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Der letzte Schnee

Vernon Roche vs. Sigismund Dijkstra
von

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„Dieser verfluchte Drecksack!“, fluchte der Mann mit dem schwarzen Chaperon.

Ihm stand der Schweiß auf der Stirn, ran seine Gesichtsfurchen herab und stand kurz davor, ihm vom Kinn auf den blauen Wappenrock zu tropfen. Sein Dreitagebart verhinderte jedoch das Schlimmste. Seinen Begleitern ging es nicht besser. Die junge Frau mit den kurzen blonden Haaren hatte eine Schramme an der linken Augenbraue, aus der Blut hervor sickerte. Der in die Jahre gekommene Glatzkopf keuchte noch immer vor Anstrengung. Ihn hatten sie am Oberschenkel erwischt, kurzzeitig war sich der Anführer der Truppe nicht sicher gewesen, ob er es überhaupt schaffen und sie ihn womöglich würden zurücklassen müssen. Lediglich der Mutant machte den Anschein, überhaupt nicht außer Atem zu sein. Roche war sich nicht sicher, ob er ihn verfluchen oder ihm doch lieber die Füße küssen sollte.

Seine kleine Kampftruppe war nur mit Müh und Not aus dem Freilichttheater entkommen und Geralt hatte wesentlichen Anteil daran. Vernon Roche hatte aufgehört, mitzuzählen, wie oft er ihnen inzwischen aus der Patsche geholfen hatte. Er schnaubte.

„Nicht stehen bleiben!“, mahnte Geralt.

„Du hast gut reden ...“, keuchte Ves. „Mutant! Du kannst gegen eine Armee kämpfen und bist danach immer noch so fit wie ein Rennpferd.“

Nichtsdestotrotz trieb sich die junge Frau erneut dazu an, ihre Geschwindigkeit zu halten. Die Gruppe hatte Novigrad nach wie vor nicht verlassen, es war also gut möglich, dass ihnen Dijkstras Häscher immer noch auf den Fersen waren. 

„Verdammter Hurensohn!“, presste Roche hervor.

„Reg dich ab ...“

„Wenn ich diesen Speckwanst in die Finger kriege ...!“

Ihre Beine trugen sie nicht den direkten Weg zum Dreibergtor. Stattdessen hatte der Hauptmann der Temerischen Freischärler angeordnet, sich bis zum Tor des Hierarchen durchzuschlagen. Ein riskantes Manöver, wie der Hexer bemerkt hatte, aber bis jetzt war ihnen niemand aufgelauert, der ihnen ans Leder wollte. Lediglich einige der Hexenjäger und Redanische Soldaten hatten sie misstrauisch beäugt, doch niemand stellte sich ihnen in den Weg. Passanten waren so gut wie keine unterwegs, sie drohten allenfalls Gefahr, hier und da einen Besoffenen umzurennen, die zweifellos auch aus dem „Chamäleon“ torkelten.

„Wartet!“, rief Ves plötzlich, als sie das Tor schon vor Augen hatten. „Thaler kann nicht mehr.“

Roche blieb nur widerwillig stehen. Er machte auf dem Absatz kehrt und lief zu dem Glatzkopf, der kurz davor war, umzukippen.

„Das sieht übel aus“, merkte Geralt an.

„Klar, dass du dich mit Wunden auskennst“, fauchte der Hauptmann. „Geh zur Seite!“

„Setz dich hin.“

Thaler tat, wie ihm geheißen und sank mühevoll auf ein morsches Fässchen herab, das am Wegesrand stand.

„Verdammt, Ves, wir haben dafür keine Zeit. Thaler, du musst es so schaffen.“

„Lasst mich lieber zurück, ihr müsst es ohne mich schaffen.“

Die Blondine sah Roche wütend an, enthielt sich aber eines Kommentars.„Hast du denn nichts, als Hexer?“, fragte sie Geralt.

„Doch.“

Der Hexer begann in seinem Beutel zu kramen und zog eine Phiole der überlegenen Schwalbe heraus.

„Es kann ihn umbringen ...“, kommentierte er, entkorkte das Glas und kippte es Thaler über den noch immer blutenden Oberschenkel. Der Patient stieß einen Schrei aus.

„Das sollte die Wunde halbwegs reinigen“, erklärte er entschuldigend den anwesenden Nicht-Hexern. „In unseren Tränken wird meist sehr viel Alkohol verbraut.“

Ves zog einen Lappen mit ausgefranster Spitze hervor, der irgendwann mal ein Stofftaschentuch gewesen sein mochte. Notdürftig verband sie den Oberschenkel. 

„Das wird nicht lange halten“, meinte sie bedauernd.

„Wird gehen müssen.“

Thaler grinste tapfer und versuchte, sich hoch zu kämpfen. Er stöhnte vor Schmerz. Roche griff ihm unter die Arme.

„Still!“, zischte Geralt.

Sie hielten den Atem an. Fußgetrappel wurde hinter ihnen laut.

„Los, weiter!“

Die kleine Truppe wandte sich um, als jemand hinter ihnen schrie.

„Da sind sie!!“

„Verdammt.“

Ves griff sich Thalers anderen Arm und gemeinsam mit ihrem Kommandanten versuchte sie, den Verwundeten zum Tor des Hierarchen zu ziehen. Thaler humpelte, so schnell es ihm möglich war, aber es stand außer Frage, dass sie ihren Häschern so nicht entkommen würden. Geralt zog seine Metallklinge.

„Lauft ihr weiter!“

Roche war kurz davor, einen weiteren unflätigen Fluch auszustoßen. Stattdessen ließ er den Arm wieder los, den er sich um die Schulter gelegt hatte und zog ebenfalls eine Klinge.

„Wir decken euch! Schaut, dass ihr zu den Sieben Katzen kommt. Die Schankwirtin ist mir noch einen Gefallen schuldig.“

„Aber ...“, wollte Ves ansetzen.

„Keine Widerrede, Ves!“

Die junge Frau zögerte noch einen Moment, machte sich dann aber mit Thaler auf den Weg.

Der Spion trat neben den Hexer, um mit ihm ihre Verfolger aufzuhalten und so Ves und Thaler die Flucht zu ermöglichen. Neun Männer unterschiedlichster Couleur rannten auf sie zu, bewaffnet mit Schwertern, Äxten und Knüppeln, einige in Harnischen, andere mit lose geschlossenen Hemden, die den Blick auf behaarte Oberkörper zuließen. Es war offensichtlich, dass sich einige von ihnen tatsächlich auf den Kampf Mann gegen Mann verstanden. Andere hingegen sahen eher wie unbegabte Schläger aus, die es mit einem kampferprobten Hexer nicht würden aufnehmen können. Trotzdem waren sie heillos in der Unterzahl.

„Dieser Feigling!“, kommentierte Roche Dijkstras Abwesenheit. „Weißt du noch, Geralt, damals in Vergen?“

„Oh, bewahr mich vor alten Kamellen!“, stöhnte der Hexer. „Sie kommen!“

Vernon seufzte theatralisch.

„Möge der Beste gewinnen!“

Geralt verdrehte die Augen und ergriff die Initiative. Er stürmte auf den ihm nächsten Häscher zu, bevor dieser sich Roche zuwenden konnte.

„Ich bin dein Gegner“, flüsterte er drohend.

Sein Gegenüber trug eine leichte Rüstung und schwang das Schwert. Es sirrte geradezu durch die Luft und ließ vermuten, dass sein Besitzer etwas mehr Kampferfahrung hatte.

„Ungenau!“

Der Hexer musste sich nicht einmal groß anstrengen, um den Hieb zur Seite hin abzuwehren. Sein Gegner, ein blauäugiger Jüngling von vielleicht neunzehn Jahren hatte ihn offenbar unterschätzt. Ihn wegen seiner grauen, fast weißen Mähne, für einen alten Knacker gehalten.

„Ein großer Fehler ...“

Er wollte gerade zu einem zweiten Schlag ausholen, als Geralt einen Ausfallschritt nach vorne machte, ihm den Schwertknauf gegen die Brust schlug und sich mit einem Satz zur Seite schnell wieder in Sicherheit brachte. Der Blondschopf keuchte überrascht und stolperte nach hinten, ohne ernstlich zu Fall zu gehen. Ungläubig starrte er dem Hexer ins Gesicht.

