... das hatte sie jetzt nicht wirklich gesagt! Er hatte sich verhört, ganz sicher. „Chippy ... was ...“

Sie schlug ihm abermals den Holzknüppel auf die zwölf. Da er schnell die Arme um den Kopf schlang, traf sie ihn wenigstens nicht am Schädel, aber trotzdem tat es weh genug. Übrigens nicht nur körperlich. „Lord-Lady Chippy, wenn ich bitten darf!“, korrigierte sie ihn streng.

„Meinetwegen. Aber was zur Hölle willst du denn hier im Wald?“, verlangte er verständnislos zu wissen. Dabei kämpfte er sich endlich wieder auf die Beine. Er wollte nicht mehr vor ihr auf dem Boden knien.

„Diese Männer beschaffen mir Essen, sie beschaffen mir Geld, und alles was ich sonst noch haben will. Und sie hören auf´s Wort. So ein cooles Leben wie hier hatte ich noch nie! Essen und Geld habe ich meinen Lebtag noch nicht gehabt.“

„Aber ...“ Loriel brach seinen Einwand sofort ab und zog den Kopf ein, als ihr Holzknüppel wieder drohend hochschnellte. Langsam begriff er, daß mit diesem Kind tatsächlich nicht mehr zu diskutieren war. Er konnte sich nur in sein Schicksal fügen und hoffen, daß Chippy irgendwann von selber wieder zur Vernunft kam. Das einzige, was ihm noch blieb, war der frevelhafte Deal 'Mach mir keinen Ärger, dann mach ich dir auch keinen'.

„Gut. Und ab jetzt sprichst du nur noch, wenn du gefragt wirst!“, erinnerte Chippy ihn, als sie diese einsetzende Resignation bemerkte, ließ ihn endlich wieder in Frieden und ging.

Loriel schaute ihr hilflos und überfordert hinterher. Was in aller Welt war das gewesen? Sie war ja schon von Anfang an eigenwillig und unbeugsam gewesen. Aber das hier wuchs sich langsam zu Größenwahn aus.



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