„Na warte!“

Roche seinerseits hatte nur oberflächlich mehr Glück mit seinen Gegnern. Der erste bedrängte ihn mit einem Holzknüppel, der schon so manch anderem über den Schäden gezogen worden sein musste. Der Hauptmann wehrte den ersten Schlag ab und hörte zufrieden ein Knacken. Doch statt seinem Gegenüber den demolierten Prügel aus der Hand schlagen und ihm den finalen Schlag versetzen zu können, rückte ihm von rechts ein fähigerer Kontrahent auf die Pelle, der die Ausmaße eines Schrankes besaß. Er setzte ihm mit schnell geführten Schwerthieben zu.

„Uch“, keuchte Roche.

Nur mit größter Anstrengung schaffte er es, die Hiebe abzuwehren. Eine Lücke für einen Gegenangriff ließ ihm der Hüne nicht. Er wich einige Schritte zurück, stieß alsbald mit dem Hintern an ein Hindernis und fluchte unflätig. Sein Gegner grinste, während sich der ehemalige Besitzer des Holzknüppels mittlerweile mit einem Nachfolger bewaffnet hatte und sich ihm wieder näherte. Aus den Augenwinkeln sah der Hauptmann, dass Geralt gerade drei Gegner gleichzeitig beschäftigte.

„Dieser verfluchte ...“, murmelte er, konnte den Satz aber nicht beenden, da der Berg gerade zu einem Hieb auf seinen Kopf ausholte. Roche sprang in gebückter Haltung weg, bevor ihm das Schwert den Schädel spalten konnte, stieß dann aber mit dem Knüppelbesitzer zusammen. Dieser schlug ihm seinen Stock gegen das Knie und sprang ihn dann an. Gemeinsam fielen sie zu Boden und begannen, sich ineinander zu verkeilen. Anfangs hatte der Hauptmann noch die Oberhand, wurde dann aber zu Boden gerungen.

‚Dass in diesem Wurm so viel Kraft steckt‘, wunderte er sich.

Knüppel versuchte, sich auf seinen Bauch zu knien und die Kehle zuzudrücken. Roche wehrte sich nach Leibeskräften, schlug mit der Linken nach der Nase seines Gegners und griff dann mit der rechten Hand nach dessen Schädel. Er rutschte auf zu viel Schweiß ab.

„Schmieriger Wicht!“, kommentierte er.

Besagter Wicht hatte allerdings auch seine Sorgen damit, die Oberhand zu behalten. Er war eher schlaksiger Natur, daher leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. Roche war heilfroh, dass nicht der Berg auf ihm saß. Dieser hätte ihm im Nu alle Lebenslichter ausgepresst.

„Ich krieg dich noch!“, krächzte Knüppel.

Der Hauptmann musste den Kopf wegdrehen, sonst hätte er zwei fremde Finger in der Nase gehabt. Als Reaktion bekam er stattdessen eine Faust auf die Schläfe geschlagen.

„Pass bloß auf!“, ließ er sich vernehmen, hustete dann aber, weil er dreckiges Pfützenwasser ins Gesicht bekommen hatte. Zu allem Überfluss bekam Roche noch Blut ins Auge, der Wicht schien einen Schlagring zu tragen.

Währen sie sich so am Boden keilten, versuchte der Hüne, dem Knäuel aus Köpfen und Gliedmaßen einen Schlag mit dem Schwert zu versetzen. Offensichtlich war es ihm egal, ob er dabei seinen Komplizen oder Roche traf. Letzterer fragte sich nicht zum ersten Mal, nach welchen Kriterien Dijkstra seine Leute aussuchte. Knüppel schien Ähnliches zu denken, denn er riss die Augen auf und rollte schnell von Roche herab, als er die Beine seines Kollegen direkt neben sich sah und dann ein Schwert in den Boden gerammt wurde, wo er noch Momente zuvor seine Nase gehabt hatte. Roche nutzte den Schwung und rollte in dieselbe Richtung, kam keuchend auf die Beine und brachte rasch einige Schritte Abstand zwischen sich und den Hünen. Knüppel war weniger flink und musste ein Knie zwischen den Beinen einstecken. Heulend vor Schmerz ging er zu Boden und warf sich in Embryonalhaltung hin und her. Roche wandte sich von Knüppel ab. Dieser würde ihm keine Schwierigkeiten mehr machen. Sein Schwert jedoch lag jetzt für ihn außer Reichweite auf dem Boden, schräg hinter dem schwertschwingenden Hünen. Zu der hässlichen Fratze, die ihn triumphierend angrinste, gesellte sich eine zweite, die zu einem Axtschwinger gehörte.

„Verflucht noch eins!“

Schnell sah er sich um und wäre beinahe wieder gestolpert, über ein ungesund angewinkeltes Bein, wie er kurz darauf feststellte. Roche trat über den Leichnam hinweg, der zweifellos von Geralt fabriziert worden war. Nur Hexer schafften es, Menschen mit nur einem Hieb in zwei Teile zu spalten. Zumindest hatte er bisher nur Hexer dabei beobachten können.

Unter dem Unterleib, an dessen oberen Ende Gedärme in Hülle und Fülle heraushingen, war der Griff eines Schwertes zu sehen.

„Ich dachte schon, ich kämpf‘ hier allein“, kommentierte Geralt vorwitzig, als Roche das Schwert unter der Leiche hervorzog.

„Sehr witzig!“

Er nahm wieder Kampfhaltung ein. Das dämliche Grinsen seiner zwei Gegner war verschwunden. Roche stand Schulter an Schulter mit dem Hexer. Dies gewährte ihm die Möglichkeit, sich kurz umzusehen. Vier ihrer Gegner lagen am Boden, einer von diesen versuchte, auf dem Bauch wegzukriechen, übel aus einer Wunde am Kopf blutend. Ob die restlichen drei noch am Leben waren, ließ sich auf den ersten Blick nicht erkennen.

„Da fehlen doch welche“, murmelte der Hauptmann.

„Zwei hab ich wegrennen sehen“, flüsterte Geralt zurück, so als sei es das Selbstverständlichste der Welt.

„Ah ...“

„Wie viele hast du erledigt?“

„Halt die Fresse! Die werden vermutlich gleich mit Verstärkung hier sein, weil du welche entkommen lassen hast!“, keifte Roche.

„Ich kann das den ganzen Tag machen!“

Der Hauptmann verdrehte die Augen. „Also was jetzt? Die zwei Nasen kaltmachen und das Weite suchen?“

Geralt nickte. Blitzschnell wirkte der Hexer eines seiner berühmten Hexerzeichen. Roche wusste nicht, wie es hieß, beschloss aber, seinen Begleiter unbedingt danach zu fragen. Eine unsichtbare Schockwelle ließ Berg und Axt meterweit nach hinten fliegen und hart auf dem schlammigen Boden aufkommen, wo sie bewusstlos liegen blieben. Irgendwo über ihnen öffnete sich ein Fenster.

„Is‘ jetz‘ bald Schluss da draußen oder muss ich erst die Tempelwache holen?!!“, brüllte ein Mann mit tiefer Stimme, dem der nächtliche Lärm auf der Straße vor seinem Haus mittlerweile wohl reichte.

„Warum nicht gleich so?“

„Warum flüsterst du?“, raunte Geralt zurück.

Der Hauptmann der Temerischen Partisanen verdrehte die Augen gen Himmel. Der Hexer zog ihn am Oberarm mit, ohne sich auch nur um die am Boden Liegenden zu kümmern. Es wäre ein Leichtes gewesen, ihnen ein Schwert ins Herz zu rammen. So gefährlich ein Mensch mit einem Schwert oder einer Axt in der Hand im einen Augenblick sein konnte, so wehrlos konnte er gleich im nächsten sein, wenn er bewusstlos am Boden lag.

„Manchmal versteh ich dich nicht“, meinte Roche, als sie einige Meter gelaufen waren.

„Warum?“

Geralt erhielt keine Antwort.

Die beiden Männer liefen weiter und ließen das „Chamäleon“ hinter sich. Der Hexer hatte innerlich immer wieder gebetet, dass sein Freund Rittersporn im Haus bleiben möge. Wäre der Poet auf die Straße getreten, hätte er Geralts Unternehmung sicherlich kommentiert. Und so womöglich die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. 

Sie ließen die Taverne hinter sich und kamen an einigen etwas heruntergekommenen Häuserfronten vorbei. Den Bewohnern der Glorienstraße ging es um einiges besser als der Bevölkerung der Scherben. Trotzdem war die Armut auch hier deutlich zu sehen. Roche wäre fast über ein Schwein gestolpert, das mitten auf dem Weg Unkraut fraß. 

„Vorsicht...!“

„Verfluchte Großstadt.“

„Was ist denn mit dir los?“

„Ach...“

Wieder blieb Roche dem Mutanten eine Antwort schuldig.

„Sag ich dir später, wenn wir es hier raus schaffen.“

Geralt dachte sich nichts dabei.

„Was hast du jetzt vor?“, fragte er stattdessen, während sie unter dem Torbogen durchliefen. Sie mussten hart abbremsen, es standen viele Stadtwachen und Hexenjäger am Tor des Hierarchen herum. Der Hexer selbst wäre um Haaresbreite in eine finster dreinblickende Patrouille hinein gelaufen.

„Hör mal, können wir das vielleicht alles nachher besprechen?“, presste der Hauptmann der Temerischen Freischärler zwischen den Lippen hervor, nachdem sie sich durch die Wachen geschlängelt hatten.

‚Hier ist irgendwie viel los für diese Uhrzeit‘, hätte er fast noch hinzugefügt. ‚Zu viel!‘

„Das müssen sie sein!“, rief jemand.

Roche und sein Begleiter gingen umgehend in einen Sprint über. Bei der Menge an Gegnern, die sich hier offenbar versammelt hatte, konnten sie ihr Heil nur noch in der Flucht versuchen.

‚Selbst zwei Hexer würden hier nichts mehr bringen.‘

Geralt keuchte neben ihm, während sie die Straßen Fernecks entlang liefen. Es war das erste Mal, dass Vernon den Mutanten mit Schweiß auf der Stirn sah.

„Lauf!“, trieb er ihn an.

„Das ... sagst du ... so leicht ...“, keuchte Roche.

„Mit so vielen kann ich’s allein auch nicht aufnehmen ...“

„Hah! Kch ... Machst ... du etwa schon ... schlapp ...? Kchhh ...“

Das Getrappel vieler Füße war deutlich hinter ihnen zu hören, doch der Hauptmann war sich ziemlich sicher, dass keine Hufe darunter waren. Die Stadtwache von Novigrad war nicht dafür bekannt, ihren Dienst zu Ross zu verrichten. Diesem Umstand mochten sie es nun verdanken, dass ihnen ihre Verfolger zwar nach wie vor auf den Fersen waren, ihnen aber keinen Meter näher kamen.

„Ich ... frag m ... mich nur ... kech ... für wie ... lange ... kech.“

Auch der Hexer machte inzwischen einen erschöpften Eindruck. Er würde vielleicht noch ein oder zwei Angreifer abwehren können, bevor sie sie überwältigten.

„Komm, runter von der Straße ...!“, befahl Geralt.

Roche gehorchte ihm ausnahmsweise aufs Wort. Etwas sagte ihm, dass der Mutant einem Instinkt folgte, als er über einen morschen Zaun setzte und den Weg in ein Weizenfeld wählte. Der Hauptmann folgte ihm, fiel aber einige Meter zurück.

‚Langsam komm ich doch in die Jahre ... Blöder Zaun ...!‘, dachte er.

Sein linkes Knie hatte leicht zu Pochen angefangen. Dort hatte er vorhin den Knüppel drauf bekommen. Der Hexer passte sich seiner Geschwindigkeit an. Sie hatten das Weizenfeld bereits zur Hälfte durchquert, als ihre Verfolger die Einzäunung überwinden mussten.

„Das hält sie etwas auf“, meinte Geralt. „Aber sicher sind wir erst, wenn wir sie hinten beim Sonnenblumenfeld abschütteln können ...“

„Bei den Sonnen ... kech ... Blumen ...“

Der Hauptmann glaubte nicht so recht, was er da aus dem Mund seines Begleiters hörte.

„Sonnenblumen ...“

„Vertrau mir ...“

‚Als ob die sich in einem Sonnenblumenfeld abschütteln lassen.‘

Sie kamen ans Ende des Weizenfeldes und wechselten in besagtes Feld. Die Blumen waren noch nicht mal so hoch gewachsen, als dass sie sie komplett verdecken würden. Roche reichten sie gerade mal bis zu den Schultern, während Geralt gut sichtbar für ihre Verfolger durch das Feld lief. Diese waren ihnen nach wie vor auf den Fersen, hatten das Weizenfeld fast durchquert, wie der Hauptmann mit einem kurzen Blick über die Schulter feststellte.

„Geralt ...“

„Vertrau mir!“

„Tu ich ... kech ... ja.“

„Dann lauf ...!“

„Glaub mir ... kch ... ich bin ... ... kech ... willig ... aber ... kech ... mein Knie ...“

Es gab nach. Roche schlug nur deshalb nicht der Länge nach hin, weil der Hexer auf dem Absatz kehrtgemacht und ihn aufgefangen hatte. Rüpelhaft zog er ihn weiter.

„Geralt ... ich ...“

„Nur bis da hinter ... Mein Medaillon vibriert ...“

Roche versuchte, seine letzten Kraftreserven zu mobilisieren. Der Mutant hatte ihm vor langer Zeit einmal erklärt, was es mit den geheimnisvollen Hexer-Medaillons auf sich hatte. Es vibrierte, sobald in der Nähe Magie gewirkt wurde. Oder sich Monster im Umkreis befanden.

„Ertrunkene ...?“, fragte er ins Blaue hinein.

„Nein, Schlimmer.“

Der Hauptmann der Temerischen Freischärler fragte nicht weiter. Lieber, er wusste nicht so genau, was sie erwartete.

Sie hatten das Ende des Blumenfeldes erreicht, hier verlief wieder einer der ausgefahrenen Wege. Zum Glück mussten sie nicht wieder über einen Zaun klettern. Geralt fand schnell eine Lücke in der kleinen Mauer, die das Sonnenblumenfeld von der Straße abgrenzte und zog Roche hindurch. Ihre Häscher waren auf wenige Meter an sie herangekommen.

Der Hexer zog ihn nun mit aller Kraft weiter, Roche stolperte mehr, als dass er lief. Er wagte gerade wieder einen Blick zurück, als ihn ein ohrenbetäubendes Kreischen zusammenzucken ließ.

„Jetzt nicht aufgeben ...!“

Geralt kümmerte sich gar nicht um die Mitternachtserscheinungen, die um sie herum auftauchten. Ob sie von dem Tumult auf dem Feld angelockt worden waren oder ob es einen anderen Grund gab, weshalb sie so plötzlich und in vergleichsweise großer Zahl erschienen, war Roche ein Rätsel. Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn ein oder zwei dieser Geister hatten ein Auge auf ihn und den Hexer geworfen. Geralt ließ ihn fallen, wo er war, und zog sein Silberschwert.

„Vergiss es!“, mahnte er, als er sah, dass der Hauptmann sich mit seiner Waffe abmühte.

Roche verdrehte die Augen, meldete aber auch dieses Mal keinen Widerstand an. Sein linkes Knie gehorchte ihm mittlerweile nicht mehr richtig. Er konnte sich gar nicht daran erinnern, dass der Schlag mit dem Knüppel so schmerzhaft gewesen war. Sein Schwert als Gehhilfe missbrauchend, kam er wieder auf die Beine und humpelte weiter.

„Zu dem Wäldchen ...! Ich finde dich schon, wenn ich das hier erledigt habe!“

Der Hauptmann machte sich auf den Weg, unterließ es, einen Blick zurückzuwerfen auf das Geschrei, das sich hinter ihm entbrannt hatte. Das Dickicht vor ihm war sein Ziel, seine Rettung. Ungelenk tauchte er in die Schatten zwischen dem Gestrüpp ein und war nicht mehr gesehen.

 

* * *

 

„Irgendwie hat man das ja erwarten können“, meinte Geralt in die Stille hinein. „Kommt schon, Leute, es ist Dijkstra, mit dem ihr euch eingelassen habt. Verschlagenheit könnt ihr ihm nun wirklich nicht vorwerfen.“

Thaler lag auf einer Pritsche, die Augen geschlossen. Ein frischer Verband zierte seinen Oberschenkel. Er atmete ruhig, ob er schlief, war selbst für den Hexer nicht erkennbar. Ves hatte sich in eine andere Ecke des Nebenraums verkrümelt. Als Geralt es zu den Sieben Katzen geschafft hatte, war sie gerade noch dabei gewesen, sich um ihre eigenen Blessuren zu kümmern, während Thaler gerade einem Stück Käse, einer Brotkante und einem halben Brathähnchen vom Vorabend den Garaus machte. Der Hauptmann der Temerischen Freischärler seinerseits war in ein Gespräch mit der Tavernenbesitzerin, Eliza, vertieft gewesen. Anstandshalber hatte der Mutant seine Neugier im Zaum gehalten und gewartet, bis Roche von selbst auf ihn aufmerksam wurde. Jetzt allerdings versuchte er erneut, ihm klarzumachen, was für eine dumme Idee das Attentat auf König Radovid den Strengen gewesen war. Auch wenn es am Ende gut ausgegangen war.

„Dijkstras Verrat hätte euch nicht überraschen dürfen“, setzte Geralt erneut an. „Einmal Spion, immer Spion. Davon bist du doch auch nie weggekommen, Thaler.“

Der Glatzkopf antwortete nicht, doch Geralt war sich mittlerweile sicher, dass er hellwach war.

„Und was hätten wir deiner Meinung nach machen sollen, oh großer Politikexperte Geralt?“, fragte Roche.

Der Hexer überging den spitzen Unterton.

„Vernon! Wie lange kennen wir uns mittlerweile?“, fragte er stattdessen.

„Lange genug, damit ich dir die ein oder andere Unverfrorenheit durchgehen lasse!“, fauchte der Hauptmann zurück.

Geralt verdrehte die Augen.

„Und ich kenne dich mittlerweile auch lange genug, um dich einschätzen zu können. Roche! Komm wieder runter von deinem Egotripp und streng dein Hirn an. Du weißt selber, dass du momentan nicht klar denken kannst. Ist es für dich so verwunderlich, dass Dijkstra dich ... euch, hintergangen hat?“

Ves zog in der Ecke scharf die Luft ein. Der Hauptmann seinerseits musterte seinen Gesprächspartner, bevor er antwortete. Geralts Gesicht lag in den Schatten, der Nebenraum der Taverne, in dem sie sich gerade befanden, war nur spärlich mit Kerzen erhellt. Lediglich die Katzenaugen des Hexers waren gut sichtbar, umrahmt von heller Mähne und einem zotteligen Bart. Roche hatte schon immer wissen wollen, ob die Augen eines Hexers genau wie Katzenaugen waren, ob sie genauso gut wie die Samtpfoten ihren Weg durch die Nacht fanden. Bisher hatte er nie Gelegenheit gehabt, sich danach zu erkundigen. Jetzt fixierte ihn ein Paar Katzenaugen aus der Finsternis heraus.

„Mich ärgert mehr, dass wir uns so leicht von ihm haben täuschen lassen“, gestand der Hauptmann. „Zugegeben, Freunde waren wir noch nie. Trotzdem hatte ich geglaubt, wir verfolgten dasselbe Ziel.“

„Meinst du nicht eher, dass er euch von Anfang an nur benutzt hat?“, fragte der Mutant direkt.

Roche zog ein Gesicht, als ob er ihm die Haut abziehen wollte.

„Fordere mich nicht heraus ...!“, drohte er.

„Sonst was? Glaubst du, ich hab es nötig, mit mir darüber zu diskutieren, wie leicht du Dijkstra auf den Leim gegangen bist? Ob du es glaubst oder nicht, nein, ich hab’s nicht nötig. Du bist derjenige, der die Verantwortung dafür hat. Ich war nur zur falschen Zeit am falschen Ort und habe mich dazu durchgerungen, euch raus zu hauen. Gern geschehen ...“

„Wir sind dir sehr dankbar!“, sagte Ves schnell, bevor Roche die Situation durch einen unbedachten Satz noch verschlimmerte. „Bitte denke nicht schlecht von Vernon. Du sagtest ja selbst, dass er momentan nicht klar denken kann.“

Dabei warf die Blondine dem Hauptmann einen durchdringenden Blick zu, der länger als sonst auf seinem Gesicht haften blieb.

„Wie dem auch sei“, antwortete Roch, als sie sich schlussendlich doch abgewandt hatte. „Den Hurensohn werd‘ ich zur Strecke bringen. Aber erst einmal sollten wir uns Gedanken machen, was wir von nun an tun.“

Aus der Ecke drang ein Seufzen zu ihnen heran. Thaler schien nun endgültig beschlossen zu haben, sich nicht mehr dem Anschein von Schlaf hinzugeben. Ves ging zu ihm hinüber, um ihm beim Aufsitzen zu helfen, was von einem Hustenanfall quittiert wurde.

„Dijkstra weiß viel zu viel über uns, Roche“, meinte der Glatzkopf, als er sich wieder beruhigt hatte. „Das ist, wenn du mich fragst, momentan unser Hauptproblem.“

„Thaler hat Recht“, pflichtete die junge Frau ihm bei. „Wir haben zwar so wenig wie möglich über unsere Einheit preisgegeben, aber er wird sicher Erkundigungen eingezogen haben.“

Roche musterte die beiden aufmerksam. Wenn sie wollte, konnte sein Feldwebel so scharfsinnig wie attraktiv sein. Leider ließ sie sich nach wie vor zu häufig von ihren Emotionen leiten. Der Glatzkopf seinerseits war da schon erfahrener. Er behielt seine Gefühle in der Regel sehr gut im Zaum und tendierte zu pragmatischen Lösungsansätzen.

„Wir werden wohl nicht umhinkommen, unser Hauptquartier wo anders aufzuschlagen. Hat jemand irgendwelche sinnvollen Ideen?“, fragte der Hauptmann.

„Wie wäre es nördlich von Novigrad?“, schlug Ves vor. „Das Gebiet ist weitläufig und über weite Flächen unbewohnt.“

„Und nicht weit vom Meer entfernt“, fügte Thaler hinzu.

„Und das bringt uns inwiefern weiter? Mensch, Thaler!“, tadelte Roche. „Wir sind keine Seefahrer, ich zumindest nicht, der Großteil meiner Leute auch nicht. Ich weiß nicht, wie’s mit dir steht, aber momentan haben wir andere Sorgen. Segeln lernen können wir hinterher immer noch. Nein, nördlich von Novigrad ist keine gute Idee. Unterbrich mich nicht, Ves! Viel zu tief in Redanischem Gebiet. Damit würde Dijkstra zwar nicht rechnen, aber mir ist doch unwohl bei dem Gedanken, dass uns auf einer Seite der Fluchtweg abgeschnitten sein könnte.“

„Novigrad solltet ihr in jeder Hinsicht meiden“, warf Geralt ein.

Der Hexer hatte sich aus ihrer vorangegangenen Diskussion heraus gehalten und sich über die Reste des Mahls hergemacht, das Eliza, die Tavernenwirtin, ihnen bereitet hatte. Jetzt leerte er seinen Humpen in einem Zug, unterließ es aber, danach zu rülpsen.

„Überhaupt solltet ihr jeden Ort umgehen, in dessen Nähe sich Redanische Streitkräfte befinden. Von den Nilfgaardern ganz zu schweigen.“

Ves verdrehte die Augen.

„Dann sollten wir uns möglichst von der Frontlinie fernhalten“, sprach Thaler aus, was die Blondine dachte. „Vor dem Hintergrund muss ich Ves allerdings zustimmen. Im Norden ist allgemein weniger los, und ...“

„Und ich bin der Meinung, dass es keine gute Idee ist!“, fuhr Roche dazwischen. „Und damit ist die Diskussion für’s erste beendet.“

Der Hauptmann drohte Ves mit ausgestrecktem Zeigefinger, als sie noch etwas zu dem Thema sagen wollte.

„Glaubt nicht, dass ich mir keine Gedanken mache. Oder in der Vergangenheit keine gemacht habe“, erklärte er in versöhnlicherem Ton. „Entschuldigt, dass ich die letzten Stunden so aufgekratzt war.“

Thaler, die Blondine und Geralt tauschten erstaunte Blicke aus. Es kam selten vor, dass Roche sich entschuldigte. Vielleicht tat er es auch nur, weil sie in kleinem Kreis waren und, soweit es Thaler und Ves betraf, sie seine engsten Vertrauten waren.

„Geralt, ich muss mich Ves anschließen. Vielen Dank, dass du dich auf unsere Seite geschlagen hast. Ohne dich hätten wir es vermutlich nicht geschafft.“

„Hör mal ...“, fing Geralt verlegen an, doch auch er erntete einen hochgereckten Zeigefinger und schwieg perplex.

„Thaler, dir scheint es wieder besser zu gehen?“, fragte der Hauptmann.

„Hah. Ich habe einen Schwerthieb gegen den Oberschenkel gekriegt, was glaubst du wohl, wie gut es mir geht?“, blaffte der Glatzkopf.

„Thaler, wenn du dich so aufregst, dann scheint es dir tatsächlich wieder besser zu gehen!“, konterte Roche bestimmt.

„Nicht so laut ...“

„Zu Fuß schafft er es trotzdem nicht in euer Versteck.“

„Nun, jedenfalls nicht, ohne uns gehörig aufzuhalten“, schloss der Hauptmann der Partisanen nachsichtig. Er signalisierte Geralt, ihm in eine andere Ecke des Raumes zu folgen.

„Irgendwas sagt mir, dass du mich wieder einspannen willst“, schlussfolgerte der Hexer resigniert.

„Stimmt.“

Roche warf einen Blick auf Thaler, der ihn mit stoischer Gelassenheit erwiderte. Der Glatzkopf schien genau zu wissen, dass es um ihn ging.

„Der Ort, der mir als neuer Unterschlupf vorschwebt, ist für Thaler in seiner jetzigen Verfassung kaum zu erreichen. Nicht, wenn wir ihn nicht auf einem Wagen transportieren können. Aber das macht uns angreifbar.“

„Stattdessen soll ich mich um ihn kümmern? Ist es das, was dir vorschwebt?“

Vernon nickte.

„Roche, ich bin kein Heiler ...“

„Das ist mir bewusst. Aber du wirst mit mir übereinstimmen, dass ich meine Leute so schnell wie möglich aus unserem bisherigen Versteck abziehe. Thaler würde uns dabei nur aufhalten.“

Geralt nickte verständnissvoll, taxierte den Hauptmann dann aber.

„Traust du ihm?“, flüsterte er.

„Thaler? Ja“, antwortete Roche nach einem Moment.

Der Hexer erwiderte nichts. Es war nur ein laues Gefühl im Unterbewusstsein, wonach Roche einen Augenblick zu lange gezögert hatte.

„Und was schwebt dir konkret vor?“

Nun war es an Roche, Geralt zu mustern.

„Hör mal, ich mag dir und deiner Sache vielleicht nicht ergeben sein, aber du wirst auch mir vertrauen müssen. Sonst ...“

„Schon gut“, wehrte der Hauptmann ab. Er beugte sich noch näher an Geralt heran, als hätte er Angst, dass Ves und Thaler ihn sonst hören könnten.

„Östlich von Oxenfurt, etwa einen halben Tagesritt entfernt, gibt es eine kleine Hügelkette, die ihre Ausläufer bei der Mündung des Ismena in den Pontar hat. Die Hügel ziehen sich einige Meilen den Strom entlang und biegen dann nach Norden ab. Vielleicht kennst du sie?“

„Die Dimmehügel? Wenn du dort auf Scoia’tael-Banden triffst, sind die dein kleinstes Problem ...“

„Shht, nicht so laut ...“, mahnte Roche.

„Wie kommst du ausgerechnet auf die Gegend?“, flüsterte der Hexer weiter. „Nicht, dass ich deinen Schneid nicht kennen würde, aber ausgerechnet Scoia’tael Gebiet? Das wirkt mir doch etwas zu abenteuerlich für deine Verhältnisse.“

„Sei nicht albern. Die Scoia’tael spielen schon lange keine Rolle mehr in der Politik. Seit dem Frieden von Cintra haben sich die meisten großen Kommandos zerschlagen.“

„Das mag sein, aber die Pfeilspitzen von kleineren Gruppierungen können euch immer noch übel in euren Ärschen schmerzen.“

Der Hauptmann legte den Kopf schief.

„Meintest du nicht eben, die Anderlinge dort seien unser geringstes Problem?“

„Ja, der Meinung bin ich nach wie vor. Roche, ich hab Gerüchte über diese Gegend gehört ... Nördlich von Novigrad ist vielleicht doch keine so schlechte Idee.“

„Ich überleg es mir“, wiegelte Roche ab. „Jetzt geht es erst einmal darum, von hier wegzukommen. Deine Idee mit den Erscheinungen war geradezu fabulös, aber der Speckwanst wird sich davon nicht lange abhalten lassen. Und ich will Eliza nicht unnötig in Gefahr bringen. Sie hat sowieso schon viel zu viel für uns riskiert.“

Geralt überlegte, ob er seinem Gesprächspartner wegen der Dimmehügel noch einmal ins Gewissen reden sollte. Er war ehrlich besorgt, fürchtete aber, dass der Hauptmann der Temerischen Freischärler wieder mit dem üblichen Starrsinn reagieren würde, den er in der Vergangenheit so manches Mal an den Tag gelegt hatte. Vielleicht hatte Ves mehr Glück. Oder die anderen Widerstandskämpfer hatten vielleicht eine bessere Idee für ein Versteck.

„Ich werd‘ ein paar Vorräte zusammenpacken und mich dann mit Thaler auf den Weg machen“, erklärte der Hexer. „Wie erreich ich dich?“

„Geralt, nicht nur Dijkstra hat sein Spionagenetz.“

„Schon gut schon gut. Dann brauch ich dir ja nicht sagen, wo ich Thaler verstecken werde.“

„Nein. Ich werd‘ euch schon finden.“

‚Wenn es von Notwendigkeit ist‘, fügte Roche in Gedanken hinzu.

„Ves, zu mir!“

Die Blondine ließ den Glatzkopf auf der Pritsche hocken und kam Roche erwartungsvoll entgegen.

„Hauptmann?“

„Pack deine Sachen zusammen, wir brechen auf.“

Ves nickte und begann umgehend mit den Vorbereitungen zum Aufbruch. Roche sah ihr hinterher.

„Das liebe ich an ihr ...“

„Was?“

„Dass sie Befehle kommentarlos ausführt.“

Geralt sah ihn schelmisch von der Seite her an.

„Schon klar.“

„Was?“

„Nichts.“

Thaler kam auf sie gehumpelt.

„Und was ist mit mir?“, frage er vorwurfsvoll.

„Dich setzen wir auf Plötze und bringen dich in Sicherheit“, meinte der Hexer.

„Du willst mich absägen!“, lautete der Vorwurf an Roche.

„Nein. Aber in deinem Zustand bis du unserer Sache nicht dienlich“, konterte der Hauptmann. „Oder willst du etwas anderes behaupten.“

Der Glatzkopf grummelte in seinen Dreitagebart hinein, ergab sich aber seinem Schicksal.

„Und wo geht’s hin?“, wollte er von Geralt wissen.

„Das ist eine Überraschung.“

„Na toll, nichts lieber als das. Vermutlich irgendein stinkendes Loch, das seit Jahrzehnten schon kein Tageslicht mehr gesehen hat.“

Der Hauptmann der Widerstandskämpfer ließ sich nicht zu einem Kommentar hinreißen. Stattdessen reichte er Geralt die Hand. Der Hexer ergriff sie.

„Danke, Freund!“

 

* * *

 

Hortensio schluckte und verschluckte sich. Er bekam einen Hustenanfall und stemmte sich mühsam von seinem Schlafplatz hoch. Seufzte vernehmlich. Gähnte herzhaft. Versuchte, sich den Schlaf aus den Augen zu reiben. Vergeblich. Kratzte stattdessen seinen Bart. Anschließend seinen Hintern. Gähnte nochmals. Wie jeden Morgen um diese Zeit, wenn er nicht gerade Wachdienst am Eingang zur Höhle hatte. Niemand beachtete ihn und so gönnte sich der Temerische Widerstandskämpfer noch einen Augenblick der Ruhe, bevor der Ernst des Tages anbrach. Oder bevor jemand auf die Idee kam, ihn mit irgendwas zu behelligen.

Wenn ihr Anführer, Vernon Roche, auswärts zu tun hatte und Ves bei seinen Expeditionen mitnahm, übergab er Hortensio das Kommando über die kleine Einheit von Freischärlern, die sich hier nordöstlich von Oxenfurt versteckt hielt. Der Alte stand Ves in nichts nach, beide bekleideten sie den Rang eines Feldwebels. Doch er überließ der jungen Frau gerne den Vortritt, wenn es darum ging, Verantwortung zu übernehmen. Nicht, weil er sie scheute, sondern weil er der Meinung war, dass die Jungen langsam das Ruder übernehmen sollten.

‚Was ich Roche nicht nur einmal unter die Nase gerieben habe‘, dachte er brummig.

Trotzdem hatte dieser bisher immer abgelehnt, ihn aus seinem Dienst zu entlassen. Zu wichtig seien Roche Hortensios Erfahrung und Können im Kampf, als dass er auf ihn verzichten könnte. Was dem Alten jedes Mal aufs Neue schmeichelte. Und worüber er sich hinterher regelmäßig ärgerte, weil er sich doch wieder hat einlullen lassen.

„Herr Feld ...“

Der Alte hatte den Grünschnabel mit einem Blick zum Schweigen gebracht. Er hasste es, wenn sie versuchten, ihn mit seinem Dienstgrad anzusprechen. Als ob sie nicht inzwischen wie eine Familie waren.

„Hortensio ...“, setzte der Jüngling neu an.

„Schon besser.“

„Guten Morgen.“

„Morgen. Was gibt’s? Irgendwas neues von unseren obersten Köpfen? Sind sie mittlerweile wieder eingeflogen?“

„Bisher nicht.“

„Na die machen mir ’ne Freude!“

Der Alte stemmte sich nun endgültig in die Höhe. Es hatte schließlich keinen Zweck, noch länger auf der Pritsche zu verweilen, während der junge Mann ihn erwartungsvoll anblickte.

„Sonst irgendwelche Auffälligkeiten, Najden?“

„Nein, He ...“

„Wag es nicht!“

„He ... Hortensio.“

„Komm ja nicht auf die Idee, meinen Namen zu verunstalten. Also, was steht deiner Meinung nach heute an?“

Der Feldwebel klaubte seine sieben Sachen zusammen, die neben seiner Schlafstatt auf dem Boden lagen. Viel war es eh nicht, sein nietenbeschlagenes Lederwams, die blaue Jacke, die er üblicherweise darunter trug, die verbeulten Schulterschützer, seine Stiefel sowie Bogen und Köcher.

„Lagebesprechung, sobald Hauptmann Roche, Feldwebel Ves und Herr Thaler zurück sind, Sir“, rutschte dem Nachwuchsfreischärler heraus.

Hortensio seufzte, während er sein Wams überstreifte.

„Najden, ich habe dich so oft gebeten, diese blöden Anreden sein zu lassen.“

„Aber ...“

„Kein ‚aber‘. Du magst dich vielleicht nicht mehr daran erinnern, aber dein Vater und ich haben schon gegen die Nilfgaarder gekämpft, als du noch in den Windeln gelegen hast“, erklärte der Armbrustschütze mit väterlichem Ton.

„Aber ihr ... du bist nicht mein Vater“, stammelte Najden.

„Junge, ich hab deinem Vater am Sterbebett versprochen, ein Auge auf dich zu haben. Ich nehme so einen Schwur für gewöhnlich sehr ernst.“

„Wie viele hast du denn schon geleistet?“, fragte der Bursche neugierig.

„Junge! Stell meine Geduld nicht unnötig auf die Probe. Für dich bin ich immer noch Hortensio, kein Sir, kein Herr, kein Feldwebel. Damit das klar ist! Und nun bring mir was zu essen!“

Najden fuhr herum und hastete davon, um irgendwo etwas Essbares aufzutreiben. Der Alte sah ihm kopfschüttelnd hinterher.

„Lass ihn doch, wenn er es unbedingt will“, meinte jemand schräg hinter ihm.

„Athur, fang du nicht auch noch an.“

„Ich sag ja nur, der Junge weiß, wie man sich Vorgesetzten gegenüber zu verhalten hat. Du solltest ihm nicht irgendwelche Flausen in den Kopf setzen.“

Hortensios Gesprächspartner war einer der Späher der Temerischen Freischärler und unter anderem dafür verantwortlich, dass sich niemand Unbefugtes ihrem Versteck näherte. Athur verdrückte etwas Pökelfleisch, was Hortensio das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.

„Was gäb ich jetzt, für ein Eck vom Speck, verzehrt‘ es flink, bevor gehetzt, danach ich trink‘...“

„Bei Meliteles Hühneraugen. Hör auf, so blöd zu reimen, oder willst du mich um meinen Schlaf bringen?“

„An deiner Stelle würde ich mich nicht zu früh freuen. Roche und die anderen müssten eigentlich längst zurück sein. Ich nehme an, dass du und deine Leute noch nichts von ihnen gesehen haben?“

Athur schüttelte den Kopf.

„Etwas muss sie aufgehalten haben“, schätzte der Armbrustschütze.

„Oder jemand. Meinst du, es gab Schwierigkeiten?“

„Bei solchen Missionen läuft immer irgendwas schief.“

Hortensio ließ den Mann stehen, wo er war, und wandte sich Richtung Höhleneingang. Auf halbem Wege kam ihm Najden entgegen. Der Junge hatte ihm zwei Schinkenbrötchen, ein gekochtes Ei und einen Apfel aufgetrieben. Der Feldwebel nahm die Gaben dankend entgegen.

„Gut. Und jetzt geh und hol mir noch was zu trinken.“

Triumphierend zog Najden einen Wasserschlauch aus Ziegenleder hinter seinem Rücken hervor.

„Die Sonne schaut schon über die Baumwipfel herein.“

„Und sonst so? Was singen die Drosseln von den Bäumen?“

„Manche machen sich Sorgen, wo der Hauptmann bleibt.“

„Dacht‘ ich’s mir doch“, antwortete der Alte und biss in eines der Schinkenbrötchen. 

„S ... Hortensio?“

„Ja?“

„Vielleicht sollten wir noch einen Falken ausschicken?“

„Meinetwegen. Hol mir Leif her!“

„Aber ...!“

„Kein aber!“

Najden ging mit hängenden Schultern los, um Leif, einen der anderen Späher, im Lager ausfindig zu machen. Hortensio sah im kopfschüttelnd hinterher.

‚Der Junge wird langsam übermütig.‘

Trotzdem musste der Feldwebel ihm auch Recht geben. Er selbst machte sich langsam Sorgen, dass Roche in Schwierigkeiten sein könnte. Einen weiteren Kundschafter auszuschicken, der gezielt nach dem Hauptmann suchte, war keine abwegige Idee. Hortensio nahm einen Schluck aus dem Wasserschlauch und knackte danach das Ei. Schnell hatte es das Zeitliche gesegnet. Der Feldwebel bezog am Eingang zur Höhle Stellung. Zwei ältere Widerstandskämpfer taten hier gerade ihren Wachdienst. Zurückhaltend grüßten sie den Stellvertreter, konzentrierten sich wieder auf die unmittelbare Umgebung. Im nächsten Moment rissen sie ihre Armbrüste hoch, zielten auf einen Wacholderstrauch. Einer ließ den Bolzen fliegen.

Ein saftiger Fluch aus dem Unterholz quittierte ihr Pflichtbewusstsein und ihre Aufmerksamkeit. Hastig ließen sie ihre Waffen wieder sinken. Hortensio hatte vor Schreck seinen Apfel fallen gelassen, in den er einmal hineingebissen hatte. Schlapp rollte das Stück Obst davon und ward nicht mehr gesehen.

„Himmel, Arsch und Zwirn! Roche!! Was fällt dir überhaupt ein?!“, schimpfte der Alte nicht minder inbrünstig.

Der Hauptmann der Temerischen Freischärler stapfte aus dem Unterholz hervor. Der Feldwebel musste zweimal hinsehen, um ganz sicher sein zu können.

„Humpelst du? Verflucht! Warum zum Teufel humpelst du?“

Hortensio trat auf ihn zu in der Absicht, ihn zu stützen.

„Hör auf, mich wie einen Krüppel zu behandeln. Mach dir lieber um Ves Sorgen!“

Roche stiefelte an ihm vorbei ins Lager. Die Blondine folgte ihm auf zwei Meter Entfernung, sichtlich abgekämpft und mit einem losen Verband um den Kopf. Vom einen auf den anderen Schlag wurde es hektisch in dem Unterschlupf. Soldaten, die gerade Liegestütze machten, kamen ungelenk auf die Füße. Schläfer wurden rüde geweckt, andere unterbrachen die Pflege ihrer Ausrüstung.

„Sind alle da?“, fragte ihr Anführer, als es halbwegs still geworden war.

„Nur zwei Späher sind draußen“, faselte Athur verschlafen aus einer der hinteren Reihen.

„Gut. Also hört mir zu!“

Totenstille.

„Radovid der Strenge ist Geschichte!“

Jubel brach aus. Freudenschreie hallten von den Felsen wider, dass man meinen konnte, der jüngste Tag brach an.

„Ruhe!“, brüllte Roche, doch seine Leute ließen sich nicht bändigen. „RUHE HAB ICH GESAGT!!“

Wenige Augenblicke später herrschte wieder Schweigen.

„Packt sofort alles zusammen! Wer in einer Stunde nicht reisefertig ist, bleibt zurück!“, ordnete Roche an. „Athur! Zu mir!“

„Sir!“

Der Hauptmann stürzte davon und ließ seine Widerstandskämpfer irritiert zurück.

„Los, Bewegung! Ihr habt ihn gehört!“, trieb Hortensio sie an und folgte Roche anschließend.

Er fand ihn in dem Teil der Höhle, in dem er selbst zuvor noch geschlafen hatte.

„... und der Bruder von Leif dann nachkommen“, hörte der Alte noch.

„Jawohl, Herr Hauptmann!“

Athur stürzte an Hortensio vorbei. Es war offensichtlich, dass der Späher keine Minute Schlaf bekommen hatte.

Verdattert drehte sich der Feldwebel wieder um und sah Roche und der Blondine dabei zu, wie sie ihre eigenen Sachen packten.

„Willst du mir vielleicht erklären, was passiert ist?“, fragte er vorwurfsvoll.

„Wir wechseln die Basis“, erwiderte der Hauptmann knapp, ohne ihn anzusehen.

„Und wohin, wenn ich fragen darf?“

„Weg!“

Roche beachtete Hortensio nicht weiter.

„So weit weg von Novigrad, wie möglich“, erklärte Ves.

Sie sah den Alten entschuldigend an. Der Feldwebel zuckte mit den Schultern und fing ebenfalls an, seine Sachen zu packen. Viel hatte er nicht, nur einen großen Sack, in dem sich seine meisten Habe eh schon befanden. Für Situationen wie diese, die sie zwangen, überstürzt aufzubrechen. Trotzdem hätte er gerne den Grund dafür erfahren. Sicherheitshalber prüfte er noch einmal, ob der Anhänger auch wirklich an seinem Platz war. Und ob auch wirklich kein Bolzen fehlte.

Hortensio wusste, er durfte den Hauptmann nicht zu sehr bedrängen. So aufgekratzt wie jetzt hatte er ihn selten erlebt und selten war die Sache gut ausgegangen. Ihm war gleich aufgefallen, dass Thaler fehlte.

„Ich bin froh, dass ihr halbwegs unversehrt zurück seid“, meinte er an Ves gewandt.

Die Blondine schüttelte nur den Kopf.

„Es war nicht ganz einfach“, erzählte sie trotzdem. „Nun ja, wir waren erfolgreich. Wir hätten uns nur nicht einwickeln lassen dürfen.“

„Ah!“, antwortete Hortensio wissend, obwohl er gar nichts mehr verstand.

„Dijkstra hat uns hintergangen“, erklärte Roche kurz und knapp.

„Oh!“

Es klang wenig überrascht. Der alte Armbrustschütze fragte nicht weiter, sondern konzentrierte sich nun vollends auf seinen Sack. Er hatte so viel hineingestopft, wie möglich war. Ein zerlegenes Kissen und eine löchrige Decke zu der wenigen Kleidung, die er besaß. Die Pritschen und Strohsäcke, die ihnen als Schlafgelegenheiten gedient hatten, mussten sie wohl oder übel hier lassen. Hortensio würde ihnen keine Träne nachweinen.

Roches Männer hatten gelernt, nur mit dem allernötigsten auszukommen. Luxus hatte es schon damals in der alten Einheit der Blauen Streifen nicht gegeben, als sie noch König Foltest unterstellt und nicht zu einem Leben im Widerstand gezwungen waren. Erlesene Weine aus Toussaint, Seide, reich verzierten Brokat, Juwelen und Perlen. Diese Dinge blieben den Monarchen, Adligen und sehr wohlhabenden Händlern vorbehalten. Trotzdem sehnte der gestandene Feldwebel die Nacht herbei, zu der er wieder in einem richtigen Bett würde schlafen können.

„Aber daraus wird wohl nichts ...“, murmelte Hortensio.

Er packte seinen Sack und ließ Ves und den Hauptmann in Ruhe. Während ihres Marsches würden sie sicher noch genügend Gelegenheiten haben, über die vergangenen paar Stunden und Tage zu sprechen. Und vor allem zu beraten, was sie von nun an taten.

„Seid ihr da hinten immer noch nicht fertig?!“, brüllte der Alte einer Gruppe Widerstandskämpfer zu, die sich an einigen der Fässer zu schaffen machten. „Lasst das Zeug stehen, das werden wir eh nicht mitnehmen können. Meine Güte, alles darf man selber machen. Haben wir fluchtartige Aufbrüche denn noch nicht häufig genug geübt?“

Die Männer zuckten mit den Achseln und wandten sich ab.

In der halben Stunde seit Roches Ankündigung, dass sie weiterzögen, hatte sich das Versteck sehr verändert. Was nicht niet- und nagelfest war, war größtenteils in Säcke und Umhängetaschen gepackt worden. Was den Rest betraf, würden ein Schwefelsalpetergemisch und einige Fackeln sicher gute Dienste leisten.

„Wie weit sind wir?“

Hortensio fuhr herum. Ves stand hinter ihm und sah ihn müde an. Sie hatte ihr Oberteil gewechselt. Das Hemd und die Jacke in Temerischen Farben – beides in der Regel weit offenstehend – wurden jetzt von einem langärmeligen Wams ersetzt.

„Komm, lass mich deinen Verband wechseln.“

Die Blondine seufzte, ergeben setzte sie sich auf eine Kiste, die sie nicht auf ihrer Reise begleiten würde. Der Alte schnitt vorsichtig den Knoten auf und wickelte die Lappen ab. Eingetrocknete Blutflecken zeugten von dem Abenteuer der letzten Nacht.

„Das ist ja weniger schlimm, als es anfangs ausgesehen hatte.“

„Weiß ich.“

„Die Jungs müssten bald fertig sein“, erwiderte er auf Ves‘ Frage, schnürte seinen Sack noch mal auf und wühlte darin herum.

„Das willst du wirklich alles mitschleppen?“, fragte die Frau.

„Ein bisschen Wegzehrung für zwischendurch. Der letzte Nottropfen, sozusagen.“

Ves betrachtete die kleine, tönerne Feldflasche, die neben einem sauberen Tuch zum Vorschein kam. Der Korken flog davon.

„Tut mir leid.“

„Ach was. Komm her!“

Sie wandte Hortensio die linke Gesichtshälfte zu und biss die Zähne zusammen. Sachte tupfte er etwas von dem Branntwein auf die Wunde an der Augenbraue.

„Lass uns das heute Abend noch mal machen, dann sollte die Wunde bald verheilt sein.“

„Es wäre nicht nötig gewesen, dass ...“

„Schon gut.“

Der Alte nahm einen Schluck aus der Feldflasche und hielt sie dann Ves hin.

„Hier. Für die Nerven.“

Dankbar nahm sie die Flasche an, trank, und reichte sie wieder zurück. Hortensio pfefferte sie in eine Ecke, wo sie zerschellte.

„Nun kümmern wir uns, dass diese Böcke endlich fertig werden. Ehrlich, ich werde Roche darauf hinweisen, dass wir überstürztes Flüchten noch einmal üben müssen. Sieghard, die Bomben nicht oben ans Gerüst, außer natürlich, du willst die Höhle zum Einsturz bringen!“

„War das nicht unser Plan?!“, rief der Angesprochene zurück.

„Nein! Es soll alles ein schönes Lagerfeuer ergeben. Für professionelle Felssprengung haben wir keine Zeit, also komm da runter und leg die Lunte hier unten an!“

Sieghard brummte eine unverständliche Beleidigung, tat aber, wie ihm geheißen. Im Hauptteil der Höhle hatte sich mittlerweile ein hübsches Häufchen aus Unrat und nicht zu transportierender Ausrüstung gebildet. Zwei Freischärler waren dabei, die anderen Soldaten, die bereits mit Packen fertig waren, vor der Höhle in mehreren Gruppen zu sortieren.

„Ich schau noch mal, ob alle raus sind“, erklärte Ves und verschwand tiefer im Höhlensystem.

„Sie entwickelt sich langsam“, sagte jemand leise hinter Hortensio.

Er drehte sich um.

„Hauptmann ... Du bist mir eine Erklärung schuldig. Uns allen, wenn ich das so sagen darf“, meinte der Feldwebel, nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand ihnen zuhörte.

„Ich weiß. Lass uns ausführlich darüber sprechen, sobald wir in unserem neuen Unterschlupf sind.“

„Haben wir denn ein Ziel?“

„Ja. Wir werden in Gruppen nach Frohnheim ziehen. Etwas nördlich des Dorfes gibt es einen Erlenhain, von dem die Dörfler denken, dass er verflucht sei“, erklärte Roche.

„Von dem hab ich schon gehört. Soll da nicht jeder zweite Baum abgestorben sein?“, fragte Hortensio.

„So munkelt man. Ich war selbst nie dort.“

„Hältst du das wirklich für eine Alternative?“, erkundigte sich der Alte weiter. „Vermutlich gibt es dort kaum Unterholz. Selbst wenn ihn die Dörfler meiden, es wird viele andere Augen geben, denen wir dort nicht entgehen werden.“

„Wir werden nur eine kurze Rast einlegen, soweit nötig Vorräte auffüllen und dann weiterziehen.“

„So?“

Vernons Gesprächspartner zog eine Augenbraue nach oben.

„Ein Unterschlupf einen halben Tagesmarsch von hier entfernt ist für mich keine Option. Wir werden ein paar Meilen mehr zwischen uns und Novigrad bringen müssen, fürchte ich. Zumindest, um Dijkstras direktem Netz zu entgehen.“

„Und sein indirektes?“

„Darum werden wir uns kümmern. Jetzt ist erst einmal wichtig, dass wir es komplett und in einem Aufwasch bis nach Frohnheim schaffen. Du wirst eine der Gruppen führen.“

„Ich hab’s befürchtet.“

„Ich habe Athur angewiesen, euch Leifs Bruder hinter her zu schicken.“

„Victor? Der taugt längst nicht als Späher!“

Der Hauptmann bedeutete Hortensio mit einem Blick zu Schweigen.

„Er hatte Zeit genug zu lernen. Jetzt kommt der Ernst des Lebens.“

„Die Höhle ist geräumt. Nur noch Sieghard ist da und überprüft die Lunten, Sir.“

Roche und der Alte drehten sich um.

„Gut gut, dann wollen wir keine Zeit verlieren.“

Hortensio hatte so ein Gefühl, dass Roche ihm etwas hätte sagen wollen. Anstatt nachzufragen, zuckte er mit den Schultern und verließ die Höhle. Der Hauptmann würde selbst für das grandiose Finale sorgen.

Aufgrund des felsigen Geländes hatten sich die einzelnen Gruppen etwas weiter im Gelände verteilt.

„Die Späher sind noch nicht wieder zurück?“

„Nein, Sir.“

Der Armbrustschütze seufzte und ging weiter. Unter einer Esche standen zwei Männer zusammen, die Hortensio als langjährige Mitglieder der Blauen Streifen erkannte.

„Ihr seid wohl die anderen Glückspilze.“

„So ist es. Lass den Kopf nicht hängen, du hast doch bisher noch immer den richtigen Riecher gehabt.“

„Ich geb dir gleich Riecher, Carl.“

Trotzdem gesellte er sich zu ihnen, um auf Roche, Ves und Sieghard zu warten. Die Sonne war mittlerweile etwas übers Firmament geklettert. Dicke weiße Wolken versprachen einen schönen Tag und der Alte fühlte sich überhaupt nicht in der Stimmung, die Flucht anzutreten. Es war einfach nicht richtig, nicht, wenn die Vögel in den Bäumen ringsum zwitscherten. Der Hauptmann kam auf sie zu.

„Also hört mir zu. Leider haben wir noch nicht die Gelegenheit, unseren Erfolg über König Radovid auszukosten und zu feiern. Durch widrige Umstände sind wir dazu gezwungen, uns einen neuen Unterschlupf zu suchen“, erklärte Roche. „Wir werden in kleinen Gruppen ziehen, ihr werdet diese Gruppen anführen.“

Niemand sagte etwas.

„Einen halben Tagesmarsch östlich von hier liegt Frohnheim. Wir treffen uns in dem Erlenwäldchen, das nördlich davon liegt. Geht nicht auf den ausgetrampelten Straßen, wähl Pfade durch Wälder, soweit es euch möglich ist, und haltet euch um Himmelswillen von Menschen fern. Und auch von Anderlingen.“

Einer der Männer räusperte sich.

„Ja, Carl?“

„Sir, wenn Ihr erlaubt. Wovor flüchten wir?“

„Momentan vor den Umständen. Ich werde euch in Frohnheim über die näheren Einzelheiten aufklären. Fakt ist, dass wir hier nicht mehr sicher sind. Seid euch im Klaren darüber, dass uns keine Gefahr von Übernatürlichem droht. Jedenfalls keine unmittelbare, wenn man von den üblichen Begleiterscheinungen in der Wildnis absieht. Seid euch aber auch bewusst, dass eine so kleine Truppe wie die unsere extrem verwundbar ist für Leute, die wissen, wie sie es anstellen müssen. Aber später mehr dazu. Denkt dran, dass wir in Frohnheim nicht allzu lange warten werden. Wer nicht rechtzeitig kommt, muss sich selbständig durchschlagen! Und jetzt Abmarsch!“

„Aye!“

Die Truppführer gingen zu ihren Soldaten. Auch Ves hatte das Kommando über einen der Trupps erhalten. Die Blondine schlug sich in die Büsche. Nur Hortensio blieb zurück, um Roche einen Moment länger zu mustern. Der Hauptmann drehte sich um und ging mit Sieghard zurück zum Eingang der Höhle.

‚Das große Finale‘, dachte der Armbrustschütze.

Er beschloss, die ihm zugeteilten Soldaten ebenfalls in die Wildnis zu führen. Je eher sie aufbrachen, desto besser. Der Weg abseits der Straßen würde beschwerlich genug werden, also galt es, keine Zeit zu vertrödeln. 

Sie hatten die ersten paar Schritte hinter sich gebracht, als eine Schar Krähen über die Männer hinweg flogen und sich auf dem Wipfel einer Fichte niederließen.

‚Kein gutes Omen ...‘

Hinter ihnen gab es einen ohrenbetäubenden Knall und die Vögel schreckten mit viel Geschnatter davon. Das Versteck der Temerischen Freischärler nordöstlich von Oxenfurt gehörte von nun an der Vergangenheit an.

„Unglaublich, wie schnell sich die Umstände ändern, sobald ein König das Zeitliche segnet“, brummte Hortensio.

„Der König ist tot, lang lebe der König“, murmelte jemand hinter ihm.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Peacer
2018-08-14T18:13:39+00:00 14.08.2018 20:13
Hey :)

Erst mal muss ich mich wegen der späten Rückmeldung entschuldigen.
Vielen Dank für die grandiose Geschichte mit Roche in der Hauptrolle.
Sehr schön geschrieben und die Charaktere sind absolut authentisch. Fluchender Roche, sture Ves, ruhiger Geralt… Dijkstra der Feigling. xD
„Oh, bewahr mich vor alten Kamellen!” finde ich genial und passend.
Und das Geplänkel während dem Kampf, so typisch.
Geister als Fluchtstrategie, auch nicht schlecht.
Mmh, stimmt. Roche war tatsächlich ein bissche zu gutgläubig, was Dijkstra angeht.
„Das mag sein, aber die Pfeilspitzen von kleineren Gruppierungen können euch immer noch übel in euren Ärschen schmerzen.“ Auch wieder genial. XD
Ich mag auch Hortensio und wie du auf die Gruppe und ihre Organisation eingehst.


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